Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (12.01.2020) Wortverkündigung: Psalm 139 Thema: Gott – die unausweichliche Realität unseres Lebens Psalmen: Psalm 23a,1–5; Psalm 51a,1–3.5; Psalm 86a,1–6; Psalm 139a,1–5 Gesetzeslesung: Prediger 12 Erste Schriftlesung: Apostelgeschichte 17,16–34 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen aus Psalm 139. Wir hören den gesamten Psalm. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus, Es wird der inzwischen herangewachsenen Generation nachgesagt, dass sie nicht die Wahrheitsfrage stellt. Sie fragt nicht mehr, so wird behauptet: Was ist Wahrheit? Man sagt, sie stellt noch nicht einmal mehr die Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Im Fokus ihres Denkens stehen andere Fragestellungen, die sie, so sagt man, entscheidend beschäftigen. Es sind Fragen wie die Folgenden: Wie komme ich bei dem anderen an? Wie mache ich mich am besten in meiner Umgebung beliebt? Solche Fragen seien typisch für die Zeit nach der Moderne, also für die Zeit der Postmoderne. Es gehe, so sagt man, dem heutigen Menschen um Gesehenwerden. Entsprechend gelten die Leute als „in“, die in den sozialen Medien die meisten Followers haben: Denn die, so sagt man, haben es im Leben geschafft: Sie werden in dieser Welt wahrgenommen. Ich lasse die Frage hier auf sich beruhen, ob diese Analyse unserer Kultur zutrifft, oder ob sie nicht zu einseitig ist. Aber eines scheint unstrittig im Blick auf unsere gegenwärtige Kultur zutreffend zu sein: Wehe uns, wenn man uns nicht wahrnimmt! Bereits in der altgriechischen Mythologie gibt es die Erzählung von einem Mann. Er erblickte auf einer Wanderung sein Spiegelbild in einem Gewässer. Als er sich darin selbst erkannte, verliebte er sich in sich selbst: So schön, so attraktiv fand er sich. Dieser Mann hieß Narcissus. Von seinem Namen ist eine Lebenshaltung abgeleitet, die man als narcisstisch bezeichnet. Man meint damit eine Einstellung, in der man sein gesamtes Leben von einem einzigen Thema bestimmen lässt: Finde ich mich selbst nicht super!? Und nimmt das meine Umwelt auch wahr!? Was kann ich tun, um meiner Umgebung noch mehr zu imponieren? Diesem Ziel kann man dadurch nachhelfen, dass man sich in den sozialen Medien entsprechend präsentiert und profiliert, um auf diese Weise zu anderen die Botschaft zu transportieren: Schaut einmal, was für ein supertoller Typ ich bin! Eine solche Fragestellung hat heute zweifellos einen hohen Stellenwert, wenn wohl auch nicht so ausschließlich, wie es zuweilen behauptet wird. Ich selbst bin noch in einer Zeit aufgewachsen, die geistig bestimmt war von Philosophien wie derjenigen von Jean-Paul Sartre. Dieser französische Philosoph schrieb ein Buch mit dem Titel: Das Sein und das Nichts. Darin schildert er, wie furchtbar, ja wie unmenschlich es sei, wenn man von jemand anderem beobachtet wird, etwa durchs Schlüsselloch: Die Hölle, so verkündigte Sartre, das ist der andere. Heutzutage lächeln wir über solches Schlüssellochgucken. Selbst Filme, die die DDR-Zeit schildern, wie der Film Das Leben der Anderen ringt uns heute, in einer Zeit von Alexa nur noch ein müdes Lächeln ab: Namentlich das Beobachtetwerden, das Überwachtwerden durch das Internet hat inzwischen Dimensionen angenommen, von denen man vor einigen Jahrzehnten – ich denke an George Orwells 1984 – noch nicht einmal träumte. Mittlerweile liegen wir wohl trendmäßig irgendwo dazwischen. Einerseits rufen wir lautstark nach Datenschutz, bewerten schon das als „Stalken“, was man früher als Nachbarschaftshilfe bezeichnete oder als ein Sich-Kümmern-um-den-Anderen. Stattdessen bestehen wir heute massiv auf unserer Privatsphäre. Und selbstverständlich sind wir heilfroh, dass der andere nicht alles von uns weiß: Es wäre ja auch schrecklich für einen jeden von uns, wenn er uns in unsere Karten blicken oder sogar unsere Gedanken lesen könnte. Aber andererseits: Wir wollen gesehen werden. Wir empfinden es als schlimm, wenn uns keiner beachtet. Eltern und jeder Pädagoge wissen es: Für ein Kind ist es keineswegs das Schlimmste, wenn es bestraft wird. Viel grauenhafter ist es für ihn, wenn man es ignoriert, wenn man es links liegen lässt. Gesehenwerden… Psalm 139 spricht davon, dass uns jemand sieht. Aber David geht es nicht um ein Gesehenwerden durch Menschen, sondern durch Gott. Der Psalm schildert, dass es unmöglich ist, sich Gott zu entziehen. Dabei stellt sich von selbst die Frage: Schnürt dieses Beobachtetwerden durch Gott nicht mein Leben ein? Was habe ich davon, dass Gott alles über mich weiß? Oder ist es vielleicht sogar etwas Gutes, ein Segen? Ich verkündige Ihnen das Wort Gottes unter dem Thema: Gott – die unausweichliche Realität unseres Lebens Diese Wahrheit entfaltet David in Psalm 139 in vierfacher Hinsicht. Der Psalm hat 24 Verse. Er lässt sich mühelos in 4 mal 6 Verse gliedern. Jeder Abschnitt thematisiert jeweils einen Aspekt von Gott in seiner Unausweichlichkeit. David wirft dabei auch immer wieder die Frage auf: Was heißt das für mein Leben? Wir achten auf vier Punkte: 1. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er alles über dich weiß (Ps. 139,1–6) 2. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er überall ist (Ps. 139,7–12) 3. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er jeden in seiner Hand hält (Ps. 139,13–18) 4. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er unbestechlich dein Leben lenkt (Ps. 139,13–18) 1. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er alles über dich weiß (Ps. 139,1–6) In den ersten 6 Versen geht es darum, dass deswegen niemand Gott entfliehen kann, weil dieser Gott alles weiß. Vers 2a: Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es. Vers 3: Du beobachtest mich, ob ich gehe oder liege. Du bist vertraut mit allen meinen Wegen. Mit anderen Worten: Gott weiß über dich Bescheid. Er weiß, was du tust und was du unterlässt. Mehr noch: Gott kennt sogar unser Inneres, unsere Beweggründe, unsere Motivationen: Du verstehst meine Gedanken von ferne (Ps. 139,2b). Gott weiß also selbst das von uns, was wir noch gar nicht nach außen getragen haben: Es ist noch kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht völlig wüsstest (Ps. 139,4). In der Regel ist es so, dass wir von der Gegenwart Gottes in unserem Leben dann sprechen, wenn außerordentliche Ereignisse eingetreten sind. Zum Beispiel, wenn jemand vor einer Weichenstellung in seinem Leben steht: etwa seiner Berufswahl. Oder die Wahl des Ehemannes, der Ehefrau steht bevor: Mit wem möchte ich einmal gemeinsam durchs Leben gehen? Wer soll die Mutter, der Vater meiner Kinder sein? Als unsere Kinder noch bei uns wohnten, riet ich ihnen immer wieder, wenn wir Familienandachten hatten und dann zum Schluss gemeinsam beteten: Betet auch dafür, dass Gott der Herr euch in euren lebenswichtigen Entscheidungen recht führt! Wie schnell kann man auf ein Gleis geraten, das sich im Nachhinein bestenfalls als Umweg erweist, vielfach jedoch als Sackgasse mit möglicherweise verheerenden Folgen. Bete, dass Gott der Herr dich richtig leitet! Bete für deinen zukünftigen Ehemann, für deine zukünftige Ehefrau“ Möge der Herr gerade auf diesem Gebiet dich vor voreiligen Schritten behüten und dir zu seiner Zeit den richtigen Ehepartner zuführen! Aber was in diesen ersten Versen des 139. Psalms auffällt, ist, dass hier Alltägliches genannt wird, also das, was jeder von uns tut oder lässt, und zwar ohne Ausnahme, egal wie alt oder wie jung wir sind. Wir befinden uns in den unterschiedlichsten Lebenskonstellationen. Aber die Tätigkeiten, von denen die ersten Verse in Psalm 139 sprechen, sitzen, stehen, sich abends hinlegen, morgens aufstehen, das ist bei jedem von uns vergleichbar. Sehr vieles davon läuft bei uns sogar automatisch ab: Wie selbstverständlich setzen wir uns hin oder legen uns abends ins Bett. Du bist Schüler und morgen früh geht es wieder zur Schule. Im Anschluss daran machst du deine Hausaufgaben. Du setzt dich für eine Weile an deinen Tisch. Wenn du fertig bist, dann stehst du auf. Du bist Hausfrau, du arbeitest in der Küche und bereitest wie jeden Tag das Mittagessen zu. Du machst Dinge, die dir gefallen und Spaß machen, vielfach auch Dinge, die dir nicht so gefallen. Was wir hier lesen, ist: Gott sieht es! Gott kennt es! Gott nimmt dich wahr! David bezeugt hier: Ich sitze oder stehe, du weißt es (Ps. 139, 2a); du verstehst meine Gedanken von ferne (Ps. 139, 2b); du beobachtest mich, ob ich gehe oder liege (Ps. 139, 3a); du bist vertraut mit allen meinen Wegen (Ps. 139, 3b). Diese ersten Verse des 139. Psalms verkünden eines über Gott: Gott ist der, der alle unsere alltäglichen, gewöhnlichen Tätigkeiten kennt und auch unsere Empfindungen und Überlegungen weiß. Wie läuft unser Denken nicht scheinbar von selbst in uns ab. Aber bis hinein in unsere geheimsten Überlegungen, die unser Tun und unser Lassen bestimmen: Gott kennt sie. Gott ist allwissend. Sein Wissen über uns ist unbegrenzt. 2. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er überall ist (Ps. 139,7–12) Dieser Psalm lehrt nicht nur, dass niemand diesem Gott deswegen nicht entfliehen kann, weil er alles über uns weiß, weil er uns durch und durch kennt, sondern wir werden auch darauf hingewiesen, dass wir ihm nicht entkommen können, weil Gott überall ist. Die Aussage der Verse 7–12 ist: Gott ist allgegenwärtig. David fasst diese Wahrheit in die folgenden Worte: Stiege ich hinauf zum Himmel, so bist du da, machte ich das Totenreich zu meinem Lager, siehe, so bist du auch da! Nähme ich Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich führen, und deine Rechte mich halten (Ps. 139,8–10). … Nähme ich Flügel der Morgenröte…. Wir würden vielleicht heute weniger poetisch formulieren: „Würde ich mit Lichtgeschwindigkeit fliegen…“. Dann weiter: Ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres. Das Meer lag von Israel aus im Westen. Mit anderen Worten: Ob ich mich nach Osten wenden würde und so weit fliegen würde, wie ich mir nur vorstellen kann – mit Flügeln der Morgenröte, ein Hinweis auf den Osten: Du wärst da. Und wenn ich mich nach Westen aufmachen würde, und zwar so weit es mir irgend möglich wäre: Du bist auch dort. In der Heiligen Schrift wird uns einmal von einem Mann berichtet, auf den Gott seine Hand gelegt hatte. Gott schickte diesen Mann nach Osten. Er sollte nach Ninive gehen. Aber Jona fasste den Entschluss, nach Westen abzuhauen. Er machte sich auf nach Tarsis. Das ist ein Ort in Spanien, also so weit von seinem Auftrag weg zu eilen, wie es ihm möglich schien, weg von dem Gott, der ihm einen Befehl gegeben hatte. Wir kennen die Begebenheit. Unterwegs nach Tarsis packte Gott diesen Mann. Er schickte einen Sturm auf das Meer. Jona wurde von der Schiffsbesatzung ins Meer geworfen, und dann von einem großen Fisch verschlungen. Im Bauch des Fisches schrie Jona zu Gott. Jona tat Buße. Daraufhin spie der Fisch ihn wieder aus. Nein, du kannst Gott nicht entfliehen! Gott ist überall. Er ist unausweichlich. Während in den ersten sechs Versen von alltäglichen Dingen die Rede war, die Gott von dir weiß, treten in den Versen 7–12 beim Thema der Allgegenwart Gottes die unvorstellbaren Räume des Universums ins Blickfeld. Da ist vom Himmel die Rede: Stiege ich hinauf zum Himmel, so bist du da (Ps. 139,8). Angesichts der gewaltigen Größe des Universums kann es sein, dass du dir selbst vorkommst wie eine unscheinbare Nussschale auf einem riesigen, stürmischen Ozean, auf dem du ohne Anker, ohne Ziel, von den Wogen des Lebens hin und her geworfen wirst. David bekennt: Völlig gleichgültig, wo auch immer ich bin. Der Geist Gottes verliert mich niemals aus dem Blick: Ob ich hier bin, oder ob ich zigtausende von Kilometern entfernt bin. Egal wohin ich mich aufmache: Gott ist überall. Bitte achten wir darauf: Wenn der Psalm sagt, dass Gott überall ist, dann heißt das nicht, dass Gott mit der Natur identisch ist. Die Aussage, dass Gott allgegenwärtig ist, darf also nicht in einem pantheistischen Sinn verstanden werden, so als wäre Gott mit der Welt gleichzusetzen. Das Wort Gottes unterscheidet stets zwischen Gott und der Natur, zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Aus diesem Grund heißt es zum Beispiel in Psalm 139,7: Wo sollte ich hingehen vor deinem Geist? Wo sollte ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Gott ist nicht identisch mit der Natur. Trotzdem ist er in dieser dreidimensionalen Wirklichkeit überall. Da spottete einmal ein Lehrer in einer Schulklasse. Er wollte eine Schülerin bloßstellen, von der er wusste, dass sie aus einem christlichen Elternhaus stammt. Er fragte sie höhnisch: Sag du mir einmal, wo ist Gott? Die Schülerin reagierte prompt und erwiderte: Sagen Sie mir: Wo ist er nicht? Als der Apostel Paulus in Athen auf dem Areopag das Evangelium verkündigte, da bezeugte er, dass in Gott wir alle leben, weben und sind (Apg. 17,28). Die Allgegenwart Gottes heißt auch, dass ihm nichts verborgen ist. Darum ist der Satz in Psalm 139,11 ein hypothetischer Satz: Spräche ich, Finsternis soll mich überfallen und das Licht zur Nacht werden um mich her. David fährt dann fort: So ist auch die Finsternis nicht finster für dich, und die Nacht leuchtet wie der Tag, die Finsternis wie das Licht (Ps. 139,12). Diebe, Verbrecher, Banditen suchen die Dunkelheit, um ihre kriminellen Machenschaften zu verrichten, und zwar in der Hoffnung, dass ihre Verbrechen nicht gesehen werden. Nun, bei Menschen kann das gelingen aber bei Gott niemals. Die Aussage in Vers 12 hat auch den Sinn, den wir aus Psalm 23,4 kennen: Und wenn ich wanderte im finsteren Tal, so bist du da. Dein Stecken und dein Stab trösten mich. In deinen dunkelsten Stunden, in denen du vielleicht den Eindruck hast, Gott ist nicht da, Gott sieht dich nicht: Gerade dort ist Gott. Indem David über das Totenreich spricht, erwägt er sogar, diese dreidimensionale Wirklichkeit zu verlassen: Machte ich das Totenreich zu meinem Lager, siehe auch da bist du (Ps. 139,8). Das zeigt übrigens auch, dass zum Beispiel die Selbsttötung, der Selbstmord keine Lösung sind, um vor Gott zu entfliehen. Er ist überall, unausweichlich. 3. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er jeden in seiner Hand hält (Ps. 139,13–18) Dieser Psalm belehrt uns nicht nur darüber, dass Gott alles weiß und dass er überall ist: In den Versen 13–18 wird uns ferner Gottes Allmacht vor Augen geführt. Dorthin, wo du normalerweise nicht hinzudenken pflegst, selbst da hat Gott bereits an dich gedacht und mit dir gehandelt: Du hast meine Nieren gebildet (Ps. 139,13a). Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter (Ps. 139,13b). Mein Gebein war nicht verhüllt vor dir, als ich im Verborgenen gemacht wurde (Ps. 139,15a), kunstvoll gewirkt tief unten auf [in] Erden (Ps. 139,15b). Deine Augen sahen mich bereits als ungeformten Keim (Ps. 139,16a). Mit anderen Worten: Angefangen von dem Moment deiner Befruchtung und als die ersten Zellteilungen erfolgten, dann die Einnistung in die Gebärmutter, nach neun Monaten deine Geburt, alle Tage deines gesamten Lebens hier auf Erden, bis hin zu deinem letzten Atemzug: Es ist Gott, der über dein Leben wacht. Gott hat mit einem jeden von uns bereits zu einem Zeitpunkt angefangen, als wir selbst noch keinerlei Bewusstsein über uns hatten. Es ist bemerkenswert, dass der von dem Heiligen Geist inspirierte Psalmist in diesen Versen die Entstehung des Menschen in der Reihenfolge schildert, in der sie im Mutterleib tatsächlich zeitlich erfolgt. Nach der Zellteilung entstehen zuerst die inneren Organe: Du hast meine Nieren gebildet (Ps. 139,13). Danach entsteht unser Gebein, unser Knochengerüst. In Psalm 139,15 heißt es: Mein Gebein war nicht verhüllt vor dir… … als ich kunstvoll gewirkt worden bin, tief unten in der Erde (Ps. 139,.15). Hier wird der Mutterschoß verglichen mit einer unterirdischen, verborgenen Höhle. Dann weiter: Deine Augen sahen mich schon als ungeformten Keim (Ps. 139,16). Was im Deutschen mit zwei Worten wiedergegeben ist, ungeformter Keim, ist im Hebräischen ein einziges Wort: Dieses Wort meint so viel wie Embryo. Übrigens: David spricht hier nicht abstrakt von einem „Schwangerschaftsgewebe“, das sich in der Gebärmutter gestaltet, und dann irgendwann einmal von einem Standesamtbeamten zu einer menschlichen Person erklärt wird. Vielmehr spricht er von dem, was im Mutterschoß entsteht als von ich und von mich: Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter (Ps. 139,13b). Ich danke dir dafür, dass ich auf eine erstaunliche Weise gemacht bin (Ps. 139,14). Ich wurde kunstvoll gemacht: Du bist Mensch, Person, von Anfang an. Dann fährt der Psalmist fort: und alle die Tage, die noch werden sollten, hast du in dein Buch geschrieben (Ps. 139,16c). Also nicht nur am Anfang deines Lebens hat Gott mit dir gehandelt, sondern bis zu deinem Ende: Alles unterliegt seinem Plan: Du, Herr, hast gesehen die Spiele meiner Kindheit. Du kennst die Träume, die ich in meiner Jugend hatte, als ich mir meine Zukunft ausmalte. Du hast gesehen mein Ringen im Leben als Erwachsener, im Beruf, in der Ehe, in der Familie, als Mann oder als Frau. Du weißt von den Wechselfällen meines Alters, mit den wachsenden Beschwernissen und auch davon, wenn man möglicherweise gegen Ende seines Lebens geistig dement wird oder gar nicht mehr bei Bewusstsein ist: Du weißt es. Alle Tage sind in dein Buch eingeschrieben. Längst bevor du den ersten Schrei als Neugeborener abgegeben hast bis zu deinem letzten Atemseufzer in deiner Todesstunde: alle deine Gedanken, deine Worte, deine Taten, deine Wege, deine frohen Stunden, deine Tränen, alles, womit du selbst der Schmied deines Lebensglücks sein wolltest und doch vielfach nur Unglück und Leid hervorgebracht hast... Kurzum: Jede Stunde, jeder Augenblick deines gesamten Erdenlaufes ist vor Gott offenbar. Und zwar nicht nur in dem Sinn, dass Gott alles weiß. Vielmehr hast du, o Gott, als ein allweiser Architekt den Plan meines Lebens bis ins Kleinste entworfen und führst ihn durch. Nicht das kleinste Mosaiksteinchen meines Lebens ist dem allmächtigen Gott entzogen. Darum ist all das, was in meinem Leben passiert, nicht das Spiel eines sinnlosen, eitlen Zufalls. Es ist nicht das Resultat menschlicher Willkür, sondern es ist die Ausführung dessen, was Gottes Rat zuvor bedacht hat (wie es die Urgemeinde einmal in einem anderen Zusammenhang formuliert: Apg. 4,28). 4. Du kannst Gott nicht entfliehen, weil er unbestechlich dein Leben lenkt (Ps. 139,19–24) Wenn wir zu dem letzten Abschnitt des 139. Psalms kommen, zu den Versen 19–24, haben wir möglicherweise den Eindruck, dass David das Thema wechselt. Aber das stimmt nicht. Es geht auch in diesen Versen um Gottes Unausweichlichkeit. Konkret geht es hier um Gottes vorbehaltlose Unbestechlichkeit: Ach wollest du, o Gott, doch den Gottlosen töten (Ps. 139,19). Mit anderen Worten: Gottes Heiligkeit erreicht jeden. David wird hier sehr persönlich: Sollte ich nicht hassen, die dich, Herr, hassen? (Ps. 139,21). Was heißt das? Wenn wir gegen den Gottlosen, gegen den Blutgierigen (Blutmenschen) auftreten, also gegen Menschen, deren Finger mit Blut befleckt sind, oder auch gegen Hasser und Intriganten, dann entsprechen wir dem heiligen Gott, in dem keine Finsternis ist. Gelegentlich hat man angesichts der Aussagen, Ich hasse sie mit vollkommenem Hass (Ps. 139,21) oder dann: Sie sind mir zu Feinden geworden (Ps. 139,22), gleichsam entschuldigend darauf hingewiesen: Das, was David hier sagt, das sei alttestamentlich. Im Neuen Testament seien wir über eine solche Einstellung erhaben. Aber das ist falsch. Natürlich ist es notwendig, gegen Ungerechtigkeit, gegen Gewalttätigkeit aufzustehen und dazu unzweideutig Stellung zu beziehen: Gott will keine Ungerechtigkeit! Wenn wir gegen Derartiges unsere Stimmen erheben und öffentlich als falsch bezeichnen, dann geht es dabei um Gerechtigkeit. Auch die Seelen unter dem Altar in Offenbarung 6 – im Neuen Testament [!] – beten: Herr wie lange willst du uns nicht rächen… (fünftes Siegel: 6,10). Das, was uns in diesem Psalm verkündet wird, ist Folgendes: Sowohl du selbst als auch der andere, dein Feind, niemand kann Gott, dem Heiligen entfliehen, und zwar selbst dann nicht, wenn man gelegentlich unter dem Eindruck steht, vielleicht auch davon bedrückt ist, dass die Ungerechten, dass die Gottlosen zum Beispiel dort, wo man arbeitet, wo man in die Schule geht, die Oberhand haben. Vielfach kommt es einem so vor, dass die Ungerechten triumphieren, und die Sünder die Gewinner seien, während der Gerechte der Dumme ist. Aber im Licht des heiligen Gottes sieht es anders aus. Achten wir bitte auf ein Detail, das über diese Leute ausgesagt wird: Sie reden arglistig über dich (Ps. 139,20). Es sind also Leute, die cool auftreten, möglicherweise sogar fromm reden, vielleicht sogar in der Gemeinde. Aber in Wahrheit verfolgen sie ganz andere Ziele: Sie reden arglistig, also hinterhältig über dich, o Gott (Ps. 139,20). Das wird noch deutlicher, wenn wir weiterlesen: Es sind Menschen, die ihre Hand zur Lüge erheben (Ps. 139,20b). David hat hier Leute vor Augen, die sich nicht scheuen bei Gott zu schwören, aber in ihrem Herzen verfolgen sie völlig andere Ziele. Sie nehmen den Namen Gottes in den Mund, vielleicht mit freundlich-lächelndem Antlitz. Aber in ihrem Innern sieht es anders aus: Sie führen ein Leben in Rebellion gegen Gott. Sie suchen hinterlistig sein Werk zu ruinieren. In Wahrheit sind sie Gottes Feinde. Im Blick auf solche Leute sagt David: Sollte ich nicht hassen, die dich, Herr, hassen? (Ps. 139,21). Natürlich wusste David auch, dass man seinen Nächsten lieben soll. In anderen Psalmen betete David sogar für seine Feinde. Aber was er bei diesen doppelzüngigen Leuten wahrnahm, das war ihre durchtriebene Verlogenheit und ihre Hinterhältigkeit. Wenn du in Konfrontation mit solchen Leuten stehst, dann kannst du beten: „Herr, vollziehe deine Rache an ihnen!“ Aber es ist in solch einer Situation unverzichtbar auch zu beten, was David hier betet: Erforsche mich, o Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich es meine, und sieh, ob ich auf bösem Weg bin, und leite mich auf ewigem Weg (Ps. 139,23,24). Mit anderen Worten: Herr, ich verabscheue deine Feinde. Aber in dieser Verabscheuung kenne ich nicht mein eigenes Herz. Herr Gott, passe du auf mich auf, dass ich nicht ebenfalls anfange, ein doppeltes Spiel zu spielen, heuchlerisch und verlogen, einerseits fromm redend, aber im Hinterkopf voll persönlichem Hass. Wie schnell sehe auch ich den Splitter im Auge meines Nächsten und übersehe meinen eigenen Balken! Wir haben auch im Neuen Bund keine Abstriche zu machen von der Aussage: Hasse ich nicht, die dich hassen? Aber Vorsicht! Kennen wir unser eigenes Herz? Wissen wir wirklich, wie wir selbst es meinen? Zunächst wendet sich nämlich Gottes heilige Unausweichlichkeit nicht gegen den anderen, sondern gegen uns. Darum gilt das Gebet: Herr, erforsche mich und erkenne du mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich es meine, und sieh ob ich auf einem bösen Wege bin, und leite du mich auf ewigem Weg (Ps. 139,23). Aber dieser Psalm belehrt uns nicht abstrakt über die Unausweichlichkeit Gottes, dem Gott, der allwissend, allgegenwärtig, allmächtig und unbestechlich ist. Vielmehr teilt er uns auch mit, wie David in seinem Leben diese Wesensmerkmale Gottes wahrnimmt. Wir können dabei verfolgen, dass David selbst einen Lernprozess durchmacht. Zunächst nimmt David diese übermächtige Unausweichlichkeit Gottes als Bedrohung für sich selbst wahr. Schauen wir noch einmal zu Psalm 139,6: Diese Erkenntnis – nämlich, dass Gott alles von mir weiß – ist mir zu wunderbar. Nun, diese Übersetzung ist missverständlich. David ruft hier nämlich keineswegs aus: Das ist ja alles so wundervoll, dass du alles über mich weißt. Das Wort, das hier steht, meint so viel wie: Dass Gott alles über mich weiß und ich ihm nicht ausweichen kann, das ist zu viel für mich, das haut mich schier um. Wenn man ganz wörtlich übersetzen will, steht hier: Diese Erkenntnis ist gegen mich. Sie bedrängt mich. Dass dies der Sinn dieses Verses ist, wird auch aus dem folgenden Vers deutlich, Vers 7. Dort stellt David die Frage: Wo sollte ich hingehen von deinem Geist, und wo sollte ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Mit anderen Worten: David will nur weg, weg vor den alles durchdringenden Augen Gottes, weg von dem Gott, der alles über ihn weiß: alle seine Taten, seine Worte und nicht zuletzt das, was er noch gar nicht ausgesprochen hat, sondern nur in seinem Kopf herumschwirren lässt. Zunächst ist für David also diese übermächtige Unausweichlichkeit Gottes etwas Erschreckendes: Von allen Seiten umgibst du mich, von hinten und von vorn, und du hältst deine Hand über mir. David sagt: Im Grunde ist diese Erkenntnis so übermächtig entwaffnend, dass ich nur die Flucht ergreifen möchte: Nur weg von diesem Gott. Aber wohin? Bereits Adam und Eva versteckten sich im Garten Eden. Sie schienen kaum noch atmen zu können. Gott rief: Adam wo bist du? Da kam Adam aus der Deckung. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er führte dann aus: Als ich dich kommen hörte, da stellte ich fest, ich war nackt, und ich bekam Angst, und ich verbarg mich. Stellen wir uns vor, Gott würde in diesen Minuten jedem von uns die Information darüber senden, was er in den zurückliegenden 24 Stunden getan, gesagt und gedacht hat, und Gott würde dieses alles vorne an die Wand projizieren, also alle unsere egozentrischen Gedanken, alle lüsternen, ehebrecherischen Gedanken, alle zornigen, wütenden Gedanken, Gedanken der Ungeduld, der Bitterkeit. Das wäre furchtbar für uns! Oder? David weiß das, und wir wissen es auch. Gottes Übermacht ist zu viel für uns. Andererseits aber wollen wir wahrgenommen werden. Wir wollen deswegen zur Kenntnis genommen werden, weil wir geliebt werden wollen. Genau das ist unser Dilemma: Es ist die Spannung zwischen einerseits dem Wissen: Wenn ich meiner Umgebung offenbar würde, also so wie ich tatsächlich bin, dann würde mich niemand lieben. Alle würden mich verachten. Also will ich lieber verborgen bleiben. Andererseits will ich aber geliebt werden, also muss man mich kennenlernen. Gibt es da einen Ausweg? Die Antwort lautet: Ja! Es muss dich jemand sehen, durch und durch kennen. Aber dieser jemand wird dich dann nicht verachten, sondern er liebt dich – trotzdem. Was wäre, wenn Gott, der alles von dir weiß, der dich von allen Seiten umgibt, dessen Hand auf dir ist, noch vor der ersten Zellteilung im Mutterleib und der dein Leben bis zum letzten Atemzug in seiner Hand hat, wenn der Gott, der durch und durch unbestechlich heilig ist, wenn dieser Gott dich durch seine übermächtige Gegenwart nicht einengt, dir nicht gewissermaßen das Leben abschnürt, sondern dich gerade durch seine Gegenwart befreit? Wenn er dich gerade durch seine unausweichliche Gegenwart leben lässt! So wie es David dann weiter in diesem Psalm auch bekennt: Deine Hand führt mich… (Ps. 139,10); Deine Rechte hält mich… (Ps. 139,10). Was ist, wenn der Gott, der dich von allen Seiten umgibt, dessen Augen dich bereits im Schoß deiner Mutter sahen, ja der dich in deiner Mutterleib auf eine ausgezeichnete Weise gewoben hat, in dessen Buch jeder Tag deines Lebens eingeschrieben ist, dir sagt: Du bist nicht anonymen Schicksalsmächten ausgeliefert, Mächten, die man als „Glück“ oder als „Unglück“ bezeichnet, oder als „Zufall“ oder als „Schicksal bewertet, sondern: Ich, der personale Gott kenne dich. Du gehörst mir, dem allwissenden, allgegenwärtigen, allmächtigen, heiligen Gott. Und ich liebe dich, und ich lenke dir alles zum Besten!? Genau das erfasst David hier: Dieser Gott hat unbegrenztes Wissen über ihn. Er ist überall. Er hat schrankenlose Macht, und er ist unbestechlich heilig. Aber das alles setzt Gott nicht ein, um seinen Erwählten kaputtzumachen, um ihn in die Pfanne zu hauen, um ihn vorzuführen, um ihn zu entmenschlichen, sondern hören wir Psalm 139,10 noch einmal: um dich zu führen, um dich zu leiten, um dich zu halten. Kurzum: um für dich zu sorgen. David, der zunächst angesichts der Übermacht Gottes erschrickt, weil Gott, alle seine Gedanken von ferne versteht, ruft freudig erstaunt aus, nachdem er erkannt hat, dass dieser übermächtige Gott ihn auf rechter Straße führt: Wie kostbar sind mir deine Gedanken, o Gott! Wie ist ihre Summe so gewaltig! Wollte ich sie zählen – sie sind zahlreicher als der Sand. Wenn ich erwache, so bin ich immer noch bei dir (Ps. 139,17.18). Kostbar ist David dieses Wissen! Dir auch? Du wachst morgen früh auf und denkst an deine Arbeit oder an deine Schulklasse: Du kannst als erstes sagen: „Vater ich danke dir, du warst gestern Abend da, du warst in der Nacht bei mir, und du bist jetzt immer noch da, und du wirst heute den ganzen Tag hindurch mir vorangehen!“ Jetzt verstehen wir, warum David am Schluss dieses Psalms darum bittet: Erforsche mich, o Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich, und erkenne, wie ich es meine, und sieh, ob ich auf bösen Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege (Ps. 139,23.24). Mit anderen Worten: Du unausweichlicher Gott, ich habe keine Angst mehr vor dir. Ja, du kennst mich. Du kennst mich durch und durch, bis in jede Faser meines Daseins. Aber gerade das erfüllt mich mit tiefer Freude und Dankbarkeit. Warum? Warum ist dieser Gott jemand, dessen Nähe uns nicht erdrückt, so dass er uns nicht die Luft zum Atmen nimmt, sondern uns befreit? Warum erscheint uns Gott nicht wie ein übermächtiger Stalker? Antwort: Weil er uns liebt. Das heißt: Wir können diesen Psalm nur recht verstehen, wenn wir ihn lesen im Licht dessen, der in Wahrheit die Abwesenheit Gottes in seiner Totalität durchlitt. Wir können diesen Psalm nur richtig verstehen, wenn wir ihn erfassen im Licht dessen, der die völlige Gottesferne ausgehalten hat, als er ausrief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Diesen Psalm verstehen wir nur im Licht dessen, den die Finsternis umgab, als er nackt am Kreuz hing, und die Menschen über ihn ihren Spott und Hohn ausgossen. Um genau dieses Sehen Gottes geht es hier. Es geht um Gott, der uns im Licht von Golgatha sieht. Der allweise, allgegenwärtige, allmächtige und heilige Gott sieht dich in Jesus Christus an! Wenn du deswegen aufrichtig beten kannst: Wie kostbar sind mir deine Gedanken, dann kannst du das in Wahrheit nur bekennen, wenn du Jesus Christus als Heiland kennst, sodass sein Werk am Kreuz dein einziger Halt ist. Wenn du das noch nicht bezeugen kannst, dann versuche nicht vor Gott wegzulaufen! Das schaffst du sowieso nicht! Vielmehr mache das Gegenteil! Eile zu dem, der allein dir wegen und in Christus Geborgenheit schenken kann! Psalm 139 verkündet die Botschaft: Du kannst Gott nicht entfliehen. Aber die Botschaft geht weiter: Du musst ihm auch nicht entfliehen, weil dieser Gott dich nicht erdrückt, sondern dir Leben schenkt, wegen Jesus Christus. Als ein Botschafter, an Christi Statt rufe ich dir heute Morgen zu: Gott ist der Unausweichliche, und das ist gut so. Denn dieser Gott lässt uns wegen des Werkes seines Sohnes Jesus Christus leben. Amen. 8