Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (9.2.2020) Wortverkündigung: 1.Korinther 11,19 Thema: Es müssen Parteiungen sein, damit die Bewährten offenbar werden Psalmen/Lieder: Psalm 84b,1–6; Psalm 119,39–43; 107,1–4; 4,1–4 Gesetzeslesung: 1.Korinther 13,1–8 Erste Schriftlesungen: 1.Korinther 1,10–20; 3,1–15 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen aus 1.Korinther 11,19. Aber ich lese zuvor das gesamte elfte Kapitel des ersten Korintherbriefes. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus! Der erste Korintherbrief behandelt Reibungsflächen, die im Zusammenleben von Christen in einer Gemeinde auftreten. Dabei ist eine zentrale Thematik die Bewahrung der Einheit. Der Apostel Paulus beginnt seinen Brief mit dieser Botschaft: Ich ermahne euch aber, ihr Brüder, kraft des Namens unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle einmütig seid in eurem Reden und keine Spaltungen unter euch zulasst, sondern vollkommen zusammengefügt seid in derselben Gesinnung und in derselben Überzeugung. Mir ist nämlich, meine Brüder, durch die Leute der Chloe bekannt geworden, dass Streitigkeiten unter euch sind. Ich rede aber davon, dass jeder von euch sagt: Ich gehöre zu Paulus! – Ich aber zu Apollos! – Ich aber zu Kephas! – Ich aber zu Christus! (1Kor. 1,10–12). Es hatten sich also innerhalb der Gemeinde von Korinth Fraktionen formiert. Man hatte seinen jeweiligen Lieblingsredner gekürt. Der Apostel wendet sich direkt an die Christen und richtet an sie die Frage: Sagt einmal: Ist denn der Christus zerteilt? (1Kor. 1,13). Wir alle, sei es Apollos, sei es Kephas und auch ich selbst sind lediglich Diener von Christus! Konkurrenzdenken, Spaltungen, Parteiungen, Fraktionsbildungen sind damit völlig fehl am Platz. Sie sind Ausdruck von Fleischlichkeit. Paulus fügt später hinzu: Ihr erweist euch mit einem solchen Verhalten als kindisch. In den Kapiteln 1–4 geht der Apostel ausführlich auf das Thema der Einheit ein. Es gab ferner Leute in der Gemeinde, die stritten miteinander, und zwar heftig. Nun, auch das soll unter Christen vorkommen. Aber nicht nur das: Diese Leute zitierten ihre Gegner vor weltliche Gerichte. Paulus erwidert: Überlegt einmal, ob es nicht geistlicher ist, wenn ihr auf euer Recht verzichtet. Aber wie auch immer: Klärt auf jeden Fall die Sache innerhalb der Gemeinde, und zieht nicht vor weltliche Gerichte, also vor Ungläubige (1Kor. 6,1–11). Dann gab es in der Gemeinde auch Starke im Glauben, jedenfalls solche, die sich für stark hielten. Neben ihnen gab es andere, die schwach erschienen. Diese Schwachen nahmen an manchen Verhaltensweisen der sogenannten Starken Anstoß. Paulus geht sehr ausführlich auf diese Frage ein, und er verlangt unter anderem, dass die Starken auf die Schwachen Rücksicht nehmen (1Kor. 8–10). Aber nicht nur das: In der Gemeinde in Korinth gab es Frauen, die sich beim Beten oder beim Weissagen nicht bedeckten. Wir haben es eben gerade in 1.Korinther 11 gelesen. Seit Anfang des dritten Jahrhunderts wird darüber diskutiert, was der Apostel genau mit Bedecken meint. Verlangt er, dass im Gottesdienst die Frauen ein Kopftuch oder einen Schleier oder einen Hut auf dem Kopf tragen sollen? Oder will er das Bedecken in einem übertragenen Sinn verstanden wissen, also etwa in dem Sinn, dass Frauen sich in den Gemeindeveranstaltungen „bedeckt halten sollen“, also sich zurückhaltend benehmen sollen. Wenn wir heutzutage sagen, „eine Frau hat die Hosen an“, dann denken wir bei diesem Ausspruch nicht unbedingt an ihr Outfit, sondern wir bewerten damit, wie sie sich verhält, nämlich dass sie dominierend auftritt. Wie gesagt: Bis zum heutigen Tag wird die Frage erörtert, was die Heilige Schrift damit meint, dass eine Frau eine Macht über dem Kopf tragen soll (1Kor. 11,10). Ist damit gemeint, dass sie tatsächlich irgendetwas etwas auf dem Kopf tragen soll, gleichsam als ein Zeichen ihrer Unterordnung? Oder ist damit gemeint, dass sie sich schöpfungsgemäß wie eine Frau verhalten soll? Die Formulierung, eine Macht über dem Kopf tragen, ist keinesfalls eindeutig, und dieser Ausdruck wird in der Regel gemäß der Tradition interpretiert, aus der man kommt. Unzweifelhaft ist jedenfalls: Wenn der Apostel Paulus ausdrücklich über einen „Schleier“ für die Frau spricht, dann spricht er von ihrem Haar: Das Haar soll der Frau als Schleier dienen (1Kor. 11,15). Dann kommt natürlich die nächste Frage auf: Darf eine christliche Frau ihr Haar hochknoten, zu einem Dutt, oder ist es schriftgemäßer, dass sie es hängen lassen soll? Ich weiß es nicht. Es ist bekannt, dass wir in der BERG über diese Frage keine ausdrückliche Bestimmung haben, sondern dies offenlassen. In unserer Gemeinde zieht die eine oder die andere Frau etwas auf den Kopf, wenn sie im Gottesdienst sitzt oder zum Abendmahl kommt. Andere sehen dieses nicht als ein Gebot, sondern verstehen die Anweisung, sich zu bedecken in übertragenem Sinn, also als ein taktloses, sich nicht in den Mittelpunkt drängendes Auftreten. Wir gehen darauf – heute – nicht weiter ein. Aber ich weise auf die letzte Aussage innerhalb dieses Abschnittes hin: Dagegen ist es für eine Frau eine Ehre, wenn sie langes Haar trägt; denn das lange Haar ist ihr anstelle eines Schleiers gegeben. Wenn aber jemand rechthaberisch sein will – wir haben eine solche Gewohnheit nicht, die Gemeinden Gottes auch nicht (1Kor. 11,16). Hier fordert Paulus also dazu auf: Bitte orientiert euch in eurem Verhalten auch an den anderen christlichen Gemeinden. Bildet euch nicht ein, alles neu erfinden zu müssen. Weicht nicht von dem Konsens der Gemeinden Gottes ab! Es geht bei der Frage auch um Einmütigkeit unter den Gemeinden. Kurz darauf lesen wir dann dieses merkwürdige Wort: Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden (1Kor. 11,19). Fordert der Apostel hier also doch zum Streit auf? Will Paulus doch Konflikte? Oder wie ist sein Ausspruch zu verstehen? Einheit… Bekanntlich ist nicht erst seit dem heutigen Tag die Gemeinde Gottes in vieler Hinsicht gespalten. Die Reformation liegt über 500 Jahre zurück. Aber wenn wir uns an sie erinnern, besonders am 31. Oktober, erhebt sich die Frage: Ist dieser Tag nicht eher ein Tag zum Weinen, weil nun schon 500 Jahre die Kirche gespalten ist? Oder meinetwegen vorsichtiger formuliert: Ist es nicht einerseits ein Grund zur Freude darüber, dass endlich, nach Jahrhunderten, das Evangelium wieder auf den Leuchter gestellt wurde, andererseits aber eben auch ein Tag großen Schmerzes und tiefer Trauer angesichts der zerbrochenen Einheit und der darauffolgenden Spaltungen? Ich denke, dass uns das eben verlesene Wort des Apostels Paulus auf diese Frage eine (Teil-)Antwort gibt. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation: Die Parteiungen, die Fraktionsbildungen in Korinth rührten nicht aus unterschiedlichen Lehren oder gar aus Abgrenzung gegenüber Irrlehren her, sondern sie waren durch die Fragestellung motiviert: Wer ist der bessere Prediger? Wer ist mein Favoritenredner? Die einen hielten sich zu Paulus, andere bevorzugten Petrus, wiederum andere scharten sich um Apollos, noch andere wollten „nur“ Christus (1Kor. 1,11ff). Wenn man dies mit der heutigen Situation vergleicht, könnte man anmerken: Nun ja, immerhin saßen die Christen damals noch in ein und derselben Gemeinde! Das ist wohl richtig. Aber niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass eine christliche Gemeinde bereits dann eins ist, wenn alle sich in der gleichen Organisation befinden oder in einem einzigen Raum zusammenkommen. Im Mittelalter war die Kirche auch – dem Namen nach – eins. Sehen wir einmal ab von der Abspaltung der Ostkirchen. Aber was gab es selbst im Westen damals nicht alles an Päpsten und Gegenpäpsten?! Man denke an das 14. und 15. Jahrhundert, also an die Epoche unmittelbar vor der großen Reformation! Diese Zeit war voller Machtkämpfe, Intrigen, Hinterhältigkeiten und kriegerischer Auseinandersetzungen. Von daher ist es einfach nicht richtig zu behaupten, die Zerrissenheit innerhalb der Kirche habe mit der Reformation begonnen, zumal sich ja die Ostkirchen schon Jahrhunderte zuvor abgetrennt hatten bzw. abgetrennt worden waren. Eher müsste man sagen: Seitdem kam es zu stets mehr Rissen und Brüchen. Im ersten Brief an die Korinther ermahnt der Apostel die Gemeinde zur Einheit. Dabei, das sei hier ausdrücklich wiederholt, geht es bei diesen Ermahnungen zur Einheit nicht um das Akzeptieren von Irrlehren und Häresien, sondern um die Frage nach dem jeweiligen Lieblingsprediger. Aber dann lesen wir in 1.Korinther 11,19 diesen merkwürdigen Satz: Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden. Das Thema der heutigen Predigt lautet: Es müssen Parteiungen sein, damit die Bewährten offenbar werden Diese Aussage des vom Geist Gottes inspirierten Apostels gliedern wir in der Wortverkündigung in drei Punkte: 1. Beschämung 2. Bekenntnis 3. Bewährung 1. Beschämung Selbst in einer so gottlosen Stadt wie es Gießen ist, nehmen wir, wenn wir durch die Straßen gehen oder in der Umgebung Gießens herumfahren, Kirchengebäude oder Gemeinderäume wahr. Diese Bauwerke gehören zu evangelischen Landeskirchen oder zu Freikirchen. Wir finden auch Bauten von römischen Katholiken und inzwischen sogar von den unterschiedlichsten Ostkirchen und nicht zuletzt von zahlreichen Sekten. Nicht wenige Christen empfinden dieses als einen Skandal. Sie sagen: Kein Wunder, dass die Menschen sich vom Christentum abwenden, wenn man sich vergegenwärtigt, wie zerstritten die Christen sind! Skandalös, diese Christen, die sich immer über alles die Köpfe einrennen müssen! Schließlich soll man die Christen doch an der Liebe erkennen, also an ihrer Einigkeit! Doch wir hörten es: Diese Zerteiltheit gab es von Anfang an. Wir finden sie bereits in der Gemeinde von Korinth: Die einen waren für Paulus, die anderen für Petrus usw. Der Apostel Paulus gibt dazu seinen Kommentar: Ihr erweckt den Eindruck, als ob Menschen für euch gestorben wären! So als ob es in der Gemeinde Gottes um den besten Kanzelredner ginge! Parteiungen führen in der Regel dazu, dass Menschen die Liebe und die Rücksichtnahme vergessen. Das geschah seinerzeit sogar bei der Feier des Heiligen Abendmahls. Wir wollen in den kommenden Sonntagen, an denen ich Ihnen das Evangelium verkündige, auf das hören, was der Apostel Paulus über das Feiern des Heiligen Abendmahls sagt. Wenn wir jetzt schon einmal einen Blick auf die weiteren Verse werfen, dann geht es konkret um Folgendes: Die Christen warteten nicht aufeinander. Bei den Liebesmahlen, die damals häufig mit der Feier des Heiligen Abendmahls eng verbunden waren, fingen die Reichen schon einmal an zu essen. Demgegenüber mussten die Sklaven erst noch ihre Arbeiten erledigen, und sie trafen entsprechend verspätet ein, und meistens hatten sie gar nichts zu essen, sodass ihnen der Magen knurrte. Mit großem Nachdruck nimmt Paulus gegen die darin zum Ausdruck kommende Haltung Stellung. Der Apostel sieht in dieser Einstellung eine Mentalität, in der man sich selbst feiert. Die Christen kamen zum Abendmahl: locker, flockig, und sie dachten … an sich. Auf jeden Fall: Man hatte nicht Christus vor seinem inneren Auge, man dachte nicht an seinen für uns gebrochenen Leib, also an sein Sterben und seinen Tod am Kreuz von Golgatha. Einer solchen Gemeinde schreibt Paulus: Parteiungen müssen unter euch sein. Wieso schreibt Paulus, dass Parteiungen unter euch sein müssen? Parteiungen sind doch nicht gut! Parteiungen stehen doch im Gegensatz zur Liebe, die immer auf das Du ausgerichtet ist. Hatte nicht genau dies der Apostel gerade ausführlich dargelegt?! Und wird er nicht etwas später ausgerechnet in diesem Brief das „Hohelied der Liebe“ singen? (1Kor. 13,1–7). Warum schreibt er hier: Parteiungen müssen sein? Bitte hören wir genau hin. Paulus erteilt hier keineswegs eine Anweisung. Er befiehlt hier nicht: Ihr habt euch unbedingt in Parteiungen zu zerspalten! Je mehr Konflikte, desto besser! So im Sinn von: Dann würde endlich einmal etwas los sein in der Gemeinde! Nein! Was der Heilige Geist mit diesem Satz zum Ausdruck bringt, ist Folgendes: Es ist unvermeidlich, dass es unter euch zu Spaltungen kommen muss, denn ihr seid nun einmal so. Mit anderen Worten. Was ich euch hier schreibe, das schreibe ich zu eurer Beschämung. Was war denn in der Gemeinde los? Wenn wir den Brief in seiner Gesamtheit zur Kenntnis nehmen, erfahren wir, dass die Christen in Korinth auf sich selbst bezogen waren. In 1.Korinther 4,8 schreibt ihnen Paulus, sie herrschen bereits. Er meint damit so viel wie: Ihr seid so sehr von euch selbst überzeugt. Ihr habt so sehr eure eigene Selbstoptimierung im Auge. Ihr seid so massiv von der Frage beherrscht, wie ihr euch selbst vorteilhaft präsentieren könnt, dass ihr das Kreuz Christi vergesst. Es ist euch gewissermaßen entschwunden. In 1.Korinther 12 muss der Apostel ausführen, dass es vielen, die in die Gemeindeveranstaltungen kamen, gerade nicht um gegenseitiges Dienen ging, sondern im Gegenteil: um ein Sich–Selbst–Profilieren. Man missbrauchte die Gemeindeveranstaltungen, um aus ihnen eine Art Bühne für sich zu machen, sodass man darauf seine Ichhaftigkeit vorführt. Paulus erwidert: Es geht in der Gemeinde um Dienen. Es geht um ein Für-einander-Dasein. Dieses Für-den-anderen-Einstehen ist am besten vergleichbar mit dem Für-einander-Dasein der Glieder bzw. der Organe innerhalb eines Körpers. Offenkundig waren die Gemeindeglieder in Korinth auch sehr wenig daran interessiert, was in anderen Gemeinden Norm war. Man hatte an sich selbst genug. Paulus muss mehrfach schreiben: Vielleicht bildet ihr euch ein, es braucht euch nicht zu kümmern, was in anderen Gemeinden geschieht. Aber was ich euch befehle, das sage ich in meiner Eigenschaft als Apostel, und damit hat es für jede Gemeinde Geltung, also auch für euch (vergleiche dazu ferner: 1Kor. 1,2; 4,17; 14,36). Somit verkündet der Apostel in 1.Korinther 11,19 Folgendes: Angesichts eurer auf euch selbst bezogenen Zusammenkünfte muss eure Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit gebrochen werden. Was sich da erhebt, muss gedemütigt werden. Was sich aufbläht wie ein Luftballon, wird irgendwann zerplatzen. Gott setzt Parteiungen und Reibungen unter den Christen ein, damit sie erniedrigt werden und beschämt. Diese Aussage des Apostels ist nicht das einzige, was Paulus unter Inspiration des Heiligen Geistes zum Thema Einheit und Parteiungen schreibt. Er nimmt in diesem Brief mehrfach dazu Stellung, und er zeigt auch auf, wie Spaltungen überwunden werden sollen. Aber dieses Wort aus 1.Korinther 11,19 ist zu unserer Beschämung geschrieben: Wegen eurer Selbstgefälligkeit und wegen eurer Ehrsucht müssen unter euch Risse und Parteiungen sein. Diesen Aspekt übersehen wir häufig. Vielleicht kann uns eine Begebenheit aus dem Alten Testament zur Veranschaulichung dienen. Als sich nach dem Tod des Königs Salomo die Zehn-Stämme vom Zwei-Stämmereich abgespalten hatte, war diese Trennung eine unmittelbare Folge der unerlaubten revolutionären Erhebung Jerobeams wie auch anderer Widersacher, die sich gegen den König Salomo empörten. Wenn man sich lediglich die daran anschließende Entwicklung, also die Konsequenzen dieser Trennung vor Augen führt, könnte man recht schnell die Sache mit der Bemerkung abhaken: Schaut euch die Abspaltung der zehn Stämme einmal an. Die wurden sehr schnell verführt zu einem eigenmächtig inszenierten Gottesdienst, der dann in den Orten Dan und Bethel ablief (1Kön. 12,26–33). Und nur wenige Generationen später verfiel dann das Nordreich sogar völlig dem ekstatisch-naturalistischen Baalskult (1Kön. 16,31). Schließlich bekamen diese Stämme ihre gerechte Strafe: Sie wurden von Feinden erobert, vertrieben, verschleppt und zerstreut (2Kön. 17,6). Im Vergleich dazu blieben die zwei Stämme des Südreichs – jedenfalls zunächst noch – bei dem Tempel-Gottesdienst in Jerusalem, so wie ihn Gott, der Herr angeordnet hatte. Aber so sehr diese Gedankenführung Richtiges enthält, es fällt auf, dass das Wort Gottes über die Ereignisse nicht so linear berichtet. Vielmehr schildert sie die Spaltung nuancierter. Die Heilige Schrift interessiert sich auch für die Entwicklungen, wie es zu dem Bruch innerhalb des Volkes Gottes kam. Sie berücksichtigt auch die Vorgeschichte. Der gegen Ende seines Lebens reich und üppig gewordene König Salomo hatte angefangen, sein Vertrauen nicht mehr auf Gott zu setzen, sondern auf sich selbst und auf sein diplomatisches Geschick. Von daher war er mit den Götzen seiner Frauen „großzügiger“ umgegangen. Wir würden heute sagen: „tolerant“ (1Kön. 11,30–39). Daraufhin erhielt Salomo die Gerichtsbotschaft: Das Volk Gottes wird sich spalten (1Kön. 11,9–13.30–39). Zwar bemühte sich Salomo sogleich, die Spaltung zu verhindern. Er scheute sich nicht, auf Jerobeam einen Anschlag zu verüben. Bezeichnenderweise aber misslang dieses Unterfangen (1Kön. 11,30). Als Salomos Sohn, Rehabeam, auf den Thron kam, versuchte auch er unverzüglich den Bruch dadurch zu beseitigen, dass er gegen die abgefallenen Stämme in einen Krieg zog, um sie wieder unter seine Herrschaft zu bringen. Aber Gott der Herr wies diese Einigungsbemühung zurück: Die Sache ist von mir aus geschehen, ließ er durch seinen Propheten verlautbaren (1Kön. 12,21–24). Mit anderen Worten: Es musste so kommen: von zwölf Stämmen zu zwei Stämmen… Mose hatte diese Entwicklung prophetisch vorausgesehen und in den Ausspruch gekleidet: Als Jeschurun – ein anderes Wort für Israel – fett geworden war und ausschlug. Das Volk Gottes wurde fett, dick und feist (5Mos. 32,15). Daraufhin ging es in seiner Überheblichkeit selbstgefällige Wege. Wenn wir uns im Licht der alttestamentlichen Geschehnisse die Spaltungen im Lauf der Kirchengeschichte vor Augen führen, dann steht es uns gut an, zunächst einmal zurückhaltend sein, und nicht in einem überheblichen Ton des Zensurenverteilens uns über die Vergangenheit zu erheben, so im Sinn von: Worüber haben sich unsere Vorfahren früher so alles gestritten?! Wie dumm von ihnen! Wir hätten es bestimmt anders gemacht. Wir hätten uns ganz sicher geeinigt und vertragen! Stattdessen ist im Blick auf das, was wir Christen angerichtet haben, zunächst einmal Demut und Beschämtsein angebracht. Offenkundig waren wir wegen unserer Eitelkeit und unserer Dünkelhaftigkeit gar nicht in der Lage, die Einheit der Kirche Gottes auszuhalten. Die nicht nur Einheit, sondern vor allem auch Macht demonstrierenden mittelalterlichen Dome und Kathedralen – sie taten uns offenkundig nicht gut. So musste es zu Spaltungen unter uns kommen. Aber das ist zu unserer Beschämung gesagt. Lassen ist uns also vorsichtig sein mit einer Einstellung, als ob uns mit der Zerrissenheit der Kirche Jesu Christi etwas angetan worden wäre, das unserer nicht würdig sei. Im Sinn von: Wir sind heute zu gut für gemeindliche Trennungen und Zerteilungen. Wir lassen diese Zeiten hinter uns. Wir schalten jetzt einfach einmal um auf Vertragsamkeit… koste es an Wahrheit, was es wolle… Lassen wir einmal die Frage dahingestellt sein, ob die gegenwärtigen Einheitsbestrebungen tatsächlich durch Liebe motiviert sind. Liebe meint im Sinn des Neuen Testamentes immer auch Liebe zur Wahrheit (1Kor. 13,6) – oder ob dieses Eine-Kirche-sein-Wollen nicht aus ganz anderen geistigen Wurzeln herrührt. Bekanntlich bastelten die Maurer beim Turmbau zu Babel ebenfalls an ihrem Traum von der Einheit. Das Wort Gottes lässt uns nicht im Unklaren darüber, dass deren Beweggründe andere waren als die Liebe. Halten wir für den Augenblick das Eine fest: Parteiungen sind von Gott auch veranlasst, um uns wegen unseres eigenen Groß-sein-Wollens zu beschämen. 2. Bekenntnis Wenn wir durch Gießen fahren und die Kirchen- und Gemeindegebäude erblicken, mag es sein, dass wir darauf in Gedanken reagieren mit: Soweit hätte es niemals kommen dürfen. Aber wir bekennen auch: Soweit musste es mit uns kommen, weil wir sonst noch selbstherrlicher aufgetreten wären, weil wir sonst unser Vertrauen noch mehr auf eine machtvolle Institution gesetzt hätten, anstatt allein auf Gott und den uns durch seinen Sohn Jesus Christus erworbenen Schatz in seinem Evangelium. Gleich zu Beginn des ersten Korintherbriefes lesen wir: Christus ist nicht zerteilt (1Kor. 1,12). Der Apostel formuliert es sogar als rhetorische Frage. Dieses Wort macht uns von Anfang des Briefes an darauf aufmerksam, dass der Leib Christi unteilbar ist. Wenn also unter uns Parteiungen auftreten, dann betrifft das nicht Christus selbst. Spaltungen unter uns ändern nichts daran, dass Christus selbst nicht geteilt ist. Sie betreffen nicht die Einheit des Sohnes Gottes. In den unserem Wort folgenden Versen geht der Apostel auf das Heilige Abendmahl ein (1Kor. 11,20ff): Beim Feiern des Heiligen Abendmahls verkünden wir den Tod Christi, bis dass er kommt. Ist uns schon einmal aufgefallen, dass der Apostel dabei keinerlei Einschränkungen oder Vorbehalte im Blick auf die verschiedenen Gruppierungen macht, die es innerhalb der korinthischen Gemeinde gab? Mit anderen Worten, der Apostel erklärt: An dem ungeteilten und unteilbaren Sterben Christi, an seinem Tod und an seiner Auferstehung könnt ihr durch eure Sünden, durch eure Fraktionsbildungen sowieso nichts ändern! Mehr noch: In 1.Korinther 11,32 erinnert der Apostel daran, dass einige aus der Gemeinde mit Krankheiten geplagt waren und einige sogar früher als normal gestorben waren. Gott raffte sie dahin. Es handelte sich dabei um Leute, die beim Essen des Brotes und beim Trinken des Weines nicht beachteten, dass dieses Essen und dieses Trinken das Anteilhaben, das heißt die Gemeinschaft mit dem Leib und dem Blut Christi ist (1Kor. 10,16.21). Stattdessen machten sie von dem Essen und Trinken einen unwürdigen Gebrauch. Deswegen wurden sie vom Herrn gezüchtigt. Ganz zweifellos waren das heftige Gerichtsschläge Gottes für die junge Gemeinde, selbst wenn diese erfolgten, damit diese Christen im Jüngsten Gericht nicht mit der Welt verurteilt werden, sondern gerettet werden. Darin kommt auch zum Ausdruck: Selbst wenn einige das Heilige Abendmahls unwürdig nehmen, insofern als sie den Leib Christi nicht unterscheiden, sollten wir daraus nicht den Schluss ziehen, der Herr habe sein Werk an seinen Erwählten nicht mehr unter Kontrolle. Auch wenn Christen vom Herrn beschämt und erniedrigt werden – und Trennungen sind immer demütigend – Christus bleibt ihr unverrückbares Fundament. Das wollen wir bekennen. Davon lesen wir diesem Brief ebenfalls: Niemand kann einen anderen Grund legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus (1Kor. 3,11). Dieser Grund ist zwar eine unsichtbare Wirklichkeit, aber er ist mächtiger als unsere uns beschämenden Grüppchenbildungen und Machtspielchen. Das hatte auch Luther aus tiefster Schwermut heraus gelernt, als er im Jahr 1528 das Lied dichtete: Ein feste Burg ist – nein, nicht die Einheit einer kirchlichen Institution, sondern – Gott. Wenn wir verstanden haben, dass Christus, so wie er uns durch die Apostel und Propheten verkündet worden ist, der einzige und alleinige Grund und Eckstein der Gemeinde ist (Eph. 2,20) und in ihm die Einheit besteht, dann werden wir auch in der rechten Weise darum beten können, dass die Spannungen und die Zerrissenheiten zwischen Christen und Gemeinden dahinschmelzen. Faktisch geschieht dieses Einander-Finden ja auch. Oder haben wir noch nie feststellen können, dass man häufig sehr schnell im Lauf eines Gespräches erkennt, ob der Betreffende in demselben Grund verankert ist und dasselbe Ziel vor Augen hat? Ich selbst hatte kürzlich dieses Vorrecht, als ich mit zwei Pastoren aus Amerika sprach. Um das festzustellen benötigt man ganz sicher keine die Wahrheitsfrage unterminierende Ökumene oder Allianz. Man lässt sich dann auch nicht mehr hetzen von gruppendynamisch inspirierten Programmen zur Herstellung von Einheit oder von entsprechenden raffinierten Techniken, Strategien oder Kalkülen, sondern man setzt sein Vertrauen auf Christus und auf sein Versöhnungswerk am Kreuz, und man kann dann, selbst wenn – auch im übertragenen Sinn – Kirchendome wieder einmal einstürzen – bekennen: Unsere feste Burg ist einzig und allein der Gott, der in seinem untrüglichen Wort gesprochen hat und spricht. 3. Bewährung Das dritte, was wir aus diesem Wort mitnehmen wollen, ist vielleicht das Entscheidende. Es heißt hier nicht nur: Parteiungen müssen unter euch sein, sondern der Apostel fährt fort: damit die Bewährten unter euch offenbar werden. Der Begriff, den der Apostel hier verwendet, erinnert an ein Examen. Bei einem Examen stellt sich die Frage: Bestehe ich die Prüfung oder falle ich durch? Im Licht dieses Verses fungieren Parteiungen und Spannungen unter Christen also auch als eine Art Test, dem man nicht ausweichen darf, sondern durch den man hindurchmuss. Bei einem solchen Test kommt nämlich heraus, ob wir dem Herrn und seinem Wort treu bleiben, ob Gott unsere Burg ist oder ob wir unser Vertrauen auf irgendwelche möglicherweise großen und entsprechend scheinbar gewichtigen Institutionen setzen, an deren Spitze Bischöfe, Oberkirchenräte, Generalsekretäre, Bundesvorsitzende stehen. Parteiungen sind uns immer auch zur Bewährung gegeben. Man kann im Raum der Gemeinde Spannungen aus der Zuschauerperspektive beäugen, sie distanziert analysieren und mit Kommentaren versehen, wie etwa dem Folgenden: Schau einmal, die haben sich da schon wieder gestritten! Man selbst bleibt damit außen vor, oder man gefällt sich möglicherweise sogar in der Rolle eines über den Parteien schwebenden Schiedsrichters. Aber der Apostel bemerkt dazu: Damit verfehlst du die Absicht, die Gott mit einem Gemeindekonflikt verfolgt. Stattdessen suche zu verstehen, dass es darin auch um eine Prüfung für dich selbst geht! Denn solche Spannungen richten stets an uns die Frage: Wo stehe ich selbst? Du bist nicht berufen, in einer neutralen über den Parteien stehenden, fiktiven „Übergemeindlichkeit“ deine Warte einzunehmen! Vielmehr bist du persönlich herausgefordert! Paulus ruft damit nicht auf, parteiisch zu sein, sich zu einer Partei zu schlagen im Sinn von: paulinisch oder petrinisch - was gefällt dir besser? Im Gegenteil! Gerade in einer solchen Situation ist uns aufgetragen, unbedingt den dreieinen Gott zu suchen und kompromisslos nach seiner Wahrheit zu fragen! Denn zu wahrer Einheit reifen wir dadurch, dass wir zu Christus, unserem Haupt, hinwachsen. Die richtige Einstellung zu den durch selbstgefälligen Stolz hervorgerufenen Parteiungen ist also nicht, eine indifferente Haltung einzunehmen oder sogar im Blick auf Entwicklungen innerhalb der Gemeinde Jesu Christi zynisch zu frotzeln oder zu spotten. Vielmehr geht es darum, die Liebe zu Gott und zu der von ihm geoffenbarten Wahrheit in seinem untrüglichen Wort zu bewahren. Wir werden uns dann den Spannungen in unseren Gemeinden nicht entziehen, sondern uns stattdessen in die Frontlinie stellen, uns einsetzen und kämpfen, nicht zugunsten des eigenen Vorteils oder des eigenen Nutzens oder der eigenen Ehre, sondern zur Ehre des dreieinen Gottes. Paulus spricht einmal folgende ernste Warnung aus: Wer über die Gemeinde Gottes, den Tempel Gottes, Verderben bringt, den wird Gott verderben (1Kor. 3,17). Das ist unzweifelhaft ein hartes Wort! Von daher ist es nicht falsch, unseren Blick auf die gemeindlichen Zerrissenheiten zu richten. Aber die Gefahr besteht, dass auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit davon abgelenkt wird, was das alles für uns heißt: Es geht um unsere Prüfung. Es geht um unsere Bewährung. Wir sind damit vor die Frage gestellt nach unserer Stellung zu dem, was Gott uns in seinem Wort aufgetragen hat. Darum sollten wir vor allem eines im Auge behalten: Zum Gottesdienst zu gehen, die Bibel- und Gebetstunden nicht zu versäumen, sich unter die Lasten der Gemeinde zu stellen und mitzuarbeiten, indem wir danach hungern, den dreieinen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in seinem Wort kennenzulernen. Wenn dann der böse Tag kommt, werden wir kompromisslos bei seiner Wahrheit bleiben und uns auf diese Weise als Bewährte erweisen. Im Himmel wird die Gemeinde Gottes eins sein. Dort wird es weder Risse noch Parteiungen geben. Dafür wird der Herr selbst sorgen. Aber noch sind wir auf dieser Erde. So lautet die Frage an uns: Stehst du, stehe ich zu der Gemeinde, deren Grund Christus ist? Ordnen wir uns in diese Gemeinde ein? Sind wir demütig genug, um gegen unsere eigene Trägheit und gegen unsere eigene Selbstgefälligkeit den Kampf aufzunehmen? Es müssen Parteiungen unter euch sein. Das sage ich – so dürfen wir im Sinn des Apostels Paulus ergänzen – nicht befehlsweise. Vielmehr hören wir dieses zu unserer Beschämung. Als Beschämte aber können wir durch die Risse, die sich durch die Gemeinde ziehen, lernen, unseren Glauben nicht auf eine große Institution zu setzen, sondern auf den Herrn und uns zu seinem Wort zu bekennen. Von diesem Boden aus werden wir die gegenwärtige Lage als Prüfung begreifen, in der es darum geht, dass wir uns bewähren. Amen. 8