Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (Vierter Advent, 19.12.2021) Wortverkündigung: Hebräer 10, 5-10 Thema: Christi Lobpreis für den Leib, den der Vater ihm bereitet hat Psalmen/Lieder: 39, 1-4; Psalm 119, 61-65; 42, 1-4; 45, 1-5 Gesetzeslesung: Psalm 51 Erste Schriftlesung: Psalm 40 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen aus Hebräer 10, 5 bis 10. Ich lese um des Zusammenhangs willen ab Hebräer 10, 1. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus! Heute haben wir bereits den vierten Advent. Die Adventszeit ist dafür gedacht, dass wir uns auf das Christfest vorbereiten. In wenigen Tagen werden wir wieder feiern, dass der Sohn Gottes in diese Welt kam. Es ist das Geschehen, von dem Johannes schreibt: Er kam in das Seinige, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf (Johannes 1, 11). Wir Menschen leben in der Finsternis. Paulus schreibt im Epheserbrief sogar: Ihr wart Finsternis (Epheser 5, 8). Mit anderen Worten: Seit dem Sündenfall sind wir Menschen personifizierte Finsternis. Aus der Perspektive Gottes ist diese Welt durch und durch Finsternis. Hinein in diese Finsternis kam das Licht. In diese Welt trat der, der seit Ewigkeiten in einer für uns unvorstellbar harmonischen Gemeinschaft mit dem Vater lebte. Zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn gab und gibt es vollkommenes Einvernehmen. Johannes schreibt: Im Anfang war das Wort, und das Wort bei Gott [eigentlich: zu Gott hingewandt]. Ja, das Wort war Gott (Johannes 1, 1). Es herrscht zwischen Vater und Sohn nicht nur vollkommene Einmütigkeit. Es besteht nicht nur vollkommene Harmonie, sondern Vater und Sohn sind in ihrem Wesen eins. Ausdruck dieses Einvernehmens zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn war und ist ihre Kommunikation. Sie sprechen miteinander. Sie tauschen sich aus. Dass wir Menschen mit Sprache ausgerüstet sind, sodass wir zueinander sprechen können, ist Ausdruck unserer Ebenbildlichkeit mit Gott. Es ist ein unerhörtes Vorrecht sprechen zu können. Aber was haben wir Menschen aus unserem Sprechvermögen gemacht?! Wie oft ist es so, dass dann, wenn wir miteinander sprechen, es gerade nicht machen, um uns dem anderen zu offenbaren, sondern wie häufig steckt hinter unserem Reden die genau entgegengesetzte Absicht: Wir gebrauchen Worte, um uns voreinander zu verbergen. Wir verwenden unsere Sprache, um voreinander Verstecken zu spielen. Wir verwenden unsere Sprache als Tarnung, als Fassade. Wie anders verhielt und verhält es sich bei dem dreieinen Gott! Das Miteinander-Sprechen von Gott-Vater und Gott-Sohn war und ist immer Ausdruck reinster Wahrhaftigkeit und vollkommenster Liebe zueinander. Ich habe mir schon manchmal gewünscht, dass ich einmal als Zeuge dieser Gespräche dabei sein könnte. Wie gerne würde ich dem Gedankenaustausch zwischen Vater und Sohn lauschen. Aber das meiste ihrer Kommunikation ist uns Menschen verborgen. Andererseits aber wurde uns nicht alles verborgen. Tatsächlich hat der Heilige Geist uns einige wenige Gesprächsausschnitte aus dieser heiligen Kommunikation zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn kundgetan. Und wunderbarerweise sind das häufig gerade die Aussagen, die zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn im Zusammenhang mit den zentralen heilsgeschichtlichen Terminen ausgetauscht wurden. Ich nenne einmal einige wenige Beispiele. Dabei beschränke ich mich auf die Aussagen, die uns im Hebräerbrief mitgeteilt werden. Zum Beispiel finden wir in diesem Brief das Wort des Vaters an Christus: Du bist mein Sohn, heute habe ich Dich gezeugt! Das ist ein Wort, das uns in Psalm 2 überliefert ist. In der historisch-kritischen Theologie wird die Meinung vertreten, diesen Ausspruch hätten sich Leute ausgedacht. Bei diesem Ausspruch würde es sich um einen Satz handeln, der bei einer altorientalischen Inthronisation gesprochen wurde, also dann, wenn ein neuer Herrscher den Thron bestieg. Aber der Hebräerbrief sagt ausdrücklich: Dieses ist ein Wort, das Gott, der Vater sprach. Und er sprach es zu keinem einzigen Menschen. Ja, wie lesen ausdrücklich, dass Gott dieses Wort noch nicht einmal zu einem der Engel sagte (Hebräer 1, 5). Dieses Wort sprach Gott einzig und allein zu seinem Sohn. Es ist das Wort, so teilt uns Paulus mit, dass Gott der Vater sprach bei der Auferweckung Christi aus den Toten (Apostelgeschichte 13, 33). Die Heilige Schrift nimmt dieses Wort, dieses machtvolle Wort von Gott dem Vater an den Sohn also sehr wörtlich. Ein anderer Ausspruch Gottes des Vaters an den Sohn finden wir in Psalm 110. Da sagt der Vater zum Sohn, und zwar nach der Himmelfahrt Christi: Du bist Priester Gottes nach der Ordnung Melchisedeks (Hebräer 5, 7). Nehmen wir ein weiteres Wort aus der heiligen Kommunikation zwischen Vater und Sohn. Dieses Mal ist es ein Wort, das der Sohn zum Vater sprach. Wir finden es in Hebräer 2, 12. Dort sagt der Sohn zum Vater: Ich will meinen Brüdern deinen Namen verkündigen. Inmitten der Gemeinde will ich dir lobsingen. Das ist ein Zitat aus Psalm 22. Auch bei diesem Ausspruch müssten wir innehalten. Wir müssten betroffen darüber nachsinnen, was der Sohn hier eigentlich zum Vater sagt. Christus bringt mit diesem Ausspruch nämlich zum Ausdruck, worum es in unseren Gottesdiensten geht. Gemäß diesem Wort (Ich will meinen Brüdern deinen Namen verkündigen) verhält es sich so, dass der Sohn Gottes durch den Dienst des Wortverkündigers ein einziges Ziel verfolgt, nämlich dass er den Namen Gottes in der Gemeinde verkündigt. Und auch bei unserem Singen in den Gottesdiensten geht es nicht um ein menschengemachtes Tra-la-la. Stattdessen geht es darum, dass der Sohn selbst in und durch seine Gemeinde dem Vater Lob darbringt: Inmitten der Gemeinde, so sagt der Sohn, will ich dir lobsingen. Jedes dieser Worte aus der Konversation zwischen den Gott-Personen der Dreieinigkeit ist inhaltlich für uns kaum auslotbar. Ein weiteres Wort des Sohnes an den Vater finden wir in dem gerade gelesenen Abschnitt aus Hebräer 10. Das ist der Ausspruch, den der Sohn tat unmittelbar bevor er die himmlische Herrlichkeit beim Vater verließ und in diesen Kosmos kam. Es heißt: Bei seinem Eintritt in die Welt sprach er: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereit. An Brandopfern und Sündopfern hast du kein Wohlfallen. Da sprach ich: Siehe ich komme, in der Buchrolle steht von mir geschrieben, um deinen Willen, o Gott zu tun (Hebräer 10, 5-7). Das ist ein Zitat, das aus Psalm 40, 7-9 entlehnt ist. Ich betone: Es ist von dort entlehnt. Wir werden noch sehen: Es ist nicht wörtlich zitiert, aber es ist aus dieser Stelle abgeleitet und ausgelegt. Bleiben wir aber zunächst bei dem, was uns der Heilige Geist in Hebräer 10 geoffenbart hat. Ich verkündige Ihnen heute am vierten Advent das Wort Gottes aus Hebräer 10, 5-10 unter dem Thema: Christi Lobpreis für den Leib, den der Vater ihm bereitet hat, denn 1. Ohne den Leib Christi wären alle alttestamentlichen Tieropfer sinnlos 2. Ohne den Leib Christ gäbe es kein Heil und keine Heiligung für uns 1. Ohne den Leib Christi wären alle alttestamentlichen Tieropfer sinnlos Wir erwähnten es bereits: Jesus Christus war und ist nicht ein Mensch wie Du und ich. Vielmehr ist er von Ewigkeit her. Das lesen wir in der bekannten Einleitung (Prolog) des Johannesevangeliums (Johannes 1). Wir erfahren es auch aus Philipper 2. Dort heißt es: Jesus Christus, der in der Gestalt Gottes war, hielt es nicht wie einen Raub fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte [entleerte] sich selbst (Philipper 2, 6). Das meint: Der Sohn Gottes entstand nicht erst im Leib der Maria. Vielmehr kam er in diese sichtbare Welt aus der unsichtbaren himmlischen Ewigkeit, aus der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott dem Vater. Wenn ich es einmal salopp, geradezu unehrbietig sagen darf: Unmittelbar bevor der Sohn Gottes im Himmel für sich selbst das Licht "ausknipste" und in den Leib der Jungfrau Maria stieg, um aus ihrem Fleisch und Blut einen Leib gewoben zu bekommen, da wandte er sich noch einmal an den Vater. Gleichsam zum Abschied aus der Gemeinschaft mit ihm sagte er: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereit. An Brandopfern und Sündopfern hast du kein Wohlgefallen: Da sprach ich. Siehe ich komme, in der Buchrolle steht von mir geschrieben, um deinen Willen, o Gott, zu tun (Hebräer 10, 5-7). Wenn wir so wollen, ist mit diesem Ausspruch des Sohnes Gottes der Bezugsrahmen, der Parameter, die unverrückbare Vorgabe für Grund und Absicht des Kommens des Sohnes Gottes zum Ausdruck gebracht. Wir haben ja im Neuen Testament zahllose Aussagen, aus denen wir hören, wozu der Sohn Gottes in diese Welt gekommen ist. Zum Beispiel wenn Jesus Christus sagt: Der Sohn des Menschen ist gekommen, um das Verlorene zu erretten (Matthäus 18, 14; Lukas 19, 10). Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen (Markus 10, 45). Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich Zeugnis ablege von der Wahrheit (Johannes 18, 37). usw. Aber dieser Ausspruch, den der Sohn Gottes beim Eintritt in den Kosmos sagte, ist der unverrückbare Pflock, der uns den tiefsten Grund mitteilt, warum und wozu Jesus Christus in diese Welt kam. Hier erfahren wir, was Gott den Vater und Gott den Sohn zutiefst bewegte, als der Sohn sich auf seinen Erniedrigungsweg begab hinein in unsere Finsternis und in unser Elend. Was bewegte ihn? Was hatte er für Gedanken dabei? Das erste, was wir hören, ist, dass Jesus Christus sein Kommen in einen Zusammenhang bringt mit den alttestamentlichen Opfern. Er sagt zu seinem Vater: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt. Damit setzt Christus sein Kommen in eine Beziehung zu den unzähligen Schlachtopfern, die in der Stiftshütte und dann später im Tempel dargebracht wurden, und die zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, immer noch in Jerusalem vollzogen wurden. Auf die Thematik der Tieropfer geht der Schreiber des Hebräerbriefes ausführlich ein. Indem er die Tieropfer mit dem Opfer des Sohnes Gottes vergleicht, betont er den Unterschied: Das Opfer, das Jesus Christus in seinem Leib darbrachte, ist ein endgültiges Opfer: Es ist ein für allemal geschehen. So wird es ausdrücklich in Hebräer 9 gesagt: Im Vergleich zu den unzähligen Tieropfern ist das Opfer Christi einmalig. Aber machen wir es uns einmal plastisch klar, was das Darbringen von Tieropfern hieß. Das hieß für jeden Beobachter des Geschehens im Tempelvorhof: Brüllen, Blöken, Stöhnen, Kuhmist, Schlachthofgestank, Rauch und der Geruch von verbranntem Fleisch. Das war alles in einem Bereich, der zum Tempel gehörte. Das sind alles Dinge, die wir uns heute in unseren Gottesdiensten gar nicht mehr vorstellen können. Ja, sie kommen uns geradezu fremdartig vor. Aber für die Juden hatte dieser ganze Trubel etwas Vertrautes, etwas Bekanntes und damit etwas Anziehendes. Für die Christen, die aus dem Judentum kamen, lag darin sogar eine Versuchung. Der Hebräerbrief wurde geschrieben an jüdische Christen, und diese jüdischen Christen standen in der Gefahr, sich vom christlichen Glauben Schritt für Schritt wieder abzusetzen und zum Judentum zurückzukehren. Worin bestand die Anfechtung für sie genau? Die Christen blickten sich in ihren Gottesdiensten gegenseitig an. Dann stellten sie fest: Wir sind wenige. Wir sitzen hier in einem Raum, und wir beten zu einem Christus, den wir nicht sehen. Da drüben auf dem Tempelplatz, da ist Action. Da ist etwas los. Da geht religiös gesehen die Post ab. Vor allem am großen Versöhnungstag ist das der Fall, also an dem Tag, wenn der Hohepriester nicht nur in das Heiligtum geht, sondern durch den Vorhang des Heiligtums in das Allerheiligste schreitet, und zwar mit einer Schale von Tierblut, mit dem er die Gegenstände im Allerheiligsten besprengt, wie zum Beispiel die Bundeslade. Was für spannungsgeladene Momente sind das für diejenigen, die draußen stehen. Sie halten gleichsam den Atem an: Wird der Hohepriester aus der Gegenwart Gottes wieder herauskommen? Und wenn er dann hinausgetreten ist, dann löst sich die Spannung, und dann segnet er das Volk. Das alles war etwas für die Sinne, fürs Auge, fürs Gemüt. Denken wir an Zacharias, dem der Engel Gabriel erschien, als er eine solche Aufgabe übernahm, und dann hinaustrat vor das Volk und nicht mehr sprechen konnte und auch nicht mehr das Volk segnen konnte. Im Vergleich zu den spektakulären Riten und Zeremonien am und im Tempel ist der Gottesdienst bei den Christen einfach, schlicht, und alles andere als aufregend. Gottesdienst bei ihnen besteht aus dem Lesen der Heiligen Schrift, aus dem Hören auf das Wort Gottes, aus Gebet und dem Singen von Psalmen und Lobliedern, und anschließend geht man wieder nach Hause. Der Schreiber des Hebräerbriefs erläutert dazu: Der Gottesdienst der Christen ist geistlich, denn er lenkt die Herzen der Gläubigen und ihren Geist weg vom Sichtbaren auf das Unsichtbare. Aber genau darin lag für manche aus dem Judentum gekommene Christen die Versuchung. Denen teilt der Schreiber des Hebräerbriefes mit: Nein, ihr Christen seid nicht ärmer dran als die Juden. Im Gegenteil, Ihr seid reicher: Denn wir Christen haben einen "Superhohepriester", einen "Mega-Hohepriester" (Hebräer 4, 16). Wir haben nämlich nicht einen Hohepriester, der durch den Jerusalemer Tempel in das irdische Allerheiligste gegangen ist, sondern wir haben einen, der durch die Himmel gegangen ist und nun im himmlischen Allerheiligsten seinen hohepriesterlichen Dienst verrichtet, und zwar nicht mit Tierblut, sondern mit seinem eigenen Blut. Und das alles wissen wir nicht durch optische Wahrnehmung, sondern wir wissen es im Glauben. Und dieser Glaube ist ein Schauen auf das Unsichtbare. Angesichts der Versuchung der hebräischen Christen, wieder zum Sichtbaren abzugleiten, legt der Hebräerbrief genau darauf den Finger. Wir lesen: Ja, die Opfer im Vorhof des Tempels sind etwas für die Sinne. Sie haben etwas Spektakuläres. Aber - und ihr könnt das selbst bereits im Alten Testament nachlesen: Schlachtopfer, Speisopfer, Gaben hast du, Gott, nie gewollt. (Psalm 40). Oder denken wir an Psalm 50. Dort fragt Gott direkt: Wollt ihr mir Tiere opfern? Und dann noch direkter: Esse ich etwa Stierfleisch oder trinke ich Blut von Böcken? (Psalm 50, 13). Jesaja 1, 11-15: Was soll mir die Menge eurer Schlachtopfer?, spricht der Herr. Ich bin der Brandopfer von Widdern und des Fettes der Mastkälber überdrüssig, und am Blut der Jungstiere, Lämmer und Böcke habe ich kein Gefallen! Wenn ihr kommt, um vor meinem Angesicht zu erscheinen - wer verlangt dies von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet? Bringt nicht mehr vergebliches Speisopfer! Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumond und Sabbat, Versammlungen halten: Frevel verbunden mit Festgedränge ertrage ich nicht! Eure Neumonde und Festzeiten hasst meine Seele; sie sind mir zur Last geworden; ich bin es müde, sie zu ertragen. Und wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch, und wenn ihr auch noch so viel betet, höre ich doch nicht, denn eure Hände sind voll Blut! Habt ihr das nie in eurer Bibel gelesen? Und trotzdem wollt ihr dahin wieder zurück? Tatsächlich war im Judentum selbst im Laufe der Jahrhunderte die Einsicht gereift: Tieropfer können keine Sünden hinwegnehmen. Sie können kein Gewissen reinwaschen. Der Schreiber des Hebräerbriefes knüpft an die Überlegungen derjenigen an, die ihre Tieropfer Jahr für Jahr darbrachten. Nachdem er geschrieben hatte, dass die alljährlich dargebrachten Opfer die Hinzutretenden niemals zur Vollendung bringen können, schreibt er: Hätte man sonst nicht aufgehört, Opfer darzubringen, wenn die, die den Gottesdienst verrichten, einmal gereinigt kein Bewusstsein von Sünden mehr gehabt hätten? (Hebräer 10, 2). Stellen wir uns einen Familienvater vor. Er kam gerade mit seiner Familie aus Jerusalem. Dort hatte die Familie ein Schaf geopfert. Nun befand er sich auf dem Heimweg. Da wusste er: Meine Sünden sind nicht weg. Nächstes Jahr werde ich wieder nach Jerusalem gehen. Dabei weiß ich im Voraus: Tieropfer sind zur Vergebung meiner Sünden ein völlig unzureichendes Mittel. Das Opfern von Tieren war psychologisch gesehen nicht ohne Sinn: Es war ein Erinnern an die Sünden (Hebräer 10, 3). Aber im Blick auf das Thema der Sündenvergebung befanden sich die Menschen in einem Hamsterrad. Durch das alljährliche Opfern wurde ihnen lediglich klargemacht: Vergiss nicht, wer du, Mensch, vor Gott bist! Eigentlich hättest du anstelle des Schafs dort auf dem Altar festgebunden werden müssen und der Priester hätte dir die Gurgel durchschneiden müssen. Wenn wir nun die Frage stellen, was denn an die Stelle der Tieropfer trat, dann lautet die Antwort: Hier gingen die christliche Kirche und die Synagoge diametral entgegengesetzte Wege. Ihre Wege sind so gegensätzlich, dass ein Zusammengehen nicht möglich ist. Ich betone das deswegen, weil in den zurückliegenden Jahrzehnten von Seiten mancher Christen es geradezu im Trend lag, Christentum und Judentum in einen Topf zu werfen, und dann zu sagen: Das sei doch alles eine einzige Religion. Nein, zwischen Judentum und Christentum besteht ein fundamentaler Gegensatz. Wenn ich das sage, dann ist das nicht in einer antisemitischen Grundstimmung begründet. Vielmehr liegt es an dem total unterschiedlichen Glauben. Und übrigens, das gleiche gilt auch für die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen. Aber bleiben wir beim Judentum. Diesen Unterschied zum Judentum wollen heutzutage viele Christen nicht sehen. Da erklärt man: Die Juden haben doch einen Teil der Bibel, das Alte Testament, wie wir. Das haben wir Christen doch mit den Juden gemeinsam. Und dann hören diese Christen, dass die Juden ebenfalls aus der Bibel zitieren, aus dem Alten Testament. Und sie sagen: Siehst du, die Juden glauben auch an die Bibel, wie wir. Eigentlich gehören wir doch zusammen... Was hat denn nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 und damit nach der Beendigung des Opferdienstes bei den Juden die Tieropfer ersetzt? Auf diese Frage gibt das Judentum eine Antwort, indem es eine Geschichte erzählt und zwar die Folgende: Eines Tages ging der große Rabbiner Jochanan ben Zakkai mit seinem Schüler Rabbi Joshua aus dem Tor von Jerusalem. Als Rabbi Joshua die Ruinen des zerstörten Tempels sah, rief er aus: "Wehe uns, denn der Ort, an dem Israels Schuld gesühnt wurde, ist zerstört!" Aber der jüdische Gelehrte erwiderte daraufhin: "Sei nicht betrübt, mein Sohn, denn wir haben immer noch eine Sühne, die brauchbar ist, nämlich unsere Taten der Barmherzigkeit." Dies ist unstrittig eine eindeutige Ansage. Es ist eine Antwort auf die Frage: Worin sieht das Judentum den Sühneweg, nachdem der Tempeldienst aufgehört hat? Vielleicht kann der eine oder der andere von uns diese Antwort sogar nachvollziehen. Ich weiß, dass sie auch christliche Menschen anspricht. Aber wenn wir das Neue Testament fragen: Was ist das Mittel zur Sühne für uns Christen, dann lautet die Antwort eindeutig: Es sind nicht unsere Werke der Barmherzigkeit. Es ist ein anderes Werk. Es ist das Werk Christi. Dieses Werk allein bewirkt vor Gott Sühne. Und um genau dieses Werk zu erfüllen, bereitete Gott der Vater seinem Sohn einen Leib. Darum ist das, was wir in wenigen Tagen feiern, nämlich die Fleischwerdung des Sohnes Gottes, der einzige Weg, auf dem unsere Schuld gesühnt wird und wir zum Heil gelangen. Deswegen sagte der Sohn beim Eintritt in die Welt: Opfer und Gaben hast du [Vater] nie gewollt. Aber einen Leib hast du mir bereitet. An Brandopfern und Sündopfern hast du kein Wohlgefallen. Da sprach ich: Siehe, ich komme - in der Buchrolle [AT] steht von mir geschrieben -, um deinem Willen, o Gott, zu tun. Dann fährt der Schreiber des Hebräerbriefes fort: Oben sagt er: "Opfer und Gaben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht gewollt, du hast auch kein Wohlgefallen an ihnen, - die ja nach dem Gesetz dargebracht werden -, dann heißt es: "Siehe ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun." Somit hebt er das Erste auf, um das Zweite einzusetzen (Hebräer 10, 5-9). Was war also die Antwort Gottes auf die Tieropfer, die das Gewissen der Menschen von keiner einzigen Schuld waschen konnten? Es waren nicht unsere "Werke der Barmherzigkeit". Es waren nicht Leistungen, die wir vollbracht hätten, sondern es war einzig und allein das Sühnewerk des Sohnes Gottes. Und für dieses Werk bereitete der Vater dem Sohn einen Leib, damit durch und in diesem Leib Jesus Christus den Willen des Vaters vollbringt und das Opfer darbringt, für die alle Tieropfer nur ein Schatten sind. Damit komme ich zum zweiten Punkt der Predigt. 2. Ohne den Leib Christ gäbe es kein Heil für uns und keine Heiligung Im Gegensatz zum Judentum und auch im Gegensatz zum Islam geht es im Christentum im Kern nicht um unsere Werke. Schon gar nicht vermögen unsere Werke vor Gott eine Sühneleistung zu erbringen. Bei der Sühne steht ein einziges Werk im Zentrum: Es ist das Werk Christi. Es geht um das Werk dessen, der in und durch seinen Leib den Willen des Vaters vollkommen erfüllt hat. Es geht um den Gehorsam des Sohnes Gottes gegenüber seinem himmlischen Vater. Darin allein liegt unser Heil. Dies ist der tiefste Grund, warum Christus in diese Welt kam. Deswegen haben wir heute Advent, und deswegen feiern wir in wenigen Tagen das Christfest. Es geht darum, dass uns das Werk Gottes in Christus vor Augen geführt wird, in dem allein unser Heil und unsere Heiligung verankert ist. Noch einmal die Frage: Was ist bei den Christen an die Stelle der unzähligen alttestamentlichen Tieropfer getreten? Antwort: dass Gott der Vater seinem Sohn aus der Jungfrau Maria einen Leib bereitet hat. Ich betone deswegen, dass Gott bzw. der Heilige Geist dem Sohn Gottes einen Leib aus dem Fleisch der Maria gewoben hat, weil es in der Kirchengeschichte auch eine andere Auffassung gab. Diese andere, diese falsche Auffassung besagt, dass der Sohn Gottes aus dem Himmel durch die Maria wie durch einen Kanal hindurchfuhr, um auf diese Weise hier auf der Erde zu landen. Das ist falsch. Der Sohn Gottes, die zweite Person der Dreieinigkeit "rutschte" nicht durch die Maria hindurch, wie durch eine Röhre, sondern Jesus Christus bekam von Gott seinen Leib aus dem Fleisch und aus dem Blut der Maria. Das wurde seit jeher von der Kirche mit Nachdruck bekannt. Im Jahr 325 erklärte die Kirche auf dem Konzil von Nicäa gegen eine damals aufgekommene Irrlehre, dass Jesus Christus wahrer Gott ist. Jesus Christus ist genauso Gott, wie Gott der Vater: "Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott von wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen." In diesem Satz geht es um die Gottheit Christi. Und dann heißt es gleich darauf weiter: "Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Das Menschsein von Jesus Christus geht hinein bis in solche Details, dass wir zweimal in der bekannten Weihnachtsgeschichte bei Lukas lesen, dass Maria ihren erstgeborenen Sohn in Windeln wickelte. Wozu Windeln notwendig sind, das brauche ich sicher den jungen Familien unter uns nicht zu erläutern. ... An Gebärden gleich geworden, so schreibt Paulus einmal: wie ein Mensch erfunden (Philipper 2, 7.8). Jesus Christus: wahrer Gott und auch wahrer Mensch. Ich lese nun noch einmal die Worte aus Psalm 40, 7-9: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt; Ohren aber hast du mir bereitet; Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. Da sprach ich: Siehe, ich komme, in der Buchrolle steht von mir geschrieben; deinen Willen zu tun, mein Gott, begehre ich, und dein Gesetz ist in meinem Herzen. Haben wir Psalm 40 aufmerksam gelesen, während wir noch Hebräer10 im Sinn haben? Dann sind uns vor allem zwei Unterschiede zwischen Psalm 40 und Hebräer 10 aufgefallen. Fangen wir mit dem letzten Unterschied an. Während es in Hebräer 10 heißt: Da sprach ich, siehe, hier bin ich - es steht von mir geschrieben in der Schriftrolle -, dass ich deinen Willen tue, o Gott, heißt es in Psalm 40 lediglich: dein Gesetz ist in meinem Herzen (Psalm 40, 9). In Psalm 40 geht es um den Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes. In Hebräer 10 geht es um das Erfüllen des gesamten Heilsplans Gottes. Die Erfüllung des Willens Gottes durch Christus ist also wesentlich umfassender. Aber vermutlich ist uns ein anderer Unterschied mehr ins Auge gefallen. Es ist nämlich so, dass in Psalm 40 gar nicht vom Leib die Rede ist, sondern von Ohren. Dort wo im Hebräerbrief von Leib (Körper) zu lesen ist, spricht Psalm 40 von Ohren: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, Ohren aber hast du mir bereitet. Und wenn wir jetzt einmal bei Psalm 40, 7 in die Fußnote der Schlachter 2000-Übersetzung schauen, dann heißt es dort sogar: Ohren hast du mir gegraben. Oder auch zu übersetzen: Ohren hast du mir durchbohrt. Was ist denn hier los? Hat hier der Schreiber des Hebräerbriefs nicht ziemlich willkürlich zitiert? Hat er hier nicht das Psalmwort manipuliert? Was meint eigentlich: das Ohr durchbohren? Natürlich geht es hier nicht um das Durchstechen von Ohren, um sich Ohrringe o.Ä. dranzuhängen. Es geht um etwas Anderes. Um das zu verstehen, müssen wir uns eine Anordnung in Erinnerung rufen, die Gott in 2.Mose 21 gab. Dort wird uns folgende Situation geschildert: Angenommen, jemand hatte so viele Schulden, dass er sie nicht mehr zurückzahlen konnte. In diesem Fall sollte er bei seinem Schuldner in eine Art Schuldknechtschaft treten. Diese Schuldknechtschaft sollte höchstens 6 Jahre dauern. Dann war Schluss. Spätestens im siebten Jahr musste er wieder freigelassen werden. Aber nun konnte sich folgende Konstellation ergeben: Der betreffende Schuldner sagte: Ich habe hier meine Frau kennengelernt, und außerdem habe ich große Zweifel, ob ich mein Leben selbst auf die Reihe bringe. Ich will für immer bei meinem Herrn bleiben. Hier geht es mir gut. Ich brauche nicht Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Das übernimmt hier mein Herr. Was will ich eigentlich mehr? Wenn dieser Fall eintritt, also dass jemand sich seinem Herrn für immer zum Knecht erklärt, dann sollte Folgendes passieren: Wenn der Sklave erklärt: Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder, ich will nicht freigelassen werden!, so soll ihn sein Herr vor Gott bringen und ihn an die Tür oder den Pfosten stellen, und er soll ihm seine Ohren mit einem Pfriem durchbohren, damit er ihm diene für alle Zeiten (2. Mose 21, 5-6). Nachdem dies geschehen ist, ist der Betreffende für alle Zeiten zum Gehorsam verpflichtet. Auf dieses Gebot spielt Psalm 40, 7 an: Du hast mir Ohren durchbohrt. Das heißt nichts Anderes: Von nun an gehöre ich dir total. Von nun an bin ich deinem Willen völlig ausgeliefert, und zwar mit Haut und Haaren und für alle Zeiten. Das ist der Grund, warum der Heilige Geist aus der Aussage: Ohren hast du mir durchbohrt im Neuen Testament macht: Du hast mir einen Leib bereitet. Denn das trifft genau den Sinn. Hebräer 10 manipuliert also nicht, sondern bringt das auf den Punkt, was Psalm 40 sagt: Der Sohn Gottes empfing aus der Jungfrau Maria einen Leib, um Gott dem Vater ganz und gar zu dienen: damit ich deinen Willen, o Gott, tue. Wenn man den Psalm 40 insgesamt liest, hat man den Eindruck, dass hier sowohl im ersten Teil und dann auch wieder im zweiten Teil jemand spricht, der sich in tiefstem Sündenelend befindet und sich aus diesem Sumpf heraussehnt und zu Gott um Rettung schreit. Aber mitten in diesem Psalm ist dann von jemandem die Rede, von dem es heißt, dass in dessen Herz das Gesetz Gottes eingraviert ist (Psalm 40, 9). Ja was nun? Genau aus dieser Sackgasse führt uns der Heilige Geist heraus. Er weist uns darauf hin, dass der, dessen Ohren durchgraben sind, in dessen Herz das Gesetz Gottes tief eingraviert ist, nicht du und ich sind. Es sind nicht unsere Werke der Barmherzigkeit. Hier ist von Christus die Rede. Er ist der, in dessen Herz das Gesetz Gottes eingekerbt ist (Psalm 40, 9). Es ist Christus, der sich seine Ohren durchgraben ließ (Psalm 40, 7). Ja, viel mehr: der den Willen Gottes vollkommen erfüllte und dafür von Gott einen Leib empfing. Darum rufe ich Dich heute am vierten Advent auf: Blicke weg von dir selbst, von deinen Werken. Blick im Glauben auf Christus. Nicht deine Werke der Barmherzigkeit, sondern das Werk der Barmherzigkeit Christi ist dein Halt, ist deine Sühne. Nicht du wirst aus dem Elend deiner Sünden zu Gott kommen, sondern es ist umgekehrt, da ist jemand zu dir gekommen, hinein in dein Elend. Das meint Advent, Ankunft. Indem der Hebräerbrief dem Psalm 40 vollkommen gerecht wird, zeigt er uns gleichsam im Vorbeigehen den Gegensatz zwischen dem Evangelium einerseits und dem Judentum bzw. dem Islam andererseits. "Allah hat keinen Sohn", so sprechen die Muslime. Wir dagegen bekennen, dass Gott einen Sohn hat. Und wir bekennen ferner, dass Gott diesem Sohn einen Leib bereitet hat. Und dies ist unsere Seligkeit. Es ist kein Geheimnis, dass man in unserer heutigen Kultur dies nicht mehr wahrhaben will. Am liebsten möchte man aus dem Weihnachtsfest ein "Winterfest" macht ("Seasonfest"). Denn man will ja nicht die muslimischen und jüdischen Mitbürger vor den Kopf stoßen. Aber genau damit verweigert man ihnen das Herrlichste, was wir ihnen im Abendland geben können. Es ist das Evangelium von dem Gott, der seinem Sohn einen Leib bereitete, damit er in und mit seinem Leib den Willen Gottes erfüllt, und zwar an unserer statt. Wenn Du nicht verstehst, dass unser gesamtes Heil und unsere gesamte Heiligung aus dem fleischgewordenen Christus kommt und in ihm gewurzelt ist, dann wirst du Weihnachten nicht wirklich feiern können. Dann hast du auch nicht verstanden. worum es im Kommen Christi geht, was der Sohn bei seinem Eintritt in diese Welt meinte, als er sagte: An Brandopfern und Sündopfern und sonstigen Gaben hast du, o Gott kein Gefallen. Aber, und davon spricht bereits die Buchrolle: Du hast mir einen Leib bereitet. Siehe ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun. Amen. 8