Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (4. Advent –20.12.2020) Wortverkündigung: Lukas 1,76–79 Thema: Das Kommen Christi – Die Höhe und die Tiefe der Liebe Gottes Psalmen/Lieder: 43,1–5; 43,6–9; Psalm 89a,1–4.7; Psalm 85b,1–7 Gesetzeslesung: Jesaja 59,1–21 Erste Schriftlesung: Epheser 3,13–21 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen heute, am vierten Adventssonntag, aus dem Lukasevangelium, und zwar aus Kapitel 1,76–79. Es sind die abschließenden Verse des Lobgesangs des Zacharias. Wir hören zunächst den gesamten Lobgesang, also Lukas 1,67 bis 79. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus! Zacharias und seine Frau Elisabeth konnten auf ein langes gemeinsames Leben zurückblicken. Das ist ein Geschenk. Inzwischen waren sie alt geworden. Allerdings lag jahrzehntelang über ihrer Ehe ein Schatten: Sie hatten kein Kind bekommen, obwohl sie Gott immer und immer wieder um ein Kind gebeten hatten. Gott ließ sie warten. Warum? Gott ließ sie deswegen so lange warten, weil er auf diese Weise zeigen wollte, dass das Bekommen eines Kindes nicht etwas Selbstverständliches ist. Es ist immer ein Geschenk Gottes. Sehr häufig lesen wir in der Heiligen Schrift, dass es Gott ist, der den Mutterschoß schließt und ihn öffnet. Gott ist es, der das Kind im Mutterleib bildet und formt, bis es dann nach rund neun Monaten auf die Welt kommt. Dabei ist es ein großes Wunder und ein Zeichen seiner Güte, dass Gott Menschen als Vater und als Mutter an diesem seinem Schöpfungswerk teilhaben lässt. Nirgendwo kommen wir Gott dem Schöpfer so nah wie in unserer Geschlechtlichkeit. Übrigens ist das der Grund, warum unsere Sexualität für unser Leben eine so tiefgreifende Bedeutung hat: Unsere Sexualität kann hier auf Erden höchstes Glück sein. Aber sie kann auch zu einer furchtbaren Hölle werden, und zwar dann, wenn wir sie missbrauchen, sie also nicht so einsetzen, wie Gott sie will, nämlich im Rahmen der Ehe von Mann und Frau. Zacharias und Elisabeth hatten lange Zeit kein Kind bekommen. Aber eines Tages schickte Gott den Engel Gabriel zu Zacharias. Zacharias befand sich gerade im Tempel, im Heiligtum. Als er am Räucheraltar opferte, trat der Engel Gottes zu ihm und verkündete ihm: Zacharias, dein Gebet ist erhört worden, und deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Johannes nennen. Johannes, das heißt so viel wie: Gott schenkt, Gabe Gottes, Gott ist gnädig oder auch Gott beugt sich herab. Aber der Priester Zacharias glaubte der Botschaft Gabriels nicht. Ungläubig argumentierte er mit dem Engel. Schließlich erwiderte ihm der Bote Gottes: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und ich bin gesandt, zu dir zu reden und dir diese frohe Botschaft zu bringen. Und siehe, du wirst stumm sein und nicht reden können bis zu dem Tag, an dem dies geschehen wird, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die erfüllt werden sollen zu ihrer Zeit! (Lk. 1,19.20). Ungefähr neun Monate später brachte Elisabeth einen Sohn zur Welt. Im Gehorsam gegenüber Gott gab Zacharias dem Neugeborenen den Namen Johannes (Lk. 1,63). Später wird er Johannes der Täufer genannt. Unmittelbar nachdem Zacharias diesen Namen auf eine Tafel geschrieben hatte, so lesen wir, wurde die Zunge von Zacharias gelöst (Lk. 1,64). Der alte Priester wurde mit dem Heiligen Geist erfüllt, und er fing an, Gott zu loben, ihn zu preisen, und er weissagte. Dass Zacharias monatelang stumm geblieben war, war eine Strafe Gottes wegen seines Unglaubens. Aber aus diesem Gericht an Zacharias wirkte Gott Segen für ihn. Tatsächlich sind Züchtigungen Gottes für denjenigen, der im Glauben zu Gott heimkehrt, immer etwas Heilsames und damit etwas Gutes. Lasst uns das nie vergessen! Vielleicht leidest du gerade in diesen Tagen unter den Wunden deiner vergangenen Sünden. Du leckst die Narben deines Ungehorsams. Ich sage dir: Wenn du dein elendes Leben vor das Kreuz Christi wirfst, wird Gott die Schrammen und Blessuren deiner Sünde in Zeichen seiner Gnade umwandeln. Denn dann gilt auch dir die Verheißung: Wo die Sünde mächtig ist, ist die Gnade viel mächtiger (Röm. 5,20). Ganz gewiss hatte Zacharias zunächst unter der Züchtigung Gottes geächzt. Vermutlich hatte er sich auch heftige Vorwürfe gemacht: Warum habe ich dem Boten Gottes nicht geglaubt? Warum musste ich so skeptisch sein? Warum habe ich mich wie ein Narr aufgeführt? Aber allmählich wird Zacharias auch das Positive in dem Züchtigungsweg Gottes erfasst haben. Frage: Was würde es für mein und dein Leben bedeuten, wenn du neun Monate lang nichts sprechen könntest?! Als Zacharias dann den Namen „Johannes“ auf die Tafel schrieb, war es ihm möglich, seinen wiedererlangten Glauben zu bezeugen. Das erste, was er tat, war: Er lobte Gott. Erfüllt mit dem Heiligen Geist verfasste er das, was in die Kirchengeschichte eingegangen ist als das Benediktus. „Benediktus“ heißt „gepriesen“ oder „gesegnet“. Das ist das erste Wort dieses Lobpreises: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, weil er sein Volk besucht und erlöst hat (Lk. 1,68). Vielleicht ist es uns beim Bibellesen schon einmal aufgefallen: Die 150 Psalmen der Heiligen Schrift sind in fünf Teile gegliedert. Das Psalmenbuch besteht aus fünf Büchern. Der erste Teil reicht bis Psalm 41, der zweite schließt nach Psalm 72 ab, bei Psalm 89 endet der dritte Teil, bei Psalm 106 der vierte, und Psalm 150 beendet den fünften Teil. Jedes dieser fünf Stücke schließt mit einem Lobpreis an Gott ab. Der letzte sogar mit einem ganzen Psalm. Am Ende der anderen Teile lesen wir stets den Satz: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels (Ps. 41,14; 72,18; 89,53; 106,48). Genau mit diesem Satz beginnt Zacharias seinen Lobpreis: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels.... Natürlich ist das kein Zufall. Vielmehr stößt uns der Heilige Geist damit auf die Wahrheit, dass sich die alttestamentlichen Psalmen auf das Kommen unseres Erlösers beziehen. Das ist der Grund, warum wir es in unseren Gottesdiensten nicht unterlassen sollten, auch die Psalmen zu singen. Es ist uns im Neuen Testament geradezu geboten: Epheser 5,19; Kolosser 3,16. Denn die Psalmen haben ihre Erfüllung in Christus, also im Neuen Bund. Als Zacharias mit seinem Lobgesang anfing, und zwar mit diesem aus den Psalmen so bekannten Satz, da konnte er sicher sein, dass die Umstehenden, die ihm zuhörten, das gesamte Psalmenbuch mithörten. Auf diese Weise schlug der Priester Zacharias eine Brücke vom Alten Testament hin zur Erfüllung im Neuen Bund. Zacharias erinnert hier ausdrücklich an den Bund Gottes. Es ist der Bund, den der Gott der Herrlichkeit einst mit Abraham geschlossen hatte. Zacharias erfasst, dass Gott nun im Begriff steht zu kommen, um Barmherzigkeit zu erweisen an unseren Vätern und zu gedenken an seinen heiligen Bund an den Eid, den Gott unserem Vater Abraham geschworen hatte (Lk. 1,72.73). Diesen mit Abraham geschlossenen Bund fokussierte Gott dann weiter auf den Bund mit David. Denken wir an das gewaltige Versprechen, das der Prophet Nathan dem David im Auftrag Gottes gab. Ich werde Dir, David, ein Haus bauen (2Sam. 7,18.24). Ethan sang davon in Psalm 89,2–5: Die Gnadenerweise des Herrn will ich ewiglich besingen, von Geschlecht zu Geschlecht deine Treue mit meinem Mund verkünden. Ich sage: Auf ewig wird die Gnade gebaut, Deine Treue gründest du fest in den Himmeln. Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Auserwählten, habe meinem Knecht David geschworen: Auf ewig will ich deinen Samen fest gründen und für alle Geschlechter deinen Thron bauen. Zacharias begreift: Dieser Bund tritt nunmehr in Erfüllung. Der Priester bezeugt: Du, Gott hast uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Haus seines Knechtes David (Lk. 1,69). Wir sehen daran auch, dass dieser Psalm nicht nur ein „Lobpreis“ ist, so wie man heute das Wort „Lobpreis“ landläufig verstehen möchte, also mehr als ein Anheizen von Emotionen. In der Heiligen Schrift ist Lobpreis immer gleichzeitig Belehrung. Indem Zacharias hier Gott lobt, vermittelt er auch Lehre. Es geht um den sich über Jahrtausende erstreckenden Bund, der nun in die Erfüllung tritt. Aus diesem Lobpreis des Zacharias verkündige ich Ihnen heute Morgen das Wort Gottes, und zwar aus Lukas 1,76–79. Wir stellen uns unter das Thema: Das Kommen Christi – Die Höhe und die Tiefe der Liebe Gottes Wir sehen drei Punkte: 1. Das Heil: Vergebung unserer Sünden (Lk. 1,76.77) 2. Der Weg: Die Rettung kommt ganz aus der Höhe (Lk. 1,78) 3. Das Licht: Statt tiefer Finsternis und Tod – der Friede Gottes (Lk. 1,79) 1. Das Heil: Vergebung unserer Sünden (Lk. 1,76.77) In der ersten Schriftlesung lasen wir ein Gebet. Es ist ein Gebet des Apostels Paulus, in dem er Gott für die Gemeinde anfleht. Er bittet Gott darum, dass die Christen in Ephesus die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe der Liebe Gottes erkennen mögen (Eph. 3,18). Normalerweise denken wir Menschen ja dreidimensional. Da ist es geradezu atemberaubend zu sehen, dass der Apostel, wenn er von der Liebe Gottes spricht, gewissermaßen vier Dimensionen in den Blick nimmt: Breite, Länge, Tiefe und Höhe. Wenn man so will, wurden uns im ersten Teil des Lobgesangs des Zacharias die ersten beiden Dimensionen der Liebe Gottes geschildert. Es ging um die Länge und um die Breite der Liebe Gottes. Zacharias hatte bezeugt: In dem, der jetzt kommt, dürft ihr die Treue Gottes erkennen. Es kommt der, der das einhält, was er bereits vor Jahrhunderten und Jahrtausenden versprochen hatte. Bereits im Garten Eden hatte Gott dem Adam und der Eva den Schlangenzertreter verheißen. Gott hatte zugesagt: Es wird einmal der Same der Frau kommen, und der wird der Schlange den Kopf zertreten. Im Lauf der Zeiten wurde Gott mit seinen Verheißungen immer detaillierter und konkreter. Die Prophezeiungen liefen über den Bund mit Abraham zu dem Bund mit David, der sich dann bei den Propheten wie zum Beispiel bei Jesaja, bei Micha oder bei Sacharja konkretisierte. Aber Zacharias bezeugt nicht nur die Länge der Liebe Gottes, sondern auch deren Breite. Die Liebe umfasst nun alle Erwählten Gottes. Die Erlösung, die Gott in seinem Sohn Jesus Christus bringt, ist nicht nationalistisch auf ein Volk eingeschränkt, sondern sie hat ihren Bezug auf die gesamte Welt, auf Menschen aus allen Nationen. Bevor der mit dem Heiligen Geist erfüllte Priester dann fortfährt und über die Höhe und die Tiefe der Liebe Gottes singt, wirft er einen Blick auf den neugeborenen Johannes. Warum? Lenkt er damit nicht vom Eigentlichen, von Christus ab? Nein. Zacharias lenkt nicht ab. Vielmehr ist ihm das klar, was auch Paulus einst von Gott für die Epheser erbeten hatte, nämlich dass ihr die Liebe des Christus erkennt, die alle Erkenntnis übersteigt (Eph. 3,19). Möglicherweise wenden wir ein, dass das doch ein Widerspruch ist: Wie soll man das erkennen, das alle Erkenntnis übersteigt? Das ist doch vernunftwidrig! Nein, ist es nicht! Das Geschehen der Fleischwerdung des Sohnes Gottes ist nicht irrational. Es ist überrational. Aber weil es überrational ist, können wir uns dieser Wahrheit nur nähern, indem wir Johannes den Täufer nicht ausblenden. Denn wir können uns dem Geheimnis der Menschwerdung der zweiten Person der Dreieinigkeit nur nähern, indem wir auf Johannes der Täufer achtgeben. Weil Zacharias das sieht, wendet er sich Johannes zu und weissagt über ihn: Und du Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden, denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, um seine Wege zu bereiten, um seinem Volk Erkenntnis des Heils zu geben. Wenn Zacharias in diesem Lobpreis auf Johannes zu sprechen kommt, dann nicht deswegen, weil er mit seinem eigenen Sohn den Sohn Gottes in den Hintergrund drängen wollte. Das Gegenteil ist der Fall: Johannes der Täufer ist der Wegbereiter für Christus. Später wird Johannes über sich selbst sagen: Ich bin der Freund des Bräutigams, aber Jesus ist der Bräutigam. Ich muss abnehmen, er aber muss wachsen (Joh. 3,28–32). Mit anderen Worten sagt Johannes: Als Freund des Bräutigams bin ich zwar nicht unwichtig, aber eben nur als Freund des Bräutigams, nur als Bote. Wir können ohne Johannes den Täufer nicht Weihnachten feiern. Denn Johannes gehört zu Jesus Christus hinzu, so wie bei einer Hochzeit der Freund des Bräutigams (der best man) dazugehört. Aber eben in der Funktion, um vor dem Bräutigam herzugehen, um den Weg für den Bräutigam zu bereiten. Worin bestand diese Wegbereitung? Die Wegbereitung bestand in dem Ruf: Tut Buße, denn der König ist nahe. Und das Ziel der Umkehr ist das, was wir hier lesen: damit das Volk zur Erkenntnis des Heils gelangt. In der Adventszeit geht es ebenfalls darum, dass der Weg zu Christus geebnet wird, dass die Schlaglöcher auf unserem Weg hin zu ihm aufgefüllt werden, dass in unserem Leben die Hindernisse auf unserem Weg zu ihm beiseite geräumt werden. Darum wendet sich Zacharias seinem Sohn Johannes zu und verkündet: Und du Kindlein wirst ein Prophet des Höchsten sein, denn Du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, um seine Wege zu bereiten: um seinem Volk Erkenntnis des Heils zu geben, das ihnen zuteilwird durch die Vergebung ihrer Sünden (Lk. 1,76.77). Gemeinde, was uns auch sonst in den kommenden Tagen beschäftigen wird, und auch das, was uns möglicherweise bedrücken wird – vielleicht, weil wir nicht mit allen unseren Lieben zusammen sein können, die wir gerade in dieser Zeit sehr gerne um uns gehabt hätten: Aber das, was uns mit Freude erfüllt, mit einer Freude, in die wir auch unsere Kinder miteinbeziehen wollen, ist: Jesus ist kommen zur Vergebung meiner Sünden. Darum: Macht euch auf, und tut Buße, denn das von Johannes dem Täufer verkündete Heil ist gekommen! Jesus Christus hat die Vergebung deiner und meiner Sünden bereitet. 2. Der Weg: Die Rettung kommt ganz aus der Höhe (Lk. 1,78) Indem Johannes einige Jahre später dem Volk am Jordan diese Botschaft verkünden wird, weist er von sich weg. Er weiß: Er ist lediglich die Stimme eines Rufenden in der Wüste (Joh. 1,23). Das Wort ist Christus (Joh. 1,1). Auch Zacharias kehrt zum eigentlichen Thema zurück. Er bezeugt: Um der herzlichen Barmherzigkeit unseres Gottes willen, durch die uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe (Lk. 1,78). Zacharias spricht hier von der Barmherzigkeit Gottes, vom Erbarmen Gottes. Sprachetymologisch meint das Wort Barmherzigkeit ein warmes Herz haben. Gottes Herz ist für Sünder niemals kalt, sondern warm. Es ist entbrannt für die Verlorenen. Barmherzigkeit meint auch Herzlichkeit, Mitgefühl. Möglicherweise stehen dem einen oder anderen heute Morgen seine Missetaten vor Augen, sodass er in seinem Innern meint, gar nicht die Barmherzigkeit Gottes im Glauben erfassen zu können. Er starrt auf die Fülle seiner Sündenschuld. Aber Gott der Herr sagt dir: Wenn deine Sünden blutrot sind, sie sollen werden so weiß wie Schnee, wenn sie Karmesin ist, wie weiße Wolle sollen sie sein. Mancher von uns mag ein langes Leben hinter sich haben. Es ist gewissermaßen seine elfte Stunde angebrochen. Er hat bisher ohne Gott und die Sündenvergebung durch Christi Blut gelebt. Kehr jetzt um! Tue Buße! Eile jetzt zu dem, der voller Erbarmen ist, Dein Heil. Vielleicht aber bist du in diesen Tagen gar nicht wegen deiner Sünden so niedergedrückt, sondern deine Traurigkeit, deine Bestürzung hängt mit etwas anderem zusammen. Möglicherweise rührt sie aus dem, was wir gerade weltweit erleben, nämlich, dass die Ordnung des Rechtsstaats, in dem der Einzelne gegenüber den staatlichen Gewalten seine Freiheiten als Rechte geltend machen konnte, immer mehr schwindet. An die Stelle des Rechtsstaates scheint der Polizeistaat (Securitystaat) zu treten: Überall Verordnungen, Kontrollen, Überwachungen, Tests. Das, was bisher wir lediglich beim Einchecken auf Flughäfen über uns ergehen lassen mussten – wegen der „Terrorismusgefahr“ – scheint jetzt allgegenwärtig zu werden. Der wohl namhafteste lebende Philosoph Giorgio Agamben vergleicht die auf uns zukommende Staatsform mit einem „Lager“ oder mit einem „Camp“. Damit ruft Agamben bewusst Gedankenverbindungen an Gefangenlager auf. Ist es ein Zufall, dass Begriffe, die mittlerweile in aller Munde sind, wie „Lockdown“ oder „social distancing“ aus dem Strafvollzug stammen? Ihr Lieben, wenn wir hier von der Kanzel auf diese Umstände aufmerksam machen, dann nicht deswegen, weil wir von der Kanzel Politik treiben oder gar in den Bereich der Politik hinübergreifen wollen, oder weil wir gar die Gemeinde Gottes politisieren wollen. Es verhält sich umgekehrt. Der Staat greift gegenwärtig in die Gemeinde Gottes hinein. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Evangelium etwas anderes ist als ein Politikum. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass sich in Zeiten staatlicher Übergriffe auf die Gemeinde Gottes das Evangelium nur predigen lässt, indem man die gesellschaftspolitischen Einengungen, unter denen die Gottesdienste stattfinden, nicht ignoriert. Denn die neuartigen Bestimmungen und Verordnungen, die uns momentan erreichen, und – so hat es den Anschein – immer mehr verschärft werden, betreffen uns als einzelne Christen, aber sie betreffen auch unsere Gottesdienste und Gemeindeversammlungen. Indem ich auf diese Bedrängnisse aufmerksam mache, bezeuge ich nachdrücklich: Das Wichtigste für dein Heil, für deine Rettung ist geschehen: Gott hat sich aufgemacht aus der Höhe, und er ist zu uns herabgekommen, um unsere riesengroße Schuld wegzunehmen. Gott ist in seinem Innersten für uns erregt, aus grundloser Barmherzigkeit. In diesem Vers steht ein merkwürdiger Ausdruck. Wir lesen hier von dem Aufgang aus der Höhe. Was soll das heißen? Was ist ein Aufgang (Aufstieg) aus der Höhe? Wir können uns einen Aufstieg zur Höhe vorstellen oder auch einen Abstieg von der Höhe. Aber was ist mit einem Aufstieg aus der Höhe gemeint? Zur Beantwortung weise ich auf Folgendes hin: In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, in der sogenannten Septuaginta kommt das im Griechischen hier verwendete Wort für Aufgang oder Aufstieg auch für das Wort Spross vor. Denken wir bitte an die bekannte Verheißung aus Jesaja 11,1: Und es wird ein Spross aus dem Stumpf Isais hervorkommen. Spross ist bei den Propheten eine gebräuchliche Bezeichnung für den Messias (Jer. 23,5; Sach. 3,8; 6,12). Was ist damit ausgesagt? Der Baum Davids, den man längst für tot und für unfruchtbar gehalten hatte – er war ein Stumpf – in diesen Baum hinein wird ein Spross eingepfropft. Es handelt sich nicht um einen Zweig. Ein Zweig wächst aus einem Baum heraus. Aber ein Spross wird in den Baum hineingefügt. Genau das weissagt Zacharias hier. Denken wir an die Jungfrauengeburt: Jesus kam nicht eigentlich aus dem Haus Davids, sondern er wurde als ein Spross in das Haus Davids eingefügt. Dann wird diese merkwürdige Formulierung der Aufgang aus der Höhe oder von oben her sprießend verständlich: Der Messias, der im Begriff steht zu kommen, er kommt ganz und gar von Gott. Im Blick auf unsere Rettung sind wir ganz und gar auf Gottes Initiative angewiesen. Unser Heil kommt einzig und allein von oben, von Gott. Denn der Bund, den Gott einst mit seinem Volk geschlossen hatte, war so demoliert, dass Gott und Gott allein ihn wieder auf die rechte Spur zu setzen vermochte. Anders gesagt: Der Alte Bund musste zu einem Neuen Bund werden. Er musste völlig erneuert werden. Dass dies in Christus geschah, ist wahrlich nicht unsere Leistung. Was Zacharias hier bezeugt, lenkt also unseren Blick empor. Es ist Gott der Herr, der das Heil für uns geschaffen hat. Es ist das Erbarmen unseres Gottes, dass er uns als Spross aus der Höhe besucht hat. Er ist es, der seinen Sohn aus der Höhe zu uns herabgesandt hat. 3. Das Licht: Statt tiefer Finsternis und Tod – der Friede Gottes (Lk. 1,79) Aber bei dem Begriff Aufgang aus der Höhe denkt Zacharias nicht nur an den von mehreren Propheten des Alten Testamentes verheißenen Spross. Vielmehr hat er auch den aus der Höhe auf uns strahlenden Lichtglanz vor Augen: Christus scheint denen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten (Lk. 1,79). Was ist Finsternis? Antwort: Dunkelheit. Abwesenheit von Licht. Wenn man so will: Das Gegenteil von Licht. In unseren Häusern herrscht dann Finsternis, wenn der Strom ausfällt, sodass das Licht in unseren Zimmern erlischt. Geistliche Finsternis herrscht, sobald wir uns vom Licht der Gegenwart Gottes entfernen. Als Zacharias in der Zeit seines Stummseins auf sich selbst blickte, wurde er in seinem eigenen Herzen überführt von viel Finsternis, von massivem Unglauben, schwerer Sünde und großer Boshaftigkeit. Wenn Zacharias um sich herumschaute, sah er ebenfalls Finsternis: ungläubige Menschen, Männer, Frauen, Kinder, die sich weigern, Gott anzuerkennen – entweder weil sie sich bewusst gegen Gott und sein Heil entscheiden oder weil sie Gott ganz einfach links liegen lassen und ihn ignorieren. Vermutlich dachte Zacharias bei Finsternis auch an die öffentlichen Einrichtungen seiner Zeit. Er sah die Pharisäer und Sadduzäer, das jüdische Sanhedrin (das höchste jüdische Gericht) mit ihrer Heuchelei und ihrer verlogenen Gesetzlichkeit. Wahrscheinlich hatte Zacharias auch Pilatus und Herodes vor Augen und den Kult der römischen Kaiserverehrung. Hinzu kamen sicher auch die falschen Glaubensrichtungen und Religionen, in denen nicht der allmächtige Gott, sondern menschenfabrizierte Machwerke angebetet und verehrt wurden. Wenn Zacharias heute leben würde, würde er gewiss diejenigen sehen, die Abtreibung befürworten. Er würde Vertreter der Genderideologie wahrnehmen und die Pro-Homosexuellen-Bewegung, die mit ihrem Auftreten faktisch Gott den Schöpfer mit Füßen treten. Zacharias weiß, dass hinter dem Sichtbaren eine geistliche Welt der Finsternis existiert. Er weiß von Satan und seinem grauenhaften Heer böser Geister und Dämonen. Er weiß, wie sie sich an Lügen, Halbwahrheiten, Unrecht und Hass erfreuen. In der Gesetzeslesung hatten wir es vorhin gehört: Auf einmal sehen Menschen ihre Not und schreien um Hilfe: Wir warten auf Licht, und siehe, es gibt dichte Dunkelheit (Jes. 59,9). Der Tod herrscht, und der Weg des Friedens ist uns unbekannt (Jes. 59,8). Der Zweck der Sonne ist es, die Dunkelheit zu vertreiben, also die Finsternis zu überwinden und Licht zu bringen, Leben zu bewirken. Entsprechendes gilt im Geistlichen. Egal wie tiefschwarz die Finsternis deines Lebens ist, das Licht hat noch immer die Dunkelheit besiegt. Jesus Christus, das Licht der Welt ist immer stärker als deine Finsternis. Seitdem der Mensch zum ersten Mal in Sünde fiel, fegt ein Fluch nach dem anderen über diese Erde, ein Gericht folgt auf das nächste, und alles endet stets in den Abgründen des Todes. Aber niemals war die Finsternis so tief und so schwarz, dass gar kein Licht schien. Denn Gott kündigte den Erlöser bereits im Garten Eden an, den Satanüberwinder (1Mos. 3,15). Und in Bethlehem strahlte dann endlich das Licht hinein in die Finsternis. Auch über Golgatha lag eine Zeitlang drückend die Nacht. Drei Stunden lang hatte sich mitten am Tag eine schwere Dunkelheit über das Kreuzgeschehen gelegt. Drei Stunden wurde Christus von Gott verlassen. Drei Stunden lang tobten die Mächte der Finsternis. Aber dann besiegte das Licht die Finsternis, und Christus rief aus: Es ist vollbracht. Nicht nur am Karfreitag lichtete sich die Finsternis, sondern drei Tage später trat an die Stelle der Düsternis des Grabes die Helligkeit und die Herrlichkeit des auferstandenen Retters. Als im Jahr 1789 die Französische Revolution in Paris ausbrach, und zwar bekanntlich mit dem Sturm auf die Bastille, holte man einen Sträfling aus dieser Kerkerfestung. Er war jahrelang in einer der düstersten Zellen der Festung eingemauert. Als er ans Tageslicht geführt wurde, bettelte er: Bringt mich wieder in die Düsternis zurück. Anstatt seine Freiheit freudig zu begrüßen, sehnte er sich nach der Dunkelheit. Die war ihm vertraut. Frage an uns: Wollen wir das Licht? Wollen wir Christus, das Licht aus der Höhe, das in unsere Tiefen und Abgründe hineinscheint? Ich stelle diese Frage in der Adventszeit. Und ich stelle sie in einer Zeit, die man als Säkularisation bezeichnet. Was meint eigentlich der Begriff: „Säkularisation“? Bei „Säkularisation“ denken wir an Menschen, die auf das Weltliche fixiert sind, die sich von den Trends der Zeit bestimmen lassen und ihr Interesse nicht über das Zeitliche hinausgehen lassen. Das ist gewiss Säkularisation. Aber wissen Sie, was Säkularisation auch ist, und zwar bei uns Christen? Wir Christen sind dann säkularisiert, wenn wir die Botschaft vom Kommen Christi, von ihm, dem Licht, das in unsere Finsternis leuchtet, von dem Heil, das Christus aus der Höhe der Herrlichkeit Gottes zu uns gebracht hat und damit Vergebung unserer Sünden, dass wir dieses herrliche Evangelium nur noch als Schlafmittel erfahren, das uns zum Gähnen veranlasst: Dass der Sohn Gottes gekommen ist… Wir gehen innerlich achselzuckend daran vorbei: „Na, wenn schon…“ Die Nachricht langweilt uns. Das ist die schlimmste Säkularisation. Das ist die Finsternis in uns schlechthin. Oder wenn wir anfangen, unseren Gottesdienstbesuch als eine Geste des Wohlwollens gegenüber den Ältesten zu verstehen. Säkularisation heißt, dass wir an dieser Adventsbotschaft gleichgültig vorübergehen: „…und außerdem habe ich noch so viel anderes zu erledigen…“ Es gibt nur ein Mittel gegen die Bedrohung durch die Säkularisation, die Verweltlichung in uns, und das ist, wenn wir wieder anfangen, über das Heil in Christus zu staunen, um dann auf das Evangelium der Vergebung unserer Sünden zu harren, sodass wir das Angesicht Christi mit großem Verlangen suchen, ähnlich wie ein Säugling nach der Milch schmachtet. Wo ist bei uns das spontan glückselige Bezeugen der herrlichen Tatsache, dass Gott in unsere, in meine Finsternis gekommen ist und mir meine Sünden vergeben hat? Vielleicht denkst du jetzt im Stillen: „Sündenvergebung“… Welche Sünden eigentlich… „Meine Finsternis“, wovon sprichst du? Dann sage ich dir: Genau das ist die Krise unseres christlichen Lebens. Wir werden nämlich erst dann über die Vergebung unserer Schuld und Sünden froh, wenn wir wieder wissen, wer Gott ist und unser Leben erneut von Gottesfurcht bestimmt ist, sodass wir vor Gott erst einmal zum Schweigen kommen. So ähnlich wie Zacharias. Wenige Jahre vor dem Untergang des Nordreiches rief der Prophet Amos dem Volk Gottes zu: Bereite dich, deinem Gott zu begegnen (Am. 4,12). Genau das meint Advent: Bereite dich vor, denn Christus kommt! Eigentlich sagen Zacharias und später sein Sohn Johannes der Täufer nichts anderes: Mache dich auf, deinem Gott zu begegnen! Als das Weihnachtsfest von unseren Vorfahren eingeführt wurde, gab es noch das Bewusstsein davon, was Vergebung der Schuld ist. Weihnachten wurde als das Fest des Lichts vor dem Hintergrund der winterlichen Dunkelheit gefeiert. Heute kommentieren wir das ziemlich selbstgewiss mit: „Heidentum“. Ich bestreite nicht, dass es im Weihnachtsfest auch heidnische Elemente gab und gibt. Aber das Positive war immerhin, dass die Menschen damals das Kommen Christi in diese Welt als Erlösung von ihren Sünden feierten und damit als die große Entlastung für ihr schuldbeladenes Dasein. Hingegen meint Säkularisation, dass die herrlichen Worte des Evangeliums ins Leere schallen, dass sie ihren Bezug zu uns verloren haben, dass sie für unser Leben keinen Sinn mehr machen. Gottesdienste, nicht zuletzt die Adventszeit, die Weihnachtszeit sind nicht dazu gegeben, dass wir uns in irgendeine Emotionalität steigern. Vielmehr stehen uns diese Festtage zur Verfügung, damit wir der Frage nicht ausweichen, ob das Evangelium für uns nur noch zu einem faden, geschmacklosen Salz geworden ist, seicht, ohne Gewicht in unserem Leben. Wenn das der Fall ist, gibt es eigentlich nur eine Lösung: Dass der Herr uns in Situationen führt, in denen wir die Schwärze der Finsternis unserer Welt erkennen, und dann wieder anfangen, nach dem Licht Gottes zu verlangen, dass Gott uns in eine Tiefe hineinführt, damit wir erneut erkennen, aus welchen Abgründen wir gerettet sind und was Vergebung der Sünden, was das Heil in Christus in Wahrheit ist. Als das alttestamentliche Bundesvolk meinte, die Welt um sich herum zu sich hereinholen zu sollen, erklärte Gott: Dann soll diese Welt über euch auch herrschen. Es kam die Richterzeit. Später kam dann noch einmal und wesentlich schlimmer die Babylonische Gefangenschaft. Vielleicht sagt Gott heute Entsprechendes zu seiner Gemeinde: Wenn du, Gemeinde, die Welt um dich herum so interessant findest, dann werde doch weltlich. Irgendwann wirst du schon merken, dass das alles nicht so interessant ist, sondern eher dem Schweinetrog in der Geschichte vom verlorenen Sohn gleicht. Aber wenigstens wirst du auf diese Weise zur Erkenntnis kommen, dass die Sünde schrecklich ist und furchtbar finster, und dass im Leben die Not des Gewissens das größte Übel ist … damit du dann vor Gott kapitulierst und zurückeilst ins Vaterhaus. Wir wollen gleich aus Psalm 85 singen. In diesem Psalm bezeugten die Söhne Korahs im Rückblick auf die Zeit der Richter: Herr du hast deinem Land Gnade gewährt, hast das Geschick Israels gewendet, hast vergeben die Schuld deines Volkes, hast ihre Sünde zugedeckt. Du hast allen deinen Grimm hinweggetan, hast dich abgewandt von der Glut deines Zornes (Ps. 85,2–4). Lesen Sie bitte einmal zu Hause den gesamten Psalm. Nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft hatte das Volk Gottes wieder angefangen, eine Ahnung von Gott ihrem Retter zu bekommen. Vollendet wurde diese Rettung dann im Kommen Christi. Der Lobgesang des Zacharias und auch die Botschaft des etliche Jahre später auftretenden Johannes des Täufers sind uns gegeben, um uns auf das Kommen Christi vorzubereiten. Indem die beiden Männer über Sünde, Buße und Vergebung sprechen, über Abgründe des Todes und der Finsternis, in die das Licht von oben strahlend hineinbricht, bezeugen sie, dass Christus kam, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße zu richten auf den Weg des Friedens. Wenn uns das deutlich wird, dann erfassen wir, das, was alle unsere Erkenntnis übersteigt, nämlich die Länge und Breite, und nicht zuletzt auch die Höhe und die Tiefe der Liebe Gottes, die im Kommen Christi enthüllt ist. Amen. 7