Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (31.7.2022) Wortverkündigung: Matthäus 5,21–26 Thema: Wider die Verrechtlichung unseres Miteinanders im Reich Gottes Psalmen: Psalm 100a,1–6; Psalm 86a,1–3.7–9; Psalm 11a,1–3; Psalm 18a,1–4 Gesetzeslesung: 2Mose 20,1–17 Erste Schriftlesung: Markus 7,1–23 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen aus der Bergpredigt. Damit fahren wir in der schon seit sehr langer Zeit unterbrochenen Predigtserie über die bekannteste Rede unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus fort. Wir hören heute auf den Abschnitt Matthäus 5,21–26. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus! Wir erwähnten es bereits: Der eben gerade gelesene Abschnitt steht in der Bergpredigt. Die Bergpredigt finden wir in Matthäus 5 bis 7. In der Bergpredigt proklamiert Jesus Christus das Reich Gottes. Am Ende von Matthäus 4, in Vers 23, heißt es, dass Jesus in Galiläa umherging und in den Synagogen das Reich Gottes verkündete. Doch eines Tages ging Jesus nicht mehr in eine Synagoge. Möglicherweise lag das daran, dass die Synagogen für die inzwischen großen Volksmengen zu klein geworden waren. Auf jeden Fall aber: Der Herr zog auf einen Berg im Bergland Galiläas. Es heißt: Als Jesus sich dort setzte, traten seine Jünger zu ihm (Mt. 5,1). Aber nicht nur sie kamen zu dem Sohn Gottes. Wir müssen es uns wie zwei konzentrische Kreise vorstellen. Es gab einen engeren Kreis. Das war der Kreis der Jünger. Und um diesen engeren Kreis versammelte sich eine große Menschenmenge. Auch diese Volksmenge hörte, was Jesus sagte. Das erfahren wir aus dem Ende der Bergpredigt. Dort heißt es: Die Volksmenge erstaunte und sprach: Hier lehrt nicht einer wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der Vollmacht hat (Mt. 7,28.29). Für die damaligen Zuhörer war nicht eigentlich bemerkenswert, dass der Herr Jesus Christus über das Reich Gottes sprach. Diese Thematik kannten die Menschen aus den Predigten ihrer Schriftgelehrten und Rabbiner. Allerdings wurde bei denen das Reich Gottes eng mit dem Halten des Gesetzes, der Thora verknüpft: Wenn die Menschen die Thora halten würden, so lehrte das Judentum, dann komme das Reich Gottes. Das Auffallende daran, wie der Sohn Gottes über das Reich Gottes spricht, ist, dass er nicht mit dem Gesetz beginnt. Vielmehr beginnt er mit Seligpreisungen. Auf diese Weise betont der Herr: Das Reich Gottes beginnt nicht mit dem, was Menschen machen, sondern mit dem, was Gott tut. Das Reich Gottes beginnt mit überströmenden Segnungen Gottes. Diese Seligpreisungen gelten den geistlich Bedürftigen, denen, die geistlich arm sind, denen, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit Gottes. Das Reich Gottes ist den Sanftmütigen verheißen, den Friedensstiftern, und nicht zuletzt denen, die um Christi Namen willen verfolgt werden. Während Jesus die Glückseligpreisungen verkündet, gab es wohl in dem zweiten größeren Zuhörerkreis Bewegung: Immer wieder werden wohl einige aus dem Kreis der Volksmenge in den engeren Kreis seiner Jünger getreten sein. Denn was sie hier hörten, war für sie atemberaubend: Das Reich Gottes, es beginnt mit herrlichen Zusagen. Andererseits aber erhob sich bei den Zuhörern aufgrund ihrer Tradition, in der sie bisher aufgewachsen waren, eine Frage: Jesus, was du sagst, ist wunderbar. So haben wir noch niemanden über das Reich Gottes sprechen hören. Aber was machst du mit dem Gesetz? Lehnst du das Gesetz, die Thora, ab? Gibt es das Reich Gottes ohne das Gesetz Gottes? Bist du gegen das Gesetz? Solche Fragen standen den Zuhörern gewissermaßen auf ihren Stirnen geschrieben. Jesus Christus nimmt diese Fragen auf und geht auf sie ein. Seine Kurzantwort lautet: Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt. 5,17). Damit ist die Frage beantwortet, dass Jesus nicht gegen das Gesetz ist. Im Gegenteil: Der Herr kam, um das Gesetz zu erfüllen. Aber durch die Vorordnung der Seligpreisungen stellt der Herr klar, dass das Reich Gottes nicht im Gesetz, in der Thora verankert ist. Vielmehr ist das Reich, die Königsherrschaft Gottes, die Jesus Christus den Menschen gebracht hat, getragen von überfließenden Segnungen Gottes. Doch das ist nicht alles, was der Sohn Gottes zum Gesetz im Reich Gottes sagt. Er übt auch deutlich Kritik an der Weise, wie die jüdischen Rabbiner das Gesetz Gottes auslegten. Was war im Kern die Kritik Jesu an der Handhabung, in der die jüdischen Schriftgelehrten mit dem Gesetz umgingen? Im Wesentlichen bestand die Kritik Jesu darin, dass bei den Rabbinern das Gesetz zu einem Netz von Paragraphen gemacht worden war. Bei diesem Paragraphennetz ging es darum, die Maschen dieses Netzes so weit zu dehnen, dass man selbst mit listiger Geschicklichkeit hindurchschlüpfen konnte. Oder soll ich sagen, dass man sich auf raffinierte Weise an den Forderungen des Gesetzes Gottes vorbeizumogeln suchte? Diese Kritik veranschaulicht Jesus anhand einiger Gebote. Mit seiner Verdeutlichung beginnt der Herr anhand des sechsten Gebotes: Du sollst nicht töten. In diesem Gebot geht es offenkundig um Mord und Totschlag. Aber wenn wir eben gerade aus das, was Jesus Christus sagt, aufmerksam zugehört haben, kann sich auch bei uns die Frage stellen: Mord, Totschlag – wo fängt das an? Kommt wirklich schon jedes böse Wort, das wir einem anderen an den Kopf werfen, einem Tötungsdelikt gleich, sodass es entsprechend geahndet werden muss? Ich verkündige Ihnen das Wort Gottes aus Matthäus 5,21–26 unter dem Thema: Wider die Verrechtlichung unseres Miteinanders im Reich Gottes. Die Wortverkündigung habe ich in drei Punkte gegliedert: 1. Im Reich Gottes stehen wir vor Gott 2. Im Reich Gottes darf das Ethische nicht auf eine Verrechtlichung eingeschränkt werden 3. Im Reich Gott verpflichten uns die Gebote zu einem wahrhaftigen Umgang mit unserem Nächsten 1. Im Reich Gottes stehen wir vor Gott Christen sind Menschen, die Jesus Christus nachfolgen. Jesus Christus selbst ist ihr Weg und ihr Ziel. In dieser Nachfolge dienen uns die Gebote Gottes gleichsam als Pflöcke, die unsere Wegstrecke markieren. Was das praktisch heißt, veranschaulicht der Herr anhand des sechsten Gebotes. Das erste, was auffällt ist, dass das, was Jesus Christus über die Gebote Gottes sagt, keineswegs nachsichtig ist oder gar unverbindlich. Das war ja die Meinung des theologischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Man lehrte damals: Im Alten Testament habe das „starre“ Gesetz regiert. Im Unterschied dazu gehe es im Neuen Testament wesentlich lockerer zu. Eine solche Auffassung ist bis zum heutigen Tag unterschwellig bei Christen anzutreffen. Aber die Weise, in der Jesus das Gesetz Gottes auslegt, ist keineswegs gekennzeichnet von Freizügigkeit. Eher ist das Gegenteil der Fall. Indem Jesus Christus erklärt Ich aber sage euch geht er viel weiter als die Propheten des Alten Testamentes. Mehr noch: Mit der Aussage Ich aber sage euch stellt der Sohn Gottes sich selbst auf das gleiche Podest mit Gott, dem Gesetzgeber. Wenn Jesus Christus sagt Ich aber sage euch, dann stellt er sich nicht gegen das Wort Gottes. Jesus stellt sich nicht gegen das Alte Testament. Stattdessen wendet er sich dagegen, wie im Judentum das Alte Testament ausgelegt wurde. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wenn Jesus Christus sich gegen das Alte Testament gestellt hätte, hätte er anders gesprochen. Dann hätte er gesagt: Ihr habt gelesen, dass geschrieben steht… Aber der Herr sagt: Ihr habt gehört, dass gesagt ist… zu den Alten. Es geht darum, dass Jesus dazu Stellung bezieht, was gesagt worden ist, also was im Raum des Volkes Gottes so alles gesagt wird. Das Geschriebene ist die Heilige Schrift. Das Wort Gottes ist nicht dasselbe wie die rabbinische Lehrtradition, wie die jüdische Überlieferung. Die jüdische Überlieferung ist das, was gesagt worden ist. Es ist das, was von den Alten und durch die Alten gelehrt worden ist. Dagegen wendet sich der Sohn Gottes. Indem der Herr sagt: Ich, der Sohn Gottes sage euch, macht er auch klar: Im Reich Gottes stehst du nicht vor einzelnen Paragraphen, die du mit List und Tücke so auslegen kannst, dass sie dich nicht betreffen. Vielmehr stehst du immer vor dem heiligen Gott. Was das heißt, macht der Herr anhand eines Wortes aus der Heiligen Schrift deutlich: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten (Mt. 5,21). Wir erkennen sofort, dass das Schwierige darin liegt, dass auch innerhalb der menschlichen Überlieferungen Bibelworte vorgekommen sind. Die Rabbiner hatten sich ja keineswegs ihre Lehre aus den Fingern gesogen. Im Grund ist das das Gefährliche an der Tradition, ja das Verführerische an der Überlieferung: In ihr kommen einerseits Bibelworte vor, andererseits aber treten menschliche Interpretationen hinzu. Beides war häufig ineinander vermengt. Unbestritten kam in der jüdischen Überlieferung auch Biblisches vor. Aber es kam vor in einer verarbeiteten, angepassten Form. Die Bibelworte waren versehen worden mit einer Auslegung und nicht selten war auch noch die Anwendung daran geheftet. Zuweilen bestand die Überlieferung nur in der Kombination von zwei Bibelworten. Auf diese Weise zitierte man die Bibel. Aber trotzdem nahm man das, was geschrieben steht, nicht ernst. Man konnte dann – und das ist das Verräterische daran – sogar zweimal erklären: „Die Schrift sagt“ und: „die Schrift sagt“. Und trotzdem kam das Wort Gottes nicht zu Wort. Bekanntlich kann man auf diese Weise die törichsten Dinge aus der Bibel holen. Dazu ein ganz dummes Beispiel, das jeder sofort durchschaut: Text 1: Judas ging hin und erhängte sich (Mt. 27,5), Text 2: Gehe hin und handele ebenso (Lk. 10,37): „Die Schrift sagt“ und „die Schrift sagt“. Aber das Wort Gottes bleibt trotzdem geschlossen. Gott sagt trotzdem etwas Anderes. Was Jesus Christus hier sagt ist, dass es bei den Geboten um etwas völlig anderes geht. Bei den Geboten stehen wir nicht vor einem Sammelsurium von Paragraphen, sondern wir stehen vor Gott selbst. Zu welchen Verirrungen es führt, wenn man diese Wahrheit nicht beachtet, illustriert der Herr Jesus anhand des Gebotes Du sollst nicht töten. Damit komme ich zum zweiten Punkt: 2. Im Reich Gottes darf das Ethische nicht auf eine Verrechtlichung eingeschränkt werden Das erste Zitat lautet: Du sollst nicht töten. Selbstverständlich finden wir dieses Wort in der Heiligen Schrift. Es steht in den Zehn Geboten. Dann wird noch ein weiterer Satz angeführt: Wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein (Mt. 5,21). Diese zweite Aussage finden wir ausdrücklich nirgendwo in der Bibel. Aber man wird durchaus sagen dürfen: Dem Sinn nach entspricht dieser Satz dem, was Gott in seinem Wort sagt: Wer tötet, wird dem Gericht verfallen sein. Auf Mord folgt Strafe, gegebenenfalls die Todesstrafe. Der erste Ausspruch: „Die Schrift sagt“. Der zweite Ausspruch: „Die Schrift sagt – sinngemäß“. Was ist daran falsch? Was wendet Jesus dagegen ein? Wo liegt der Fehler im Verstehen und im Auslegen der Heiligen Schrift? Der Fehler liegt in Folgendem: Wir haben von Gott eine ethische Norm empfangen: du sollst nicht töten. Aber durch die zweite Aussage gab man dem Gebot Du sollst nicht töten einen juristischen Dreh: Wer tötet, wird vor dem Richter landen. An sich ist es nicht falsch, das Gebot Du sollst nicht töten in dieser Weise auszulegen. Es ist natürlich auch durchaus möglich, dass man zwischen zwei Aussagen der Heiligen Schrift Verbindungslinien zieht, um eine sinnvolle Folgerung zu ziehen. Jesus selbst macht das einmal bei der Auslegung eines Gebotes gegenüber den Pharisäern. Wir lesen davon in Matthäus 15: Denn Gott hat geboten und gesagt: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren (2Mos. 20,12) und: Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben (3Mos. 20,9; Mt. 15,4). Auch hier haben wir es mit einer ethischen Regel zu tun: Ehre deinen Vater und deine Mutter!, und dieses ethische Gebot wird dann durch eine juristische Bestimmung festgezurrt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das ist richtig. So gehört sich das: Das Juristische hat das Ethische zu bekräftigen. Das Gebot Ehre deinen Vater und deine Mutter ist ein ethisches Gebot. Nur Gott, der unser Herz kennt, weiß, ob und wie wir das tun. Aber Rechtsregeln können dieses Gebot äußerlich unterstützen: Wer seinen Vater oder seine Mutter öffentlich verflucht, der soll sterben (2Mos. 21,17). Wir sprachen eben gerade von „ethisch“ und „rechtlich“. Was genau ist damit gemeint? Worin liegt der Unterschied zwischen „ethisch“ und „rechtlich“? Eine ethische Norm ist ein Gebot, auf die im Fall einer Übertretung keine richterliche Strafe folgt. Dazu ein Beispiel: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Wenn du dich daran nicht hältst, kommst du nicht mit der Polizei in Konflikt. Glücklicherweise gibt es Rechtsregeln, die das ethische Gebot unterstützen. Dann haben wir es mit rechtlichen, also juristischen Normen zu tun. Aber durch von der Obrigkeit erlassene Gesetze kann niemand zur Nächstenliebe verpflichtet werden. Jedoch ist man als Staatsbürger dazu verpflichtet, dem Nächsten gegebenenfalls zu helfen. Andernfalls kann man wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Aber man kann zum Beispiel nicht juristisch verpflichtet werden, in ein brennendes Haus zu rennen, um dort jemanden zu retten, wenn man dadurch sein eigenes Leben gefährdet. Entsprechendes gilt für das Gebot Du sollst nicht töten: Wenn du deinem Nächsten Böses tust, ihn verwundest oder sogar tötest, dann bekommst du es mit dem Gesetz zu tun. Insofern kommt das Juristische dem Ethischen zu Hilfe. Aber worauf Jesus in der Bergpredigt aufmerksam macht, ist, dass man mit diesem an sich korrekten Sachverhalt, in der das Juristische das Ethische unterstützt, in eine verkehrte, das heißt in eine von Gott nicht gewollte Richtung abdriften kann. Dies geschieht dann, wenn das Ethische völlig unter dem Juristischen begraben wird. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man sagt: „Ich habe meine Eltern noch nie verflucht. Also habe ich dem Fünften Gebot Vater und Mutter zu ehren Folge geleistet. Mir kann keiner etwas wollen…“ Entsprechendes gilt bei dem Gebot: Du sollst nicht töten. Auch da könnte man argumentieren: Das Gebot übertrete ich nur in den Fällen, in denen Gerichte mich zur Rechenschaft ziehen können. Daraus zieht man dann für sich die Folgerung: Also werde ich achtgeben, dass das nicht passiert, dass mir weder die Polizei noch Gerichte etwas anhaben können. Jesus Christus sah in seinen Tagen, dass man in dieser formalistischen Weise mit dem Gesetz Gottes umging. In Wahrheit war es eine Welt voller Stolz, Neid, Missgunst und Hass. Man gönnte dem anderen nichts. Trotzdem hörte man das selbstgewisse Gerede: Ich habe das Gebot Du sollst nicht töten noch nie übertreten. Der Herr sagt dazu: Was ihr da behauptet, ist zynische Heuchelei. Es ist die verlogene Vortäuschung, in der man das Ethische vollständig durch das Juristische aufsaugen lässt. Kommen wir einmal auf die Gegenwart zu sprechen. Ich denke an heutige Methoden im Verkaufswesen. Es gehört sich, dass ein Verkäufer freundlich zu einem Kunden ist. Aber die Frage stellt sich: Ist der Verkäufer freundlich, weil er den Menschen als seinen Nächsten wertschätzt, oder ist er es deswegen, weil er ihn umgarnen will: Für Letzteres veranstalten Verkaufsketten regelmäßige Schulungen und Trainingskurse. Aber merken wir: Auf diese Weise wird in Wahrheit das Leben veräußerlicht, formalisiert. Freundlichkeit wird zu einer Falle. Noch ein Beispiel dazu: Vor einigen Jahren schlug es in Deutschland hohe Wellen, weil jemand aufgedeckt hatte, dass Theodor von Guttenberg in seiner Doktorarbeit abgeschrieben hatte, ohne es anzugeben. Dazu las ich seinerzeit den folgenden Kommentar: „Es ist ein ermutigendes Zeichen der westlichen Demokratien, dass selbst ein so beliebter Politiker [wie von Guttenberg] vor unabhängige Gerichte zitiert werden kann.“ Wie verhält sich das? Ich würde diesem Kommentar nicht widersprechen. Aber ich würde ihn auch nur mit Zögern bejahen: Einerseits ist es positiv, dass Politiker tatsächlich, jedenfalls bis vor wenigen Jahren, für ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen werden konnten und vor Gerichte zitiert wurden. Das ist richtig, und das ist gut. Aber mein Zögern rührt daher, dass ich bei dem, was man in den Medien darüber lesen konnte, einen faden Beigeschmack bekam. Warum? Ich gebe zu: Es gab durchaus Menschen, die aufrichtig über die Plagiate entrüstet waren. Aber daneben waren auch andere Motive und Kräfte im Spiel. Da gab es Menschen, denen war das, was jemand in seiner Doktorarbeit getan hatte oder auch unterlassen hatte, völlig egal. Trotzdem gebärdeten sie sich innerhalb des juristischen Paragraphendschungels wie Jagdhunde, die hinter ihrer Beute her hechelten und das umso mehr, weil es sich um einen Hochgestellten handelte. Es war geheuchelte, verlogene Entrüstung. Ethisch gesehen war das, was ablief, zynisch. Was der Herr Jesus uns hier sagt, ist: Wenn das Juristische nicht durch das Ethische getragen wird, wenn die Rechtsprechung in den Sog von Tricksereien irgendwelcher Winkeladvokaten gerät, dann haben wir es im Gemeinwesen mit einem System zu tun, das in seiner Wurzel faul ist. Und es wird gar nicht anders gehen können, als dass auf die Dauer die Rechtsordnung in einem solchen Gemeinwesen zerbröselt und schlussendlich in sich zusammenbricht. Ähnliches war es in den Tagen Jesu der Fall. Ich denke hier an den Prozess gegen die Ehebrecherin (Joh. 8,1–11). Jedes Kind kann erkennen, wie korrupt das war, was dort ablief: eine Frau, im Ehebruch erwischt. Ja und der Mann!? War der bei dem Ehebruch abwesend? Den ließen sie laufen. Er war uninteressant! Außerdem war es viel pikanter, die Frau auf die Untersuchungsfragen antworten zu lassen. Bekanntlich trappte Jesus in diese Falle nicht hinein: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein (Joh. 8,7). Auf diese Weise bringt Jesus die Sache von der juristischen Ebene, oder soll ich sagen, von der scheinjuristischen Ebene, auf die ethische Ebene. Darum sagte der Herr gleich darauf: Sündige hinfort nicht mehr. Gerichtsprozesse, Shitstorms im Internet betreffen häufig nur sehr am Rande die Frage des Gehorsams gegenüber Gott und seinen Geboten. Selten geht es um Wahrheit. Eher geht es um Äußerliches, um den Schein. Dazu sagt Jesus: Sorge einmal selbst dafür, dass du vor Gott sauber dastehst. Auf diese Weise befreit der Herr das Ethische vom Juristischen. Genau dieses Ethische war bei der Auslegung des Wortes Gottes im Lauf der Zeit innerhalb der jüdischen Tradition unter den Tisch gefallen. Angesichts der Gebote wussten die Menschen sich nicht mehr vor Gott gestellt, höchstens noch vor ihre Mitmenschen. Diese versuchten sie auszubooten, was ihnen in ihrer Verschlagenheit auch gar nicht so schlecht gelang. Das Bemerkenswerte an der Unterweisung Jesu über das Verhalten eines Bürgers im Reich Gottes, ist, dass er uns bei den Geboten der Heiligen Schrift vor das Angesicht Gottes stellt. Indem Jesus aufzeigt, dass wir mit den Geboten Gottes vor Gott stehen, warnt er uns davor, das Ethische auf das Feld des Juristischen hinabzuziehen und dort einzubunkern. Stattdessen sagt er: Wenn du wirklich ein Bürger im Reich Gottes sein willst, dann darfst du das Ethische nicht „verrechtlichen“. 3. Im Reich Gott verpflichten uns die Gebote zu einem wahrhaftigen Umgang mit unserem Nächsten Jesus erläutert diese Wahrheit anhand von drei Aussagen. Alle drei Aussagen bringen ungefähr dasselbe zu Ausdruck: ? Jeder, der seinem Bruder ohne Ursache zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Etwas freier übersetzt: Jeder, der ohne Ursache gegen seinen Bruder im Zorn lebt, bekommt es mit dem Gericht zu tun, nämlich mit dem Gericht Gottes (Mt. 5,22a). ? Zweitens: Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka [Nichtsnutz], der wird dem Hohen Rat verfallen sein: Etwas freier übersetzt: Wer zu seinem Bruder sagt, du Taugenichts, über ihn wird ebenfalls das Gericht kommen, das Gericht Gottes (Mt. 5,22b). ? Drittens: Wer aber sagt: Du Narr, der wird dem höllischen Feuer verfallen sein, nämlich durch Gott (Mt. 5,22c). Jesus Christus schildert hier drei Situationen, in denen man unter Garantie die Polizei nicht aufs Dach bekommt. Auf jemanden ohne Ursache sauer zu sein, ist nicht strafbar. Über jemanden ein negatives Wort zu fällen, steht juristisch bei uns unter freier Meinungsäußerung. Gut, da gibt es Grenzen. Man kann es in einem Konflikt auch zu bunt mit den Beleidigungen treiben, sodass man eine entsprechende Anzeige an den Hals bekommt. Aber in der Regel werden wir wegen einiger böser Worte nicht juristisch belangt. Aber Jesus sagt: Mit einer solchen Gesinnung und mit solchen Worten kommst du durchaus vor den Richter. Du kommst damit zwar nicht vor ein menschliches Gericht. Aber Gott sitzt auch auf dem Richterstuhl. Und er kennt dein Herz, deine Gedanken und deine verborgenen Worte. Müsstest du dann nicht diesen Gott fürchten? Verwirrend ist in unserer Übersetzung das Wort Hoher Rat (Vers 22). Damit ist normalerweise der jüdische Sanhedrin gemeint. In diesem Fall wäre hier an ein menschliches Gericht gedacht. Aber das griechische Wort, das mit Hoher Rat übersetzt ist, kann auch ganz gewöhnlich „hohes Gericht“ bedeuten, also ohne dass an ein bestimmtes irdisches Gericht zu denken ist. An dieser Stelle handelt es sich jedenfalls nicht um das höchste jüdische Gericht, den Sanhedrin. Denn der Sanhedrin hatte nie jemanden verurteilt, weil er einen anderen als „Taugenichts“ oder als „Narr“ bezeichnet hatte. Mit diesen drei Aussagen stellt uns Jesus Christus vor Gott, den Richter. Genau in die gleiche Kerbe schlägt der Sohn Gottes in den zwei weiteren Warnungen, mit denen er seinen Unterricht zum sechsten Gebot beschließt. Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und du dich dort erinnerst [oder: daran erinnert wirst], dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort, vor dem Altar und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe. Also: Versöhne dich mit deinem Bruder, und danach komm und opfere deine Gabe. Vor den Altar treten meint so viel wie „vor Gott treten“. Nicht anders verhält es sich heute: „Zum Gottesdienst gehen“ heißt vor dem Angesicht Gottes erscheinen. Im Grunde haben wir bei unserem sonntäglichen Gehen zum Gottesdienst einen kleinen Vorgeschmack von dem, wie es im letzten Gericht aussehen wird. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass wir heutzutage beim Gottesdienst noch in den Raum seiner Gnade treten. Heute können wir noch umkehren und uns mit unserem Bruder, unserer Schwester versöhnen. Aber es kommt der Tag, dass dieses nicht mehr möglich sein wird. Insofern wird in der Kirche, in der Gemeinde etwas sichtbar, etwas erfahrbar von dem kommenden Endgericht Gottes, an dem wir häufig so leichtfertig vorübergehen. Jesus jedenfalls sagt hier: Vergiss nicht, es kommt das göttliche Gericht. Und denke daran: Worüber wir hier sprechen, es sind die Gebote Gottes. Wenn ein Israelit mit seiner Gabe zum Altar ging, dann trat er in die heilige Gegenwart Gottes. Dann wurde sein Gewissen geschärft. Genauso verhält es sich bei uns, wenn wir zum Gottesdienst kommen. Die Frage stellt sich dann: Ist alles mit mir in Ordnung? Habe ich alles getan, was in meinem Vermögen lag und liegt, um mit meinem Bruder ins Reine zu kommen? Da gibt es Ausreden, die wir alle kennen: „Ja, habe ich. Schließlich habe ich auch nichts gegen ihn. Vielmehr hat er etwas gegen mich.“ Aber hören wir genau, was Jesus hier sagt: Wenn du dich erinnerst [nicht: dass ich etwas gegen meinen Bruder habe], sondern dass er etwas gegen mich hat … (Mt. 5,23). Die Frage ist also nicht eine juristische. Es geht nicht um die Frage, wer angefangen hat. Es geht auch nicht um die Frage, wer sich in die bessere Ausgangsposition geistig eingegraben hat. Vielmehr lautet die Frage: Hast du im Angesicht Gottes alles getan, was möglich war, um zu einer Versöhnung zu kommen? Hast du deinen Bruder geliebt und deswegen nach einer Lösung des Konfliktes mit ihm gesucht? Oder verachtest du ihn im Grund seines Herzens, und findest die Umstände, so wie sie jetzt sind, bequem? Wenn wir das, was Jesus hier sagt, wirklich hören, kann unverzüglich die Frage aufkommen: Indem uns Jesus hier vor Gott stellt, macht er uns damit nicht ängstlich, furchtsam? Nun, vielleicht wäre es gut, wenn wir hin und wieder etwas ängstlicher, etwas bänger wären bei den Gedanken, dass wir einmal vor Gottes Richterstuhl treten müssen. Namentlich in den Korintherbriefen ist Paulus sehr deutlich: 1.Korinther 3,17: Wenn jemand den Tempel Gottes [die Gemeinde] verderbt, den wird Gott verderben. Oder: 2.Korinther 5,11: In dem Wissen, dass Gott zu fürchten ist, suchen wir die Menschen zu überzeugen…. In diesen Stellen geht es offensichtlich keineswegs nur um eine Art „Preisgericht“ und ganz sicher nicht in erster Linie! Wenn wir den Gerichtsaspekt ignorieren, wissen wir nichts von Gottes unbestechlicher Heiligkeit. Außerdem kennen wir uns selbst nicht. Wehe uns, wenn wir das Evangelium von der Vergebung der Sünden missbrauchen, und nach der Devise des preußischen Königs Friedrich II. leben: „Gott wird schon vergeben, es ist ja sein Beruf…“ In der Bergpredigt wird uns die herrliche Botschaft der Gnade verkündigt. Aber übersehen wir nicht: Es ist die Botschaft des Ernstes der Gnade. Es geht um die teure Gnade. Und darum ist jeder Gottesdienst ein Aufruf, um die verfahrenen Verhältnisse und die verqueren Konflikte, in denen wir leben, in Ordnung zu bringen. Der Sohn Gottes sagt es sogar noch schärfer: Wenn du im Gottesdienst bist und vor dem Angesicht Gottes stehst und dir dort in den Sinn kommt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, lass dann den Gottesdienst weiter Gottesdienst sein. Lass dann auch den Kollektenkasten unberücksichtigt. Oder wie es hier heißt: Lass deine Gabe dort vor dem Altar. Tue zunächst das Notwendige, das Erforderliche im Blick auf deine Beziehung zu deinem Bruder. Während die Zeitgenossen bei den Geboten Gottes die Menschen vor die Menschen stellten, stellt uns der Herr Jesus vor Gott. Und dabei macht er durchaus deutlich: Blicke auf Gott den Heiligen und fürchte sein Urteil! Um dasselbe geht es auch in der zweiten Warnung! Sei deinem Widersacher bald geneigt, während du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit der Widersacher dich nicht etwa dem Richter ausliefert und der Richter dich dem Gerichtsdiener übergibt und du ins Gefängnis geworfen wirst. Oder anders übersetzt: Sei freundlich gegenüber deiner Gegenpartei, während du noch mit ihr unterwegs bist, damit deine Gegenpartei dich nicht dem Richter überliefere und der Richter seinem Diener und du in das Gefängnis geworfen wirst. Wahrlich, ich sage dir: Daraus wirst du sicher nicht hinauskommen, bevor du den letzten Pfennig/Groschen bezahlt hast (Mt. 5,25.26). Mit anderen Worten sagt Jesus hier: Sei nicht so scharf auf Gerichtsprozesse! Du könntest dort auch verlieren. Übrigens ist das bereits im gewöhnlichen Leben ein weiser Rat. Man weiß nie wirklich, wie das Ergebnis lautet und wie die Gegenpartei auftritt und argumentiert. Aber der Sohn Gottes gebraucht dies hier als ein Gleichnis. Er weist auf Folgendes hin: Wir alle sind miteinander unterwegs zum Richterstuhl Gottes. Die Frage ist: Wie verwenden wir die Zeit bis dahin? Zeit meint also in diesem Zusammenhang die Lücke, die mir und dir für das Ethische zur Verfügung stehen. Am Ende des Weges steht das Juristische. Aber dann ist es das Juristische Gottes. Dann ist es das Endurteil. Das Ethische geht voran! Und Paulus schreibt dazu einmal: Wenn wir uns selbst richten, [wenn wir uns selbst hier vor Gott in das Selbstgericht bringen], dann werden wir nicht gerichtet werden (1Kor. 11,31). Der Sohn Gottes verweist uns, die wir scheinbar so juristisch korrekt denken, auf den Ernst des Ethischen. Gott der Herr holt uns heraus aus dem Denken, dass in unserem Leben das Ethische erst dann von Bedeutung ist, wenn es verrechtlicht ist, wenn es „justiziabel“ ist. Diese Unterweisung benötigen wir dringend. Die Botschaft Jesu lautet: Im Reich Gottes hat das Ethische Vorrang vor dem Juristischen. Oder wie es Jakobus einmal sagt: Heute rühmt sich die Barmherzigkeit über das Gericht (Jak. 2,13). Dann ist es nicht möglich und natürlich auch nicht in der Gemeinde, sein Leben zu führen nach der Devise: Ich kann so mit meinem Nächsten umgehen, wie ich will, ich darf mich nur nicht erwischen lassen. Nehmen wir die Prozesslust, die sich heute breitmacht. So als ob durch Gerichtsprozesse alles gelöst werden könnte oder sogar, als ob dadurch Beziehungen wiederhergestellt werden können, so als ob unsere Wirklichkeit, unser Leben mit Gesetzen und Sanktionen in Ordnung gebracht werden könnte. Das geht nur durch Barmherzigkeit, durch Liebe, durch Vergebungsbereitschaft. Ich sage übrigens damit nicht, dass Gerichtsprozesse immer zu verhindern ist! Aber ich sage voraus, dass wir mit juristischem Kalkül allein scheitern werden. Auch werden wir so in unserem Gemeinwesen gegen die Wand fahren. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht (1983–1996), Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte es im Blick auf unsere Rechtsordnung folgendermaßen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das ist richtig. Mit anderen Worten: Gesetze und Paragraphen können ein Gemeinwesen regulieren. Aber sie bilden nicht das Fundament eines Gemeinwesens. Gesetze haben lediglich dann Kraft und Bedeutung, wenn dem Rechtssystem eine Ethik zugrunde liegt. Das heißt: Wenn Menschen ihr Leben führen in Verantwortung vor Gott, dem – noch – unsichtbaren Richter. Wohin es führt, wenn dies nicht so ist, sieht man bereits heute in der Sozialgesetzgebung. Wenn der sozialen Gesetzgebung das Arbeitsethos fehlt, wird ihr die Grundlage entzogen und die gesetzlichen Regelungen werden an allen Ecken und Enden missbraucht. Ohne das Ethische wird das Rechtliche in sich zusammenbrechen, denn dann wird das Juristische zu einer Spielweise der Raffinierten und das wiederum wird sehr schnell als Heuchelei durchschaut. Dann werden die Schuldigen in Schutz genommen, zumal wenn sie sich gute Anwälte leisten können, während die Anständigen, denen es vielleicht an ausreichender List mangelt, die Düpierten sind. Spätestens dann sollten wir uns an den Ausspruch von Petrus aus der Pfingstpredigt erinnern, der von dem verkehrten oder verdrehten Geschlecht sprach, aus dem wir uns retten lassen sollen (Apg. 2,40). Jesus Christus jedenfalls zieht das Ethische in den Vordergrund. Er ruft uns auf: Führe dein Leben vor dem Angesicht Gottes! Das war seine Botschaft damals. Und das ist eine brennend aktuelle Botschaft heute. Die Wortverkündigung heute Morgen hat nur dann Sinn, wenn wir nachher auf unserem Heimweg den Vorsatz fassen, den wir im Gebet vor Gott bringen: „Herr, ich will mit deinen Geboten nicht vor den Augen von Menschen leben, sondern vor deinem Angesicht.“ Jesus stellt klar: Die Maßgabe eines Lebens im Reich Gottes ist ein Leben vor dem Angesicht Gottes. Dies gilt nicht zuletzt heute, also in einer Zeit, in der die Rechtsprechung in unserem Gemeinwesen wankt und vielfach hohl geworden ist, eben weil ihr keine Ethik mehr zugrunde liegt. Gott jedenfalls verpflichtet uns auch bei dem Gebot Du sollst nicht töten zu einem in Liebe wahrhaftigen Umgang mit unserem Nächsten vor dem Angesicht Gottes. Amen. 8