Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (04.10.2020) Wortverkündigung: Psalm 8 (Erntedankfest) Thema: Was ist der Mensch? Psalmen/Lieder: Psalm 104a,1–7; Psalm 139a,1–5; Psalm 8b,1–6; 182,1–6 Gesetzeslesung: Markus 10,28–34 Erste Schriftlesung: Hebräer 2,1–11 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen aus Psalm 8. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus, Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest. Mitten in diesem Psalm stellt David diese Frage: Was ist der Mensch? Vielleicht ist Ihnen die folgende Anekdote bekannt. Sie stammt aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Theologe oder Philosoph Schleiermacher saß abends in einem Berliner Park auf einer Bank. Langsam wurde es dunkel. Zu jener Zeit wurden die Parks über Nacht geschlossen. Ein preußischer Wachtmeister streifte durch den Park. Er sah, dass da noch jemand auf einer Bank saß, und er sprach Schleiermacher in preußischem Militärton an: „Wer sind Sie?“ Schleiermacher blickte gedankenversunken in das Gesicht dieses Polizisten und erwiderte: „Wenn ich das wüsste.“ Was ist der Mensch… Wenn ich das wüsste… Wenn wir den Zusammenhang beachten, in dem diese Frage in diesem Psalm gestellt wird, dann werden wir in vielfältiger Weise auf Gott und auf seine Schöpfung verwiesen. Damit macht dieser Psalm deutlich, dass wir ohne Gott nicht verstehen, wer der Mensch ist. Wir verstehen, wer oder was der Mensch ist, einzig und allein in Beziehung zu Gott und dann auch zu seiner Schöpfung. Damit hat Psalm 8 sehr viel mit dem heutigen Erntedankfest zu tun. An diesem Tag blicken wir ja eigentlich nicht auf uns Menschen, sondern wir schauen um uns herum. Wir blicken hier nach vorne auf einen sehr schön geschmückten Tisch. (Danke an diejenigen, die das so ansehnlich zubereitet haben.) Aber von diesen Erntegaben, die uns auf Gott den Schöpfer verweisen, kommen wir dann von selbst zu uns. Denn diese Gaben sind für uns da. Natürlich blicken wir am Erntedanktag auch zurück. Wir denken an das vergangene Jahr. Die zurückliegenden Monate waren in vieler Hinsicht nicht so, wie wir uns das Anfang des Jahres vorgestellt hatten. Möglicherweise blicken wir an diesem Tag auch nach vorne, in die Zukunft. Vielleicht stellen sich manche von uns im Geheimen furchtsam die Frage: Wie wird wohl das nächste Erntedankfest sein? Werde ich meinen Arbeitsplatz noch behalten? Wird in unserem Land Frieden sein, oder wird das Chaos ausgebrochen sein? Was ist mit meinen Ersparnissen? Werden wir das nächste Erntedankfest überhaupt noch in diesen Gemeinderäumen feiern können, oder werden wir uns irgendwo in einer Wohnung zurückgezogen haben? Wir wollen heute auf die Antwort hören, die uns der Psalm 8 auf die Frage gibt: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Ich predige Ihnen das Wort Gottes aus Psalm 8 unter dem Thema: Was ist der Mensch? Wie achten auf drei Punkte: 1. Der Mensch in seiner tiefen Gefallenheit und Hinfälligkeit 2. Der Mensch in seiner hohen Berufung und in seiner Würde 3. Christus – der [wahre] Mensch in seiner Erniedrigung und herrlichen Erhöhung 1. Der Mensch in seiner tiefen Gefallenheit und Hinfälligkeit Es ist mittlerweile massiv zurückgegangen, aber ich erinnere mich noch gut an die Zeit: Es war Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals war ich Teenager. Ich war gerade Christ geworden, und ich versuchte die Welt um mich herum im Licht der Bibel zu begreifen. Jene Jahre waren sehr von der Bedeutung des Menschen bestimmt, von seiner Großartigkeit. In diesem Sinn wurde häufig Psalm 8 angeführt. Dieser Psalm war in jenen Jahren recht beliebt: Herr, Gott, Du hast den Menschen ein wenig niedriger als die Engel gemacht. Mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher über die Werke deiner Hände gemacht: Alles hast du unter seine Füße gelegt. Das hörte man gern. Es glitt damals hinunter wie Öl. Es war ein stolzes, selbstgefälliges Bewusstsein, gerade auch angesichts dessen, was der Mensch so alles geschaffen hatte: Wirtschaftswunder, technische Erfindungen, medizinische Fortschritte, Raumfahrt zum Mond: Alles hast Du ihm unter die Füße gelegt. Man konnte sich geschmeichelt fühlen. Folglich hörte man diesen Psalm vielfach mit erhobenem Haupt. Man war überzeugt davon: Es wird von nun an in diesem Sinn mit der Menschheit weiter vorangehen. Es wird hineingehen in eine herrliche Zukunft: Psalm 8, ein Lobpreis auf den Menschen. Stimmt das? Inzwischen hat sich der Zeitgeist gedreht. Die Lobhudeleien auf den Menschen sind zumindest leiser geworden, gedämpfter. Vieles ist inzwischen passiert, das uns Menschen einschüchtert. Tatsächlich gab es nach den 60er Jahren einen massiven kulturellen Einschnitt, einen Bruch. Während man in den 60er Jahren die Welt im Sinn von „Prinzip Hoffnung“ deutete, erfasste spätestens seit Beginn der 80er Jahre in unseren Breiten das „No-Future-Denken“ das Bewusstsein der Menschen. Nun hörte man über den Menschen Anderes: Der Mensch habe seine Umwelt zerstört; die Völker der Zweidrittelwelt würden durch den Westen ausgebeutet; der weiße Mensch begehe am laufenden Band Verbrechen an der Natur, an der Ökologie. Vor etlichen Jahren konnte man aus der Süddeutschen Zeitung erfahren: „Eine Flugreise ist das größte ökologische Verbrechen.“ Wenn das Wort „Sünder“ in der Öffentlichkeit vorkam, dann im Zusammenhang mit der Umwelt. Man sprach von „Umweltsünder“. Dieses Lebensgefühl änderte sich für eine kurze Weile, als vor 30 Jahren die „Wende“ geschah. Aber wie gesagt: Das war nur für eine kurze, vorübergehende Zeit. Dann ging es nach der Melodie weiter, wobei allerdings die Menschen immer unpolitischer wurden. Während wir nun vielleicht noch dabei sind, uns über diesen kulturellen Umbruch zu besinnen und noch einmal die Frage dieses Psalms erwägen, Was ist der Mensch (Ps. 8,5), fallen uns in diesem Psalm einige Dinge auf. Wir stellen uns die Frage: Geht es hier tatsächlich um uns Menschen in unserer Großartigkeit? Zunächst stellen wir nämlich fest, dass das Wort, das im Hebräischen in Vers 5 für Mensch verwendet wird, nicht das übliche hebräische Wort für Mensch ist. Das übliche Wort ist Adam. Hier aber ist ein anderes Wort verwendet, das Wort Enosch: Was ist der Enosch, dass du an ihn denkst? Enosch ist in der Heiligen Schrift der Name eines Menschen. Der Name Enosch kommt in den ersten Kapiteln der Heiligen Schrift vor. Enosch war der Sohn von Seth. Bekanntlich wurde Seth dem Adam und der Eva geboren. Er war der Ersatz für den ermordeten Abel. „Ersatz“ ist die Bedeutung des Namens „Seth“. Dieser Seth (Ersatz) hatte wiederum einen Sohn, und der hieß Enosch. Von Enosch lesen wir zum ersten Mal im letzten Vers von 1.Mose 4,26: Dem Seth wurde ein Sohn geboren, den nannte er Enosch. Mit Seth und dann mit Enosch setzt die Zeit nach der Vertreibung aus dem Garten Eden ein. Die Bedeutung von Enosch ist: der Vergängliche, der Hinfällige, der Sterbliche. Wenn David also hier die Frage stellt: „Was ist der Mensch?“, dann hat er zunächst den sterblichen, den hinfälligen Menschen im Blick. Zuerst geht es in diesem Psalm keineswegs um den Menschen in seiner Großartigkeit mit seinen Super-Leistungen. Vielmehr geht es um den Menschen in seiner Vergänglichkeit, und damit geht es um den Menschen, der sich seit dem Sündenfall in Auflehnung gegen Gott befindet. Dann fällt uns noch mehr in diesem Psalm auf. Es fällt uns auf, dass der Psalm gar nicht mit dem Menschen beginnt und auch nicht mit seiner Umwelt. Vielmehr beginnt der Psalm mit Gott: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name (Ps. 8,2). Und genauso endet er auch: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name (Ps. 8,10). Und schließlich: Wenn der Psalm dann auf uns hinfällige Menschen zu sprechen kommt, dann spricht er ja auch keineswegs zunächst über seine Größe, sondern über seine Kleinheit, über seine Gefährdung, über seine Schwächlichkeit. Wir denken an Jakobus, der schreibt, dass unser Leben ein Hauch ist, ein Dampf, der schnell verweht (Jak. 4,14). David verweist eingangs auf die erste Lebensphase des Menschen, auf die Zeit seines Säuglingseins und auf sein Kindsein hin. Damit wird uns hier der Mensch in seiner Ohnmacht vor Augen gestellt. Denn was auch immer wir über Säuglinge und Kleinkinder wissen, eines ist uns allen bekannt: Sie sind von den Großen vollkommen abhängig, und zwar im Blick auf ihre physische Existenz, aber auch, was ihre Seele anbelangt. Wir wissen alle: Wie leicht sind Kinder verführbar. Aber was sagt nun Psalm 8 über solche kleinen, ohnmächtigen Wesen? Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du dir Lob bereitet. Eigentlich steht hier: Macht bereitet (Ps. 8,3). Haben wir richtig gehört? Gott, du gebrauchst gerade diese schwachen, hilflosen Geschöpflein für dich, für dein Lob? Unsere erste Reaktion lautet: Was soll das denn? Ausgerechnet diejenigen, die in jeder Hinsicht von anderen abhängig sind, sollen für das Lob Gottes zuständig sein?! Das erscheint uns eine verkehrte Welt zu sein! Wir meinen, die, die in dieser Welt das Sagen haben und etwas anstoßen können, also die Erwachsenen, namentlich die Mächtigen, die Macher in dieser Welt, die sollen Gott loben. Aus ihrem Mund sollte Gott sich Lob bereiten. Unmittelbar bevor der Herr Jesus gekreuzigt wurde, er hielt sich tagsüber bereits in Jerusalem auf, ging er noch einmal in den Tempel. Er reinigte das Haus Gottes erneut von all den korrupten und verderbten Elementen, die sich in das Haus Gottes eingeschlichen hatten. Da passierte Folgendes. Ich lese dazu Matthäus 21,12–17: Und Jesus ging in den Tempel Gottes hinein und trieb alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften, und stieß die Tische der Wechsler um und die Stühle der Taubenverkäufer. Und er sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: „Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden!“ Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht! Und es kamen Blinde und Lahme im Tempel zu ihm, und er heilte sie. Als aber die obersten Priester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel riefen und sprachen: Hosianna dem Sohn Davids!, da wurden sie entrüstet und sie sprachen zu ihm: Hörst du, was diese sagen? Jesus aber sprach zu ihnen: Ja! Habt ihr noch nie gelesen: „Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du ein Lob bereitet?“ Und er verließ sie, ging zur Stadt hinaus nach Bethanien und übernachtete dort. Offenkundig ist in dieser Aussage des Psalms also nicht nur an das Lallen der Säuglinge gedacht, sondern auch an das Singen der Kleinkinder. Sie waren und sind es, die Gott dem Herrn, und in diesem Fall, dem Sohn Gottes, Lob darbrachten. Frage: Sind wir uns wirklich so sicher, ob drüben im Kinderstundenraum nicht Gott mehr und reiner gelobt wird als hier von uns Erwachsenen? Wenn wir von dieser Aussage aus noch einmal einen Blick auf den Anfang und auf das Ende des Psalms werfen, und dort jeweils lesen: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde, dann dürfen wir diesen Anfangs- und Schlussvers auch als einen Rahmen und als eine Schutzmauer verstehen. Wenn wir es noch in einem anderen Bild formulieren wollen, können wir an zwei gefaltete Hände denken, die den in vieler Hinsicht geringen, gefährdeten, bedrohten Menschen in das Lob Gottes einschließen: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde. Möge jeder von uns eingehüllt sein in den Schutzbereich dieses Gottes, und zwar am Anfang seines Lebens und auch am Ende seines Lebens und auch dazwischen. Übrigens heißt es hier nicht: „Herr, Herrscher, wie herrlich ist dein Name“, sondern: Herr, unser [!] Herrscher, wie herrlich ist dein Name. Der Gott, der uns schützt, ist der ewige Bundesgott: Er ist unser Gott. Aber wie oft verhält es sich so, dass der Mensch die Hände Gottes, die ihn bergen wollen, als ein Gefängnis auffasst und meint, er müsse daraus ausbrechen, um frei zu sein. Das ist seit Adams Fall unser tiefstes Problem: Adam, der meinte auf eigenen Füßen stehen zu können und der sich einbildete, er könne sein Leben ohne Gott hinbekommen... Aber Psalm 8 spricht nicht nur vom Menschen in seiner Kleinheit und in seiner Hilfsbedürftigkeit, sondern er spricht gerade im Zusammenhang mit den Säuglingen und Kleinkindern auch von den Gegnern Gottes: Beim Lob Gottes durch die Kinder geht es darum, dass die Bedränger Gottes, dass der Feind und der Rachgierige zum Schweigen gebracht werden (Ps. 8,3). Dadurch wird erneut deutlich, dass David am Anfang dieses Psalms nicht die Situation von 1.Mose 1 vor Augen hat. Es geht hier nicht um die Zeit vor dem Sündenfall, sondern es geht um die Zeit danach. Und da herrschen in dieser Welt nicht nur einfach die Erwachsenen, sondern – so erfährt man es vielfach – gerade die Feinde Gottes, die Rachgierigen. Es triumphieren, so hat es den Anschein, vielfach die Intrigen, die Kaltherzigkeit und die Verlogenheit. Und tatsächlich: Wenn wir eines beim Größerwerden, beim Erwachsenwerden lernen, dann ist es genau dies: Wir leben nicht in einer heilen Welt. Es gibt das Böse. Es gibt furchtbar Böses. Wer von uns, der nur ein wenig Lebenserfahrung hat, wollte bestreiten, dass es mobbende und rachgierige Menschen gibt? Was aber ist dann der Mensch? Wo bleibt da namentlich das Kind? Ich denke hier auch keineswegs nur an Kinderschänder und Pädophile, sondern auch an diejenigen Erwachsenen, die mit größter Leichtigkeit ihre Ehen aufs Spiel setzen, in Gefahr bringen oder gar auflösen und gerade damit die Seelen ihrer Kinder entzweireißen. Ja, es sind nun einmal die an sich unbeteiligten Kinder, die die Opfer der Streitigkeiten ihrer Eltern sind, und zwar sind sie nicht erst Opfer beim Gerichtsspruch, der die Ehescheidung rechtskräftig macht, sondern durch all die davor stattfindenden Ehestreitigkeiten und Familienkonflikte, die dem Richterspruch vorangehen. Was ist dann der Mensch, der Enosch, der Hinfällige, der Sterbliche, der Vergängliche? Und wenn wir schon bei dieser Frage, Was ist der Mensch, sind: Was ist dann mit dem Feind und mit dem Rachgierigen? Wer wollte ernsthaft dem Ausspruch widersprechen: „Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine Bestialität.“ Sprichwörter entstehen nicht einfach so. Der Psalm beantwortet diese Frage nicht direkt. Aber er geht darauf insofern ein, als er sagt, dass Menschen, die unter Rachgierigen leiden, mit ihren Gegnern gerade dadurch fertig werden, dass sie sie vor Gott gleichsam „wegsingen“: Aus den Mündern von Kindern und Säuglingen hast du angesichts deiner Gegner, dir Macht gegründet, um Feinde und Rachgierige zum Schweigen zu bringen. Das heißt, dass die Gegner Gottes gerade auf diese Weise im Glauben überwunden werden: Denn nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, auch nicht die Bosheit der Menschen. Aber dies zu sagen, ist nicht die Sprache unserer Erfahrung, sondern das ist die Sprache des Glaubens. Doch in diesem Vertrauen darfst du dich an Gott festhalten. Also auch wenn du aus einem total kaputten Elternhaus kommst und in diesem Umfeld aufgewachsen bist und dort wenig Liebe und Geborgenheit erfahren hast, dann darfst du trotzdem im Aufblick zu Gott zu einem Überwinder deiner seelischen Verletzungen werden. Durch Lob bereitet Gott sich eine Macht gegenüber den arglistigen und tückischen Menschen. Jeder von uns wurde im Sündenfall Adams in seiner Wurzel getroffen. Jeder Mensch wurde seitdem dem Menschen zu einem hinterhältigen Wolf. Nach dem Sündenfall herrscht in dieser Welt weitestgehend das Gesetz des Dschungels, nach der scheinbar der Stärkere, der Hinterhältigere triumphiert. Aber genau das bestreitet dieser Vers. Gott der Herr will, dass wir, sei es auch unter Tränen, ihm unser Leid vor die Füße werfen und ihm bekennen: Herr, unser Herrscher wie herrlich ist – trotz all der Rachgierigen – dein Name auf der ganzen Erde und deine Hoheit über den Himmeln (Ps. 8,2). Gott der Herr regiert. Denken wir bei dem Feind und dem Rachgierigen also bitte nicht nur an den Teufel und an seine Dämonen. Wenn diese Worte in den Psalmen vorkommen, ist an menschliche Feinde gedacht, übrigens besonders an die menschlichen Gegner der Auserwählten Gottes, die das Volk Gottes attackieren und ruinieren wollen… … Und angesichts dieser Schrecklichkeiten des gefallenen Menschen bauen wir hier einen „Gemüsegarten“ auf?!? Antwort: Ja, gerade deswegen. Gerade angesichts der boshaften Menschen loben wir Gott, und wir nehmen uns dazu ein Vorbild an den Kindern: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist – nein, nicht unser Name, sondern – dein Name. Übrigens gilt nicht nur, dass der fast göttlich gemachte Mensch in vieler Hinsicht zum Feind und zum Rachgierigen gegen Gott und gegen seinen Nächsten wurde, sondern auch das Umgekehrte trifft zu: Nur im Blick auf Gott, im dankbaren Erkennen unseres Schöpfers werden wir uns hier auf Erden für die heilsamen Normen Gottes einsetzen. Wir werden zum Beispiel gegen Abtreibung aufstehen oder gegen die gesetzliche Auflösung der Ehe und der Zerschlagung der Familie unsere Stimme erheben. Die Kraft dazu gibt es überhaupt nur noch in dem Wissen von dem Gott, dessen Name herrlich ist. Es ist kein Zufall, dass die Pro-Life-Bewegung von Christen initiiert und strukturiert wurde. Darum passt Singen, Danken und Loben in eine solche Welt. Jedoch passt es nicht, den Menschen zu loben. Wahrlich nicht! Aber Gott, unser Herrscher, er ist es wert, gelobt zu werden. Und in diesem Loben Gottes werden die Rachgierigen und die Feinde Gottes letztendlich zum Schweigen gebracht: Gottes Name ist herrlich auf der ganzen Erde, und seine Hoheit hat er gesetzt über die Himmel (Ps. 8,4). Aber wenn David hier die Frage stellt: Was ist der Enosch, der Hinfällige, der von Gott Abgefallene, das du an ihn denkst, dass du auf ihn achthast, dann hat David nicht nur die menschliche Kleinheit, Geringheit und Ohnmacht vor Augen, und zwar angesichts der gottlosen Goliaths in dieser Welt. David weist auf noch etwas anderes. Er erinnert an die Größe des Weltalls: Wenn ich den Himmel betrachte, was ist dann der Enosch? Nicht nur die Sünde, die tagtäglich vor unserer eigenen Tür lauert, mag uns verzagt machen, sondern es sind auch die schier unermesslichen Weiten des Universums und die Unübersichtlichkeit dieser Welt. Angesichts des kopernikanischen Weltbildes, also des Weltbildes, das unsere Vorstellung bis zum heutigen Tag weitgehend bestimmt, rief Blaise Pascal einst aus: „Die unendlichen Räume machen mir Angst!“ Was bleibt da noch übrig vom Menschen in seiner unscheinbaren Winzigkeit? Aber bitte schauen wir einmal hin, was hier genau geschrieben steht: Wenn ich deinen Himmel betrachte, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast (Ps. 8,4). Vollkommen egal, welches Bild du über die unsichtbare und auch über die sichtbare Welt hast und wie schwindelerregend dir beim Gedanken an die schier unermesslichen Weiten wird, vergiss eines nicht: Es ist und bleibt die Welt Gottes. Darum hab keine Angst! Die Schöpfung wird uns hier geschildert als ein Haus, und zwar als ein Haus, in dem wir heimisch sein dürfen. Ja, diese Welt hat Gott für dich geschaffen, damit du Gott dienst. Diese Welt ist für dich da, damit du für Gott da bist. Höre also auf, dich angstvoll zu grauen, sondern staune. Staune über Gott, deinen Schöpfer. Lass die anderen über „Menschenwürde“ oder „Menschenrechte“ reden. Lass sie sich einbilden, man könne diese „Werte“ ohne Gott erhalten. Wir wollen wieder lernen, was es heißt, dass wir Geschöpfe Gottes sind, sein Eigentum! Es ist Gott, der diese Welt geschaffen hat. Und darum machen uns schwachen, kleinen Menschen die unvorstellbaren Weiten, die wir in sternenklarer Nacht über uns erblicken, keine Angst. Vielmehr führen sie uns in die Anbetung. Denn das Zentrale bleibt: Der Herr Gott ist dein Herrscher und auch dein Retter. Aber das ist längst nicht alles, was über den Menschen in dieser Welt zu sagen ist und warum wir berufen sind, Gott den Herrn in seiner Hoheit zu loben. 2. Der Mensch in seiner hohen Berufung und in seiner Würde Trotz des abgrundtiefen Sündenfalls des Menschen, trotz der grauenhaften Mächte, von denen unser Leben in dieser Welt gefährdet ist und auch trotz der scheinbar unendlichen Abmessungen des Weltalls, sieht David immer noch, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist, und zwar auch in seinem gefallenen Zustand. Darum heißt es dann auch tatsächlich weiter: Was ist der Sohn des Menschen, dass Du auf ihn achthast (Ps. 8,5b): Hier steht tatsächlich „Sohn Adams“. Dann zählt David auf. Du hast ihn ein wenig niedriger gemacht als die Engel; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher über die Werke deiner Hände gemacht; alles hast du unter seine Füße gelegt: Schafe und Rinder allesamt, dazu auch die Tiere des Feldes; die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was die Pfade der Meere durchzieht (Ps. 8,6–9). Man kann Vers 6 sogar übersetzen mit: Du hast ihn ein wenig niedriger gemacht als Gott. Aber bleiben wir bei Engeln, denn so wird diese Aussage im Neuen Testament zitiert. Auf jeden Fall ist deutlich: Auch in einer Welt, die aus tausend und abertausend Wunden blutet, zeigt sich immer noch die Herrlichkeit der Schöpfung Gottes. Nicht zuletzt zeigt sie sich im Menschen, mit dem wir trotz seiner Bestialität als Bild Gottes umzugehen haben und uns zum Beispiel an ihm nicht rächen dürfen. Es hat den Anschein, als ob David Psalm 8 betet, nachdem er 1.Mose 1 gelesen und studiert hat. In den Psalmversen zieht die Schöpfung gleichsam als Prozession an uns vorüber: Schafe, Rinder, die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer (Ps. 8,7.8). Uns wird hier ein Muster aus der Schöpfung Gottes vor Augen gestellt. Ähnlich wie uns heute hier vorne eine Probe der herrlichen Erntegaben Gottes vor Augen geführt wird. Das heißt natürlich dann auch: Selbst wenn der Mensch noch ein winziger Säugling ist, haben wir vor ihm als Krone von Gottes Schöpfung Respekt zu haben. Wir dürfen ihn nicht töten, und zwar auch nicht den Menschen in seinem ungeborenen Zustand, der ohnehin das aggressionsloseste Leben ist, das sich denken lässt. Und natürlich ist es auch nicht möglich, die sogenannte Sterbehilfe zu vertreten, oder auch Menschen anderer „Rassen“ zu verachten. Margaret Sanger (gestorben 1960), war nicht nur die Gründerin des weltweit größten Abtreibungsanbieters Planned Parenthood. Der deutsche Zweig dieser Organisation trägt den zynischen Namen Pro Familia. Diese Margaret Sanger propagierte nicht nur die Abtreibung, sondern sie war auch erklärte Rassistin. Sie lehrte: „Der Dreh- und Angelpunkt der Zivilisation sind die minderwertigen Rassen, die in Wirklichkeit menschliches Unkraut sind, eine Bedrohung der Zivilisation“. In ihrem Buch Frauen und die neue Rasse schreibt sie: „Das Barmherzigste, was eine große Familie einem ihrer kleinen Mitglieder antun kann, ist es zu töten.“ Was für eine Menschenverachtung spricht daraus. Wer Gott nicht kennt, der weiß auch nicht, wer der Mensch ist. Die Frage bleibt: Was ist der Mensch? 3. Christus – der [wahre] Mensch in seiner Erniedrigung und herrlichen Erhöhung Hier im zweiten Teil des Psalms 8 wird von dem Sohn Adams, dem Menschensohn gesprochen, der unter Gott steht. Aber das merken wir wohl alle: In diesem Psalm herrscht eine unerhörte Spannung. Es ist die Spannung zwischen dem ersten Teil des Psalms und dem zweiten Teil: Einerseits steht hier der Mensch vor uns in seiner sterblichen Hinfälligkeit, in seiner moralischen Abgründigkeit und in seinen dämonischen Verstrickungen, in seiner Kleinheit und Bedeutungslosigkeit angesichts des Weltalls. Andererseits sehen wir seine Größe, seine Bedeutung, seine Würde, sein Herrschaftsauftrag über die Welt: der Mensch, der geschaffen wurde als der krönende Abschluss der Schöpfung. Wir könnten nun in die Versuchung geraten, das eine gegen das andere auszuspielen. Aber genau das macht der Psalm nicht. Er relativiert nicht die Abgründigkeit des Menschen gegenüber seiner Großartigkeit und auch nicht umgekehrt. Schon gar nicht bezeichnet der Psalm die menschliche Bestialität als Genialität (wie es idealistischen und nihilistischen Denkern im 19. Jahrhundert einfiel). Psalm 8 sagt unzweideutig, dass der Mensch nur dann leben kann, wenn er zu Gott hinlebt und von Gott gehalten wird. Dabei wird der klaffende Bruch im Menschsein des Menschen nicht eingeebnet. Was ist dann der Mensch? Was heißt das jetzt? Was heißt das für uns, die wir nach dem Sündenfall leben? Wie kann es uns da überhaupt noch einfallen, von dieser Schöpfung und von dem Menschen als der Krone der Schöpfung zu singen? Muss uns dieses Gespaltensein des Menschen nicht zum Verstummen bringen? Über wen oder über was wird hier gesprochen? Tatsächlich haben Menschen, die diesen vom Heiligen Geist inspirierten Psalm lasen und auch sangen über diese Frage nachgedacht: Denn im Tempel, in der Synagoge und auch in der Frühen Kirche wurden die Psalmen eben nicht gedankenlos gesungen. Ich könnte Ihnen nun aus einigen Quellen der Rabbiner zeigen, was für Überlegungen hier aufkamen und dann auch aus der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der so genannten Septuaginta etliches zeigen. Diese griechische Übersetzung wurde einige Jahrhunderte vor Christi Geburt angefertigt und diente ursprünglich der jüdischen Gemeinde in Ägypten als Grundlage, also den Juden, die ihr Hebräisch weitestgehend verloren hatten. Diese Leute stellten sich genau diese Frage: Was heißt es angesichts der Hinfälligkeit und der Bestialität des Menschen, wenn dann gleich darauf von der Größe und der Würde des Menschen gesprochen wird? Wie ist das Rätsel dieses Psalms zu lösen? An wen denkt der Heilige Geist, wenn er so anerkennend von der Großartigkeit des Menschen spricht, nachdem doch zunächst so deutlich über seine Geringfügigkeit, Hinfälligkeit und auch über seine gottfeindlichen Rachegelüste gesprochen wurden? Den Adam von 1.Mose 1 und 2 gibt es nicht mehr, und der Mensch wie er jetzt ist, ist total verderbt. Die Antwort auf diese Frage gibt uns der Schreiber des Hebräerbriefes. Ich lese die betreffenden Verse noch einmal: Es hat an einer Stelle jemand ausdrücklich bezeugt – vielleicht denkt der Schreiber des Hebräerbriefes bei diesem „jemand“ an David selbst oder an einen jüdischen Schriftgelehrten, vielleicht, an einen, der die Septuaginta übersetzt hat, aus der er hier zitiert – und der hat geschrieben: Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, oder der Sohn des Menschen., dass du auf ihn achtest? Du hast ihn ein wenig niedriger sein lassen, als die Engel; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt und hast ihn gesetzt über die Werke deiner Hände. Alles hast du seinen Füßen unterworfen. Indem er ihm aber alles unterworfen hat, hat er nichts übriggelassen, das ihm nicht unterworfen wäre. Jetzt aber sehen wir noch nicht, dass ihm alles unterworfen ist (Hebr. 2,6–8). Bis dahin könnten wir sagen: Okay, das ist einfach ein Zitat aus Psalm 8. Und während man vielleicht noch über die Frage nachdenkt, was dieses Zitat im Hebräerbrief zu suchen hat, erhalten wir gleich darauf die Lösung. Es heißt nämlich weiter: Wir sehen aber Jesus, der ein wenig niedriger gewesen ist als die Engel wegen des Todesleidens, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt; er sollte ja durch Gottes Gnade für alle den Tod schmecken. Denn es war dem angemessen, um dessentwillen alles ist und durch den alles ist, da er viele Söhne zur Herrlichkeit führte, den Urheber ihres Heils durch Leiden zu vollenden (Hebr. 2,9.10). Was also ist die Lösung des Rätsels der Spannung von Psalm 8? Antwort: Der wahre Mensch, der Mensch, dem alles unterworfen ist und dem alles zu seinen Füßen liegt, ist Jesus Christus. Der Sohn Adams, der Menschensohn. In Wahrheit ist im zweiten Teil des Psalms 8 von ihm die Rede. Zunächst wird im Blick auf den Sohn Adams, den Sohn des Menschen von seiner Erniedrigung gesprochen (ein wenig hast du ihn unter die Engel erniedrigt) und danach von seiner Erhöhung (alles hast du seinen Füßen unterworfen): Wenn es einen Menschensohn gibt, wenn ein Sohn Adams zu preisen ist, dann ist es dieser Jesus Christus. Mehr noch: Wenn du wissen willst, was der Mensch ist, also der Mensch, so wie Gott ihn gewollt hat, dann blicke auf Jesus Christus. Schau auf den, der nach seiner Erniedrigung und anschließenden Erhöhung sich nicht schämt, uns Brüder zu nennen (Hebr. 2,11). Das heißt für uns praktisch: Psalm 8 ruft uns ganz gewiss nicht auf, die Menschen um uns herum wegen ihrer Boshaftigkeit zu verachten. Der Psalm ruft uns aber auch nicht dazu auf, mit stolzgeschwellter Brust auf uns selbst zu blicken und uns in unserer Großartigkeit selbst zu spiegeln. Einerseits werden wir auch die uns umgebende Schöpfung nicht ausbeuten. Aber wir werden auch nicht in die Schöpfung eintauchen, so als wären wir ein apersonales Stück von ihr, um dann mit ihr zu verschmelzen, wie es einer fernöstlich-buddhistischen Lebensauffassung entspricht. Wir Menschen haben weiterhin die Berufung zum Herrschen über die Schöpfung Gottes wahrzunehmen. Denn dazu sind wir von Gott geschaffen. Dieses Herrschen aber ist ein Verwalten des Eigentums Gottes. Das heißt: Wir werden diese Welt vor Gott so gestalten, so pflegen, dass wir sie nutzen und von ihr ernten können. Dass wir dies dürfen, dass Gott uns dafür diese Schöpfung gegeben hat, dafür preisen wir Gott durch Christus, den wahren Menschen. Darum stimmen wir ein in den Lobpreis: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde, der du deine Hoheit über die Himmel gesetzt hast, der du dir Macht aus dem Mund der Kinder bereitet hast, der du diese Welt als ein Haus für uns Menschen bereitet hast, und der du deinen Sohn Jesus Christus als Urheber unseres Heils uns geschenkt hast. Dein Name sei gerade heute am Erntedankfest gepriesen. Amen. 7