Benedikt Peters – Die Psalmen, Teil 1/7

Allgemeine Einführung in die poetischen Bücher, Einführung in die Psalmen

Audioabschrift

 

 

Wir haben uns für diese Tage die Psalmen vorgenommen. Ich werde folgendes in diesen Tagen zu euch reden. Zuerst gebe ich eine kurze allgemeine Einführung in die poetischen Bücher, um den Standort der Psalmen innerhalb des Kanons besser zu erkennen. Dann will ich versuchen euch einen Überblick zu geben über das ganze Buch der Psalmen und ich nehme an, dass wir den Vormittag damit verbringen werden. Und von morgen an werden wir zur Hauptsache einzelne Psalmen, die David in bestimmten Situationen seines Lebens schrieb, sang und dann schrieb, miteinander durchgehen. Das haben wir also vor uns.

Wir lesen im Alten Testament, wir lesen, ich hoffe wenigstens, dass ihr das tut, ein Buch nach dem anderen. Jeder halbwegs zivilisierte Mensch beginnt ein Buch vorne und liest es schön der Reihe nach. Ich sehe also überhaupt keinen Grund, warum man das bei der Bibel nicht so machen sollte. Und wir haben Gesetzesbücher gelesen, die historischen Bücher gelesen. Und dann lesen wir auf einmal Bücher von der Art des Buches Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger, Hohelied. Dann lesen wir weiter prophetische Bücher. Nun ich sage nicht, dass man genau nach diesem System oder nach dieser Methode verfahren muss beim fortlaufenden Lesen. Aber es ist sicher richtig und wichtig, ja notwendig, dass wir die ganze Bibel systematisch lesen, auch wenn man an zwei oder drei Orten gleichzeitig liest. Nun, wir erkennen ziemlich bald, dass die sogenannten poetischen Bücher, eben Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger und Hohelied, eine Eigenart haben. Obwohl jedes verschieden ist, haben doch alle eine Eigenart, die alle miteinander verbindet und die sie als eine gesonderte Gruppe von den übrigen Büchern der Bibel unterscheidet.

Was ist bei euch der Eindruck, wenn ihr die Psalmen lest? Was ist das Besondere an den Psalmen für euch? Was würdet ihr sagen? Das direkte Reden zu Gott. Ja, das ist sicher etwas, das uns allen auffällt. Wenn ihr irgendjemandem einen Bibelvers mitgeben wollt auf den Weg oder ein Kärtchen schreibt, wo sucht ihr dann meistens? Nicht immer, aber meistens. In den Psalmen. Und warum da? Weil sie in die Situation hinein sprechen. Und sie sind persönlich. Das sind all diese Dinge, die uns dazu bewegen, dass wir uns immer wieder an die Psalmen wenden, und dass wahrscheinlich die Psalmen auch das meistgelesene Buch in der Bibel ist. Die poetischen Bücher insgesamt haben diese Eigenart. Sie sind persönlich. Und das ist doch sehr verschieden von dem, was wir aus den Gesetzesbüchern kennen. Wir lesen den Schöpfungsbericht, da geht es um das Größte und Weiteste, was man sich denken kann: der ewige Gott, die ganze Schöpfung, der Mensch, die Menschheit. Das sind natürlich Dinge von unendlicher Tragweite, die uns da geschildert werden. Und im ersten Mosebuch wird uns dann gezeigt, wie Gott, schon anhand einzelner Menschen und dann einer Familie, aber doch handelt im Blick auf die ganze Menschheit; alle Völker der Erde sind im Blick. Wir kommen zu den historischen Büchern, Josua, Richter, Ruth, Könige. Natürlich begegnen wir da einzelnen Personen. Es wird uns ihr Leben beschrieben, ihr Glaube wird uns beschrieben, ihre Siege und ihre Niederlagen, aber diese sind beständig eingebunden in das Ergehen des ganzen Volkes, in dem sie lebten. Josua, sein Glaube, sein Weg, den er ging, wird dargestellt in der Weise und ist darum von Belang, als sein Glaube und sein Gehorsam das ganze Volk Gottes betraf. Und das Gleiche gilt für David. Das Gleiche gilt für die Richtergestalten.

Und dann kommen wir zu Hiob. Und das ganze Buch Hiob handelt von einem Mann und von seinen Dialogen, wohl auch mit Freunden, aber mehrheitlich von seinen Reden vor Gott und auch von Gottes Reden zu ihm. Und genau so ist es bei den Psalmen. In den Psalmen geht es um den Einzelnen, wie er seine Empfindungen, seine Sorgen, seine Ängste, seine Freude vor Gott ausdrückt, zu Gott ruft und Antworten von Gott empfängt. Im Buch der Sprüche geht es auch um den Einzelnen, es wird immer der Einzelne dort angesprochen: Mein Sohn, höre, mein Sohn. Im fünften Mosebuch steht auch höre, aber immer: Höre Israel, schema Jisra’el. Also da wird das ganze Volk angesprochen. Hier aber: mein Sohn. Also persönlich. Nun wir merken, dass uns die poetischen Bücher fehlen würden, hätten wir sie nicht. Und warum brauchen wir denn Bücher dieser Art in der Bibel? Wir brauchen sie aus dem folgenden Grund: Wir sind in der Lektüre des Alten Testaments zum zweiten Buch Chronik gekommen, nachher haben wir vielleicht gelesen Esra und Nehemia. Auf alle Fälle ist der Eindruck, der uns geblieben ist der, dass ein ganzes Volk, obwohl es von Gott solche Vorrechte hat, eine solch hohe Berufung an dieses Volk ergangen ist, beständig von seinem Gott abdriftet. Und so endet ja die Geschichte des Alten Testaments, des alttestamentlichen Gottesvolkes zunächst mit dem Exil, dem Verlust des Landes, der Zerstörung des Tempels. Und dann haben wir eben diese Bücher, Esra, Nehemia, Ester, die uns andeuten, die uns zeigen wollen, dass Gott dieses Volk doch nicht dahingibt, sondern dafür sorgt, dass ein Überrest da ist, dass solche da sind, durch die er seinen Vorsatz mit diesem Volk doch verwirklichen wird. Aber was den Menschen betrifft, was die Nation betrifft, geht die Entwicklung ganz eindeutig abwärts und immer weiter weg von Gott.

Und da stellt sich die Frage: Was tut dann der Gerechte? Das ist die Frage, die der Beter im Buch der Psalmen stellt. In Psalm 11 findet sich diese Frage. Hier lesen wir in Vers 3: „Wenn die Grundpfeiler umgerissen werden, was tut dann der Gerechte?“ Die Grundpfeiler umgerissen, das ganze Gemeinwesen durch den Götzendienst, durch den Unglauben eingebrochen, ja die ganze Nation in die Verbannung verschleppt: Was tut dann der Gerechte? Das ist ja die Frage. Und die Antwort wird alsbald gegeben in Vers 4: „Der HERR ist in seinem heiligen Palast.“ Dann bleibt dem Gerechten sein persönlicher Glaube an Gott. Und diesen Glauben kann ihm der Unglaube des Volkes nicht nehmen. So bleibt also dem Einzelnen auch inmitten des allgemeinen Niedergangs der Weg des Glaubens, der Gottesfurcht und des Gehorsams gegenüber seinem Gott.

Wir können das auch anwenden auf uns, die wir ja Christen sind. Und wir gehören damit zu einer Christenheit, deren Geschichte um nichts besser gewesen ist, als die Geschichte Israels, um nichts treuer und darum ist es auch eine Geschichte des Niedergangs, eine Geschichte des Abfalls, des immer größeren Unglaubens und der Untreue. In diesen poetischen Büchern lernen wir, dass wir deshalb nicht von den Vorrechten, die Gott den Seinen bereitet hat, ausgeschlossen sind. Wohl teilen wir das Geschick der Gemeinschaft, in der wir leben. Ein treuer Mann, ein glaubender Mann, wie Daniel wurde in die Verbannung verschleppt und teilte somit das Geschick seines untreuen Volkes, das zeitliche, das irdische Geschick. Aber er hatte durch seinen Glauben, durch seine Treue, ein offenes Fenster zu Gott. In Daniel Kapitel 6 buchstäblich ein Fenster in Richtung Jerusalem. Und das bleibt auch uns. Und wir lesen in den Psalmen und wir finden darin Ermunterung, Stärkung des Glaubens, Trost und werden in unserem Weg, in unseren Überzeugungen befestigt. Das ist bemerkenswert, wie oft in den Psalmen der Beter darüber klagen muss, dass der Gottlosen viele sind, der Bedränger viele sind, aber dass er in all dem nicht allein ist, sondern seinen Gott hat.

Fünf poetische Bücher. Ich nenne ganz kurz das Thema dieser fünf Bücher, das jeweilige Thema und dann wenden wir uns schon den Psalmen zu. Das Buch Hiob antwortet auf Fragen, welche Leiden, die nicht unmittelbar selbst verursacht sind, in uns hervorrufen. Hiob leidet, das ist uns bekannt, aber er leidet nicht, weil er etwas verschuldet hat. Aber er leidet natürlich in einer Welt der Sünder und der Sünde, wo eben Leiden der Sünde wegen in der Welt ist. Und das ist genau die Position des Gerechten, der seinen Gott kennt, seinen Gott fürchtet, seinen Gott liebt, seinem Gott gehorchen will und für seinen Gott leben will. Dennoch leidet er an allem, was die Sünde in die Welt gebracht hat und das natürlich auch sein Teil ist, denn er ist ja auch ein Sünder. Das Buch Hiob antwortet auf die Frage nach dem Wozu dieser Leiden. Und Jakobus gibt uns die Antwort im Neuen Testament. Jakobus sagt, wir müssen das Ende Hiobs ansehen, dann verstehen wir Hiob. Das steht in Jakobus 5, 11: „Siehe, wir preisen die glückselig, welche ausgeharrt haben. Von dem Ausharren Hiobs habt ihr gehört, und das Ende des Herrn habt ihr gesehen, dass der Herr voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist.“ Das Ende des Herrn habt ihr gesehen. Das ist das Entscheidende. Das Ende zeigt uns, gibt uns die Antwort auf die Fragen, die Hiob stellt. Das Ende des Herrn habt ihr gesehen, dass der Herr voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist. Das Ende ist größer als der Anfang. Alles, was Hiob in seinem Leiden verlor war geringer, als das, was ihm der Herr zu geben gedachte. Und das zeigt uns, dass das Ende, die Hoffnung, das, was uns Gott bereitet hat, größer ist, nicht aufgewogen werden kann mit der Zeit der Drangsal und des Leidens, durch das wir gehen. Die Botschaft des Buches Hiob ist also Hoffnung. Das ist die Antwort Gottes auf das Leiden, auf Drangsal, Not, Schwierigkeiten: Hoffnung. Hoffnung aber eben im biblischen Sinn, Hoffnung als Gewissheit auf zukünftige Dinge. Das ist Hoffnung. Und nicht eine ungewisse Erwartung, sondern Gewissheit, aber in Bezug auf zukünftige Dinge.

Das Thema der Psalmen kann man ganz knapp so umfassen: Der Glaube der Erlösten. Also in Hiob haben wir Hoffnung der Erlösten und in den Psalmen den Glauben der Erlösten. Nun, auch in den Psalmen kommt Hoffnung zum Ausdruck, wir können das ja nie auseinander nehmen. Wenn Glaube da ist, ist auch Hoffnung da. Aber doch wird stärker der Glaube betont in den Psalmen. Nun, wie kann man Glauben im Gegensatz zu Hoffnung umschreiben? Glaube ist Gewissheit in Bezug auf bereits geschehene Dinge, auf vollbrachte Dinge. Der Glaube stützt sich auf das, was Gott in der Schöpfung und in der Erlösung gewirkt hat. Glaube ist also Gewissheit in Bezug auf bereits geschehene Dinge und Hoffnung, Gewissheit in Bezug auf zukünftige Dinge. Nun wir werden ja auf die Psalmen dann näher zurück kommen, darum sage ich jetzt nichts mehr dazu.

Im Buch der Sprüche wird uns göttliche Weisheit gelehrt und zwar göttliche Weisheit für den Weg des Erlösten durch diese Welt. Die Welt ist durch die Sünde wie ein Trümmerfeld geworden und so ist das Leben des Erlösten gleich einer Irrfahrt, wo es an Klippen, an Versuchungen und Fallstricken vorbei zu kommen gilt. Verführung, Versuchung ist da, und da braucht der Sohn der Weisheit, das Kind Gottes, göttliche Weisheit, die den Weg, auf das Ziel zu, gehen lehrt, so dass man den Kurs behält und nicht abirrt. Der Weg des Erlösten durch diese Welt. Ihr könnt das einmal für euch machen, wenn ihr das Buch der Sprüche studiert, dann achtet einmal darauf wie häufig das Wort Weg oder Pfad vorkommt. Der Weg ans Ziel.

Der Prediger lehrt den Erlösten göttliche Weisheit. Diesmal aber göttliche Weisheit auf etwas anderes bezogen. Göttliche Weisheit, um die Zeit dieses Lebens richtig zu leben. Denn so sehr unser Leben auch ein Weg mit einem Ziel ist, so ist es doch auch ein Aufenthalt. Denn das ist es ja auch. Das wäre ja einfach unsinnig, wenn wir das abstreiten würden. Wir halten uns hier einige Jahre auf, das ist ganz einfach so. Und wir brauchen Weisheit, göttliche Weisheit, damit wir uns während dieses Aufenthaltes nicht töricht, sondern weise verhalten. Und diesen Aufenthalt füllen wir aus mit Dingen, wie Essen und Trinken. Ja, jetzt könnte ja einer auf die Idee kommen und sagen: Das irdische, zeitliche Leben ist nichts, das ewige Leben ist alles, ich höre auf zu Essen und zu trinken. Ist das weise? Nein, das ist töricht. Oder es könnte einer sagen: Das Leben und das Dasein jetzt, das ist das einzige Leben, das ich habe und deshalb will ich dieses Leben genießen. Also Essen und Trinken ist das Leben. Ist das weise? Nein, das ist nicht weise, das ist töricht. Und im Buch Prediger bekommen wir die Antwort darauf, wie wir mit solchen Dingen umgehen sollen, mit Essen und Trinken und Kleidung. Es wird über Kleidung in diesem Buch gesprochen. Es wird ausdrücklich gesagt wie man sich kleiden soll. Deine Kleider seien weiß, steht dort zum Beispiel. Es wird dort sogar gesagt, man soll sein Haar mit Pomade kämmen: Öl fehle nicht auf deinem Haupt. Ja?

Nun, ich habe das jetzt ein bisschen scherzhaft formuliert, aber es wird tatsächlich von den Dingen gesprochen, die wir tagtäglich tun, Essen, Trinken und Kleiden und Waschen. Denn es sind Leute auf die Idee gekommen: Ja, wenn das ewige Leben alles ist, dann brauchen wir nicht oder kaum zu essen, und dann sollen wir das Essen auch gar nicht genießen, das ist falsch. Und sie haben dann nur Brot gegessen und damit das Brot auch ja nicht gut schmecke, haben sie Asche aufs Brot gestreut und nur Wasser dazu getrunken. Der sogenannte heilige Franziskus hat das getan. Wir lesen im Buch Prediger von Bildung. Ja, wie sollen wir denn damit umgehen? Alle von uns haben auch einen Weg der Bildung durchschritten. Wir sind zur Schule gegangen und haben einen Beruf gelernt. Ja, ist das wertlos? Ist das alles eitel? Wir haben es ja getan. Haben wir denn damit gesündigt? Und so gibt uns das Buch Prediger die göttliche Belehrung, die wir brauchen, göttliche Weisheit, um mit diesen Dingen richtig umzugehen, ihnen den richtigen Platz zuzuweisen. Weder zu sagen, wir hören auf zu essen und zu trinken, wir lesen keine Bücher, wir eigenen uns keine Bildung mehr an, noch aus Essen und Trinken und Bildung einen Götzen zu machen. Göttliche Weisheit, um richtig zu leben, ist also das Thema des Buches Prediger.

Dann das Lied der Lieder. Dies Buch hat die Liebe der Erlösten, oder des Erlösten, zum Gegenstand. In Hiob hatten wir Hoffnung, in den Psalmen Glauben und im Lied der Lieder haben wir nun die Liebe.

Und jetzt zum Buch der Psalmen. Das Thema des Buches der Psalmen ist der Glaube, der Glaube der Erlösten. Ein Grundmuster, das wir in diesem Buch finden, ist folgendes: Der Beter ist bedrängt oder er ist voller Freude. In beiden Fällen, in welcher Verfassung er sich auch befindet, entweder hat er vorher oder er setzt nachher sein Ergehen, seinen Zustand, zu den zwei großen Tatsachen unserer Existenz in Beziehung. Erst einmal zu Gott selbst und dann zu dem, was Gott in der Schöpfung und in der Erlösung getan hat. Es ist einer bedrückt, von Feinden umstellt, bedrängt, verzweifelt, der Glaube ergreift Gott, den ewigen Gott, und indem er daran denkt, dass er der Schöpfer ist und der Erlöser, gewinnt er Zuversicht, Freude und Dankbarkeit. Und so wird aus der Bedrängnis Anbetung. Und wenn er anbetet, dann tut er dies, weil Gott der Gott ist, der alles erschaffen hat, und weil Gott der Erlöser ist. Das wird fast in allen Psalmen von verschiedener Weise her variiert. Und das ist Glaube. Das ist Glaube, sich daran zu orientieren und sich darauf zu stellen, wer Gott ist und was Gott getan hat. Und darin findet der Betende Festigkeit, Zuversicht, Freude und Dankbarkeit. Also der Glaube des Erlösten ist das  Grundthema dieses ganzen Buches.

Ich will zwei Zitate über das ganze Buch der Psalmen stellen. Zuerst ein sehr altes Zitat, das ist tatsächlich 1600 Jahre alt und danach ein anderes, das 300 Jahre alt ist. Und nachher werden wir noch eines lesen, das 100 Jahre alt ist. Das sind also Zitate fast aus der ganzen Kirchengeschichte. Es sagte einer, der im 4. Jahrhundert lebte: „Obwohl alle Schrift die Gnade Gottes atmet, so ist doch das Buch der Psalmen köstlicher, als alle anderen. Geschichte unterweist, Gesetz lehrt, Prophetie kündigt an, rügt und straft, Sittlichkeit überführt, aber im Buch der Psalmen haben wir die Frucht all dieser Genannten. Eine Arznei zum Heil des Menschen.“ Nun, wenn wir vielleicht auch das eine oder andere ein bisschen anders formuliert hätten, stimmen wir sicher doch mit diesem Eindruck überein. Die Psalmen sind ungeheuer vielfältig und dieses Urteil hat Ambrosius von Mailand, der so etwas wie der geistliche Vater von Augustinus war, geschrieben.

1300 Jahre später schreibt der puritanische Bibelausleger Matthew Henry in seiner Einleitung zu den Psalmen: „Wir haben jetzt eine der erlesendsten und herrlichsten Teile des ganzen Alten Testaments vor uns. Ja, so viel ist darin von Christus und von seinem Evangelium, wie auch von Gott und seinem Gesetz, dass man es eine Zusammenfassung beider Testamente genannt hat.“ Es ist wirklich eine Bibel im Kleinen. Das werden wir gleich noch sehen, dass die Psalmen wie eine ganze Bibel im Kleinen sind.

Und dann noch ein dritter Ausleger der Psalmen, Spurgeon. Dieser hat einen sehr umfangreichen, geradezu monumentalen Kommentar zu den Psalmen geschrieben. Zwanzig Jahre arbeitete er daran und als der letzte Teil dann erschien, schrieb er im Vorwort dazu: „Ein Hauch von Wehmut legt sich auf meinen Geist, da ich von der Schatzkammer Davids scheide. Werde ich doch auf Erden keine reichere Vorratskammer finden, als diese, wiewohl mir der ganze Palast göttlicher Offenbarung offen steht. Gesegnet sind sie gewesen, die Tage, die ich zusammen mit David verbrachte, mit ihm trauerte, hoffte, glaubte und frohlockte. Darf ich erwarten diesseits der goldenen Tore Stunden tieferer Freude zu verbringen? Vielleicht nicht, denn es sind auserlesendste Stunden gewesen, in denen die Harfe des großen Sängers des Heiligtums mein Ohr bezaubert hat.“ Und dann sagt er noch etwas zur besonderen Form der Psalmen. Die Psalmen sind ja Lieder. Und ein Lied mag genau die gleichen Wahrheiten lehren, wie ein gelehrter Diskurs, und doch wirkt ein Lied ganz anders. Und er sagt Folgendes, eben zur Form der Psalmen: „Das Buch der Psalmen lehrt uns den Gebrauch der Schwingen, wie auch der Worte. Es lässt uns auffahren in die Höhen und lässt uns singen.“

Man nennt das Buch der Psalmen auf Griechisch eben Psalmen, psalmoi, das bedeutet so viel wie zu Instrumentalbegleitung gesungene Lieder. Ein psalmos, ein Psalm, ist ein Lied zu dem man auf einem Instrument spielt. Auf Hebräisch heißen die Psalmen tehilijm, Buch der Lobpreisungen. Also im Hebräischen hat man mehr den Inhalt und im Griechischen mehr die Form im Titel bezeichnet. Das Buch der Lobpreisungen, und tatsächlich ist Lobpreis das, was in den Psalmen dominiert. Und in fast jedem Psalm wendet Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Angst oder Trauren sich in Lobpreis, in fast jedem. Wir haben eine bemerkenswerte Ausnahme, ein Psalm, der von Anfang bis Ende düstere Klage ist. Welcher ist das? Psalm 88, ja. Und doch ist auch dieser Psalm nicht ohne Licht und Hoffnung. Also der Psalm 88 beginnt so: „HERR, Gott meiner Rettung! des Tages habe ich geschrieen und des Nachts vor dir. Es komme vor dich mein Gebet! neige dein Ohr zu meinem Schreien! Denn satt ist meine Seele von Leiden, und mein Leben ist nahe am Scheol. Ich bin gerechnet zu denen, die in die Grube hinabfahren; ich bin wie ein Mann, der keine Kraft hat; Unter den Toten hingestreckt, gleich Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst; denn sie sind von deiner Hand abgeschnitten. Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen.“

Und so geht es weiter bis zum Ende des Psalms. Verse 17-18: „Sie haben mich umringt wie Wasser den ganzen Tag, sie haben mich umgeben allesamt. Freund und Genossen hast du von mir entfernt; meine Bekannten sind Finsternis.“ Und doch ist dieser Psalm nicht ohne Trost, nicht ohne Hoffnung, nicht ohne Licht. Denn erstens bekennt er, sagt er: Du hast das getan. Und darin liegt ja schon Glaube und Hoffnung. Nicht der Teufel hat das getan, nicht der launische Zufall, nicht das böse Geschick, sondern Du. Das ist doch etwas ganz anderes. Und zudem kann er diesen Gott, zu dem er redet, ansprechen als den Herrn, als den Gott seiner Rettung. HERR, Gott meiner Rettung. Also auch hierin ist Glaube und Zuversicht. Aber abgesehen von dieser Ausnahme, kommt das auch in jedem Psalm zum Ausdruck, diese Gewissheit, dieses Frohlocken, Loben über Gottes Hilfe, über Gottes Heil. Und so ist das ein sehr passender Titel, das Buch der tehilijm, das Buch der Lobpreisungen.

Aber es sind eben Psalmen, wirklich Psalmen. Es sind Lieder, gesungene Gebete, also Lyrik. Eine sehr lebendige Sprache, eine sehr farbige Sprache, tiefste Empfindungen, Leidenschaft, unbändige Freude, all das kommt hier zum Ausdruck, in wirklich starken Farben. Aber die Substanz ist natürlich das Entscheidende, das ist ganz klar. So wie eben der Leib mehr ist als die Kleidung. Das hat der Herr ja gesagt. Die Substanz ist das Entscheidende, aber wir sollten doch auch daran denken, dass es nicht von ungefähr ist, dass es Lieder sind. Wir haben das vorher schon festgehalten, dass die Psalmen in erster Linie persönlich sind. Und man kann natürlich die Psalmen auch auslegen und hierin die verschiedenen Haushaltungen unterscheiden. 1000-jähriges Reich, das Kommen des Reiches des Messias, das ist alles auch in den Psalmen enthalten. Wir werden darauf auch zu sprechen kommen, aber das Entscheidende ist ganz sicher, dass über alle Zeitalter hinweg, alle Heiligen den gleichen Glauben an den gleichen Gott hatten.

Der Gott Abrahams, der Gott Davids, ist der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus und das ist unser Gott. Und darum lesen wir diese Psalmen und wir finden darin Worte, die ganz genau unsere Empfindungen treffen. Und das ist etwas Bewegendes. Das bewegt uns, das berührt uns. Wir lesen diese alten Gedichte, diese alten Lieder, die 3000 Jahre alt sind, – oder das Älteste noch älter, fast 3500 Jahre alt – und wir empfinden genau so. Denn der Gott Davids und der Geist, der in David wohnte, der ist unser Gott, und es ist der gleiche Heilige Geist, der in uns wohnt und der uns den gleichen Trost, die gleiche Gewissheit in der Gegenwart Gottes gibt. Und so ist das, für den, der glaubt und die Bibel glaubend liest, einer der vielen und mannigfaltigen Beweise für den göttlichen Ursprung der Schrift. Denn das ist anders nicht erklärbar und verstehbar, als dass der gleiche ewige Gott, der David lehrte, auch uns lehrt und dass der gleiche Geist des gleichen Gottes, auch in uns wohnt.

Und dann etwas zu den Psalmen und dem Neuen Testament. Die Psalmen sind das meistzitierte Buch im Neuen Testament. Kein Buch wird so häufig zitiert wie die Psalmen. Nicht weniger als 50 Psalmen werden im Neuen Testament entweder wörtlich zitiert oder in ganz deutlicher Anspielung angeführt. Und diese Tatsache zeigt uns nun, dass die Psalmen, so persönlich sie sind, gleichzeitig in hohem Maße prophetisch sind. Und das ist zunächst doch irgendwie überraschend. Denn wir denken doch, mein persönliches Ergehen hat doch nur etwas mit mir und meinen Umständen zu tun. Was hat das mit Prophetie zu tun? Denn wir denken bei Prophetie meistens an etwas, das uns nur sehr indirekt berührt. Aber offensichtlich ist die bloße Tatsache, dass es Prophetie und Erfüllung gibt, etwas vom uns persönlich am tiefsten Berührenden, das es gibt. Wenn wir nämlich daran denken, dass das, was die Beter in den Psalmen vor Gott bekannt und aufgeschrieben haben, gleichzeitig Weissagungen sind von zukünftigen Ereignissen, dann begreifen wir, dass der Gott, der damals einen David oder einen Asaph oder die Söhne Korahs führte, und dem sie begegneten in ihren Umständen, der Gott ist, der von Anfang an das Ende sieht und alles auf dieses Ende hin angelegt hat.

Und könnte irgendetwas geeigneter sein uns einmal zu lehren, diesen Gott zu fürchten? Diesen Gott, von dem alles ausgeht, von dem alles abhängt. Könnte etwas geeigneter sein, als uns, die wir eben in einer Welt der Sünde und Finsternis leben, umgeben von Feinden, von Schwierigkeiten, selbst von Sünde umgeben und damit kämpfen, uns festzumachen, unsere Herzen zu befestigen, als dieses Wissen, dass Gott mich, meinen Weg, von Anfang an gesehen hat. Wir vertrauen einem Gott, der durch das Überhandnehmen des Bösen, durch das Eindringen des Bösen in die Schöpfung überhaupt, nicht in Verlegenheit gebracht wird. Wir vertrauen einem Gott, der sich da nicht hinsetzen und überlegen muss: Ja, was machen wir denn jetzt? Jetzt ist die Sache schief gegangen. Sondern wir vertrauen einem Gott, der durch die Finsternis, in die die Welt der Sünde wegen gehüllt ist, von Anfang an einen Weg gebahnt hat und bei dem die Nacht so hell ist wie der Tag.

Das sagt David an einer Stelle. Du umgibst mich von allen Seiten. Und zwar nicht nur geographisch und örtlich, sondern auch zeitlich. Von Ewigkeit her bis in alle Ewigkeit. Ehe ich ein Wort sage, du weißt es schon, Psalm 139. Bei dir ist nicht finster; was mir finster scheint, und uns ist das Leben, die Welt, der Weg, den wir gehen, dunkel. Die Zukunft ist uns verhüllt, wir sehen nichts. Es ist finster wie die Nacht. Und David sagt in Psalm 139, 12: „Auch Finsternis würde vor dir nicht verfinstern, und die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie das Licht.“ Asaph vergleicht die Welt mit einem aufgewühlten Meer, Psalm 77, 19. Und zwar tut er das nach durchwachten Nächten und nach Seufzen und Stöhnen, und das gibt ihm Festigkeit, Gewissheit und Trost, dass er den Weg wohl nicht sehen mag, – er sieht nur ein aufgewühltes Meer – aber da ist ein Weg. Psalm 77, 19: „Im Meere ist dein Weg, und deine Pfade in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt.“ Oder man könnte auch sagen, sie sind nicht von uns erkannt, das heißt, wir sehen sie nicht. Aber wir wissen, dass Gott sie weiß und sie sieht.

Dann will ich noch einen Vers aus Psalm 139 lesen. Ich habe in den letzten paar Wochen den Propheten Jesaja gelesen und da kommt immer wieder diese Wendung vor, wie sie auch in Psalm 139 steht. Vers 2: „Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst meine Gedanken von ferne.“ Von wie ferne? Aus zwei Metern? Von ferne. Jeremia sagt an einer Stelle, die ich immer ganz komisch fand und nie richtig begriffen hatte: Der Herr ist mir von ferne erschienen. (Jeremia 31, 3). Wenn wir von ferne sagen, dann meinen wir irgendwie so von ferne, so vage, also dass wir etwas nicht richtig wahrnehmen. Der Herr ist mir von ferne erschienen, da dachte ich, ja, er hat den Herrn nur so ganz schwach erkannt. Aber er will etwas ganz anderes sagen, der Jeremia. Der Herr ist mir erschienen, als der, der von fern her wirkt, der auch nicht dadurch in Verlegenheit gebracht wird, dass sein Volk sich von ihm abkehrt in beständiger Abkehr. Von ferne ist mir der Herr erschienen. Und dann sagt er, Jeremia 31, 3: „Der HERR ist mir von fern erschienen: Ja, mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dir fortdauern lassen meine Güte.“ Das heißt von Ewigkeit her geliebt, von so fern, von Ewigkeit her. Und das sind Gedanken, zu hoch für mich, sagt David. Das sind Gedanken, zu hoch für uns. Aber sie genügen, um unser Herz und unser Gemüt vor diesem Gott zu beugen. Das beugt unser Herz und unser Gemüt vor ihm. Und das wiederum führt uns zur Ruhe.

Jetzt noch diese Stelle aus dem Propheten Jesaja. Es fiel mir eben beim letzten Mal, als ich diesen Propheten durchlas, auf, wie häufig Jesaja darauf verweist, dass Gott von fern her wirkt, von fern her auf ein von Anfang an angelegtes Ziel hin. Also in Jesaja 22, 11 geht es um Jerusalem, das sich rüstet, um einer Belagerung zu trotzen. Jesaja 22, 11: „Ihr macht einen Behälter zwischen den beiden Mauern für die Wasser des alten Teiches. Aber ihr blickt nicht auf den, der es getan, und seht den nicht an, der von fernher es gebildet hat.“ Es gibt keine Zufälle. Nicht das Schicksal regiert, sondern der ewige, allwissende, allmächtige Gott. Ein lebendiger Gott, ein Gott der Wahrheit und der Liebe, des Lichts und der Liebe. Er hat von fernher gewirkt. Dann Jesaja 25, 1: „HERR, du bist mein Gott; ich will dich erheben, preisen will ich deinen Namen; denn du hast Wunder gewirkt, Ratschlüsse von fernher, Treue und Wahrheit.“ Jesaja 30, 27: „Siehe, der Name des HERRN kommt von fernher. Sein Zorn brennt, und der aufsteigende Rauch ist gewaltig, seine Lippen sind voll Grimmes, und seine Zunge ist wie ein verzehrendes Feuer,“. Sei es in der Erlösung, sei es im Gericht, es ist von fernher.

Dann Jesaja 37, 26: „Hast du nicht gehört, dass ich von fernher es gewirkt und von den Tagen der Vorzeit her es gebildet habe? Nun habe ich es kommen lassen, dass du feste Städte verwüstest zu öden Steinhaufen.“ Noch eine Stelle, Jesaja 46, 9-11: „Gedenket des Anfänglichen von der Urzeit her, dass ich Gott bin, und sonst ist keiner, dass ich Gott bin und gar keiner wie ich, der ich von Anfang an das Ende verkünde, und von alters her, was noch nicht geschehen ist, der ich spreche: Mein Ratschluss soll zustande kommen, und all mein Wohlgefallen werde ich tun; der ich einen Raubvogel rufe von Osten her, aus fernem Lande den Mann meines Ratschlusses. Ich habe geredet, und werde es auch kommen lassen; ich habe entworfen, und werde es auch ausführen.“ Im Vers 11 sagt er, dass auch das Gericht als sein Ratschluss Israel ereilen muss. Ja, diese Stellen wollte ich ohnehin nur noch lesen, also die Stellen zu Psalm 139, von ferne erkennst du. Die Psalmen, so persönlich sie sind, sind also gleichzeitig prophetisch. Weil das, was auch wir an persönlichem Erleben erfahren, nicht losgelöst, getrennt werden kann vom ewigen Gott, der von Anfang an mit uns, an uns, durch uns seine Ratschlüsse verwirklicht. Wie großartig ist das. Diesem Gott vertrauen wir und diesen Gott beten wir an.