Hans Kristian Neerskov BIBELN AUF VERBOTENEN WEGEN HANS KRISTIAN NEERSKOV Bibeln auf verbotenen wegen m LEUCHTER-VERLAG EG ERZHAUSEN Titel der Originalausgabe: „MISSION: POSS1BLE“ Übersetzung: KH. Neumann Umschlaggestaltung: Dieter. lügen 1. Auflage März 1976 2. Auflage September 1978 © 1975 by Flemming H. Revell Company, Old Tappan © der deutschen Ausgabe 1975 by Leuchter-Verlag eG ISBN 3—87482—056—4 Gesamtherstellung: SCHÖNBACH-Druck GmbH, Erzhausen bei Darmstadt Inhalt Seite Vorwort ................................................7 Kapitel 1 Welches Gesetz verbietet es?......................9 Kapitel 2 Gib uns Bibeln...................................23 Kapitel 3 Der Preis des Gehorsams..........................34 Kapitel 4 Glück im Unglück.................................49 Kapitel 5 Meine ersten Erfahrungen.........................63 Kapitel 6 Welche Art Christentum ist das? .... 73 Kapitel 7 Krieg und Frieden................................85 Kapitel 8 Flüchtlinge und Erweckung........................94 Kapitel 9 Was wahres Leben ist............................103 Kapitel 10 Zeugendienst verboten - und doch! .... 117 Kapitel 11 Hirten, Wölfe und Schafe.......................125 Kapitel 12 10000 Dollar - und andere Fehler .... 139 Kapitel 13 Für immer gelähmt..............................152 Kapitel 14 Unheil auf einem törichten Weg .... 160 Kapitel 15 Nicht mein - sondern Dein Wille .... 172 Kapitel 16 Wieder in Rußland..............................180 Kapitel 17 Kapitalismus, Kommunismus und Christentum............................190 Kapitel 18 Revolution der Liebe...........................203 Vorwort Die meisten Menschen sind zu stark, um sich von Gott gebrauchen zu lassen. Oder sie sind zu schlau. Doch man muß nicht schlau sein, wenn man im Willen Gottes lebt. Und auch nicht stark. Ist dies auch der Grund, weshalb Hans Kristian Neerskov ist, was er ist, und tun kann, was er tut? Als ich ihm das erste Mal begegnete (es war in Schweden, während einer Konferenz der „Slawischen Mission“ über die Arbeit in den kommunistischen Ländern), hielt ich nicht allzuviel von ihm. Er lehnte sich beim Gehen schwer auf einen Handstock, da er kurz vorher einen Herzinfarkt gehabt hatte, und sprach auch nur gebrochen Englisch, und - nun ja, so war mein Eindruck. Doch auf welche Weise wirkt Gott? C. T. Studd, der Gründer des „Weltweiten Evangelisations-Kreuzzugs“, schreibt: Verachte nicht Menschen noch Dinge, wie schwach oder klein sie auch sind. Gott gefällt es, sie zu erwählen und mächtiglich zu gebrauchen, wenn auch Menschen nichts von ihnen halten. Wie wirkt Gott denn? Durch ganz einfache Männer und Frauen, die Jesus über alles lieben und Gott mehr gehorchen als Menschen. (Und wie nötig ist eine solche Einstellung doch, wenn man einmal von der Not der Länder hinter dem Eisernen Vorhang gepackt worden ist und auf der anderen Seite eine Familie besitzt, die man liebt.) Jene, welche im Blick auf solche Arbeit immer noch über die Moralität der sogenannten „illegalen Dinge“ diskutieren, werden sich schwer anstrengen müssen, um Apostelgeschichte 5,29 zu erklären. Was dort geschrieben steht, ist nicht einfach ein Bibelvers, sondern ein biblisches Prinzip. Die größte illegale Handlung, die Jesus je beging, tat Er am Ostermorgen, als Er aus dem Grab kam und dabei das offizielle Regierungssiegel zerbrach. Gibt es irgendeinen Gläubigen, der etwas gegen diese großartige Tat einzuwenden hätte? Jesus zu lieben über alle Dinge und Gott mehr zu gehorchen als Menschen, sind die beiden Qualifikationen für einen großen Auftrag von Gott. Gottes Kraft kann sich durch unsere Schwachheit mächtig offenbaren, und wir werden im Kampf immer neue Kraft empfangen. Aus diesem Grunde brauchen wir uns selbst gar nicht stark zu fühlen, wenn wir beginnen -weder als einzelner Gläubiger noch als Missionsgesellschaft. Wir sollten ein für allemal den Gedanken aufgeben, daß irgend jemand von uns die gut geschulten Grenz- und Zollbeamten der Ostblockstaaten überlisten könnte. Ich für meinen Teil würde dies nicht einmal versuchen. Wir brauchen also nicht schlau zu sein, sondern sollten uns vielmehr an einige grundsätzliche Wahrheiten erinnern: Gott ist so gewaltig! Die Welt ist so groß! Die Nöte sind so übermächtig! Revolutionen drohen mit ihren Schrecken! Hin und her gibt es beklagenswerte Verfolgungen der Gemeinde Jesu! Viele Regierungen und noch mehr Politiker sind so verdorben und schlecht! Und dies alles deshalb, weil die Menschen Jesus weder kennen noch lieben! Auf der anderen Seite stehen solche, die bereit sind, alles einzusetzen, was sie haben, weil sie Jesus kennen und lieben -nicht aber, weil sie etwa stark oder schlau wären. Es wird ja durch die törichte Predigt des Evangeliums geschehen, daß alle vom Teufel inspirierten und von Menschen gemachten Hindernisse eines Tages fallen und dem Königreich Gottes weichen müssen. Du handelst richtig, Hans Kristian Neerskov. Ich bin mit Freuden dein Mitschmuggler! Bruder Andrew Welches Gesetz verbietet es? Ich schaute gespannt durch die Windschutzscheibe. Hinter der niedrigen Sperre, auf der Straße vor uns, konnte ich die schmale Brücke erkennen, die über den Bug führt. Auf der anderen Seite des Flusses lag Polen. Hinter der Brücke, im Niemandsland, wurde gerade ein Volvo wieder mit Koffern beladen, nachdem der russische Zoll den Wagen kurz kontrolliert hatte. Als wir vor etwa 30 Minuten hier angekommen waren, hatten drei Wagen vor uns an der Grenze gestanden. Ich konnte daher nicht ganz verstehen, warum der Posten uns warten ließ - es sei denn, man wollte erst alle anderen Reisenden abfahren lassen, ehe man uns am Zollhaus Vorfahren ließ. Dieses Verfahren schien etwas ungewöhnlich zu sein. Doch mir schien der Gedanke, als er mir jetzt kurz durch den Kopf ging, nicht besonders bemerkenswert. Auf dem Film, den ich in der Kamera hatte, war noch ein letztes Bild übrig. Ich hatte mit der Versuchung gekämpft, den Posten zu fotografieren, wenn er einmal nicht hersah. Es würde eine klassische Aufnahme geben - der Posten, die Zollstation, und im Hintergrund die Brücke. Doch die Vorsicht hatte schließlich bei mir die Oberhand behalten. Wozu sollte ich mir unnötig Schwierigkeiten bereiten? Während der Volvo langsam auf die Brücke zufuhr, klingelte das Telefon neben der Sperre. Der Posten hob den Hörer ab, lauschte einen Augenblick und gab mir dann die Durchfahrt zum Zollhaus frei. Vorsichtig ließ ich den Wagen durch die im Boden eingelassene Querrinne rollen und gab dann gerade so viel Gas wie mir nötig schien, um die 200 Meter zurückzulegen. Es wurde langsam spät und wir hatten noch eine lange Strecke zu fahren, ehe wir das polnische Hotel erreichen würden, in dem wir übernachten wollten. Ich hoffte, die Grenzkontrolle würde diesmal schneller gehen als üblich. Obwohl ich schon häufig in Osteuropa gereist war, war dies meine erste Fahrt nach Rußland gewesen. Eine Vielzahl von Eindrücken war in meinem Gedächtnis zurückgeblieben, die ich noch längst nicht alle verarbeitet hatte; doch ich wußte aus Erfahrung, daß sich nach und nach alles einordnen würde. Da waren die vielen immer noch von der Sowjetregierung geschlossenen Kirchen, die ich fotografiert hatte; manche davon waren sogar in atheistische Museen umgewandelt worden. Und die Tränen in manchen Augen sowie der Ausdruck der Freude auf den Gesichtem, als wir ihnen Bibeln überreicht hatten. Wie schwer war es doch, mit dem normalen russischen Bürger irgendwie in Kontakt zu kommen. Und dann das unbeschreibliche Gefühl, welches man angesichts der unermeßlichen Ausdehnung des Landes empfindet, wenn einem klar wird, daß die meisten Gebiete von Touristen gar nicht betreten werden dürfen. Überall befanden sich Kontrollzonen, in denen Verkehrsschilder forderten, nicht schneller als 40 Stundenkilometer zu fahren, damit unsere Autonummer gut aufgeschrieben werden konnte, und somit zu prüfen war, daß wir uns auf der erlaubten Reiseroute befanden und auch in der vorgeschriebenen Zeit den nächsten Kontrollpunkt erreichten. Es war ein niederdrückendes Gefühl, den allgegenwärtigen Arm des Staates immer verspüren zu müssen. Es war eine gute Reise gewesen, und ich war froh, daß wir gefahren waren. Doch ebenso froh war ich, daß wir Rußland nun wieder verließen. Mich ergriffen diese Gefühle in den Ländern Osteuropas immer wieder, aber diesmal waren sie besonders stark gewesen. Rußland war doch noch anders als die anderen Länder - geheimnisvoller und weniger erfaßbar. In diesem Lande hatte das Regime, das nun fast die halbe Welt kontrollierte, seinen Anfang genommen. Irgendwie wurde ich von einem Gefühl der Scheu gepackt, wenn ich nur daran dachte. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man das Land wieder verlassen kann, wie?“ sagte ich zu Bent Jacobson, dem Kassierer unserer Mission, der mich begleitet hatte. Es war seine erste Reise nach Osteuropa. Er sagte nichts, sondern nickte nur zustimmend. Ich wußte, was er dachte: Wir waren noch nicht draußen. Doch dies sollte eigentlich kein Problem sein, es war selten eines. Zwei bewaffnete Posten bedeuteten mir, den Wagen vor einem langen niedrigen Fachwerkbau anzuhalten, der aussah wie eine ehemalige Baracke, und gar nicht zu dem soliden Steingebäude zu passen schien, welches noch einige Meter weiter in Richtung Polen stand. Zwei Paar Augen folgten scheinbar teilnahmslos jeder Bewegung, als Bent und ich aus dem Wagen stiegen und wir unsere verkrampften Glieder reckten. „Guten Tag“, sagte ich zu dem Posten auf meiner Seite des Wagens. Wenn er die deutsche Anrede verstanden hatte, .ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. Es war keine Entspannung seines strengen Gesichtsausdrucks festzustellen, und nicht die geringste Bewegung seiner Augen. Derselbe hochaufgeschossene und schmale, sehr jugendlich wirkende Dolmetscher von Intourist, der uns an dieser Stelle so freundlich begrüßt hatte, als wir nach Rußland hineinfuhren - „Hallo! ich bin Ihr Freund von Intourist, kann ich Ihnen behilflich sein?“ -, kam jetzt schnellen Schrittes aus dem roten steinernen Hauptgebäude zu unserem Wagen gelaufen. Das freundliche Lächeln vom Tage der Ankunft fehlte. „Leeren Sie Ihr Auto aus und bringen Sie sämtliche Sachen da hinein“, sagte er kurz angebunden, während er auf das Fachwerkhaus deutete und dann vor uns eilends hineinging. „Das ist nicht gerade üblich“, sagte ich leise zu Bent, während wir unsere Koffer, Kameras und Schlafsäcke vom Rücksitz und aus dem Kofferraum ausluden. Als wir schwer bepackt in den Empfangsraum traten, fiel uns sofort auf, daß eine größere Anzahl von Beamten anwesend zu sein schien als üblich. Ein großer Mann mit rotem Gesicht, in der grünen Uniform der Polizei, redete mit lauter Stimme und ärgerlichen Gesten auf fünf Zollbeamte ein, die ihn in einer Gruppe umstanden. Obwohl ich kein Russisch verstehe, gaben mir die kalten Blicke, mit denen wir gemustert wurden, das ungemütliche Gefühl, wir seien der Gegenstand dieser Unterhaltung. Wir ließen unsere Gepäckstücke auf einen typischen langen Zolltisch fallen und standen, weil niemand uns weitere Anweisungen gab, wartend da. Durch die Fensterscheibe hinausblickend sah ich, daß die beiden Posten jetzt unser Auto durchsuchten. Doch das machte mir wenig Sorgen. Als wir nach Rußland hineingefahren waren, hatten vier Beamte unseren Wagen durchsucht. Sie hatten mit Schraubenziehern sogar die Türverkleidungen abgenommen und mit ihren Werkzeugen den Wagen buchstäblich in Stücke zerlegt; doch die Bibeln, die wir bei uns führten, hatten sie nicht gefunden. Wir hatten Gott gebeten, diese vor ihren Augen zu verstecken. Doch jetzt gab es nichts mehr zu verstecken -wenigstens nicht im Auto. Ich versuchte mir einzureden, daß wir also nichts zu befürchten hatten. Doch das unbehagliche Gefühl wurde immer stärker. „Dürften wir unser Geld wechseln?“ fragte ich in Englisch. Der Intourist-Dolmetscher sprach kurz mit dem ärgerlichen Mann in der grünen Uniform, der ein hoher Offizier zu sein schien, der mit einem Sonderauftrag anwesend war. „Würden Sie bitte zuerst Ihre Koffer aufschließen“, wurde uns gesagt. „Sie sind offen“, antwortete ich. Wir verließen das Gebäude, gingen die wenigen Meter zu dem steinernen Haupthaus und traten ein. Die mütterlich aussehende Frau, die in dem kleinen Glasbüro mit der Aufschrift „Wechselstube“ saß, schien als einzige im Haus anwesend zu sein. „Geben Sie mir bitte Dollar“, sagte ich in deutscher Sprache, während ich meine Rubelscheine unter dem Glas hindurchschob. Ich erinnerte mich noch daran, daß sie Englisch nicht verstand. „Wir haben keine Dollar.“ „Aber ich habe Ihnen Dollar für diese Rubel gegeben, als ich hier das Land betrat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben zur Zeit keine Dollar vorrätig. Ich gebe Ihnen polnisches Geld, vielleicht können Sie es hinter der Grenze in Dollar Umtauschen.“ Ich warf ihr einen skeptisch tadelnden Blick zu. Das Spiel hatte man schon oft mit mir versucht. In diesen Ländern war man immer knapp an Dollar, da niemand ihre eigenen Währungen im internationalen Handel als Bezahlung akzeptieren wollte. „Welche Geldsorten haben Sie sonst noch?“ „Wie wäre es mit englischen Pfund oder schwedischen Kronen?“ „Wir würden zwar dänische Kronen vorziehen, aber wenn Sie diese nicht haben, nehmen wir schwedische.“ Sie rechnete den Kurs aus, zählte uns die Kronen hin und gab uns eine Quittung. Wir drehten uns gerade um, um den Raum zu verlassen, als der rotgesichtige Offizier, der fortwährend ärgerlich zu sein schien, hereingestürmt kam, gefolgt von dem jungen Dolmetscher. „Sie kommen mit uns“, ließ er mir durch den Dolmetscher sagen, indem er auf mich zeigte. „Und Sie warten draußen“, sagte er zu Bent. Sie führten mich durch einen schmalen Gang in ein weiter hinten gelegenes Büro. Ein kleiner, muskulös gebauter Mann mit dunklem Teint, der, wie viele Russen aus dem Osten, orientalischen Einschlag zu haben schien, machte den Eindruck, als habe er auf uns gewartet. Er saß hinter einem Schreibtisch und blickte auf, als wir eintraten. Und dann sah ich zu meinem Schrecken vor ihm auf dem Schreibtisch drei Bibeln liegen, zwei davon in durchsichtige Plastikhüllen verpackt. Sie sahen denen, die wir mitgebracht und verteilt hatten, beängstigend ähnlich. Aber wie waren sie hierher gekommen? Hatte uns jemand verraten? Ich atmete tief ein und versuchte, mein heftig pochendes Herz und die warme Röte, die ich über mein Gesicht huschen fühlte, unter Kontrolle zu bringen. Der große Mann sagte einige Worte auf Russisch, dann verließ er den Raum und ließ mich mit dem kleineren und dem Dolmetscher allein. Der uniformierte Offizier hinter dem Schreibtisch betrachtete mich ungehalten und begann dann in Russisch zu sprechen, während er auf die Bibeln deutete. Der Dolmetscher, der jetzt neben ihm saß, übersetzte: „Sind das Ihre Bibeln?“ . Nein.“ „Sind Sie ein Christ?“ „Ja.“ „Ist es einem Christen erlaubt zu lügen?“ „Nein, es ist ihm nicht erlaubt. Ein Christ muß immer die Wahrheit sagen.“ „Sie sind ein Christ. Sie haben diese Bibeln nach Rußland gebracht, und jetzt sagen Sie, es seien nicht Ihre.“ Seine Stimme schwoll vor Ärger an. „Diese Bibeln sind nicht mein.“ „Wie soll ich das verstehen?“ schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir brachten solche Bibeln mit uns, als Geschenke für Leute in Rußland“, sagte ich langsam, und versuchte dabei, ruhig zu bleiben. Der empörte Ausdruck in seinem Gesicht war entnervend. „Wenn Sie etwas verschenkt haben, gehört es Ihnen doch nicht mehr. Oder?“ „Sie geben also zu, diese Bibeln mitgebracht zu haben.“ Ich schluckte heftig und nickte. „Das stimmt. Aber was ist falsch daran, wenn man Bibeln als Geschenk mitbringt?“ „Es ist durch ein Gesetz verboten.“ Er schüttelte seine Faust, um diesen Worten Nachdruck zu verleihen. „Aber ich glaubte, in diesem Lande herrsche religiöse Freiheit. Das machen Sie doch überall bekannt.“ „Natürlich stimmt das. Ihr Christen im Westen erzählt Lügen über uns. Jedermann in der Sowjetunion darf seine Religion ausüben. Das wird durch unsere Verfassung garantiert.“ „Genau das habe ich auch geglaubt“, gab ich zur Antwort. Ich versuchte zu lächeln, gab es aber gleich wieder auf. „Dann muß es für Christen aber auch erlaubt sein, ihr Handbuch zu haben. Und das ist die Bibel.“ „Das stimmt. Aber es ist verboten, Bibeln in das Land zu bringen.“ „Welches Gesetz verbietet das?“ fragte ich offen. „Können Sie mir die Nummer des Paragraphen sagen?“ Ich erhielt keine Antwort. „Wenn dies verboten ist“, fuhr ich fort, „dann sollten Sie uns das ganz klar sagen, ehe wir zu Ihnen gereist kommen.“ „Es wurde Ihnen auf dem Formblatt mitgeteilt, das Sie mit dem Visumsantrag bekamen.“ Sein Gesicht nahm wieder einen ärgerlichen Ausdruck an. „Wenn Sie es gelesen haben, was von Ihnen erwartet wurde, dann wissen Sie auch, daß es verboten ist, Literatur mitzubringen, die für unser System schädlich sein kann.“ Während er sprach, betete ich innerlich um Weisheit für die rechte Antwort. „Drucken Sie Bibeln in Ihrem Land?“ fragte ich naiv. Ich wußte, daß hauptsächlich für Propagandazwecke eine kleine Anzahl gedruckt wurden. Er schaute mich mit empörtem Schweigen an. „Ich habe Statistiken gelesen“, beharrte ich, „die vom Sowjetischen Zentralkomitee herausgegeben wurden. In denen steht, daß Ihre Regierung Bibeln druckt. Ich kann nicht glauben, daß Sie etwas drucken würden, was für Ihr eigenes System schädlich ist. “ „Ich habe keine Zeit, mit Ihnen über solche technische Fragen zu diskutieren“, sagte er wütend, während er sich halb vom Stuhl erhob und aussah, als wolle er jeden Augenblick explodieren. Dann ließ er sich wieder zurückfallen und sagte in ruhigerem Ton: „Wir wollen über Tatsachen reden. Wenn Sie es ehrlich meinten, warum hatten Sie die Bibeln dann so versteckt, daß wir sie nicht finden konnten, als Sie über die Grenze kamen?“ „Warum ich Sie versteckt hatte?“ wiederholte ich seine Frage, um Zeit zu gewinnen, während ich innerlich für die rechte Antwort betete. Seltsam - diese Frage hatte ich nie erwartet. Christi Worte aus dem Matthäusevangelium kamen mir in den Sinn: „Wenn man euch nun überliefert, so macht euch keine Sorge darüber, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben werden, was ihr reden sollt.“ „Ich habe auch Geld mit in Ihr Land gebracht“, antwortete ich langsam. „Dies ist auch nicht gegen das Gesetz, ja - Geld mitzubringen?“ Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück, faltete die Arme zusammen und wartete. Ich öffnete meine Jacke, langte in die Innentasche und zog meine Brieftasche heraus. „Aber ich verstecke mein Geld trotzdem. Hier in meiner Brieftasche, im Inneren meiner Jacke“, fuhr ich fort. „Obwohl es nicht gegen das Gesetz ist, Geld dabei zu haben, verstecke ich es trotzdem, weil es Diebe und Räuber gibt, die es mir gern wegnehmen würden.“ Während ich sprach, wurde sein Gesicht noch dunkler vor Zorn. Dann explodierte er wirklich: „Sie sind der Dieb“, schrie er mir ins Gesicht, während er sich über den Schreibtisch lehnte. „Sie kamen als Spion. Aber wir haben Sie erwischt.“ Sich langsam wieder beruhigend, zog er seine Augenlider zusammen. Er wies auf die Bibeln. „Was ist mit den anderen. Wem haben Sie die gegeben?“ „Oh, ich kann die russischen Namen nicht behalten . . .“ „In welchen Städten?“ „Hm - einige haben wir in Smolensk verschenkt, einige in Minsk - und in mehreren anderen Städten. Überall wo wir hingekommen sind.“ „Das russische Volk wünscht keine religiöse Propaganda. Unsere Eltern unter dem Zar waren noch unaufgeklärte Bauern. Doch die Revolution hat uns alle verändert. Unsere Wissenschaftler haben diese Mythen widerlegt.“ Jetzt stand ein Ausdruck der Verachtung in seinem Gesicht. „Die, denen wir Bibeln gaben, haben sie mit großer Freude genommen“, antwortete ich achselzuckend. „Ja, weil sie Christen sind“, gab er ungehalten zurück. Dann verengten sich seine Augen wieder. „Wie haben Sie diese Christen eigentlich gefunden?“ „Oh, es gibt ein Wort, das in jeder Sprache verstanden wird. Es heißt: ,Halleluja!“ Wenn wir Halleluja sagen, dann freuen sich die Christen und die Kommunisten ärgern sich. Daran können wir leicht erkennen, wer ein Christ ist.“ Ein unwilliges Lächeln schien in seinen Mundwinkeln zu erscheinen, während seine Züge ernst blieben. „Sie wissen, daß Sie unsere Gesetze gebrochen haben . . .“ „Ich habe kein Gesetz gebrochen“, unterbrach ich ihn. „Sie haben zugegeben, daß es kein Gesetz gibt, welches das Mitbringen von Bibeln verbietet.“ „Sie sind als Spion, Dieb und Räuber gekommen“, rief er, ohne auf meinen Protest zu achten. „Sie haben Propagandamaterial mitgebracht, das für unser System schädlich ist. Dies ist ein sehr schweres Verbrechen. Außerdem weigern Sie sich, uns die Namen der Leute zu nennen, denen Sie diese vergifteten Mythen gegeben haben.“ Plötzlich stand er auf, verließ schnell den Raum und ließ mich mit dem Übersetzer allein. Während ich wartete, dachte ich darüber nach, wie wohl die Bibeln in ihre Hände gekommen waren. Wir hatten auf der Rückfahrt noch acht Bibeln übrig gehabt. Daraufhin hatten wir sie in Plastiktüten verpackt, und Bent hatte sie überall da, wo von der Hauptstraße eine Nebenstraße abzweigte, die zu einem Dorf führte, und die wir nicht benutzen durften, abgelegt. Wir hatten sorgfältig darauf geachtet, daß uns niemand dabei beobachtete. Danach hatten wir nur noch einmal wenige Minuten angehalten um zu tanken. Wie also waren die Bibeln entdeckt worden und schon zur Grenze gelangt, noch ehe wir selbst hier ankamen? Während ich noch über diese Frage nachdachte, ohne jedoch eine Antwort zu finden, mußte ich im stillen zugeben, daß die russische Polizei sehr gut arbeitete. Mein Befrager kam in Begleitung des rotgesichtigen hohen Offiziers zurück. Während letzterer in der Tür stehen blieb, setzte sich der kleine dunkle Mann wieder hinter seinen Schreibtisch und starrte mich mit eisigem Blick an. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Sie sind festgenommen“, sagte er dramatisch. „Wir werden uns noch mit Ihrem Freund unterhalten. Warten Sie so lange draußen.“ Für einen Augenblick packte mich die Furcht, doch dann gewann ich meine Ruhe wieder. Festgenommen? Sicherlich bluffte er. Ich hatte mich gegen kein Gesetz vergangen. Sie hatten drei Bibeln irgendwo an der Straße gefunden, nichts anderes. Er versuchte wohl nur, midi einzuschüchtern. Ich war entschlossen, ihm die Befriedigung nicht zu geben, mich furchtsam zu sehen. Während ich hinausging, führte man Bent in den Raum. Es war unmöglich, auch nur ein Wort zu wechseln. Ich überlegte, wie er reagieren würde, wenn er die Bibeln auf dem Schreibtisch sah. Während ich draußen auf und ab ging, fiel mir ein, daß ich in meiner Jackentasche immer noch ein russisches Neues Testament hatte. Schnell versteckte ich es auf dem Rücken unter meinem Hemd. Als sie mit Bent fertig waren, wurden wir wieder in das andere Haus zurückgebracht. Unser Gepäck war in verschiedene Haufen verteilt worden. Der Dolmetscher sagte uns, wir könnten die Toilettenartikel sowie Unterwäsche zum Wechseln in die Koffer zurücklegen, alles andere habe zu weiterer Untersuchung noch hierzubleiben. „Was soll das heißen?“ fragte ich. „Sie werden Rußland noch nicht verlassen.“ Der große Offizier, der das Kommando führte, und den ich im stillen den „Großen Zornigen“ nannte, trat auf mich zu, hob meine Arme empor und durchsuchte mich. Er leerte meine Taschen aus und legte alles, außer meinem Geld, das ich behalten durfte, auf den Tisch. Dann fuhr er mit den Händen unter die Jacke und tastete mein Hemd ab. Als seine Hände über meine Hüften hinweg zum Rücken glitten, versteifte ich mich unwillkürlich. Doch noch ehe er zu der Stelle kam, an der ich unter dem Hemd das Neue Testament trug, zog er die Hände wieder zurück und wiederholte dieselbe Prozedur bei Bent. Meine Aktentasche war ebenfalls entleert und alle Papiere sorgfältig in kleinen Häufchen auf dem Tisch sortiert. Ich überlegte, was alles darin gewesen war. Doch es war hoffnungslos. Mir fiel es nicht ein. Ich sah meine dänische Konkordanz und einige andere Bücher in dänischer und deutscher Sprache beieinanderliegen. Dann entdeckte ich auch meine Bibel unter ihnen. „Dies ist meine eigene Bibel - eine dänische“, sagte ich protestierend und deutete darauf. „Die können Sie nicht behalten. Ich möchte meine Bibel haben.“ „Das ist verbotene religiöse Propaganda“, war die ungeduldige und harte Antwort. „Aber wir sind dänische Bürger, und Sie müssen uns unsere Bibeln zurückgeben“, bestanden Bent und ich darauf. Der „Große Zornige“ schien vor einer Explosion zu stehen. „Njet!“ schrie er und wandte sich ab. „Hören Sie“, bat ich, „die Bibel bedeutet uns mehr, als alle Worte Lenins Ihnen bedeuten könnten. Bitte, geben Sie mir die Bibel.“ Schnell drehte er sich wieder um und schaute mich überrascht an. Langsam zog ein Ausdruck von Achtung über sein Gesicht. „Gut“, sagte er, „gebt ihnen ihre dänischen Bibeln.“ Ein Offizier blätterte meine Bibel durch. Als er nichts fand, übergab er sie mir. Dann nahm er Bents Bibel, hielt sie verkehrt herum und schüttelte kräftig. Ein Wasserfall von Zetteln fiel auf den Tisch. Einer der Beamten stürzte sich mit einem befriedigten Ausruf darauf und sammelte sie zusammen. Nachdem der Offizier die Bibel noch mehrere Male durchgeblättert hatte, um sicher zu sein, daß sie leer war, reichte er sie Bent. Als ich die vielen Papiere auf den Tisch fallen sah, begann mein Herz stärker zu klopfen; vor allem, weil ich darunter einen Bogen mit dem Briefkopf unserer Mission entdeckte. Ich dachte, wir hätten nichts Verdächtiges in unserem Besitz. Ich entdeckte auch mehrere Rundschreiben über Radiosendungen nach Osteuropa, in denen andere skandinavische Missionen erwähnt wurden, die in Osteuropa arbeiteten - und da begann ich mich plötzlich zu fürchten. Die Stimme des Dolmetschers unterbrach meine Gedanken. Er übersetzte die Worte des „Großen Zornigen“. „Sie sind festgenommen. Tauschen Sie Ihr Geld wieder in Rubel um. Der Führer von Intourist wird Ihnen das Hotel zeigen, in dem Sie bleiben müssen. Seien Sie nicht so töricht, das Hotel zu verlassen. Sie können nirgendwo hingehen. Morgen wird ein Spezialteam kommen und Sie verhören. Warten Sie auf diese Leute in Ihrem Raum.“ Wir verließen das Haus und fuhren mit unserem Wagen nach Brest. Der hinter mir sitzende Dolmetscher gab mir immer wieder Anweisungen, welche der kopfsteingepflasterten Straßen ich zu nehmen hatte. Ich vergaß meine Furcht fast über der Erregung, in einer für Reisende sonst verbotenen Stadt zu sein. Meine Augen suchten überall nach Gründen, warum es wohl ausländischen Touristen verboten war, diese Stadt - genauso wie den größten Teil der Sowjetunion, mit Ausnahme einiger großer Städte - zu besuchen. Wenn man mit dem Auto zwischen diesen wenigen offenen Städten reist, muß man sich genau an die Hauptstraße halten und darf diese nicht verlassen. Es ist sogar verboten, auch nur für einige Minuten an dieser Straße anzuhalten. Ich wurde aufgefordert, vor einem alten Hotel zu parken, das in früheren Zeiten einmal ziemlich luxuriös gewesen zu sein schien und wahrscheinlich auch jetzt noch das beste in dieser eintönigen Stadt war. Aus grauen Steinen erbaut und vom Rauch vieler Jahre beschmutzt, stand es an einem größeren Platz und schien bei russischen Reisenden recht beliebt zu sein. Meine Gefühle wechselten zwischen Ärger und Furcht. Ich fühlte mich hilflos. Nachdem ich das Auto angehalten hatte, drehte ich mich zu dem Intourist-Führer um: „Wir kamen als Touristen in Ihr Land“, sagte ich ernst, „und Sie behandeln uns wie Verbrecher und stellen uns unter Arrest, obwohl wir kein Gesetz gebrochen haben. Ich werde dies in der ganzen Welt veröffentlichen, so daß alle Menschen wissen, wie Sie mit Touristen umgehen.“ Er zuckte mit den Schultern und führte uns in das Hotel. Nachdem er uns bei der Anmeldung geholfen hatte, erinnerte er uns nochmals daran, daß wir am nächsten Morgen im Hotel zu sein hatten, wenn die Verhörkommission eintraf. Offensichtlich kamen sie aus einer anderen Stadt. Das Zimmer war klein. Ein Doppelbett nahm den meisten Platz ein. In einer Ecke stand ein Toilettentisch mit einem Waschbecken darauf. Wir setzten uns auf die Betten und sahen uns an. Zum ersten Mal wurde mir bewußt, wie erschöpft ich war - und wie hungrig. Der Mann an der Anmeldung sprach Deutsch und meinte, wir würden vielleicht am Bahnhof noch etwas zu essen bekommen, wenn wir uns beeilten. Während des kurzen Weges zum Bahnhof und zurück sprachen wir über die Fragen, die man uns vorgelegt hatte, und über unsere Antworten. Wir spekulierten darüber, was wohl morgen geschehen würde. Einig waren wir uns darüber, daß wir uns an die Wahrheit halten wollten und niemand verraten würden, dem wir eine Bibel gegeben hatten. Als wir gesättigt in unser Hotel zurückkamen, waren wir wieder ein wenig zuversichtlicher. Da wir nicht wußten, ob sich in unserem Zimmer versteckte Mikrophone befanden, vermieden wir es, weiter über diese Angelegenheit zu sprechen. Statt dessen lasen wir laut aus der Bibel, und beteten und sangen zusammen bis nach Mitternacht. Alles, was wir noch tun konnten war, abzuwarten und zu sehen, was geschehen würde. Nachdem wir das Licht gelöscht hatten, lag ich noch lange wach und quälte mich mit fruchtlosen Versuchen, die eigentliche Bedeutung unserer Verhaftung zu verstehen. Es war lächerlich, auch nur anzunehmen, daß man uns für das, was wir getan hatten, ins Gefängnis sperren könnte. Aber wir waren in Rußland - und da war fast alles möglich. Wir waren ihrer Gnade ausgeliefert. Ich wußte, daß es hier nicht ungewöhnlich war, ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis zu kommen. Vielleicht würde monatelang niemand herausfinden, wo wir geblieben waren. Wenn wir nicht innerhalb einer angemessenen Zeit zurückkehrten, würden unsere Frauen beginnen, überall dringende Erkundigungen anzustellen. Aber wir hatten während unserer Reise mehrere Länder besucht, und so konnte es recht schwierig werden, herauszufinden wo wir waren, ehe die Sowjets nicht bereit waren, unseren Fall zu veröffentlichen. In Dänemark wäre dies unmöglich gewesen, aber in Rußland? Langsam, aber immer deutlicher, wurde mir klar, was dies bedeuten konnte. Ich dachte an das Auto. Angenommen, sie würden es beschlagnahmen. Und meine Fotos? Sie waren so aufschlußreich! Ich mußte sie aus Rußland hinausbekommen. Es gab so viele verschiedene Meinungen im Westen über die Frage, ob die Untergrundkirche existierte. Ich hatte Belege dafür. In einer Stadt wie Smolensk zum Beispiel - und diese Stadt ist typisch für alle anderen - hatten die Behörden 90 Prozent der Kirchen geschlossen und schlossen immer noch mehr. Ich hatte Bilder von Fabriken, Geschäften, Behördengebäuden, Warenhäusern und Museen gemacht, die früher einmal Kirchen gewesen waren. Diese Bilder würden die Zweifler widerlegen. Sollte die Gemeinde einer geschlossenen Kirche ihren Glauben aufgeben? Mit Ausnahme der wenigen lizensierten Kirchen war es verboten, Gott anzubeten, christliche Lieder zu singen und über die Bibel zu reden. Wo die Kirchen geschlossen waren, wurden die Christen gezwungen, in den Untergrund zu gehen. „Oh Gott“, betete ich, „hilf, daß sie nicht meine Filme beschlagnahmen. Und das Auto, Herr, es hat so viel gekostet . . Doch dann wurde mir klar: würden sie Bent und mich einsperren, war kein Zweifel, was mit dem Auto und den Filmen geschehen würde. Ich war aber nicht sicher, ob ich den Herrn bitten konnte, für meine Freiheit zu sorgen. Ich kannte die Bibel gut genug: Bete für die Gebundenen, als wärest du mit ihnen gebunden. Ich hatte mich oft gefragt, wie ich dies tun sollte, da ich doch selbst nie erfahren hatte, was es heißt, gefangen zu sein. Sollte ich etwa jetzt davor erschrecken, wenn es Gottes Wille war? Die Christen in Rußland waren ständig bereit, um Christi willen ins Gefängnis zu gehen. Sollte meine Bereitschaft etwa geringer sein? In meinem Inneren tobte ein heftiger Kampf. Mein Herz war das Schlachtfeld gegensätzlicher Wünsche. Viele Fragen zogen durch meine Gedanken. Wie war ich eigentlich zu diesem Dienst gekommen, den ich hier für den Herrn tat? War es wirklich Gottes Wille gewesen, oder meine eigene Entscheidung? Ich begann in Gedanken alle Schritte nochmals durchzugehen, die mich bis in dieses Hotelzimmer an der russischpolnischen Grenze gebracht hatten, in dem ich nun als Verhafteter lag. Es hatte alles mit einem Buch angefangen, das mich zu einem Schreibtisch voller Briefe führte. Jeder dieser Briefe enthielt einen verzweifelten Hilferuf. Es waren Hilferufe, die meinem Leben eine neue Richtung gegeben hatten. Gib uns Bibeln „So wenige Leute sehen ein, daß Europa ein Missionsfeld ist“, sagte mir zu Anfang des Jahres 1965 ein älterer belgischer Pastor. „Amerikaner, Engländer, Australier und Skandinavier sind auf dem Weg in das ihnen zugeteilte Missionsfeld Jahr um Jahr zu uns gekommen, um die Sprache zu lernen, ehe sie nach Afrika gehen. Während ich sie in der französischen Sprache unterrichtete, habe ich versucht ihnen klarzumachen, daß Frankreich und Belgien vielleicht Missionare nötiger hätten als die Länder, in die sie gehen. Ich habe sie gebeten, ihre französischen Sprachkenntnisse in Europa nutzbringend anzuwenden.“ Sein Gesichtsausdruck ließ weniger auf Ärger als vielmehr auf Verwirrung über die Tatsache schließen, daß es ihm nicht gelungen war, andere von dieser so einleuchtenden Notwendigkeit zu überzeugen, obwohl er geglaubt hatte, daß ihm dies eigentlich leicht gelingen müßte. „Keinen einzigen der Missionsanwärter habe ich überzeugen können - nicht einen. Sie konnten mir einfach nicht glauben. Sie waren so voreingenommen von dem, was sie vorher gelernt hatten, daß sie nur Länder mit nichtweißer Bevölkerung als Missionsfelder sehen konnten, ganz gleich, welche Tatsachen ich ihnen vorhielt. Denn man muß doch bedenken: Europa ist ja so ,zivilisiert“.“ Ich selbst hatte mir gerade zur gleichen Zeit über dasselbe Problem Gedanken gemacht. Europa als Missionsfeld? Unsinn! Europäische Missionare hatten schon Nord- und Südamerika evangelisiert, ehe die USA noch als Nation geboren wurden. Hatten nicht die Europäer das Evangelium nach Afrika, Indien und China gebracht? Die Reformation war von Europäern gemacht und durchgekämpft worden. Das Blut der Märtyrer hatte die europäische Erde befruchtet. Und konnten wir nicht immer noch die Frucht dieser heiligen Kämpfe ernten? Als sichtbares Zeichen dafür ragten noch heute überall in Europa die Türme der Kirchen in den Himmel - sogar im kleinsten Dorf. Ich war in Dänemark geboren und aufgewachsen und stolz darauf, Europäer zu sein, das Vorrecht zu haben, im „Zentrum der Welt“ zu leben, an der Wiege der modernen Zivilisation, der Heimat der großen Philosophen, Wissenschaftler, Erfinder, Erforscher und - christlichen Führer: Calvin, Luther, Wesley, Livingstone, Zwingli, Darby, Huss, Zinzendorf. Die Liste war endlos und konnte von keinem anderen Teil der Welt übertroffen werden. Gewiß, wir hatten auch unser Teil an den Voltairs, Darwins, Marx's und Bultmanns; doch dies würde immer und überall so sein. Sicher: Europa hatte in einer Generation zwei Weltkriege vom Zaune gebrochen, und der Himmel war bedeckt vom Rauch der sechs Millionen Juden, die um der arischen Legende willen verbrannt worden waren. Doch dies änderte nichts an der Tatsache, daß Europa ein christlicher Kontinent war, oder mindestens so nahe daran, wie es in dieser unvollkommenen Welt möglich ist. Dies waren meine Vorstellungen gewesen - wenn man etwas so Offensichtliches überhaupt noch als Vorstellungen bezeichnen konnte -, als mir gegen. Ende 1964 das Buch von Dr. R. P. Evans in die Hände kam: „Laßt Europa hören“. Zuerst las ich ungläubig, sogar ärgerlich. Er führte Statistiken an, doch die konnten unmöglich stimmen. Er schrieb, in Frankreich gäbe es 3 Prozent Protestanten und 17 Prozent Katholiken, und nur ein kleiner Teil von ihnen ginge regelmäßig zur Kirche. Die anderen 80 Prozent der französischen Bevölkerung gehörten keiner Religion an (doch der Spiritismus griffe so um sich, daß es mehr Menschen gäbe, die eine Lizenz für Heilung durch spirituali-stischen Magnetismus besäßen, als Mediziner). Die meisten afrikanischen Nationen könnten einen höheren Prozentsatz prak- tizierender Christen aufweisen als Frankreich. In Brasilien gäbe es fast dreißigmal so viele Protestanten als in Spanien, dem Land, das Brasilien einmal kolonialisiert hatte. Und solche verblüffenden Statistiken fand ich noch viele in diesem Buch. Die Gedanken des Buches verfolgten mich. Wenn das, was Dr. Evans schrieb, stimmte, dann war Europa wirklich eines der größten und drängendsten Missionsfelder der Welt. War ich blind gewesen, betrogen von der falschen Ansicht, dies sei ein christlicher Kontinent? Wurde hier die Maske des gebildeten und zivilisierten Heidentums getragen? Eine so wichtige Frage mußte beantwortet werden. Dr. Evans hatte seine Meinung klar gesagt - doch ich mußte mich selbst überzeugen. Mit dieser Ungewißheit im Herzen, aufgerüttelt und herausgefordert, und getrieben von der Notwendigkeit, die Wahrheit über Europas geistlichen Zustand herauszufinden, bat ich Anfang 1965 die Gemeinde in Jütland, im westlichen Teil Dänemarks, deren Pastor ich war, mir einen Monat Urlaub zu geben. Ich erhielt den Urlaub und reiste südwärts, in die Herzländer Europas. Ich besuchte Kirchen und Gemeinden, sprach mit christlichen Führern und forschte eifrig in Büchereien. Der belgische Pastor, den ich vorher erwähnte - er ist Präsident eines Bibelseminars -, war einer der ersten, den ich interviewte. Bei meinen eigenen Untersuchungen und Forschungen, die ich anstellte um Dr. Evans Thesen bestätigt zu bekommen, stellte ich bald fest, daß er keinesfalls übertrieben hatte. In dem deutschen Bundesland Bayern z. B. leben zwölf Millionen Menschen. Skandinavien allein hat etwa 150 Missionare nach Tansania gesandt, einem Land mit etwa derselben Bevölkerungszahl, während es nicht einen Missionar nach Bayern sandte. Warum? Niemand ist auf den Gedanken gekommen, Deutschland als heidnisches Land anzusehen, das Missionare benötigen könnte. Zu jener Zeit hatte die Bundesrepublik etwa 55 Millionen Einwohner, etwa je zur Hälfte Katholiken und Protestanten. Doch nur rund 5 Prozent der Protestanten gingen sonntags zur Kirche. Und auch jene, die zur Kirche gingen, Katholiken wie Protestanten, taten dies mehr aus Tradition, als aus lebendiger Gemeinschaft mit Christus. Obwohl sie ihr Glaubensbekenntnis hersagen konnten, zur Beichte und zum Abendmahl gingen, hätte ein unvoreingenommener Beobachter, der ihr Alltagsleben betrachtete, schließen müssen, daß sie sich trotz ihrer Religion in ihrem Tun und Lassen in nichts von ihren Freunden und Nachbarn, die Atheisten waren, unterschieden. So schwach und hilflos war das Christentum, das ich in Deutschland und ganz Westeuropa fand. Und so seltsam es auch klingen mag, aber der Gedanke, daß die Verhältnisse in Osteuropa genauso schlecht oder gar noch schlimmer sein könnten, war mir nie gekommen. Alle Gedanken, die ich mir je über diesen Teil unseres Kontinents gemacht hatte, erschöpften sich darin, daß mir die Existenz dieser Länder auf der anderen Seite dessen, was man den Eisernen Vorhang nannte, bewußt war. Dieses schädliche Hindernis, was immer es war, verhinderte offensichtlich jede Möglichkeit der Einmischung von außen. Dies machte es für mich leicht, keine Verantwortung für den geistlichen Zustand der Länder dahinter zu empfinden. Die andere Seite des Eisernen Vorhangs schien mir so weit entfernt wie die Rückseite des Mondes. Während ich meine Forschungen in Paris fortsetzte, riet man mir, einen Pastor aufzusuchen, der dieser für mich unwirklichen Welt hinter dem Eisernen Vorhang entflohen war und jetzt in der Nähe des Eiffelturmes wohnte. Aus Neugier fuhr ich quer durch Paris, um mit Jeremie Hodoroaba zu sprechen. Unglücklicherweise war er nicht daheim, doch seine Frau empfing mich freundlich und beantwortete mir meine Fragen. Die Dinge, die sie mir erzählte, bewegten mich zutiefst. Ich hatte natürlich keinerlei Ahnung, daß die Informationen, die ich in dieser anspruchslosen Pariser Wohnung erhielt, meinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflussen würden. Noch weniger hätte ich mir vorstellen können, daß sie dazu führten, daß ich eines Tages als Verhafteter in einem russischen Hotelzimmer saß. Frau Hodoroaba war die erste Person, die dazu beitrug, daß ich begann, mich um die Notlage der Christen in Osteuropa ernstlich zu kümmern und mich vor allem ihres Verlangens nach Bibeln anzunehmen. Sie erzählte mir, daß ihr Mann jede Woche das Evangelium über den Rundfunk in rumänischer Sprache verbreitete, und daß in ihrem Heimatland Rumänien Tausende diesen Sendungen zuhörten, obwohl es verboten war. Und obwohl die Regierung fest entschlossen war, alle Religion nach und nach abzuschaffen, war die Bevölkerung so enttäuscht durch die Tatsache, daß der Kommunismus versagt hatte, das verheißene Paradies zu schaffen, daß sogar viele Angehörige der jüngeren Generation sich anderen Ideen zuwandten, um die Lösung für die Probleme des Lebens zu finden. Viele fanden auf diese Weise Interesse am Christentum. Frau Hodoroaba zeigte mir das Studio, wo ihr Mann die Radiopredigten auf Band nahm. Anschließend führte sie mich in das Büro, um mir einen Einblick in die Briefe zu geben, die sie von Rumänien empfingen. Sie öffnete einen Aktenschrank und zeigte mir Ordner mit Hunderten von Briefen. Sie legte die Ordner vor mir auf den Tisch und sagte: „Dies sind nur einige Beispiele dafür, wieviel Post mein Mann als Antwort auf seine Radiosendungen .erhält. Und alle Briefe haben etwas gemeinsam. Können Sie erraten, was es ist?“ „Ich habe nicht die entfernteste Ahnung“, gab ich zu, und schüttelte meinen Kopf. „Sie alle möchten Bibeln haben!“ Ihre Augen blitzten. „Es gibt eine immer wiederkehrende Bitte - einen großen Schrei -in allen diesen Briefen: ,Bitte, sendet uns Bibeln!““ „Bestehen Möglichkeiten dies zu tun?“ fragte ich und fühlte eine plötzliche Verantwortung für diese Not, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Sie nickte: „Wenn man die Bibeln als eingeschriebene Sendungen schickt, kommen die meisten ans Ziel. Doch das ist teuer und wir haben nicht genug Mittel ..." Sie zuckte mit den Schultern und zeigte auf die Briefe. „Und auch wenn wir die Mittel hätten, brauchte es darüber hinaus noch eine Anzahl Mitarbeiter, die ihre ganze Zeit einsetzen müßten, um allen Bitten nachzukommen. Wir tun, was wir können, doch angesichts der großen Anzahl ist es fast nichts. Wenn doch eine Missionsgesellschaft diese Not erkennen würde und sie als Aufgabe übernehmen könnte.“ Sie schaute mich hilflos und auffordernd an. „Vielleicht kann ich eine Mission gründen“, sagte ich spontan. Doch dann lachte ich selbst über diesen Gedanken und hoffte, sie würde verstehen, daß dies nur eine ziemlich wilde Idee war und nichts, worauf man Hoffnung setzen konnte. Aber warum hatte ich es dann gesagt? Und warum fühlte ich mich dabei so ungemütlich, als wollte ich mich vor einer Verpflichtung drücken? Während ich noch die Briefe betrachtete, die ich nicht lesen konnte, da sie in einer mir fremden Sprache geschrieben waren, hörte ich mich selbst sagen: „Vielleicht kann ich darüber einige Artikel für etliche christliche Zeitschriften schreiben. Auf diese Weise würde eventuell Geld Zusammenkommen.“ Gott führte es so, daß aus dieser zögernden Erklärung heraus die „Dänische Europa-Mission“ geboren wurde. Als ich später wieder daheim ankam, war ich von dieser Idee, die erst halb Form angenommen hatte, schon gepackt. Nacht für Nacht saß ich noch spät an meinem Schreibtisch und versuchte, das zum Ausdruck zu bringen, was ich gesehen hatte und was mich so tief bewegte. Ich versuchte zu beschreiben, was mir über den geistlichen Bankrott Europas klar geworden war, und ich schrieb auch darüber, welches große Verlangen in Rumänien nach Bibeln herrschte. Etliche christliche Zeitschriften in Dänemark veröffentlichten meine Artikel. Daraufhin empfing ich von einigen Lesern ärgerliche Briefe, in denen sie mir klar machen wollten, daß es überall auf der Welt Missionsfelder gäbe, nur in Europa nicht. Doch die meisten Leser reagierten mit überwältigender Bereitschaft, diese schok-kierenden Tatsachen zu erkennen und etwas dafür zu tun. Viele Menschen begannen, mir Geld zu schicken, welches zur Unterstützung von Missionaren für Europa und zum Senden von Bibeln nach Rumänien verwandt werden sollte. Unter der Schirmherrschaft meines Gemeindevorstands gründete ich ein Missionswerk, damit die Gelder richtig verwaltet wurden und die Missionsarbeit der Ausbreitung des Evangeliums in Europa organisiert werden konnte. Der erste Missionar, den wir unterstützten, arbeitete in Frankreich; andere folgten nach und nach. Doch es war offensichtlich die Not für Bibeln für die Christen in Rumänien, die den meisten Spendern am dringendsten am Herzen lag und weshalb sie uns Geld sandten. Das meiste Geld, das die neue „Dänische Europa-Mission“ empfing, war für diesen Zweck bestimmt. Während der ersten drei Monate bekamen wir mehr als 10 000 Mark für Bibeln nach Rumänien. Für manche mag dies eine unbedeutende Summe sein, doch für mich war es eine viel größere Reaktion aus unserem kleinen Land Dänemark, als ich je erwartet hatte. Da wir niemand für Verwaltungsarbeiten zu bezahlen hatten, konnten wir alles empfangene Geld für die Aufgaben verwenden, für die es bestimmt war. Pastor Hodoroaba gab uns die Adressen von Leuten in Rumänien, die um Bibeln gebeten hatten, und wir begannen, diese per Einschreibsendungen an die erhaltenen Adressen zu schicken. Unsere Mission kaufte die Bibeln und bezahlte das Porto. Doch das eigentliche Versenden wurde von Freiwilligen übernommen, die aus einleuchtenden Gründen auch ihren persönlichen Absender auf die Päckchen schrieben. Bald kamen Dankesbriefe aus Rumänien, meist ohne Absender und Unterschrift, in den Heimen der freiwilligen Helfer an. Solche, die ihre Adresse angaben, brachten ihren Dank zum Ausdruck, ohne zu schreiben, was sie empfangen hatten. „Vielen Dank für das herrliche Geschenk! Es war die schönste Gabe, die uns je geschickt worden ist!“ Im Anfang wurde etwa jede vierte Bibel von der rumänischen Post an die Absender zurückgeschickt. In neues Papier verpackt und nochmals an dieselbe Adresse aufgegeben, erreichten gewöhnlich auch hier etwa drei von vier Bibeln noch ihr Ziel. So lief diese Arbeit für mehrere Monate ganz erfolgreich. Doch plötzlich kamen fast alle Bibeln wieder zurück. Die rumänischen Behörden hatten herausgefunden, daß Bibeln von Dänemark in ihr Land geschickt wurden und ließen diese nicht mehr durch. Wir besprachen das Problem und beschlossen zu probieren, ob die Bibeln wieder ihr Ziel erreichen würden, wenn wir sie von anderen Ländern aus abschickten. Ein Freund in Israel bot uns Hilfe an. Also sandte ich ihm Bibeln und Adressenlisten, damit er von dort aus mit freiwilligen Helfern das Versenden vornehmen konnte. Während die wenigen Bibeln, die wir zur Probe weiterhin von Dänemark aus sandten, alle zurückkamen, erreichten in den nächsten Monaten fast alle von Israel aus geschickten Bibeln ihre Empfänger. Doch dann begannen auch diese zurückzukommen. Als nächstes fanden wir Freiwillige in Schweden und sandten von dort aus Bibeln nach Rumänien. Wiederum erreichten sie für mehrere Monate fast alle ihr Ziel, bis sie plötzlich auch von dort alle zurückkamen. Fast zwei Jahre spielten wir mit den rumänischen Behörden das Spiel: „Findet heraus, von woher sie jetzt kommen!“, bis es dann so weit war, daß wir fast alle Bibeln wieder zurückbekamen, ganz gleich, von welchem Lande aus wir sie auch sandten. Da der Druck der rumänischen Regierung auf die Christen in ihrem Lande sich immer mehr verstärkte, bekamen wir auch kaum noch Adressen. Obwohl sie weiterhin großes Verlangen nach Bibeln hatten, wagten es nur noch wenige Gläubige, die Risiken auf sich zu nehmen, denen sie sich aussetzten, wenn diese verbotenen „Propagandaschriften“ per Post an ihre Adressen geschickt wurden. Deshalb standen wir plötzlich vor einer neuen Schwierigkeit: Wir erhielten weiterhin Geld, das für Bibeln nach Rumänien bestimmt war, aber wir waren trotzdem nicht mehr in der Lage, den Tausenden von Gläubigen in diesem Lande, die nie eine Bibel besessen hatten, eine zukommen zu lassen. Nach und nach lernten wir aus unseren Fehlern. Unsere bisherige Methode hatte nicht nur die Empfänger der Bibeln oft in eine schwierige, manchmal sogar gefährliche Lage gebracht, sondern es war eigentlich auch sehr teuer gewesen, die Bibeln zu versenden, wenn man einmal das Porto und das Packmaterial sowie die Zeit, die zum Verpacken und Versenden jeder einzelnen Bibel nötig war, betrachtete. Außerdem wurde in uns der Wunsch wach, mit den Christen in Rumänien in engere Verbindung zu kommen. Auch wenn es möglich gewesen wäre, Bibeln ohne Schwierigkeit nach dort zu schicken, war es doch etwas anderes, wenn man die Empfänger selbst kennenlernen konnte. In mir wuchs immer mehr die Überzeugung, daß dieses Kennenlernen nicht nur zur Gemeinschaft und um besser helfen zu können wünschenswert war, sondern daß es absolut notwendig war, um die Tatsache der Einheit des Leibes Christi in der ganzen Welt dadurch zu demonstrieren und zu praktizieren. Keine Sperren und Hindernisse sollten es fertigbringen, die Gotteskinder im Osten von denen im Westen zu trennen. In der Zwischenzeit hatte ich auch erfahren, daß die Lage in Rumänien keineswegs einmalig war. In Bulgarien und Rußland war es wahrscheinlich sogar noch schlimmer. Ich kam dahin, daß ich Tag und Nacht zu Gott betete: „Herr, was können wir tun? Die bisher gebrauchten Methoden können wir nicht länger verwenden.“ Als ich eines Tages auf meinen Knien wieder für dieses Anliegen betete, schien es mir, als ob der Geist Gottes sagte: „Ich bin nicht der Gott der Traditionen, sondern der Gott des Lebens!“ Im Geiste sah ich einen tiefen und mächtigen Strom. Ein Erdrutsch hatte seinen Weg verschüttet, doch die Kraft der Strömung konnte nicht aufgehalten werden. Während das Wasser das Hindernis umspülte, fand der Strom ein neues Bett und bahnte sich seinen Weg durch Erdmassen und Felsen. Dieses Gesicht machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich, der so stark war, daß er von nun an meine ganze Einstellung zum Dienst für Christus immer neu beeinflußte. In meinem Herzen war die tiefe Gewißheit, daß Gott sagen wollte: „Wenn du mit Mir gehst, wirst du erfahren, daß es in deinem Leben immer neue Wege gibt. Ich werde dir Dinge zeigen, von denen du noch nicht einmal gedacht hast, daß sie möglich wären.“ Von da an begann ich nach neuen Methoden zu suchen, um Bibeln in den Osten zu bringen und die vielen Gläubigen in kommunistischen Ländern, die um ihres Glaubens willen leiden mußten und deshalb arm waren, mit Geldmitteln zu versorgen. In diesen Anfangszeiten unseres Werkes hatte ich Bruder Andrew und die vielen anderen, die auch für die Gläubigen im Osten arbeiteten, noch nicht kennengelernt; mir waren auch die Mittel und Wege nicht bekannt, die von ihnen benutzt wurden. Wir beteten und baten Gott, uns die rechten Wege zu zeigen, und wir kamen, wie schon die ersten Christen, zu der Überzeugung, daß wir Gott mehr gehorchen mußten als den Menschen. Dies sollte für die Zukunft die Regel sein, von der wir uns leiten lassen wollten. Wo immer es uns möglich war, den Willen Gottes zu tun, ohne gegen menschliche Gesetze zu verstoßen, würden wir uns selbstverständlich daran halten. Doch wenn immer eine kapitalistische oder kommunistische Regierung Gesetze erließ, die uns, wenn wir uns danach richteten, daran hinderten, den Willen Gottes zu tun, dann war uns klar, was wir zu tun hatten; und auch unser Gewissen würde sich dadurch nicht belastet fühlen. Von diesem Grundsatz aus taten wir von nun an unser Werk in Osteuropa. Wir versuchten nun, in den kommunistischen Ländern Gläubige zu finden, die als Zwischenstationen zur Verteilung der Bibeln dienen konnten. Da ich der Gründer unserer Mission gewesen war, fiel mir die Aufgabe zu, solche Kontakte herzustellen. Während meiner Reisen in Osteuropa versuchte ich auch die Anschriften von Pastoren und von Familien Gefangener und Märtyrer herauszufinden, die in finanziellen Nöten waren, damit wir sie mit den nötigen Geldmitteln versorgen und unterstützen konnten. Unsere Mission hatte in den vergangenen Jahren in anderen Ländern Osteuropas gearbeitet. Diese erste Reise nach Rußland hatten wir zu dem Zweck unternommen, um unsere Arbeit auch auf dieses Land auszudehnen. Während ich als Verhafteter in jener Nacht auf dem Bett des Hotelzimmers in Brest lag, waren meine Gedanken noch einmal über die zurückliegenden Jahre dahingeglitten. Welch ein Wandel hatte sich doch in meinem Leben vollzogen: Aus einem Pastor war laut Beschuldigung der russischen Polizisten ein „Spion, Dieb und Räuber“ geworden. Ich überdachte nochmals sorgfältig jeden Schritt, der mich zu diesem Dienst hinter dem Eisernen Vorhang und nun auch in den Gewahrsam der Sowjets gebracht hatte. Ich fragte mich und auch den Herrn, ob ich vielleicht meinen eigenen Weg gegangen war und meinen eigenen Plänen und nicht mehr Seinem Willen folgte? Waren meine augenblicklichen Schwierigkeiten vielleicht meine eigene Schuld? Vielleicht litt ich hier gar nicht um Christi willen, sondern war in ein übles Abenteuer hineingeraten, das ich mir selbst eingebrockt hatte. War es falsch, Bibeln vor den Augen der Behörden zu verstecken? Als sie bei unserer Einreise unser Auto auseinandernahmen, hatten die Wachen überall nachgeschaut, nur an dem einen Platz nicht, wo wir die Bibeln versteckt hatten. Dies war nicht meiner Klugheit zu verdanken. War es nicht Gott gewesen, der die Bibeln davor bewahrt hatte, gefunden zu werden? Warum hatten sie dann die drei gefunden, die wir an die Straße gelegt hatten? Wenn Gott sie an der Grenze bewahrt hatte, warum waren sie dann nicht in die Dörfer gekommen, wo sie benötigt wurden? Konnte ich Gott nicht auch für die Bibeln vertrauen, die sie gefunden hatten? Hatte ich etwas Falsches getan? Meine Ankläger waren nicht in der Lage gewesen, mir eine Gesetzesübertretung nachzu- weisen. Ich hatte darüber ein ruhiges Gewissen. Doch auch wenn ein Gesetz das Hereinbringen von Bibeln verbieten würde, war ich fest davon überzeugt, daß es in den Augen Gottes ein Greuel wäre, einem solchen Gesetz zu gehorchen. Ich hatte richtig gehandelt, dessen war ich sicher, ganz gleich, welche Folgen mir jetzt daraus erwachsen würden. Doch eben diese möglichen Folgen waren es, die mich bedrückten. Irgendwie wollte sich immer ein Kloß in meinem Hals festsetzen, wenn meine Gedanken zu diesem Punkt zurückkehrten. Ich hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß ich bereit war, ein Märtyrer für die Sache Christi zu werden, wenn es nötig werden würde. Nun konzentrierten sich meine Gedanken auf die vier gewichtigen Wörter: „Wenn es nötig ist.“ Während ich noch über die Bedeutung dieses Satzes nachdachte, entdeckte ich, daß ich Furcht hatte. 3 Der Preis des Gehorsams Nach einem ruhelosen und sorgenbeladenen Schlaf wachten Bent und ich am nächsten Morgen zeitjg auf. Nachdem wir uns gewaschen und angezogen hatten, lasen wir unsere Bibeln und beteten zusammen; dabei befahlen wir uns und unsere Lieben daheim der Fürsorge Gottes an. Während wir, unter Hausarrest stehend und abgeschnitten von der Außenwelt, auf das Verhörteam warteten und aus dem Fenster unseres alten Hotels auf Brest hinabschauten, wo alle emsig ihren Verrichtungen nachzugehen schienen, wurde uns der Ernst unserer Lage immer mehr bewußt. Da man uns gesagt hatte, wir sollten im Zimmer bleiben, bis die Beamten eintrafen, und wir nicht wußten, wann dies sein würde, wagten wir es nicht, den kurzen Gang zum Bahnhof zu machen, um ein Frühstück zu bekommen. Während wir so warteten, dachten wir an unsere Familien und fragten uns, wie lange es dauern würde, bis sie sich um uns Sorgen machten und begannen, auf unserer Reiseroute nachzuforschen. Wir wurden hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf baldige Freilassung und der Befürchtung einer langen Gefangenschaft, und baten Gott, uns Kraft zu geben, damit wir alles, was uns nach Seinem Willen widerfahren würde, ertragen konnten. Es bewegten uns einfach zu viele gewichtige Dinge, um unseren Hunger groß zu fühlen. Doch während aus den vergehenden Minuten langsam Stunden wurden, begannen wir durstig zu werden. Da wir nicht wußten, wie das Wasser in unserem Raum beschaffen war, wagten wir nicht, davon zu trinken. Es war nahezu 10.30 Uhr, als an unsere Tür geklopft wurde. Noch ehe wir antworten konnten, ging die Tür auf. Vier Männer und eine Frau drängten sich in das kleine Zimmer. Dies war offensichtlich eine Gruppe von Spezialisten, die gekommen waren, um uns zu verhören. Ihre Geübtheit in solchen Dingen war bald zu erkennen. „Sie sind Neerskov?“ fragte ein intelligent aussehender junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit im typischen russischen Stil kurzgeschnittenen blonden Haaren. Er schaute mir gerade in die Augen und hatte einen sehr offenen Gesichtsausdruck. Der Ton seiner Stimme war freundlich, deshalb vermutete ich, sie wollten eine andere Taktik anwenden als die Beamten am Tag vorher, die uns unfreundlich behandelt und angeschrien hatten. Ich nickte. „Ich bin Ihr Übersetzer“, sagte er und streckte mir seine Hand hin, ohne jedoch seinen Namen zu nennen. Sein Englisch war viel besser als meines, besonders seine Aussprache. Nachdem er auch noch Bent die Hand geschüttelt hatte, sagte er zu ihm: „Sie gehen mit denen“, dabei deutete er auf die große schlanke Frau mit einer langen und scharfen Nase, die ziemlich männlich gekleidet war, und einen muskulösen Mann mit stechenden Augen, der schon grauhaarig wurde und etwa 50 Jahre alt zu sein schien. Er trug einen schäbigen russischen Anzug mit ausgebeulten_ Hosen und war ohne Krawatte. „Wir haben einen anderen Raum im Erdgeschoß zur Verfügung“, sagte die Frau und forderte Bent auf, ihr zu folgen. Ich bemerkte, daß auch ihr Englisch sehr gut zu sein schien. „Setzen Sie sich und machen Sie sich's bequem“, übersetzte mir der Dolmetscher die Worte des Mannes, der mich offensichtlich verhören wollte. Er schien etwa sechzig Jahre zu zählen, sah plump aus und hatte volle Backen. Seine wachen Augen betrachteten mich genau und wanderten anschließend durch das ganze Zimmer. Dann zogen sie sich ein wenig zusammen. Ich vermutete, daß dies ein freundliches Lächeln sein sollte, doch wurde dadurch nur noch der wie seltsam gefroren wirkende Ausdruck seines Gesichts unterstrichen. Der vierte Mann der Gruppe, der augenblicklich nur aufmerksam zuhörte, schien der Führer zu sein. Häufig verließ er den Raum und kam bald darauf zurück. Scheinbar stimmte er die Fragen der beiden Gruppen untereinander ab, dabei immer wieder auf Bcnts und meine Antworten zurückgreifend. Er schien etwa vierzig Jahre zu sein, war sehr groß und breit, mit scharfen Gesichtszügen und stählernen Augen. Ich hätte ihn mir als jüngeren Mann leicht als Basketballspieler vorstellen können, vielleicht auch als Diskus- oder Speerwerfer; doch jetzt hatte er ziemlich viel Übergewicht. Zuerst wurden mir so harmlose Fragen gestellt wie: Ob mir Rußland gefallen habe? Wie lange ich hier gewesen sei? Ob dies mein erster Besuch war? Und warum ich gekommen sei? Dann erinnerte der Beamte mich daran, daß ich festgenommen war, weil ich Bibeln in das Land gebracht hatte, und fragte dann, ob dies wahr sei. Hatte ich wirklich Bibeln nach Rußland gebracht? Bereitwillig gab ich dies zu. „Wußten Sie nicht, daß dies verboten ist?“ fragte er. „Mir ist kein Gesetz bekannt, das verbietet, Bibeln als Geschenke mitzubringen“, antwortete ich. Er war offensichtlich darüber informiert, daß ich auf die Gesetzmäßigkeit meines Tuns schon vorher bestanden hatte, und blieb nicht weiter bei diesem Punkt stehen. An der Art, wie er die Frage beiseiteschob und sich anderen Punkten zuwandte, erkannte ich, daß mein Schicksal nicht von Fragen der Gesetzmäßigkeit, sondern von ihrem guten oder schlechten Willen abhing. Ich war völlig ihrer Gnade ausgeliefert. „Sie haben vorgegeben, als Tourist in unser Land zu kommen“, sagte er schnell. „Sie hätten wirklich nichts anderes sein sollen als ein Tourist, dann hätten Sie jetzt keine Schwierigkeiten. In Wahrheit aber haben Sie Ihre Absichten genauso verborgen wie Ihre Bibeln. Sie haben uns nicht gesagt, daß Sie ein Christ sind und schädliche Propagandaschriften zu unseren Bürgern bringen wollten. Sie haben gehandelt wie ein feindlicher Spion.“ „Das ist nicht wahr“, wandte ich ein. „Als ich an der Grenze Ihr Land betrat, erzählte ich dem Übersetzer von Intourist - er war der erste Russe, dem ich dort begegnete daß ich ein Christ bin, und sprach mit ihm über Gott.“ Überrascht schaute er auf: „Davon wissen wir ja gar nichts. Was haben Sie dort gesagt?“ „Ich fragte ihn, ob er an Gott glaube, und er antwortete, er glaube nicht an Dinge, die er nicht verstehen könne. ,Glauben Sie, daß das Universum endlos ist1, fragte ich ihn. ,Ja, sonst müßten wir ja fragen, was dahinter liegt“, war seine Antwort. Ich fragte ihn daraufhin, ob er dies verstehen könnte, und er mußte zugeben, daß dies nicht der Fall sei. Dann meinte er, er denke zu sehr wissenschaftlich, um an Dinge zu glauben, die er nicht sehen könne. Ich wies ihn daraufhin auf eine ganze Anzahl Dinge hin, an die er glaubte und die er doch nicht sah. Dann sagte ich: ,Sie können kein echter Wissenschaftler sein, wenn Sie nicht an Gott glauben.“ Sie sehen also, ich habe meine Meinung und Absichten nicht verborgen, wie Spione dies tun.“ Er hatte zwischendurch einmal seinen Mund geöffnet, als ob er mich unterbrechen wollte; doch ich hatte einfach weitergeredet. Jetzt meinte er stirnrunzelnd: „In der Sowjetunion ist es verboten, auf diese Weise über Gott zu reden. Auch unseren Bürgern ist religiöse Propaganda nur in den lizensierten Kirchen gestattet. Für Besucher ist sie sogar völlig verboten.“ „Aber Christus hat uns beauftragt, daß wir in alle Welt und zu allen Menschen gehen sollen und überall sagen, daß Er für unsere Sünden gestorben ist. Wir Christen werden auch dann fortfahren, Ihm zu gehorchen, wenn Sie uns das verbieten.“ „Dann müssen Sie auch die Konsequenzen dafür tragen“, antwortete er scharf und ließ plötzlich seine bisher vorgegebene Freundlichkeit fallen. „Sie wissen sicherlich, daß Sie unsere Gesetze mißachtet und ein schweres Verbrechen begangen haben. Sie können unter Umständen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden, wenn ich nicht ein gutes Wort für Sie einlege, wenn Sie mit uns Zusammenarbeiten.“ Mir stockte der Atem und mein Herz begann so laut zu pochen, daß ich glaubte, sie würden es hören. Zehn Jahre! Bluffte er jetzt nur? Gestern schien mir ziemlich gewiß zu sein, daß sie nur blufften, aber jetzt wurde ich unsicher. Offensichtlich hatte ich den Ernst unserer Lage unterschätzt. Aber zehn Jahre?! Sorgfältig beobachtete er mich und mir wurde klar, daß er meine Reaktion bemerkt hatte. Ich begann, mich über mich selbst zu ärgern, weil ich meine Furcht verraten hatte, und beschloß, den verlorenen Boden wieder gutzumachen. „Es gibt Millionen von Christen im Westen“, sagte ich fest, und versuchte zu verhindern, daß meine Stimme bebte. „Welchen Nutzen sollte es haben, wenn Sie zwei von uns ins Gefängnis stecken? Und auch wenn Sie ein offizielles Gesetz dagegen erlassen, werden wir doch nicht aufhören, Bibeln in Ihr Land zu bringen. Denn niemand hat das Recht, die Christen daran zu hindern, ihr Handbuch zu besitzen.“ „Ihr Land würde es nicht erlauben, wenn ich kommunistisches Propagandamaterial zu seinen Bürgern brächte, oder?“ rief er ungehalten. Der Ausdruck seines Gesichts machte mir klar, daß er glaubte, was er sagte, und daß er es mit seinen Beschuldigungen ehrlich meinte. Nach seiner Denkweise hatte ich wirklich ein großes Verbrechen begangen.. „Sie können alle kommunistische Literatur bringen, die Sie bringen wollen“, antwortete ich. Ich hatte das Gefühl, mit ihm jetzt besser argumentieren zu können, da ich seine Art zu denken nun besser verstand. „Sie können Ihre Schlagworte in unseren Straßen ausrufen und Ihre Überzeugung in unseren Zeitungen als Anzeigen aufgeben und so viel von Ihrer Literatur in Dänemark veröffentlichen, wie Sie nur wünschen.“ Ungläubig schaute er mich an. „Und die Zensoren? Soll ich glauben, sie würden mir dies einfach alles gestatten?“ Zorn lag jetzt in seiner Stimme, als ob er mich davor warnen wollte, ihn anzulügen. „Zensoren?“ fragte ich zurück, und es gelang mir, echte Überraschung in meine Stimme zu legen. „Was ist das? Wir haben keine solchen Leute in Dänemark. Wir leben in einem freien Land und fürchten uns nicht vor Ihrer Propaganda. Jeder in Dänemark hat das Recht, seine Meinung zu sagen und zu glauben, was ihm gefällt.“ Ich wünschte, ich hätte ihm erklären können, welches Gefühl der Unterdrückung statt dessen in seinem Lande auf mir lastete, doch ich wagte es nicht. Dieses Gefühl hatte mich auch am Abend vorher veranlaßt, das russische Neue Testament aus meinem Hemd zu nehmen und unter der Matratze meines Bettes zu verstecken. Ein etwas verwirrter Ausdruck schien auf seinem Gesicht erscheinen zu wollen, so, als sei er nahe daran, mir zu glauben. Doch dann kam der schlaue Blick von vorher zurück und er änderte das Gesprächsthema. Plötzlich ergriff mich das entmutigende Gefühl, daß wir uns nie verstehen würden. Er konnte mir nicht glauben - wir lebten in zwei verschiedenen Welten. Meine Gedanken beschäftigten sich mit der Möglichkeit der Gefangenschaft. Gestern hätte ich die Drohung noch nicht ernst genommen, doch jetzt glaubte ich ihm. Ich hatte zu kämpfen, damit mein Gesicht nicht verriet, daß ich mich fürchtete. Und dieser Kampf kostete mich fortwährend Kraft, so daß ich mich bald schwach und übel fühlte. „Sie haben in Dänemark eine Staatskirche“, sagte er. „Also sind Sie gar nicht so frei, wie Sie mir erzählen wollen. In der russischen Verfassung sind Staat und Kirche voneinander getrennt.“ „Müssen die Kirchen in Rußland nicht von der Regierung lizensiert werden?“ fragte ich. „Sicher“, antwortete er. „Wie können Sie dann sagen, daß Kirche und Staat getrennt sind? Neben der Staatskirche haben wir in Dänemark noch viele andere Kirchen. Doch auch in der Staatskirche hat man die Freiheit, sich zu versammeln wo und wann man möchte, das zu predigen, wovon wir glauben, daß es der Wille Gottes ist, und die eigenen Pastoren zu wählen. Der Staat mischt sich in all diese Dinge nicht hinein. Doch in Ihrem Land kontrolliert die Regierung fortwährend die Kirchen. Die Vertreter der Kirchen werden ins Gefängnis gebracht, Kirchen werden geschlossen, den Pastoren wird vorgeschrieben was sie predigen dürfen, die Christen werden gehindert über Gott zu reden oder zu Ihm zu beten, außer in ihren Kirchen und Kapellen. Und das nennen Sie Trennung von Kirche und Staat?“ Er schaute mich unbehaglich an, und der Dolmetscher schien über meinen Mut erschrocken zu sein. „Wir drucken doch in Rußland Bibeln, warum wollten Sie dann noch weitere aus Ihrem Land hierher bringen?“ wollte er wissen. „Weil es in der Sowjetunion Tausende von Christen gibt, die keine Bibel bekommen können. Ihre Regierung druckt nur ganz wenige. Christus hat gesagt, daß die Menschen nicht vom Brot allein leben sollen, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. Die Bibel ist das Wort Gottes und alle Menschen benötigen es für ihr Leben, wenn sie mehr sein wollen als nur Tiere.“ Ich war mittlerweile fest entschlossen: Wenn ich schon ins Gefängnis zu gehen hatte, dann wollte ich noch tun was ich konnte, um diese beiden Männer auf den Weg zum Himmel zu bringen. Eine lange Reihe von Fragen folgte: Wo hatte ich die Bibeln herbekommen? Wer druckte im Westen russische Bibeln? Wie viele Bibelgesellschaften gab es? Stimmten sie ihre Bemühungen untereinander ab? Wie wurden sie finanziert und von wem geleitet? Ich beantwortete jede Frage so wahrheitsgemäß, wie ich es aufgrund meines beschränkten Wissens konnte. Sie hatten offensichtlich unsere Missionsadresse in Bents Bibel nicht mit uns in Verbindung gebracht. Wenn sie herausfanden, daß ich der Leiter dieser Mission war, dann würde es für mich wohl noch viel härter werden. Etwa gegen 14 Uhr öffnete der große und kräftige Mann wieder einmal die Tür von außen und sagte etwas, ohne ins Zimmer zu kommen. Mein Befrager und der Dolmetscher erhoben sich müde von ihren Sitzen. „Wir geben Ihnen jetzt eine Stunde Zeit um alles, worüber wir gesprochen haben, aufzuschreiben“, sagten sie mir. Sie legten Papier und einen Bleistift auf einen kleinen Tisch nahe der Tür und verließen den Raum. Ich vermutete, daß sie essen gehen wollten und mir diese Aufgabe zurückließen, damit ich mich nicht ausruhen konnte. Doch ich hatte nicht die Absicht, ihnen diesen Gefallen zu tun. Ich ärgerte mich darüber, daß sie gingen, um sich in einem Restaurant bei Essen und Trinken zu stärken, während mir vor Hunger und Durst schwindelig wurde. Fast die gesamte Stunde verbrachte ich damit, in der Bibel zu lesen und zu beten. In den letzten Minuten der Stunde begann ich, kurze Sätze in möglichst großen Buchstaben auf das Papier zu schreiben. Meine Befrager kehrten von ihrer Mittagspause zurück und machten einen erholten und gesättigten Eindruck. Sofort begannen sie, mir viele Fragen über Radiosendungen zu stellen. Ihre Äußerungen erweckten den Anschein, als ob viele Russen die christlichen Radiosendungen hörten; und obwohl die Sowjets alles taten, diese zu stören, schienen sie Anlaß ernster Besorgnis für die Behörden zu sein. Wiederum machte seine subjektive Offenheit Eindruck auf mich, als er erklärte, es sei eine unehrliche Taktik, „Propaganda, die unserem System schädlich ist“, in die Häuser der Sowjetbürger auszustrahlen und auf diese Weise jahrelange atheistische Schulung zu unterwühlen. Sein Gesichtsausdruck war während dieser Fragen so gespannt und der Ton seiner Stimme so ernst, daß ich dadurch besser als je zuvor begriff, wie wirksam die nach Rußland ausgestrahlten christlichen Radiosendungen sind. Ich begriff jetzt auch die sowjetischen Einwände, es handele sich um unfaire Einmischungen von außen, die sich gegen die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Gesellschaft richteten. Alle Bemühungen, Menschen für Christus zu gewinnen, verstand er als einen direkten Angriff auf das kommunistische System, welches nach seiner Meinung nur auf einer atheistischen Anschauung Bestand haben konnte. Anschließend konzentrierten sich die Fragen auf einen Punkt, der besonders wichtig zu sein schien: Wem hatten wir Bibeln gegeben?! Vor allem interessierte ihn, ob jemand mehr als eine erhalten hatte. Immer wieder kam er zu der Frage zurück, wie viele Bibeln wir jedem einzelnen gegeben hatten. Der große, kräftige Mann pendelte wieder zwischen den Zimmern, in denen Bent und ich verhört wurden, hin und her und machte einen beunruhigten Eindruck. Plötzlich fiel mir ein, daß Bent mir am Abend vorher auf dem Weg zum Bahnhof mitgeteilt hatte, er habe im Zollhaus verraten, daß wir einem Mann zehn Bibeln gegeben hatten. Da ich dies bisher nicht bestätigt hatte, schien hier eine ernstzunehmende Differenz zwischen unseren Aussagen vorzuliegen. „Mir fällt gerade ein, daß wir jemand zehn Bibeln gaben“, sagte ich endlich, als meine Vermutungen, daß es das war, was sie zu hören wünschten, immer größer wurden. Das Gesicht meines Befragers schien sich augenblicklich zu entspannen. „Endlich machen wir Fortschritte“, waren vielleicht seine Gedanken. „Die Identität dieses Mannes ist von größter Wichtigkeit für uns“, sagte er ernst. Er lehnte sich ein wenig näher zu mir und seine Stimme bekam einen vertraulichen, ja fast fürsorglichen Ton. „Wenn ich dem Richter sagen kann, daß Sie mit uns zusammengearbeitet haben und ein gutes Wort für Sie einlege, dann wird das sicherlich zu einem wesentlich niedrigeren Urteil beitragen. Können Sie sich an den Namen des Mannes erinnern?“ Ich gab mir den Anschein, ernstlich zu überlegen und antwortete nachdenklich: „Ich bin nicht einmal sicher, ob er seinen Namen überhaupt gesagt hat.“ „Wo haben Sie ihn getroffen?“ „Ich glaube, in Minsk.“ „Wo, in Minsk?“ „Daran erinnere ich mich nicht genau.“ „Beschreiben Sie den Mann, es ist für uns beide von äußerster Wichtigkeit.“ So und ähnlich gingen die Fragen weiter. Der Beamte schien fest entschlossen, die Identität des Mannes aus mir herauszubekommen, und ich war gleichermaßen entschlossen, ihn nicht zu verraten. Ich hatte mir fest vorgenommen, lieber zu sterben, als dies zu tun. Ich werde diesen Mann nie vergessen; das Licht, das in seinen Augen aufleuchtete, als er die Bibeln sah, die Tränen der Freude, die seine Wangen hinunterliefen und die Art, wie er uns umarmte. Wir fühlten uns durch die göttliche Liebe miteinander verbunden, und vor überfließender Freude mußten wir gemeinsam lachen, obwohl unser Treffen im Geheimen stattfand und nur kurz sein konnte. Allein das Erlebnis des Kennenlernens dieses Mannes würde mir lebenslang im Herzen eingegraben bleiben. In all meinen Antworten konnte ich es erfolgreich vermeiden, ihn zu verraten. Gegen 18 Uhr schaute mein Befrager auf seine Uhr und stand gähnend auf. Wahrscheinlich wollten sie wieder eine Pause einlegen und vielleicht sogar Abendbrot essen. Doch mir wollten sie keine Ruhe gönnen. „Sie bekommen nochmals eine Stunde“, übersetzte der Dolmetscher, „um alles genau niederzuschreiben, was Sie getan haben, seit Sie die Sowjetunion betraten. Wir möchten genau wissen, wohin Sie gegangen sind, mit wem Sie gesprochen haben, wem Sie Bibeln gaben - alles ganz genau.“ Er zog einige Bogen eines billigen gelben Papiers aus seiner Aktentasche, legte sie auf den kleinen Tisch neben der Tür und verließ den Raum. Ich schaute auf meine Uhr und beschloß, 45 Minuten mit Bibellesen und Gebet zu verbringen. In den restlichen 15 Minuten wollte ich einen Bericht aufschreiben', der sehr kurz werden würde. Da ich annahm, daß Bent ebenfalls schreiben mußte, hoffte ich nur, daß unsere peinlich genauen Befrager in den beiden Berichten keine Widersprüche finden würden, die sie veranlassen konnten, uns dieserhalb neue Fragen vorzulegen. Allein der Gedanke an ein weiteres Verhör ermüdete mich. Wie lange würden sie noch fortfahren damit, ohne mir zumindest etwas zu trinken zu geben, um den brennenden Durst in meinem Hals zu mildern? Ich öffnete die Bibel. Aber es hatte keinen Sinn zu lesen. Meine Gedanken waren weit weg in Dänemark bei Ninna und den Kindern. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich sah Ninna vor mir, gerade so, wie sie ausgesehen hatte, als ich sie zum ersten Mal bewußt sah, und meine Gedanken gingen zurück zu diesem Tag. Ich war damals Ältester in einer kleinen Gemeinde und tat den meisten Predigtdienst, da unser Pastor schon recht alt war. An diesem besonderen Sonntag bemerkte ich, daß im Chor ein neues Mädchen mitsang. Sie hatte sehr fröhliche Augen und ihr Gesicht schien das auszudrücken, was die Worte, die sie sang, ihr selbst bedeuteten. Von dem Tage an beobachtete ich sie beim Singen besonders, doch mir war noch nicht bewußt geworden, daß mein Interesse an ihr tiefer ging. Dann kam ein Sonntag, an dem sie fehlte, und da fühlte ich eine seltsame bittersüße Leere in mir. Als ich fragte, erfuhr ich, daß sie eine Urlaubsreise unternahm. Als sie zwei Wochen später zurück war, bat ich sie um eine Unterhaltung. Wir hatten bis dahin nie mehr als einige Worte im Vorbeigehen miteinander gesprochen. Wir fuhren langsam durch die Straßen Kopenhagens und ich suchte nach Worten, um das auszudrücken, was in meinem Herzen war. Ich war immer zu sehr mit dem Dienst für den Herrn beschäftigt gewesen, um eine Freundschaft mit Mädchen zu beginnen. Doch in meinem Herzen wußte ich, daß der Herr mir zu Seiner Zeit die richtige Frau für mein Leben zeigen würde. Nun hatte Er mir deutlich gesagt, daß Ninna die Richtige war. Während ich am Hotelfenster saß und auf Brest hinabschaute, hörte ich mich wieder sagen: „Ninna, ich glaube, der Herr hat uns beide füreinander bestimmt. Denkst du auch so?“ Wieder sah ich, wie die Röte in ihr Gesicht gestiegen kam, wie sie schneller atmete und wie dann ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht überzog. Sie nickte. Ihre ausdrucksvollen Augen sagten mir, daß Gott ihr dies auch schon klargemacht hatte. Bilder von unserer einfachen Hochzeitsfeier standen vor meinen Augen. Und dann - unsere Kinder. Pausbäckige und rosawangige Babys in Ninnas Armen. Dann lernten sie gehen und sprechen. Wie schnell sie doch gewachsen waren. Der Älteste war schon acht Jahre alt - zwei Jungen und ein Mädchen. Ich wandte mich vom Fenster weg und weinte bei dem Gedanken, wenn ich im Gefängnis wäre, so lange ohne sie sein zu müssen. Ich würde es nicht aushalten können. Ich schämte mich, dies zugeben zu müssen, aber es war die Wahrheit. Ich war kein Held. Aber war das nicht Liebe? Sollte ich mich der Liebe wegen, die Gott mir für sie gegeben hatte, schämen? Oder war es etwa nur Furcht vor meinem eigenen Schicksal, die mich so sehr peinigte? Kannte ich mein eigenes Herz überhaupt? Ich fiel am Bett auf meine Knie, bekannte unter Schluchzen dem Herrn meine Verwirrung, sagte Ihm, wie sehr ich meine Familie liebte und bekannte, daß ich mich vor mir selbst fürchtete. Dann bat ich Ihn um Kraft. Doch die Pein, die ich fühlte, wuchs noch. Gott schien zu fragen: „Wie sehr liebst du Mich? Bist du bereit, dich von allem, was du liebst, zu trennen, wenn dies mein Wille ist?“ Getrennt zu sein von allem, was ich liebte? Diese Frage setzte alles in neues Licht. Plötzlich erkannte ich eine ganze Reihe von Dingen, die ich sehr liebte. Die neue Wohnung, die wir vor nicht allzulanger Zeit bezogen hatten. Sie war gerade so, wie wir sie uns immer gewünscht hatten, aber mir war nie bewußt geworden, daß ich sie liebte. Konnte dies wahr sein? Die Rosen im Garten? Ja, ich liebte die Rosen sehr; sie hatten mir mehr bedeutet, als ich mir klargemacht hatte. Ohne sie würde das Gefängnis noch schwerer zu ertragen sein. Ich konnte sie nicht länger gießen und düngen, beschneiden und die schönsten Blüten abschneiden, um Ninna einen schönen Strauß zu bringen und beobachten, wie sie an ihnen roch und ihre Freude zum Ausdruck brachte und sie dann in einer Vase schön arrangierte, so daß sie das Zimmer verschönten und ihr Duft das ganze Haus erfüllte. Und die Bücher! Auch sie liebte ich, die in Hunderten von Bänden aufgereiht in den Regalen standen. Ich liebte den Gedanken, sie Besuchern zeigen zu können, oder zu jederzeit eines von ihnen herauszunehmen, mich in meinen Lesesessel zu setzen und diesen oder jenen Abschnitt zu lesen. Ich war stolz auf meine Bücher, und im Gefängnis würde ich sie sehr vermissen. Und ich liebte es, Pastor zu sein. Der Grund, daß ich nicht der Vater und Gatte war, der ich sein sollte, lag vielleicht darin, daß ich noch so viele andere Dinge liebte und nicht genug Zeit hatte für die, denen meine größte Liebe gehörte: Ninna und die Kinder. Ich vernachlässigte meine wichtigste Aufgabe, weil ich zu vielen anderen nachging. Oft war ich auch ärgerlich über sie gewesen. Sogar dann, wenn ich gepredigt hatte, daß man unter der Kontrolle des Heiligen Geistes leben sollte, geriet nachher mein eigenes Temperament manchmal aus der Kontrolle. Ja - sogar vor allem dann, wenn ich darüber gepredigt hatte. Welchen Nutzen hatte das, wenn ich etwas in meinem Kopf wußte und nachher in meinem Leben nicht verwirklichen konnte? „So steht es mit mir und meinem Leben“, schluchzte ich zum Herrn. „Ich habe gepredigt über Übergabe an Dich, muß aber bekennen, daß ich nicht bereit bin ins Gefängnis zu gehen. Ich bin nicht bereit, meine Frau und meine Kinder dranzugeben, noch nicht einmal meine Rosen und meine Bücher. Zuvor habe ich manchmal zu Dir gesagt: ,Nicht mein Wille, sondern Deiner soll geschehen' - doch ich habe es nur mit meinen Lippen gesagt, nicht mit meinem Herzen. Deshalb kann ich jetzt nur sagen: ich komme zu Dir und bitte Dich, mache mich von Herzen bereit, Deinen Willen zu tun, was immer Dein Wille sein wird.“ Ich gab es auf, weiter zu beten und Ihm weiter mein Leben zu übergeben. Gott selbst mußte mir nicht nur die Kraft geben, die mich durch das Gefängnis trug, Er mußte mir auch die Kraft geben, bereit zu sein, dies alles aus Seiner Hand hinzunehmen. Nachdem ich nun aufgehört hatte, zu Ihm zu reden, sprach Er mit mir. Plötzlich stand der Vers in meinen Gedanken: „Der um den Preis der Freude, die Ihn erwartete, den Kreuzestod erduldete“ (Hebräer 12, 2). Dies war das Geheimnis! Ich hatte mich Ihm übergeben wollen wie ein Held, doch Gott hatte mich nicht darum gebeten, ein Held zu sein. Er hatte mich nur gefragt, ob ich bereit war zu glauben, daß Sein Wille das Beste für mich ist, und daß die Belohnung, die Er mir dafür geben würde, größer war als alles, was ich dieserhalb würde opfern müssen. Plötzlich wußte ich es in meinem Herzen ganz deutlich - so deutlich, wie ich um meine eigene Existenz wußte: Ich wollte, daß Gottes Wille geschah. Gottes Willen zu verfehlen, bedeutete das Leben selbst zu verfehlen. Alles andere bedeutete den Tod, ganz gleich, wie attraktiv es auch verpackt war. Mich unter Seinen Willen zu stellen bedeutete nicht heldenhaftes Opfer, sondern gläubige und vertrauensvolle Annahme dessen, was die unendliche Liebe und Weisheit für mich als das Beste beschlossen hatte. Und wenn dies das Gefängnis bedeutete, dann wollte ich über alle anderen Dinge hinaus doch in einem ruhen: in Seinem Willen. Ich stand auf, setzte mich auf den Bettrand und ergriff meine Bibel. Sie lag aufgeschlagen da bei Jesaja 50. Ich begann hungrig zu lesen und kam zu den Worten in Kapitel 51, 7-16: „Fürchtet euch nicht vor dem Hohn^ von Menschen und erschreckt nicht vor ihren Schmähreden! ... So werden denn die vom Herrn Erlösten heimkehren und mit Jubel nach Zion gelangen, und ewige Freude wird ihr Haupt umschweben: Frohlocken und Freude werden ihnen zuteil werden, Kummer und Seufzen entflohen sein. Ich, Ich bin es, der euch tröstet: wer bist du gewesen, daß du dich vor Menschen gefürchtet hast, die doch sterblich sind, und vor Menschenkindern, die wie Gras vergehen? und daß du den Herrn vergaßest, . . . und daß du immerfort, tagaus tagein, vor der Wut des Bedrängers bebtest, . . . gar bald wird der Geknebelte entfesselt werden und wird nicht sterben . . . Ich habe meine Worte dir in den Mund gelegt und dich im Schatten meiner Hand geborgen . . .“ Es war schon fast 3000 Jahre her, daß Jesaja diese prophetischen Worte niedergeschrieben hatte, doch in meinem Herzen wußte ich auf geheimnisvolle Weise, daß sie Gottes Verheißungen für mich gerade für diesen Augenblick waren. Es handelte sich dabei nicht um einen Wunschgedanken, um eine vergebliche Hoffnung, um den Strohhalm, nach dem ich in meiner Verzweiflung griff - sondern es war etwas, das ich wußte! Vor wenigen Augenblicken war ich noch in Verzweiflung gewesen, gepackt von der Furcht, ins Gefängnis gehen zu müssen; doch jetzt war ich erfüllt von der Gewißheit, daß ich die Freiheit erlangen würde. Der lebendige Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde, hatte mir diese Gewißheit ins Herz gegeben. Ich begann wieder zu weinen, doch diesmal vor Freude! Plötzlich wurde mir bewußt, daß die Stunde fast vorüber war. Ich setzte mich an den Tisch und schrieb schnell und in groben Zügen und mit kurzen Worten meine Reiseroute auf, vom Augenblick des Grenzübertritts nach Rußland, bis hierher nach Brest. Als das Verhör wieder begann, hatte ich neue Kraft. Mit größerer Kühnheit als vorher machte ich aus jeder Antwort, die ich auf die Fragen gab, ein Zeugnis für Christus. Ich war unter Arrest, weil ich Bibeln nach Rußland gebracht hatte, und zitierte nun während des weiteren Verhörs die Bibel so oft, wie mir ein passender Bibelvers als Antwort auf die Fragen einfiel. Endlich fragte der Beamte verärgert: „Warum geben Sie immer Antworten aus der Bibel?“ „Weil sie Gottes Wort ist und allen, die daran glauben, wahres Leben bringt“, antwortete ich. „Ich kam nach Rußland, um diese Worte Ihren Bürgern zu bringen. Ich möchte sie auch Ihnen geben, damit Sie ewiges Leben empfangen. Ich möchte, daß Sie Christus kennenlernen, der in meinem Herzen lebt.“ Weder der Verhöroffizier noch der leitende Beamte, der immer die Fragen aufeinander abstimmte, schien irgendwie beeindruckt zu sein von dem, was ich ihnen von der Bibel her über Christus zu sagen versuchte. Doch ich bemerkte, daß der Dolmetscher das Wort Gottes in sich hineintrank wie ein Mann, der mitten in der Wüste plötzlich auf einen klaren, kühlen Strom gestoßen war. Später am Abend, als mein Befrager müde zu werden schien und längere Pausen zwischen den einzelnen Fragen einlegte, begann ich, dem Dolmetscher mehr über Christus zu erzählen. Ich spürte, daß sein Herz dabei war, sich zu öffnen. Mit dem Befehl, uns am nächsten Morgen für weitere Befragungen bereit zu halten, verließen uns die Beamten am späten Abend. Bent und ich liefen eiligst zum Bahnhof und konnten gerade noch, ehe er schloß, unseren Durst und Hunger stillen. „Ich glaube, sie gehen zu weit“, sagte Bent, als wir nebeneinander an der Theke des überfüllten Bahnhofsrestaurants standen und leise auf Dänisch unsere Antworten verglichen. „Wie meinst du das? Sie können alles tun, was sie wollen. Hier ist Rußland“, fragte ich. „Rußland oder nicht“, gab er zurück. „Ich weiß von meiner Erfahrung beim Militär, daß sie über die Genfer Konvention hinausgegangen sind. Fast zwei Stunden haben sie uns allein mit Fragen über die Radiosendungen, die nach Rußland ausgestrahlt werden, belästigt. Sie haben kein Recht, uns all die Fragen über westliche Organisationen zu stellen. Wir sollten unser Recht fordern, mit unserer Botschaft in Verbindung zu kommen.“ Zurück im Hotelzimmer sangen und beteten wir noch für etwa eine Stunde zusammen. Als wir dann ins Bett stiegen, erinnerte ich mich daran, daß gerade hier in Brest im Jahre 1960 die Baptisten-Gemeinde verboten worden war, weil ihre Mitglieder neue behördliche Anordnungen kritisiert hatten, die die Taufe von Jugendlichen unter 18 Jahren verboten und die „ungesunden missionarischen Aktivitäten“ eindämmen wollten. Man hatte ihnen die Kapelle weggenommen. Doch sie hatten sich, obwohl sie nun keinen Versammlungsort mehr hatten, geweigert, die Gemeinde aufzulösen. Daraufhin wurden die beiden Leiter, Trofim Feidak und Wladimir Wilchinsky, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als man sie einsperrte, hatte Mi-hail Bartochuk mutig die Führung der „illegalen“ Gemeinde übernommen. Auch er wurde dann verhaftet und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Durch meine Gedanken gingen die Namen vieler solcher Männer und Frauen in ganz Rußland, die den Preis des Gehorsams zu Gott gezahlt hatten und noch zahlten. Ein Mitgefangener mit ihnen zu sein, würde ein Vorrecht bedeuten. Der ewige Lohn, den Christus dafür anbot, würde viel größer sein, als irgendein zeitlicher Verlust, den ich erleiden konnte. Nachdem mir dies klar war und ich innerlich auch eingewilligt hatte, erfüllte aufs neue so viel Friede und Freude mein Herz, wie dies schon vorher durch die Verheißungen aus dem Propheten Jesaja geschehen war, die sagten, wir würden die Freiheit erlangen. 4 Glück im Unglück Als das Verhörteam am nächsten Morgen gegen 7 Uhr eintraf, waren Bent und ich bereit für sie. Wir hatten wieder abgestimmt, was wir sagen wollten. Diesmal achteten wir darauf, daß die Tür verriegelt war. Nachdem sie zweimal angeklopft hatten, öffnete ich die Tür etwa zur Hälfte und stand, die Hand am Türgriff, in der Öffnung, sie so am Eintreten hindernd. „Sie haben uns zwei Tage von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschlossen“, sagte ich fest, und machte keine Anstalten, sie hereinzulassen. „Wir haben kein Verbrechen begangen. Sie haben kein einziges Gesetz nennen können, das wir gebrochen hätten, und doch haben Sie uns wie Kriminelle behandelt.“ Anstatt ärgerlich zu werden, wie ich erwartet hatte, zupfte der große Mann, der ihr Leiter war, nervös an seinen vollen Wangen. Die anderen scharrten unfroh mit den Füßen und räusperten sich verlegen. „Wenn Sie uns nicht innerhalb einer Stunde freilassen“, fuhr ich mit wachsender Kühnheit fort, „werden wir Ihnen keine Frage mehr beantworten, bis wir mit der dänischen Botschaft in Moskau gesprochen haben. Sie haben die Genfer Konvention übertreten und wir werden dies unseren Behörden berichten.“ Sie gingen zurück in die Halle und berieten leise miteinander. Als sie wieder an unserer Tür standen, sagte der Dolmetscher: „Wir haben nur noch einige wenige Fragen zu stellen. Es wird keine Stunde mehr dauern, dann werden Sie freigelassen.“ Ich sah, wie ihr Leiter wieder die Stufen hinunterging. „Die Entscheidung ist zu schwer für ihn“, dachte ich. „Er wird jetzt bei einer höheren Stelle um weitere Befehle fragen.“ Bent wurde, wie schon vorher, in einen anderen Raum gebracht und ich blieb mit meiner Hälfte des Teams allein. Der mich vernehmende Beamte begann mit einigen Fragen, die er mir am Abend vorher schön einmal gestellt hatte. Doch es lag keine Betonung mehr in seiner Stimme. Es schien, als habe er das Interesse an der ganzen Sache verloren. Nach einigen halbherzigen Versuchen schwieg er. „Wenn Sie keine Fragen weiter zu stellen haben, möchte ich Ihnen gern noch einiges darüber erzählen, warum ich in Ihr Land kam“, sagte ich und begann ihnen zu erklären, wie sehr es mir am Herzen lag, daß die russischen Bürger, einschließlich der beiden Männer hier, den wahren Gott, der uns alle geschaffen hatte, kennenlernen sollten und von Jesus Christus, unserem gekreuzigten und auferstandenen Erlöser, Vergebung und ewiges Leben empfingen. Der Dolmetscher übersetzte getreulich alles, was ich sagte, ins Russische. Doch mein Befrager schien nicht interessiert zu sein. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seine Knie, stand dann auf, lief in dem kleinen Raum hin und her und blieb ab und zu am Fenster stehen, um auf Brest hinabzusehen. Seine Gedanken schienen weit weg zu sein. Allein gelassen, stellte der Dolmetscher mir nachdenkliche Fragen und verriet einen Eifer, mehr über Christus zu hören, der mich überraschte. Wir senkten unsere Stimmen und unterhielten uns ruhig und ernst in englischer Sprache, den Verhöroffizier seinen Gedanken überlassend. Der junge Russe rutschte mir auf dem Bettrand immer näher, schaute mir aufmerksam in die Augen, und sog alles, was ich ihm über Christus erzählte, in sich hinein. Ein Schimmer des Verständnisses begann sein Gesicht zu überziehen. Es war offensichtlich, daß der Same des Wortes Gottes auf fruchtbaren Boden fiel. Ich hatte am frühen Morgen das russische Neue Testament unter der Matratze hervorgezogen und in meine Jackentasche gesteckt. Während der Dolmetscher mir so eifrig Fragen über Christus stellte, erwachte in mir der Wunsch, ihm das Neue Testament zu geben. Doch ich hatte Furcht davor. Der Gedanke kam mir in den Sinn: „Wenn er nun gar nicht wirklich interessiert ist? Vielleicht ist dies nur ein Trick, um mir Informationen zu entlocken?“ Doch er stellte weiterhin nur Fragen über Christus und Gott, über die Bibel, den Flimmel und die Hölle. Der Vernehmungsoffizier stand am Fenster, drehte uns den Rücken zu und schaute auf die Stadt hinab. Jetzt kam' meine Gelegenheit! Ich griff in die Tasche, hielt das kleine Buch zwischen den Fingern und kämpfte mit mir selbst. Wenn sich der Beamte vielleicht gerade im falschen Moment umdrehte? Oder was war, wenn der Dolmetscher zu ängstlich war, das Neue Testament anzunehmen? Nein - ich war der, der sich fürchtete, und dies ergab doch eigentlich keinen Sinn. Sie wußten, daß ich Bibeln weggegeben hatte, eine mehr würde keinen Unterschied machen; und der junge Russe schien so eifrig mehr hören zu wollen und so hungrig zu sein nach dem Worte Gottes. Während ich, immer noch ängstlich, zögerte, drehte der Beamte sich um, setzte sich auf den Stuhl neben dem kleinen Tisch und beobachtete uns neugierig. Ich hatte meine Gelegenheit versäumt und machte mir heftige Vorwürfe. Vielleicht würde sich noch eine andere Chance ergeben, dann . . . Plötzlich ging die Tür auf und der Leiter der Gruppe trat ins Zimmer. Durch die offene Tür konnte ich sehen, daß Bent hinter ihm den Gang entlang kam. „Die Stunde ist um und Sie werden freigelassen“, verkündete er. Es.hörte sich so an, als sei er froh, mit der Aufgabe fertig zu sein. „Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit uns.“ Das Neue Testament lag wie ein Bleigewicht in meiner Tasche, als wir, unsere halbleeren Koffer tragend, die Stufen zur Empfangshalle hinunterstiegen. Bent und ich waren der Meinung, die Sowjetregierung sollte für unser Hotelzimmer bezahlen. Ich murmelte ihm auf Dänisch zu, wir seien „Gäste der Regierung“ gewesen, ein Ausdruck, den man im Zusammenhang mit Gefängnisaufenthalt oft gebrauchte. Doch dann bemerkte ich zu Bent, daß man in Rußland den Ausdruck wahrscheinlich falsch verstehen würde. Wir diskutierten nicht weiter über diesen Punkt, bezahlten die Rechnung und waren froh, das Hotel verlassen zu können. Draußen erfuhren wir zu unserer Überraschung, daß das Verhörteam kein Auto hatte. Ob es uns etwas ausmachen würde, drei von ihnen in unserem Wagen mitzunehmen? Der übergewichtige Ex-Athlet, dessen mächtiger Körper unser kleines Auto noch kleiner aussehen ließ, schien das erste Mal guter Laune zu sein. Lachend erklärte er, die einzige Möglichkeit für ihn, mitzufahren, sei wohl, wenn er sich auf das Dach setzte. In meinem Geist sah ich unseren Wagen unter seinem Gewicht schon auf der Straße aufliegen. Irgendwie gelang es uns, ihn neben den Dolmetscher und meinen Befrager auf den Rücksitz zu quetschen. Dann fuhren wir in Richtung Grenze. Die hintere Stoßstange hing nur noch wenige Zentimeter über der Straße. Die Rückfahrt zur Zollstelle war wie eine Szene aus einer komischen Oper. Die Russen machten gutmütig Späße mit uns, und der Berg von einem Mann ließ jedesmal den ganzen Wagen erbeben, wenn er lachte. Unsere ehemaligen Gegner gaben sich so viel Mühe, freundlich zu sein, daß man hätte denken können, wir seien eine Gruppe alter Freunde, die zusammen zum Zollhaus fuhren. Jetzt, wo fast alle Spannungen verschwunden waren, wurde ich selbst davon überrascht, zu entdecken, daß ich diesen Männern gegenüber wirklich warme Gefühle empfand. Obwohl unsere Ansichten immer noch weit auseinandergingen, hatten wir begonnen, unsere gegenseitige Ehrlichkeit zu respektieren. Unter ihrer atheistischen Ideologie, die ich verabscheute, hatte ich Menschen gefunden, die ich lieben konnte. Doch in diese schöne Erfahrung mischte sich auch ein wenig Betrübnis. Ich fühlte, daß die Freude, die ich über unsere wiedergewonnene Freiheit empfand, ein wenig verwässert wurde, weil ich diese Männer und die Freundschaft, die vielleicht zwischen uns hätte wachsen können, vermissen würde. Wir würden nicht nur durch die große Entfernung voneinander getrennt sein, sondern vor allem durch ein System, das es nicht erlauben würde, unsere verschiedenen Ansichten in Freiheit zu diskutieren. Der Gedanke an die Unfreiheit unter diesem System ver-anlaßte mich, Bent daran zu erinnern, daß wir noch nicht aus dem Lande waren und daß wir nicht aufhören sollten zu beten, bis wir wirklich die Grenze nach Polen überschritten hatten. Ich parkte den Wagen vor dem Hauptgebäude der Zollstation und wir gingen alle hinein. Bent und ich wurden aufgefordert, auf einer Bank Platz zu nehmen und zu warten. Der nicht zu große Raum war schon voller Beamten und Journalisten, und es kamen noch immer neue hinzu. Endlich, nachdem wir fast zwei Stunden gewartet hatten, hielt ein kleines Polizeiauto vor dem Haus und derselbe große, rotgesichtige Mann, der schon das erste Mal hier die Leitung hatte, stieg aus und stürmte herein. Er machte einen etwas gequälten aber sehr wichtigen Eindruck. Er beeindruckte mich, weil er immer irgend einen Plan zu verfolgen schien. Er betrachtete uns unfroh und bedeutete uns dann, auf einigen Stühlen an einem niedrigen Tisch Platz zu nehmen. Reporter setzten sich auf Stühle, die vor dem Tisch standen. Als wir zu dem Tisch gingen, bemerkten wir zum ersten Mal, daß eine große Filmkamera im Raum stand, die nun in gute Aufnahmeposition gebracht wurde. „Benimm dich so, als müßten wir im Fernsehen oder in der Wochenschau auftreten“, flüsterte Bent. „Es spielt gar keine Rolle, was wir in diesem Interview sagen“, gab ich leise zurück, „die werden es so hindrehen, wie sie es haben wollen. Doch etwas werden sie nicht ändern können: den Ausdruck unserer Gesichter. Was immer geschieht -bleibe fröhlich. Wir wollen die Liebe Christi durch uns scheinen lassen, so daß die russische Bevölkerung sieht, wie die Ungeheuer, die wir nach der offiziellen Version der Behörden sicherlich sein werden, wirklich beschaffen sind.“ Als wir uns an dem niedrigen Tisch niederließen, bemerkten wir, daß er mit allerlei Dingen bedeckt war. Da lag christliche Literatur, die drei Bibeln, die sie gefunden hatten, und einige Kugelschreiber und Nylonhemden, die wir mit uns genommen hatten, um sie zu verschenken, weil diese Dinge in Osteuropa sehr schwer zu bekommen waren. Was jetzt folgte, war eigentlich kein Interview, sondern mehr eine Vorstellung. Der „Große Zornige“ hatte offensichtlich das Drehbuch dazu geschrieben. Wie ein unter Überdruck stehender Vulkan explodierte er in ziemlich genau vorhersagbaren Abständen und überschüttete uns mit selbstgerechter Empörung. Dabei vergaß er nicht, sich vor der Kamera in Positur zu werfen, wenn er besonders wichtige Punkte herausstrich. Ich fühlte mich mehr als Zuschauer denn als Teilnehmer, als ich ihn beobachtete, wie er über die zurechtweisenden Vorhaltungen, die er mir und Bent machte, in Wirklichkeit die russische Bevölkerung ansprach. Dabei strich er die Tugenden des Atheismus heraus, die unwissenschaftliche Rückständigkeit und das reaktionäre Wesen aller Christen, die Feigheit der Spione und die „unbestreitbare Verbindung“, die zwischen Kapitalismus und Imperialismus und den betrügerischen Mythen bestand, die von den Predigern der Christenheit verbreitet wurden. Er vergaß auch nicht, den aufrichtigen und wachsamen Sowjetbürger in allen Tonarten zu loben, der uns bei den Behörden angezeigt hatte. Zwischen den Erklärungen für die Fernsehzuschauer mußten Bent und ich die schon bekannten Vorwürfe nochmals über uns ergehen lassen. Wir hatten verbotene Literatur über die Grenze gebracht, die schädlich war für das System. (Wir hörten Ausrufe der Empörung, dann schrieben die Reporter eifrig Notizen.) Wie Spione hatten wir unsere wirklichen Absichten verborgen gehalten und vorgegeben, wir seien ehrliche Touristen; außerdem hatten wir unser schädliches Propagandamaterial klug versteckt. (Empörte und erstaunte tiefe Atemzüge bei den Zuhörern, dann wurden weitere Notizen gemacht.) Wir konnten festgenommen werden, weil ehrliche Bürger wachsam gewesen waren und sich geweigert hatten, die vergiftete imperialistische Propaganda anzunehmen. (Neue Notizen - das war eine gute Nachricht.) Alle anderen Bürger, die sich hatten betrügen lassen, indem sie Bibeln als Geschenke angenommen hatten, wurden aufgefordert, sich sofort zu stellen und ihr Gewissen zu erleichtern. (Rundum nickende Köpfe, noch mehr und schnellere Notizen.) Sie sollten sich mit allen anderen Sowjetbürgern zusammentun gegen die internationale Verschwörung (empörte Ausrufe) und sich gegen die Flut der religiösen Literatur stemmen, die mit verführerischen Mythen Rußland überschwemmte (überschwemmte? - noch schnellere Notizen, das waren wirklich Neuigkeiten), weil man eine so großzügige Politik der offenen Grenze betrieb. Nachdem er alle seine Punkte aufgezählt hatte, forderte der „Große Zornige“ von uns, daß wir uns zu unserem Verbrechen bekennen sollten. Doch ich konnte nicht einwilligen, auch wenn dies weitere Gefangenschaft bedeutet hätte. „Wir haben keine Gesetze übertreten“, sagte ich in Richtung Kamera zu den Reportern. „Ich gebe offen zu, daß wir Bibeln nach Rußland brachten, aber da Ihre Verfassung Religionsfreiheit garantiert, muß jeder Bürger das Recht haben, das Handbuch des Christentums zu besitzen, wenn er dies wünscht. Wir brachten Bibeln, weil Christus uns den Auftrag dazu gegeben hat. . .“ Er unterbrach mich. „Jetzt geben Sie also zu, was Sie getan haben. Warum haben Sie dies nicht gesagt, als Sie unser Land betraten? Statt dessen haben Sie die Bibeln und Ihre Absicht verborgen. Wenn Sie glaubten, Sie täten nichts Ungesetzliches, warum versteckten Sie dann die Bibeln?“ „Du dummer Kerl“, dachte ich, „du solltest wissen, daß du diese Frage besser nicht gestellt hättest. Oder haben dir deine Untergebenen nicht genug berichtet? . . .“ Ich drehte mich wieder den Zuhörern zu, öffnete meine Jacke und nahm meine Brieftasche heraus. „Niemand wird bestreiten, daß es rechtmäßig ist, Geld bei sich zu tragen“, sagte ich, indem ich meine Brieftasche öffnete und einige Scheine vorzeigte. „Und doch verstecke ich mein Geld auf diese Weise in meiner Jacke . . .“, ich steckte die Brieftasche in die Jacke zurück, „. . . weil sonst Diebe und Räuber auf ihre Chance warten, das Geld zu stehlen.“ Ich wies auf die Bibeln auf dem Tisch, um zu zeigen, was ich meinte. Ich hatte erwartet, hier und da ein unterdrücktes Kichern zu hören. Doch als mein Dolmetscher, der kämpfen mußte, um keine Miene zu verziehen, meine Worte getreulich übersetzt hatte, brachen die Reporter, Kameraleute und sogar einige im Hintergrund stehende Beamte in schallendes Gelächter aus. Der „Große Zornige“ blickte wütend im Raum umher. Doch dies schien die Lächerlichkeit der Situation nur noch zu erhöhen, denn das Gelächter schwoll immer mehr an, so daß er mir leid tat. Als wieder respektvolle Ruhe und Erwartung eingekehrt waren, versuchte der „Große Zornige“ weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Doch die Atmosphäre im Raum hatte sich verändert. Der achtungsvolle Ausdruck der Gesichter verwandelte sich immer wieder einmal in ein hinter Händen und Papierbögen verstecktes Lächeln. Eine allgemeine Unruhe lag über der Versammlung und wurde noch unterstrichen durch immer wiederkehrendes Räuspern, von dem man hätte glauben können, daß damit Lachen unterdrückt werden sollte. Der dramatische Schwung, den er aufgebaut hatte, war dahin. Nachdem er nochmals kurz daran erinnerte, daß wir gefährliche Kriminelle seien, teilte er uns mit, daß wir zum Zeichen des guten Willens milde behandelt und freigelassen würden, obwohl wir es verdient hätten, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Unser persönliches Eigentum würden wir zurückerhalten. Doch die Bibeln, die Literatur und alle Filme, die wir aufgenommen hatten, seien beschlagnahmt. Eine Welle der Enttäuschung durchzog mich. „O Herr“, betete ich leise, „ich dachte, Du hättest versprochen, die Filme zu retten, sie sind so wichtig.“ Doch dann mahnte mich mein Gewissen, weil ich so undankbar war. „Danke, Herr, daß Du uns befreit hast. Danke, Herr. Vielen Dank!“ Wir beluden uns mit unserem persönlichen Eigentum, das man uns zurückgab, und dann folgten uns das Kamerateam und die Reporter zu unserem Auto. Als all die Menschen uns umstanden und die Kamera jede unserer Bewegungen aufnahm, wurde es wirklich schwer, sich nicht wie verurteilte Kriminelle zu fühlen, denen eine unverdiente Amnestie gewährt worden war. Ich fühlte die vielen Augen, die auf mir ruhten - manche feindselig, manche mitleidig, andere in Verachtung. Ich fühlte einen Drang, meinen Kopf hängen zu lassen, mein Gesicht in den Händen zu verbergen, davonzulaufen und mich irgendwo zu verstecken; und ich wußte, daß Bent ähnlich empfinden mußte. „Kopf hoch und lächeln“, sagte ich zu Bent laut in dänischer Sprache und sprach mir damit selbst ebensosehr Mut zu. „Bete weiter, wir haben bis jetzt unsere Pässe immer noch nicht zurück.“ Als ich mich umsah, bemerkte ich, daß die Grenzsperre geöffnet war. Eine ganze Reihe Autos warteten, um nach Polen zu fahren. Man hatte sie in einiger Entfernung festgehalten, bis man mit uns fertig war. Wir stiegen in den Wagen. Dann befahl man uns, zu wenden und in Richtung Brest zurückzufahren, vorbei an der Reihe der wartenden Autos hinter der Sperre. Knapp einen Kilometer hinter dem Zollhaus wurden wir angehalten und Bent bekam die drei russischen Bibeln in die Hand gedrückt. Dann bekamen wir folgende Instruktionen: Ich sollte langsam wieder auf das Kamerateam zufahren, das vor uns auf der Straße stand. Während wir gefilmt wurden, sollte Bent die in Plastikhüllen verpackten Bibeln aus dem Wagen in das Gras am Straßenrand werfen. Vielleicht wurde den russischen Fernsehzuschauern später erzählt, daß wir von der wachsamen Polizei bei der eigentlichen Tat gefilmt worden waren. Bent warf mir einen fragenden Blick zu und sagte: „Was für ein Spiel ist das?“ Ich flüsterte zurück: „Warum nicht. Alle Zuschauer dürfen ruhig wissen, daß Christen aus dem Westen Bibeln nach Rußland bringen. - Und vergiß nicht, dabei freundlich zu lächeln.“ Wir mußten wirklich lächeln, weil es uns so albern vorkam, vor allem, als der Kameramann uns durch den Dolmetscher bat, nochmals zurückzufahren und die ganze Sache zu wiederholen. Hastig sammelte ein Beamter die Bibeln wieder ein und gab sie uns nochmals. „Vielleicht wollen sie uns für eine Hauptrolle in einem Spionagefilm verwenden“, scherzte ich. Langsam fuhr ich wieder an und Bent warf die Bibeln in das Gras. Diesmal lächelte er nicht nur, sondern lachte kräftig. Es machte uns beiden Spaß und das Kamerateam schien mit unserer Vorstellung zufrieden zu sein. Wir sahen fast aus wie eine Hollywood-Filmgesellschaft bei Außenaufnahmen. Dann fuhr die ganze Gruppe, Direktor, stellvertretende Direktoren, Kamerateam, Toningenieur, Schauspieler und Begleiter, wieder zurück, ein zweites Mal entlang an der Reihe der wartenden Autos. Dieses Mal ging die Fahrt am Zollhaus vorbei in Richtung Polen. Unser Wagen wurde in der Mitte der schmalen Straße wieder ang’ehalten, gerade an der Auffahrt zur Brücke über den Bug, die an dieser Stelle die russisch-polnische Grenze ist. Wir wurden aufgefordert auszusteigen und uns vor dem Auto aufzustellen. Der „Große Zornige“, der die ganze Prozedur dirigiert hatte wie ein russischer Cecil D. Miles, kam steif auf mich zu und überreichte mir mit pompöser Geste meinen Paß. Die Kamera fing diese Szene in Großaufnahme ein. „Hier ist Ihr Ausweis“, sagte er arrogant. „Sie sind wie ein Dieb und Räuber in unser Land gekommen und sind für die Zukunft nicht länger willkommen. Touristen sind uns immer willkommen, aber keine Leute wie Sie. Sie dürfen nie zurückkommen.“ Mein Übersetzer aus dem Hotel, der mir noch vor wenigen Stunden so eifrig Fragen über Christus gestellt hatte, war während der ganzen Zeit der offizielle Dolmetscher gewesen. Ich hatte Achtung und sogar Freundschaft in seinem Gesicht zunehmen sehen und hatte während der „Pressekonferenz“ eine wachsende Verbindung zwischen uns gespürt. Wir sahen uns nun zum letzten Mal an. Als er diese letzten Worte übersetzte, sah ich versteckte Tränen in seinen Augen. Seine Lippen zitterten, weil er seine Gefühle mühsam unterdrücken mußte. „Er sagt, Sie sind wie Diebe und Räuber gekommen“, übersetzte er leise ins Englische, „aber ich denke nicht so.“ Unsere Augen begegneten sich kurz und der Blick, den er mir zuwarf, sagte mir, daß er mein Bruder in Christus sein wollte. In mir stieg der Wunsch auf, ihn zu umarmen und ihm etwas Ermutigendes zu sagen. Ich hätte in die Kamera hineinschreien mögen, daß die Liebe, die wir füreinander fühlten, die die Grenzen zerbrach und Haß und Mißverständnisse überwand, eigentlich meine einzige Mission war, und auch die Botschaft des Buches, das ich nach Rußland gebracht hatte. Ich hatte Mühe, meine Aufmerksamkeit wieder dem „Großen Zornigen“ zuzuwenden, und nahm den Paß aus seiner Hand entgegen. Ich fühlte mich wie in einem Wachtraum und wurde von Emotionen bewegt. Hier war vielleicht schon ein neues Kind in die Familie Gottes hineingeboren worden, doch ich konnte nicht mit ihm sprechen und konnte es nicht wagen, ihm das Neue Testament, das ich noch immer in der Tasche trug, zu übergeben, denn dies war verbotene Propaganda und schädlich für das System. Mein Gesicht durfte nichts verraten; weder die Freude über den einen, der sich für Christus öffnete, noch den Kummer über die Zurückweisung Christi durch die anderen. Ich hörte das leise Surren der Kamera und war mir der Gegenwart der anderen Menschen bewußt, und doch stand für mich für einen Augenblick die Zeit still. Ich drehte mich noch einmal um und schaute nach Rußland zurück. Von meinem etwas erhöhten Standpunkt auf der Brücke aus sah ich die Reporter und Beamten in einer losen Gruppe vor dem Zollhaus stehen und uns beobachten. Die Autoschlange hinter der Sperre war noch länger geworden. In der Ferne lag Brest, mit meinen Erinnerungen an diese Stadt und mit den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Gemeinde dort, die sich im Untergrund versammeln mußte und deren Leiter im Gefängnis saßen. „Welch ein Theater“, dachte ich. „Was sollen die vielen Worte bedeuten, die sie machen? Warum dieses Spiel, das wir gespielt hatten? Warum sind sie so entschlossen, allen Glauben an Gott auszurotten? Noch gestern haben sie mich mit Gefängnis bedroht. Jetzt verlasse ich dieses Land und glaube, sie sind es, die im Gefängnis Zurückbleiben.“ Ich fühlte mich so klein und hilflos - eine unbedeutende und unverständige Kreatur, die in diesen unwirklichen Mahlstrom der Ereignisse mit hineingezogen worden war. Ich fühlte im Augenblick keine Verbindung zu dem Leben, von dem ich' einmal geglaubt hatte, ich würde es kennen. Vor meinen Augen lief eine Reihe von Szenen und Eindrücken der vergangenen Tage ab: Bibeln, Tränen, Lächeln, Umarmungen, der „Große Zornige“, mein Verhöroffizier, der Dolmetscher, das Hotelzimmer, Gebete, Fragen und Antworten, neue Fragen, Drohungen, halbe Antworten, Zorn, Furcht, das Verbergen des Neuen Testaments, Bekenntnis unseres Glaubens, Mißtrauen gegen Menschen, Vertrauen in Gott. Der Streit wurde nicht eigentlich von Christen und Kommunisten ausgetragen. Wir waren nur Menschen von Fleisch und Blut. Die eigentlichen Feinde, die bitter miteinander kämpften, gehörten zu einer anderen Welt. Unser Kampf mit uns selbst und gegeneinander war nur der Schatten des geistlichen Kampfes zwischen Gott und Satan, der über diese Erde fiel. Für einen Augenblick war mir, als könnte ich einen Blick auf dieses Schlachtfeld tun und den Klang geheimnisvoller Waffen vernehmen. Ein Vorhang war beiseite geschoben worden und ich konnte die Realität jener anderen Dimension fast berühren. Ich kämpfte, um es zu verstehen, und hätte fast das für uns Unergreifbare ergriffen . . ., da wurde ich durch die Stimme des Dolmetschers wieder in die Wirklichkeit zurückgebracht, der die Worte des „Großen Zornigen“ an Bent übersetzte. „Hier ist auch Ihr Paß. Wenn Sie das nächste Mal nach Rußland kommen, dann nicht mit Herrn Neerskov, sondern bringen Sie Ihre Frau mit.“ Bent nahm seinen Paß. Wir bestiegen den Wagen und fuhren über die Brücke nach Polen. Ich schaute in den Rückspiegel, um noch einen letzten Blick auf meinen neuen Bruder zu werfen. Er und der „Große Zornige“ gingen Seite an Seite hinter dem Kamerateam her. Weiter hinten hob sich die Sperre und eine lange Reihe Autos fuhr langsam zum Zollhaus vor. Auf der anderen Seite wartete eine kleine Gruppe verschiedener polnischer Beamten auf uns. Sie lächelten breit. „Guten Tag, meine Herren“, sagte einer von ihnen und nahm unsere Pässe entgegen, die ich ihm durchs Wagenfenster hinausreichte. „Machen Sie sich keine Sorgen, wir wissen, daß man Sie schon gründlichst durchsucht hat.“ Nachdem wir schweigend etliche Kilometer weitergefahren waren, hielt ich den Wagen an. „Laß uns einmal nachschauen, was sie uns alles zurückgegeben haben“, schlug ich vor, „mir gehen die Filme nicht aus dem Sinn.“ Während wir die Dinge, die wir unter den wachsamen Augen der Beamten wieder mit aus dem Zollhaus nehmen durften, durchsahen, machten wir eine überraschende Entdeckung. Alle metallenen Filmdosen mit belichteten Filmen, die Bent gehörten, waren geleert. Doch von meinen vier belichteten Filmen, die ich in Dosen hatte, waren drei noch vorhanden - einschließlich der Bilder von den geschlossenen Kirchen, von denen ich mir fest vorgenommen hatte, sie im Westen zu veröffentlichen. Hatte ich sie zurückerhalten durch einen Irrtum?! Ich mußte sie mehrere Male anschauen, und Bent mußte mir die Tatsache ausdrücklich bestätigen, ehe ich glauben konnte, was ich sah. Vom Gesichtspunkt der Russen aus war dies, wenn sie es je herausfanden, ein beklagenswerter menschlicher Irrtum. Von meinem Gesichtspunkt aus ein durch Gottes Gnade erlebtes Wunder. Es war wohl beides, und das ließ meine staunende Ehrfurcht noch wachsen, da ich wieder einmal sah, wie Gott alles und jeden gebrauchte zur Durchführung Seiner Pläne. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgegeben zu verstehen, wie Gott dies immer alles möglich machte. Einen Tag nach meiner Rückkehr nach Kopenhagen rief ich die dänische Presseagentur an, unser nationales Nachrichtenbüro. „Ein Freund und ich sind an der russisch-polnischen Grenze von den Sowjets festgenommen und gerade erst wieder freigelassen worden“, teilte ich ihnen mit. „Wir wurden drei Tage lang von den Russen verhört.“ „Warum?“ „Weil wir Bibeln nach Rußland gebracht hatten. Ich glaube, wir haben eine Geschichte, die Sie interessieren könnte, wir würden morgen gern eine Pressekonferenz haben.“ „Warum morgen?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung mit eifrigem Ton. „Warum nicht heute?“ „Nun, ich hatte geglaubt, es würde heute nicht mehr möglich sein.“ „Wäre es in drei Stunden recht? Wie ist Ihre Anschrift?“ Ninna wollte ihren Augen nicht trauen. Ungläubig schaute sie zu, wie sich unsere Wohnung mit Journalisten verschiedener Zeitungen, mit Fotografen und Reportern des Rundfunks füllte. Bent und ich beantworteten für etwa eine Stunde ihre Fragen. Blitzlichter flammten auf. Dann waren sie alle genauso schnell wieder fort, wie sie gekommen waren. Die Wohnung kam uns auf einmal seltsam still vor. Bent, Ninna und ich saßen da, schauten einander an und fanden zunächst einmal keine Worte mehr. In Gedanken gingen wir nochmals über die letzte Stunde hin und fragten uns, wie die Zeitungen reagieren würden. Plötzlich, als uns klar wurde, was diese Publizität bedeutete, begannen wir alle zu lachen. Meine Drohung der russischen Polizei gegenüber würde sich viel mehr verwirklichen als ich gedacht hatte. Wieder einmal würde die Welt durch die internationale Presse etwas von der Verfolgung der Christen in Rußland, von ihrer Diskriminierung durch die Sowjetregierung und von dem Hunger nach Bibeln in diesem Lande erfahren. Am nächsten Tag war unsere Geschichte in vielen Zeitungen in der ganzen Welt zu finden. In vielen dänischen Zeitungen wurde es eine Titelseitenschlagzeile mit Überschriften wie: „Festgenommen, weil sie Bibeln verteilten“; „Pastor in der Sowjetunion verhaftet, als er Bibeln schmuggelte“; „Zwei Dänen wegen Bibel-Schmuggels imder Sowjetunion verhaftet“ In längeren Artikeln wurde erklärt, daß wir kein Gesetz gebrochen hatten, sondern uns auf die Tatsache beriefen, daß die Sowjetregierung vorgab, ihren Bürgern Religionsfreiheit zu gewähren. Die offizielle Tageszeitung der Kommunistischen Partei Dänemarks brachte ihre eigene Version unter der sarkastischen Überschrift: „Apostolische Schmuggler“. Illustriert mit Bildern von Bent und mir, wie wir auf das Bibelversteck in unserem Auto zeigten, wurde von dem „modernen“ Hotel in Brest gesprochen. Um zu rechtfertigen, daß die sowjetischen Behörden die Bedrohung durch zwei unbekannte dänische Bürger, deren einzige Waffen christliche Literatur war, so ernst genommen hatten, wurde ich als moderner Paulus beschrieben, der sich aufgemacht hatte, um die Sowjetunion mit Bibeln zu erobern. Natürlich konnte ich nach Meinung der kommunistischen Zeitung nicht so erfolgreich sein wie damals Paulus bei seinem Angriff auf das Römische Reich, da in unserer Zeit die Erleuchtung durch die Wissenschaft die Menschen vor dem christlichen Aberglauben bewahrte. Typisch für den satirischen Ton war die Unterschrift unter einem Foto: „Die christliche Kirche in der Sowjetunion ist nun für die nächsten zwanzig Jahre gesichert.“ Kein Fachmann für Werbung hätte eine bessere Methode vorschlagen können, um die Arbeit und die Ziele unserer Mission bekanntzumachen, als unsere Festnahme an der russischen Grenze. Jetzt wußte fast jeder einzelne Däne, wer wir waren und was wir versuchten zu tun. Geld, um Bibeln nach Osteuropa zu bringen, kam in größeren Mengen herein, als wir je zu hoffen gewagt hatten. Unsere Festnahme wurde zum Anlaß, daß unsere Mission einen großen Aufschwung nahm. Gott hatte das, was zuerst als beängstigendes Unheil erscheinen wollte, in einen großen Segen verwandelt. 5 Meine ersten Erfahrungen Von der Zeit an, als es uns nicht mehr gelang, Bibeln nach Rumänien zu senden, versandete das Werk unserer Mission und kam fast zum Stillstand. In diesen Anfangsjahren war die Mission ein Teil der Gemeinde, deren Pastor ich war, und stand direkt unter der Aufsicht des Ältestengremiums der Gemeinde. Viele der Ältesten verstanden mein wachsendes Interesse für Osteuropa nicht und waren nicht froh über die Zeit und die Kraft, die ich für diese Sache einsetzte, obwohl ich dies alles nachts tat, nachdem ich meinen Verpflichtungen als Pastor nachgekommen war. Es war die Zeit des ersten Tauwetters im kalten Krieg. Die westliche Welt begann, sich an den Gedanken der friedlichen Koexistenz und des Tauwetters zu wärmen. In den Zeitungen wurden diese Wörter immer häufiger gebraucht und brachten eine neue Hoffnung zum Ausdruck. Auch viele Christen glaubten, daß es einen Zustand der Entspannung zwischen Christentum und Atheismus geben könnte. Eine Anzahl der Ältesten unserer Gemeinde neigten auch dieser Meinung zu und glaubten aufrichtig, wir sollten nichts tun, wodurch die rumänische Regierung gereizt werden könnte, vor allem, da Rumänien in letzter Zeit die Handelsbeziehungen mit Dänemark verstärkte. Etliche der Ältesten glaubten, die Mission habe ihr ursprüngliches Ziel erreicht, indem sie viele Bibeln nach Rumänien gebracht hatte, und könne nun beendet werden. In christlichen Zeitschriften des Westens erschienen Artikel, die sagten, daß die Lage in Osteuropa gar nicht so schlecht sei, wie immer berichtet worden war, oder daß es mindestens in der letzten Zeit viel besser geworden sei. Man argumentierte, daß der Versuch, den Christen hinter dem Eisernen Vorhang von außen zu helfen, die Lage nur verschlimmern könnte. Es war seltsam genug, daß es zuerst die weltliche Presse war, die damit begann, Dokumentationen über die Verfolgung der Christen im Osten, vor allem in Rußland, zu veröffentlichen. Der Regierung in Moskau schien das Christentum in Rußland zum nationalen Problem zu werden. Deshalb versuchte sie offensichtlich ihre Bürger zu warnen, indem sie in der Presse immer wieder Artikel veröffentlichen ließ über die Gefangennahme, Gerichtsverhandlungen und Verurteilung von Gläubigen wegen solcher Delikte wie: reden über den Glauben außerhalb der Kirche; Belehrung der Kinder über die Bibel; nicht genehmigte Zusammenkünfte und Gottesdienste der Gemeinden. Eine in dänischen Zeitungen veröffentlichte Geschichte über ein achtzehnjähriges russisches Mädchen, das verhaftet wurde, machte damals großen Eindruck auf mich. Das Verbrechen von Maria Braun war, daß sie Kindern von Gott erzählt hatte. Sie hatte zusammen mit ihrer Freundin in ihrem Dorf eine Sonntagsschule von etwa 80 Kindern geleitet. Die beiden wurden verhaftet und die Klasse wurde aufgelöst. Maria und Jelena wurden zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Der Richter war sich mit dem Staatsanwalt darüber einig, daß es eine unerhörte Übertretung des Gesetzes sei, Kindern von Gott zu erzählen. Ich begann, täglich für die beiden Mädchen zu beten, die bereit gewesen waren, die Konsequenzen dafür zu erleiden, daß sie ein menschliches Gesetz übertreten hatten, weil sie Gottes Gebot für höher achteten. Die sowjetische Presse begann, öffentlich von Gläubigen als Gesetzesübertretern zu berichten, und in westlichen Zeitungen konnte man die Geschichten von Menschen lesen, wie die von Aida Skripnikowa. Weil sie in den Straßen Leningrads ein Gedicht verteilte, das sie selbst verfaßt hatte und das mit der Zeile endete: „Suche Gott, weil Er noch zu finden ist“, wurde sie verhaftet, verlor ihre Arbeit und auch das Recht, weiter in Leningrad zu leben. Die junge Frau fuhr fort, mutig ihren Glauben zu bezeugen, obwohl sie zu Gefängnis verurteilt wurde und in psychiatrische „Behandlung“ kam. Durch viele Artikel in der sowjetischen Presse wurde sie angegriffen. Sie schrieb durchschlagende Antworten, die jedoch von der durch die Regierung kontrollierte Presse nicht veröffentlicht wurden. Antireligiöse Propaganda ist erlaubt, aber nicht religiöse Propaganda. Doch das Interesse der Öffentlichkeit .an diesem Mädchen war wach geworden. Die Menschen wünschten zu wissen, was sie getan und was sie geschrieben hatte. Bald zirkulierten ihre mit der Hand abgeschriebenen Antworten auf die Zeitungsartikel in ganz Rußland. Gemeinsam mit anderen bekannten Dissidenten, wie Solschenitzyn und Schakarow, wurden christliche Leiter wie Wins, Skripnikowa, Porkofiew und Krütchkow in der sowjetischen Presse verleumdet. Ich wurde besonders dadurch beeindruckt, daß Aida an die Christen im Westen appellierte, zu helfen; und durch die fast unglaubliche Tatsache, daß Gläubige in Rußland eine geheime Organisation entwickelt hatten, die sich über das ganze riesige Land erstreckte und dem Zweck diente, die Einzelheiten der Verfolgungen und Verhaftungen festzuhalten und in den Westen zu bringen, in der Hoffnung, daß die Weltmeinung ihnen zu Hilfe kommen würde. Russische Christen schickten Bitten um Hilfe auch direkt an die Vereinten Nationen und andere Weltorganisationen. Manche davon hatten die Form von Petitionen, an die viele Seiten lang Unterschriften angehängt waren. Angesichts solcher beeindruckenden Beweise der hingebungsvollen Treue der Gläubigen in Osteuropa war ich überzeugt, daß unsere Mission ihre Anstrengungen noch verstärken müßte und daß wir persönliche Kontakte mit den Gläubigen in Osteuropa haben sollten. Da sich die Ältesten meiner Gemeinde für diesen Gedanken nicht erwärmen konnten, kamen wir überein, die Verantwortung für die Mission einer größeren Gemeinde in Kopenhagen zu übertragen. Dieser Umstand brachte es mit sich, daß auch ich in diese Gemeinde überwechselte und dort eine Pastorenstelle übernahm. Im Jahre 1966 besuchte ein ehemaliger bulgarischer Pastor Dänemark, um die Christen dazu zu bewegen, für die verfolgten Brüder zu beten und ihnen zu helfen. Er war in Bulgarien gemeinsam mit mehr als einem Dutzend weiterer Pastoren in einem Schauprozeß angeklagt worden. Nachdem man vorher durch Gehirnwäsche und Folterungen ihren Widerstand gebrochen hatte, bekannten sie sich zu sogenannten „Verbrechen“, die sie in Wirklichkeit nie begangen hatten, und wurden alle zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Nach jahrelangen Appellen an die Behörden hatte man ihn freigelassen und die Erlaubnis erteilt, zu seiner Familie im Westen zu gehen. Ich hatte das Vorrecht, ihn vom Englischen ins Dänische zu übersetzen, während er durch Dänemark reiste und in vielen Gemeinden sprach. Dieser zarte, schlanke und doch so ungewöhnliche Mann, der mit so großer Leidenschaft sprach, gab den Hauptanstoß zu meiner ersten Reise nach Osteuropa. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, erzählte ich ihm von den Bibeln, die wir nach Rumänien gesandt hatten. Da dies nicht mehr möglich war, fragte ich ihn, ob wir vielleicht damit beginnen sollten, Bibeln in sein Land zu senden, und ob er in der Lage sei, uns mit Adressen zu versorgen. „Es war nie möglich, auf solche Weise Bibeln in unser Land zu versenden“, erklärte er mir. „Doch wenn eure Mission die Mittel hat, dann könnte ich Namen und Adressen von Untergrundpastoren in meinem Land geben, die finanzielle Hilfe äußerst dringend nötig haben.“ „Was meinst du mit Untergrundpastoren?“ fragte ich, da ich diesen Ausdruck noch nie gehört hatte. Geduldig erklärte er: „In unserem Land kann keine Gemeinde legal existieren, wenn sie nicht eine Genehmigung von der Regierung hat, die ihr erlaubt, vielleicht einmal am Sonntag und einmal an einem Abend in der Woche zusammenzukommen.“ „Das ist doch schon allerlei“, antwortete ich. „Nur sehr wenige Christen in Dänemark gehen mehr als zweimal in der Woche zum Gottesdienst.“ „Du verstehst die Verhältnisse nicht!“ rief er aus und wurde richtig eifrig. „Dies ist die einzige Zeit, zu der es dir erlaubt ist, wirklich ein Christ zu sein. Man darf sonst zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort zusammen beten, du darfst nicht von Jesus reden, du darfst nicht gemeinsam mit anderen die Bibel lesen oder auch nur christliche Lieder singen. Es ist dir nicht einmal erlaubt, deine eigenen Kinder in deiner Woh- nung über Gott und die Bibel zu unterrichten, und nach dem Gesetz darf niemand an den Gottesdiensten teilnehmen, der noch nicht 18 Jahre alt ist.“ „Doch sie sind noch nicht damit zufrieden, dem Christentum so viele Beschränkungen aufzuerlegen“, fuhr er fort. „Die meisten Kirchen werden von ihnen geschlossen - protestantische, orthodoxe, katholische, und auch die Tempel und Heiligtümer anderer Religionen. Verstehst du, was das bedeutet?“ Ich schüttelte den Kopf. Es war mir unmöglich, seine Erklärungen zu verstehen. „Stelle dir einmal eine Gemeinde von dreihundert Gläubigen vor, der plötzlich die Genehmigung entzogen wird. Vielleicht gibt man dafür einige technische Gründe an, aber manchmal geht es auch ganz ohne Grund. Aus der Kirche oder Kapelle macht man eine Fabrik oder ein Kaufhaus; oder vielleicht wird sie ganz abgerissen, damit man nicht immer daran erinnert wird.“ „Aber wo versammeln sich die Gläubigen dann?“ fragte ich gespannt. „Das genau ist die Frage! Glaubst du, sie sollten einfach aufhören, Christen zu sein, nur weil die Regierung ihnen die Genehmigung entzieht? Die Bibel sagt, daß wir die Gemeinschaft untereinander nicht versäumen und vergessen sollen. Also fahren sie fort, sich zu Gottesdiensten zu versammeln, nur: es geschieht jetzt im Geheimen, denn sie haben keinen gesetzlich genehmigten Ort mehr, wo sie das können. Da sie dadurch doch das Gesetz brechen, beschließen sie, sich jetzt häufiger zu treffen als zuvor, und vielleicht bricht dadurch eine Erweckung aus. Die Orthodoxe Kirche war früher sehr tot. Zu den Gottesdiensten standen die wenigen Besucher einfach da und hörten zu, wie der Priester seine Gebete heruntersang. Doch seit die Kommunisten ihre Kirchen verschließen, fangen die Leute an, in ihren Häusern zu Gott zu beten; und da beginnen dann oft neue Dinge zu geschehen. Sie lernen Christus persönlich kennen und Gott redet zu ihnen und führt sie. Überall im Lande sammeln sich so kleine Gruppen von Gläubigen. Die meisten dieser Gruppen haben keine Bibeln. Wer wird sie also unterweisen? Dies genau ist die Aufgabe, die die Untergrundpastoren ausführen. Diese geheimen Gemeinden sind sehr arm, da es für einen Christen sehr schwer ist, eine gute Arbeit zu bekommen. Und wenn so eine illegale Versammlung entdeckt wird, müssen sie hohe Geldstrafen bezahlen. Viele von ihnen sind schon mehrere Male im Gefängnis gewesen. Diese Pastoren reisen unerkannt von Stadt zu Stadt, besuchen die kleinen christlichen Gruppen, die sich im Geheimen versammeln - vielleicht in ihren Häusern, vielleicht im Wald -und unterweisen sie von der Bibel her.“ Während er sprach, begann in meinem Inneren ein Feuer zu brennen. „Ich bin sicher, unsere Mission würde solche Männer gern unterstützen!“ sagte ich und war entschlossen, dafür zu sorgen, daß diese leidenden Glieder des Leibes Christi nicht mehr von den Gemeinden des Westens vergessen werden würden. „Ich werde dir -erklären, wie du mit einigen von ihnen in Verbindung kommen kannst“, sagte er, während die Linien in seinem Gesicht plötzlich ihre Richtung änderten, als ein frohes Lächeln darüber hin huschte. „Ich werde dir auch die Namen von Leuten in Bulgarien geben, die Bibeln zum Verteilen entgegennehmen können. Du wirst Kuriere benötigen, die bereit sind, Gott zu vertrauen, daß sie mit den Bibeln über die Grenze kommen.“ Unser neuer Missionsvorstand begann um diese Sache zu beten. Dann kamen wir zu dem festen Beschluß, daß wir versuchen wollten, Pastoren im Osten, die in Not waren, zu helfen. Nun begannen wir um Kuriere für die Bibeln und Gelder zu beten. Der erste logische Schritt war der, daß ich selbst eine ausgedehnte Reise unternahm, um gewisse Fundamente für unsere Arbeit zu legen. Kurze Zeit nachdem ich in der Gemeinde in Kopenhagen eine Pastorenstelle übernommen hatte, stimmte der Ältestenrat zu, mir einen Monat Extraurlaub für meine Reise hinter den Eisernen Vorhang zu gewähren. Ich erhielt sogar eine offizielle Einladung nach Rumänien, als Pastor auf Besuchsreise. Dadurch wurde es für mich möglich, in noch genehmigten Gemeinden zu predigen. Doch wir machten von dieser Art der Reisemöglichkeit schon bald keinen Gebrauch mehr. Ein guter Freund von mir aus Kopenhagen, Rene Hartzner, beschloß, einen Monat Urlaub in seinem Geschäft zu nehmen, um mich zu begleiten. Wir erhielten den Rat, nur sehr wenige Bibeln mitzunehmen, da dies unsere erste Reise war. Jeder von uns beiden hatte nur etwa zehn bei sich. Rend und ich waren auf das, was wir erlebten, nicht vorbereitet: Kapellen, aus denen die Sitze herausgenommen waren, damit die große Besucherzahl, eng zusammengepreßt und von einer Wand bis zur anderen stehend, genug Platz hatte; ein Gemeindegesang, der uns schon fast überirdisch erschien und uns bis ins Innerste bewegte; Gesichter, die buchstäblich von himmlischer Liebe und Freude leuchteten; Versammlungen, die so lang waren, daß wir glaubten, sie würden nie zu Ende gehen, da die Gläubigen die Möglichkeit der ihnen gewährten geringen Freiheit voll ausnutzen wollten. Und die Tränen! So viele Tränen in so vielen Augen! Immer wieder! Wir versuchten, sie uns als Tränen der Freude zu erklären, und das waren sie auch. Doch unter der Oberfläche schienen sie noch von anderer Qualität zu sein; sie gingen tiefer und waren irgendwie gewichtiger, so daß wir zu der Meinung kamen, die Freude, die diese Menschen kannten, sei noch von einer anderen Art als die unsere. In ihrer Freude lag auch ein Stück Triumph, als käme darin die Überwindung von Leiden und Nöten zum Ausdruck. Welch ein Erlebnis war es, einem dieser Gläubigen eine Bibel zu geben und den Blick des Erstaunens und der Freude zu sehen. Wir wurden umarmt, auf beide Wangen geküßt und wieder umarmt. Und wie sie dann mit der Bibel umgingen. Mit welchem Respekt sie die Seiten umblätterten, die Bibel immer wieder küßten und uns dann erzählten, sie hätten damit gerade die Erhörung jahrelanger Gebete erlebt. Wir wurden gefragt, ob die Christen in Dänemark die Freiheit hätten, sich überall, wo sie wünschten, zu Gottesdiensten zu versammeln? Ob wir in der Kapelle auch Extragottesdienste haben durften, und vielleicht sogar in unseren Wohnungen? Ob wir auf der Straße mit anderen Menschen über Christus sprechen dürften? Ob es gestattet sei, unsere Kinder über das zu belehren, was die Bibel sagt? Ob es wirklich überall genug Bibeln gäbe und auch genug Liederbücher? Ob es uns gestattet sei, christliche Literatur und Traktate zu drucken, diese auf den Straßen zu verteilen und dabei die Leute sogar zu unseren Gottesdiensten einzuladen? Sie kosteten jedes unserer Kopfnicken auf ihre Fragen aus, als seien es delikate Leckerbissen. Mein Herz wurde betrübt, wenn ich an die leeren Kirchen in Dänemark und an die in fast allen Häusern vernachlässigten Bibeln dachte. Rene und ich diskutierten darüber, ob nicht trotz allem Verfolgungen vielleicht das gesündeste Klima für die Christen wäre, etwas, was wir auch in Dänemark brauchen würden, um die Schafe von den Böcken zu trennen? Konnte es sein, daß es nur eine einzige wahre Möglichkeit gab, herauszufinden, ob unser Glaube, den wir oft so oberflächlich bekannten, wirklich echt war: nämlich die, daß wir auch dann noch daran festhielten, wenn deswegen der Verlust einer guten Arbeitsstelle oder Gefängnis oder gar der Tod drohte? Es fiel uns auf, daß die Christen, mit wenigen Ausnahmen, die ärmste Klasse in einer angeblich klassenlosen Gesellschaft zu sein schienen. Doch sie beklagten sich über die Verfolgungen und Diskriminierung nicht. Auch betrachteten die Christen in den kommunistischen Ländern sich nicht als Antikommunisten. Sie sind bereit, dem „Kaiser zu geben, was des Kaisers ist“, doch wenn der Staat ihnen das Recht verweigert, „Gott zu geben, was Gottes ist“, dann fühlen sie sich in ihrem Gewissen gebunden, an ihrem Herrn festzuhalten. Statt der Bitterkeit, die wir erwartet hatten, erfuhren wir die Liebe Christi, die uns die ganze Hohlheit unseres eigenen Lebens zeigte. Es war eine so offene, warme und einfache Liebe, die nichts erwartete und doch ihre ganze Zuneigung über uns ausgoß, daß Rene und ich uns fast unfähig fühlten, sie auf gleiche Weise zu erwidern. Als wir schon am Ende unseres Aufenthalts in Rumänien waren und uns für unsere Weiterfahrt nach Bulgarien fertigmachten, war es ein Ereignis, das uns beide ganz besonders dazu veranlaßte, Gott zu bitten, um dasselbe Maß der selbstlosen Fürsorge für andere, das diese Christen uns gegenüber zeigten. Wir hatten in einem Dorf am Gottesdienst einer genehmigten Gemeinde teilgenommen. Das kleine Fachwerkgebäude war für etwa 150 Menschen gebaut, aber es müssen wohl annähernd 600 Besucher, eng zusammengepackt, drin gewesen sein, und noch eine ganze Anzahl mehr standen draußen an den Fenstern und schauten herein. Der Gottesdienst dauerte etwa fünf Stunden. Es handelte sich um eine Pfingstgemeinde. Sie lag in einer Gegend, in der es 1954 ungefähr 10 000 Pfingstler gegeben hatte - mittlerweile waren es schon mehr als 100 000! Der Pastor erzählte uns, daß eine ganze Anzahl der an diesem Tage Anwesenden noch heimliche Gläubige seien, die nicht den Mut hatten, ihren Glauben offen zu bekennen, weil sie um den Verlust ihrer Arbeitsstelle fürchteten. Er versuchte niemals, jemand zu einem offenen Bekenntnis zu drängen, sondern überließ dies ganz dem Heiligen Geist. Als wir dann zu unserem in der unmittelbar benachbarten Stadt liegenden Hotel zurückgingen, wurden wir von etwa einem Dutzend der Gläubigen begleitet, die uns umgaben wie eine Gruppe begeisterter Kinder. Die warme und fast unirdische Liebe, die sie uns gegenüber während des etwa fünf Kilometer langen Marsches zum Ausdruck brachten, die Freundschaft, die sie uns zeigten, und das Gefühl des Einsseins als Glieder am Leibe Christi, das als nahezu euphorische Stimmung von ihnen ausging, machte uns fast betreten und verwirrt. Als wir im Hotel ankamen, sagten wir unseren Begleitern kurz Gute Nacht und Auf Wiedersehen. Wir waren beide völlig erschöpft durch die lange Versammlung, den anschließenden langen Weg und die Unterhaltung mit Menschen, deren geistliche Stärke viel größer war als die unsere. Wir mußten sehr früh am nächsten Morgen abreisen und benötigten dringend Schlaf. Wir betraten das Hotel und ließen unsere Brüder und Schwestern in Christus, die uns den ganzen langen Weg begleitet hatten, abrupt auf dem Fußweg stehen, von wo aus sie uns mit wehmütigen Gesichtern nachschauten. Vom Fenster unseres in der zehnten Etage gelegenen Zimmers beobachteten wir, wie sie sich langsam und zögernd auf den Rückweg in ihr Dorf machten, bis sie in einiger Entfernung hinter einem bewaldeten Hügel verschwanden. „Ich fühle mich jetzt, als müßte mir mein Herz brechen, weil wir sie so behandelt haben“, sagte ich bedrückt zu Rene. Er saß auf dem Rand seines Bettes, schaute auf den Teppich nieder und schüttele den Kopf. „Ich kann es fast nicht glauben“, sagte er nahezu unhörbar, „daß wir sie einfach so kurz angebunden stehenlassen konnten. Welche bösartige Selbstsucht war das, die uns so auf ihre Liebe reagieren ließ? Mir war bewußt, daß sie ins Hotel eingeladen werden wollten - unten vor dem Eingang wurde mir das klar. Doch ich wollte sie los werden, um schlafen zu können. Ich wollte mir nicht einmal mehr die Zeit für eine Tasse Kaffee mit ihnen nehmen, nachdem sie uns den ganzen Weg begleitet hatten. Was werden sie jetzt von uns denken?“ Den Schlaf, der mir so wichtig erschienen war, fand ich an diesem Abend noch für eine ganze Zeit nicht. Ren6s Worte gingen mir immer und immer wieder durch den Kopf. „Ich wollte sie los werden - ich wollte sie los werden - ich wollte sie los werden.“ Dies mußte ich ebenfalls bekennen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich einer so selbstsüchtigen Gleichgültigkeit Menschen gegenüber fähig sein könnte, die mir so viel Liebe entgegengebracht hatten. Ich hatte eine Mission gegründet, um solchen Gläubigen zu helfen; ich hatte viele Gemeinden in Dänemark dazu gedrängt, mitzuhelfen; ich hatte stolz von mir selbst gesagt, daß ich bereit sei, für diese Sache hinter den Eisernen Vorhang zu gehen, was mehr war, als die meisten anderen Leute tun würden. Doch als ich dabei war, das zu tun, was nach meiner eigenen Meinung eine so große Tat war, hatte sich die ganze Hohlheit meiner Liebe gezeigt. Es gab trotz allem immer noch eine Grenze dafür, wie weit ich zu gehen bereit war. Und an diesem Abend hatte ich zu meiner eigenen Überraschung entdecken müssen, daß diese Grenze sehr nahe an gar nichts war. 6 Welche Art Christentum ist das? Es war erst gegen 20 Uhr abends, doch die nur matt erleuchteten Straßen Sofias leerten sich bereits. Jetzt, Ende Oktober, spürte man den Herbst, der mit beißenden Windböen, die in Wangen und Augen stachen, durch die Straßen und breiten Alleen fuhr, sich dann zu beruhigen schien, und plötzlich um eine Straßenecke fegte, dabei Laub und Papier über die gewöhnlich recht sauberen Fußwege wehend. Einige wenige abgehärtete Abendspaziergänger bummeltem noch dahin, ab und zu vor den kärglichen Angeboten in den Schaufenstern der Geschäfte stehenbleibend. Doch die meisten Fußgänger hatten den Kragen ihres Mantels hochgeknöpft, hielten bei den immer neuen Windstößen Hüte und Röcke fest und eilten mit schnellen Schritten die Straße entlang. Man sah ihnen an, daß sie nicht länger als unbedingt nötig im Freien verweilen wollten. Rene und ich standen fröstelnd auf dem Fußweg und versuchten im Schein einer schwachen gelben Straßenlaterne den Namen der Straße zu entziffern und mit unserem Stadtplan zu vergleichen. Die Straßenschilder waren jeweils in russischen Buchstaben in bulgarischer Sprache beschrieben, während unser Stadtplan die Namen nur in lateinischen Buchstaben wiedergab. Sich da zurechtzufinden war für jemand, der nicht Bulgarisch sprach, schon bei Tageslicht ein schwieriges Problem; in der Dunkelheit schien es hoffnungslos zu sein. Wir hatten beträchtliche Geldmittel für zwei Untergrundpastoren bei uns, und unsere Absicht war gewesen, ihre Wohnungen am Nach- mittag zu finden. Doch unser Flugzeug hatte aus unerklärlichen Gründen Verspätung gehabt und deshalb standen wir nun in der Dunkelheit statt bei Tageslicht in den Straßen der bulgarischen Hauptstadt. Die Situation zwang uns, die Hoffnung aufzugeben, daß wir an diesem Abend wenigstens noch die Wohnung eines der beiden finden würden. Und am nächsten Morgen mußten wir zeitig Weiterreisen, um in einer anderen Stadt eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen. Unsere einzige noch verbleibende Hoffnung war, die genehmigte protestantische Kirche in Sofia zu finden, die gerade an diesem Abend Gottesdienst hatte. Vielleicht würde einer der beiden Pastoren dort anwesend sein. Ein kleiner Punkt auf unserer Karte zeigte an, wo die Kirche lag. Doch wie sollten wir dorthin finden? Dieses Problem schien uns unlösbar zu sein. Rene schaute immer wieder zwischen der Karte und einem Straßenschild, das hoch oben an einer Hauswand angebracht war, hin und her. Er versuchte auf diese Weise unseren jetzigen Standort festzuhalten und von da aus den Weg zur Kirche zu finden. Ich hatte es aufgegeben, ihm zu helfen und betete. Dies schien mir in unserer Situation das Beste zu sein, was wir tun konnten. Wenn dies nicht half, war ich bereit, die ganze Sache aufzugeben und in unser Hotel zurückzukehren. Schon jetzt erregten wir zu viel Aufmerksamkeit. Ich war besorgt. Wir hatten uns an einige Fußgänger, die uns nicht wie Geheimpolizisten auszusehen schienen, um Auskunft gewandt. Doch alle hatten nur den Blick starr geradeaus gerichtet und waren schnellen Schrittes weitergegangen. Unterhaltungen mit Besuchern aus dem Westen mußten den Behörden gemeldet werden, und jedermann hatte gute Gründe, sich nicht in diese Lage zu bringen. „Wir werden diese Kirche niemals ohne Hilfe finden“, sagte Rene endlich und steckte die Karte mit einem Seufzer der Resignation in seine Tasche. „Ich weiß jetzt, auf welcher Hauptstraße wir sind, aber ich kann die Querstraßen nicht auseinanderhalten. Ich weiß noch nicht einmal, was Norden und Süden ist. Warum hören wir nicht mit dem Unsinn auf und nehmen ein Taxi?“ „Ich habe genausowenig Erfahrung wie du“, sagte ich hilflos. „Wir haben eine Menge Geld bei uns und müssen eine ganze Anzahl Leute treffen, ehe wir Bulgarien wieder verlassen, und . . ich möchte nicht, daß unsere Ankunft bekannt wird bei den . . „Wenn es hier wirklich so viele Spitzel gibt, wie man uns gesagt hat“, meinte Rene skeptisch, „dann hat die Polizei jetzt vielleicht schon ein ganzes Dutzend Berichte über zwei Idioten, die mit einem Stadtplan in der Hand im Zentrum Sofias nicht wissen wohin. Unsere offensichtliche Dummheit wird bei ihnen nicht gerade Großalarm auslösen.“ Er steckte die Hände in die Manteltaschen und stampfte mit den Füßen. „Ich friere.“ „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte plötzlich eine ruhige weibliche Stimme in deutscher Sprache. Wir drehten uns um und sahen ein etwa zwanzigjähriges Mädchen. Sie stand, mit einem Tuch auf dem Kopf und in einen Mantel gehüllt, vor uns und sah uns in dem matten Licht fragend an. Das unbestimmte Gefühl des Unbehagens, das in mir genagt hatte, wuchs ganz plötzlich an. „Wir suchen die Gorky-Straße“, sagte ich, und versuchte entspannt und lässig zu wirken. „Welche Nummer?“ „Ach, keine spezielle Nummer“, antwortete ich schnell, und versuchte damit ihre ungehörige Neugier beiseite zu schieben. „Es genügt uns, wenn wir in die Gorky-Straße kommen. Wenn Sie uns sagen können, wie wir dorthin kommen, finden wir nachher unseren Weg selbst.“ „Aber Sie müssen doch eine bestimmte Adresse suchen“, behände sie. „Zu welcher Nummer wollen Sie denn? Vielleicht haben wir gar den selben Weg.“ Ein amüsiertes Lächeln begann sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen. Daß sie zwei fremde Männer, die offensichtlich aus dem Westen kamen, ansprach, schien mir mehr als verdächtig zu sein. Aber jetzt, wo sie immer wieder nach unserem genauen Ziel fragte, war ich so gut wie sicher: sie mußte von der Geheimpolizei sein. Doch sie machte einen so unschuldigen Eindruck, wie sie mit großen Augen von einem zum anderen schaute, geradeso, als habe sie uns vorher schon einmal gesehen. Ich blickte schnell zu Rene hin. Doch der Schatten auf seinem Gesicht verhinderte, daß ich seine Züge erkannte. „Immerhin ist es eine genehmigte Kirche“, dachte ich. Es würde noch verdächtiger aussehen, wenn ich ihr keine Auskunft gab. Dann sagte ich laut: „Wir wollen zu Nummer 37.“ „Preis Gott!“ rief sie aus. „Als ich daheim betete, sagte mir der Herr, daß ich hierher gehen sollte, um zwei Männern aus dem Westen den Weg zu unserer Kirche zu zeigen. Dies ist sonst nicht der Weg, den ich dahin gehe.“ Sie schaute aufmerksam die Straße hinauf und hinunter und sagte dann schnell mit leiser Stimme: „Folgen Sie mir in ungefähr 20 Schritt Abstand, ich werde Sie führen.“ Renü und ich schauten einander an und folgten dann diesem bulgarischen Mädchen durch die Straßen, als wäre sie ein Engel vom Himmel. Die Kirche war von anderen Gebäuden in der Nachbarschaft nicht zu unterscheiden. Als wir eintraten, wartete das Mädchen in einem Vorraum. Der Gottesdienst hatte schon begonnen. „Gehen Sie auf die Empore“, flüsterte sie und zeigte auf eine rohe Holztreppe. „Ich werde mich nachher um Sie kümmern.“ Sie ging durch eine Tür ins Innere der Kirche und wir stiegen die Treppe hinauf. Die Kirche war überfüllt. Wir standen zögernd im Hintergrund der Empore und schauten nach einem Sitz. Einige Leute drehten sich um und bemerkten uns. Ein kleiner dunkler Mann, der am Rande des Ganges saß, winkte uns und zeigte auf die vordere Reihe, wo die Leute schon flüsternd zusammenrückten, um uns Platz zu machen. Die Empore lief die ganze eine Seite des Gebäudes entlang. Von unserem Platz in der vorderen Reihe konnten wir das Podium und den größten Teil der Gemeinde unter uns gut sehen. Der Gesang hatte eine unverkennbare und doch gleichzeitig unbeschreibbare geistliche Qualität, die uns packte und das Gefühl vermittelte, mit der oberen Welt in Verbindung zu sein. Ich fühlte mich von einer immer mehr steigenden Woge der Herrlichkeit ergriffen und Tränen rollten mir aus den Augen, als ich die unmittelbare Einheit mit diesen Gliedern des Leibes Christi verspürte, die mir in ihrem Leben und in den Verfolgungen, die sie erdulden mußtep, so sehr der ersten Christengemeinde ähnlich zu sein schienen. Mein Vertrauen in Gottes Wort wurde mächtig gestärkt, als ich den sieghaften Glauben, in dem auch die erste Christengemeinde lebte, wahr- nahm, der in ihnen lebendig war und durch den sie die Welt überwanden. Während ich die emporgehobenen leuchtenden Gesichter musterte, bemerkte ich zu meiner Freude am anderen Ende der Kirche einen Mann, dessen Gesicht mir von einer Fotografie her bekannt war. Es war einer der beiden Pastoren, die wir suchten. Es war Gebetsabend. Alle knieten auf dem harten Holzboden nieder. Ich verstand nichts von dem, was sie sagten, aber ich wußte, sie redeten mit Gott. Ich fühlte Seine Gegenwart. Ich hatte andere oft gewarnt, weil Gefühle so trügerisch und unsicher sein können, aber jetzt fühlte ich: Gott war hier! Ich fühlte, daß sie zu Ihm redeten und daß Er zuhörte; und ich fühlte, daß ich mit einer Realität in Verbindung stand und mein Geist in eine Dimension eindrang, die jenseits unserer fünf Sinne liegt. Doch das war nicht alles, was ich fühlte. Während einer nach dem anderen inbrünstig betete, immer weiter und weiter, begann das harte Holz in meine Knie zu drücken. Dieses Gefühl wurde bald so mächtig, daß mir das Bewußtsein für die geistliche Realität immer mehr entschwand und ich nur noch eins wahrnahm: ich besaß einen Körper aus Fleisch und Knochen, und meine Knie schrien nach Befreiung von dem Schmerz, der ihnen durch die Kanten und Rillen des ausgetretenen Holzfußbodens verursacht wurde. Ich spürte eine Bewegung an meiner Seite, öffnete die Augen und sah, wie Rene sich steif und mit schmerzerfülltem Gesicht erhob und seinen Sitz einnahm. Niemand anders schien dies nötig zu haben, weder die alten Frauen noch die kleinen Kinder. Immer noch wurde mit nicht nächlassendem Eifer und emporgehobenen Händen und Gesichtern gebetet. Diese Leute waren nicht, wie wir gedacht hatten, hinter dem Eisernen Vorhang - sie waren im Himmel! Doch ich war auf der Erde. Nur mein Stolz und meine Furcht vor der Scham, die ich empfinden würde, hielten mich davon ab, es wie Rene zu machen. Ich brachte es durch große Willenskraft fertig, bis zum Ende der Gebetszeit zu knien. Die Gemeinde stand beim Schlußlied, und dann war der Gottesdienst zu Ende. Noch ehe ich mich umdrehen konnte, fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Erstaunt drehte ich mich um, um zu sehen, wer es war, und stand vor dem zweiten Pastor, den ich besuchen wollte. „Preis Gott, Bruder Neerskov“, rief er in englischer Sprache und umarmte mich warm, „wir haben dich erwartet!“ Ich staunte! Er hatte mich nie vorher gesehen und konnte unmöglich meinen Namen wissen - nicht einmal meine Frau wußte genau, wohin Rene und ich gingen. Unsere Pläne waren völlig geheim gehalten worden und nur uns selbst und Gott bekannt. Ich hatte mich erst halb von dem Schock erholt und antwortete leise: „Ich werde heute abend noch zu euch kommen.“ Dann wandte ich mich ab. Ich war vor dem offiziellen Pastor der Gemeinde gewarnt worden, der mit den Kommunisten kollaborierte und die Namen aller Gemeindeglieder meldete, die sich länger mit Besuchern aus dem Westen unterhielten. Menschen begrüßten uns mit Tränen der Freude, umarmten und küßten uns und zerrten unsere Arme wie Pumpen auf und nieder, während sie uns kräftig die Hände schüttelten. Wir vergaßen unsere geschundenen Knie, als wir uns von dieser warmen Liebe und der Einheit in Christus umgeben sahen. Langsam kamen wir die Treppe hinunter. In der überfüllten Halle standen wir plötzlich für einen Augenblick neben Sonja, dem Mädchen, das uns hergebracht hatte. „Sage Pastor Korbut, er soll nach Hause gehen, wir werden ihn später noch aufsuchen“, sagte ich schnell und erwähnte den Namen des anderen Pastors, den ich in der Versammlung gesehen hatte. „Und bitte, wir brauchen dich als Führer. Kannst du uns in etwa dreißig Minuten am Lenindenkmal treffen?“ Sie nickte und verschwand in der Menge. Mittlerweile hatte der Pastor uns gesehen. Er schob sich durch seine langsam auseinandergehende Gemeinde, begrüßte uns beide mit festem Handschlag und hieß uns in Deutsch warm willkommen. Er sagte, er wäre froh, daß wir gekommen seien, und es sei eine gute Sache, daß Touristen aus dem Westen selbst sehen könnten, welche religiöse Freiheit in Bulgarien bestehe. Er hoffe, wir würden daheim die Wahrheit erzählen und brüderliche Grüße von den Christen Bulgariens mit zu ihren Geschwistern in Christo nach Dänemark nehmen. Er tat mir leid. Er gab sich so große Mühe, aber man sah ihm seine Nervosität an. Er war ein Mann unter großem Druck. Dann erzählte er uns etwa zehn Minuten von der Schönheit des Schwarzen Meeres, vom Strand, von den Hotels und Restau- rants und von dem warmen und gesunden Klima, von der Sonne und dem Wasser. Er redete uns sehr zu, mindestens einen der Küstenferienorte zu besuchen. Es würde sehr schade sein - fast unverzeihlich -, das Schwarze Meer nicht besucht zu haben. Wir würden das Schönste von Bulgarien und den echten Geist dieses Landes sonst nicht kennenlernen. Er war bei der ganzen Unterhaltung sehr steif und man sah ihm an, daß er sich große Mühe gab, so freundlich wie möglich zu sein. Doch mit diesem irdischen Gesprächsstoff brachte er es fertig, uns so lange bei sich festzuhalten, bis die letzten Besucher gegangen waren. Sonja wartete schon auf uns - sie betrachtete eifrig Schaufenster -, als wir fünf Minuten später als vereinbart am Treffpunkt ankamen. Sie bemerkte uns schon, als wir noch einige Häuser entfernt waren, und ging die Straße hinunter. Wir folgten ihr in sicherer Entfernung. Nachdem wir so etwa eineinhalb Kilometer gegangen waren, wurde sie langsamer, und wir holten sie ein. „Hier ist es“, sagte sie leise und blieb vor einem kleinen Haus mit einem großen, offenen aber überdachten Vorbau stehen. Ein schwacher Schein hinter einem der Fenster zeigte an, daß man im Hause noch wach war. Vorsichtig öffnete sie eine Pforte und flüsterte dabei; „Sie quietscht.“ Wir standen in einem kleinen Hof. Doch Sonya betrat nun nicht den Vorbau, sondern ging auf einem schmalen Steinweg um das Gebäude herum. Ich nahm an, wir würden durch die Hintertür eintreten, doch sie ging am Haus vorbei. Nach einigen Metern bemerkte ich in der Dunkelheit ein zweites Haus, das hinter dem ersten stand. Immer weiter auf dem schmalen Weg, gingen wir auch noch an diesem vorbei, bis wir an ein drittes kamen, das kleiner war als die vorherigen zwei. „Wohnt Pastor Korbut nicht im ersten Haus?“ fragte ich leise, weil ich in Sorge war, sie würde uns an den falschen Platz führen. „Früher wohnte er dort“, gab sie flüsternd zurück, „doch vor einigen Monaten ist die Geheimpolizei in das Vorderhaus eingezogen und hat ihn nach hier umquartiert. Ich bin sicher, Gott hat euch die Straße und das Haus nicht finden lassen, sondern mich als Führer geschickt. Würdet ihr am Vorderhaus geklopft haben, wäre es die Geheimpolizei gewesen, die ihr nach Pastor Korbut gefragt hättet.“ Sie klatschte sich mit beiden Händen an den Kopf. „Das wäre sehr ernst für ihn geworden. Er ist kürzlich erst aus dem Gefängnis gekommen. Dort ist er gefoltert worden. Sie haben ihn zerbrochen.“ Pastor Korbut sah tatsächlich wie ein zerbrochener Mann aus. Er ließ uns aufgeregt in seine armselige Behausung ein. Doch das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte gezwungen und schien nur an der Oberfläche zu existieren. Er wirkte älter, als er war, verbraucht und schwach. Er war ein großer, vornübergebeugter Mann. Aus einer Ecke brachte er zwei weitere Stühle herbei. An seinen Schritten merkte man, daß sie ihm Schmerzen bereiten mußten, und die Erinnerungen, die dann wach wurden, verursachten sicherlich nur noch vermehrte Schmerzen. Nachdem er uns mit der Würde und Gastfreundlichkeit eines Fürsten zum Sitzen eingeladen hatte, fiel er mit einem Schnaufer der Erleichterung auf seinen eigenen Stuhl. Sein Gesicht nahm den Ausdruck nachdenklicher Betrübnis an, welche er von Zeit zu Zeit durch das leere, gemachte Lächeln zu vertreiben suchte. Seinen Augen fehlte etwas Entscheidendes. Sie ermangelten der Tiefe, so, als hätte man ihm die Seele aus dem Leibe gerissen. Niemand in der Familie verstand eine andere Sprache als die bulgarische. Deshalb mußte Sonja alles ins Deutsche übersetzen, wobei sie von sich aus weitere Einzelheiten über des Pastors kürzliche Gefangenschaft hinzufügte, bis wir die ganze trübselige Geschichte kannten. Er selbst würde sie nicht so klar erzählt haben. Vor einigen Monaten hatte man einem Besucher aus Schweden einen Brief mitgegeben, den er in Griechenland aufgeben sollte, damit er nicht den bulgarischen Kontrolleuren in die Hände fiel. Während er in Griechenland war, hatte er jedoch vergessen, den Brief abzusenden. Auf seiner Rückreise nach Westeuropa fuhr er wieder durch Bulgarien und dabei war der Brief den bulgarischen Grenzbeamten in die Hände gefallen, als sie ihn durchsuchten. Der nicht unterschriebene Brief war an den bulgarischen Pastor adressiert, den ich während seiner Dänemarkreise übersetzt hatte. Obwohl der Brief nichts anderes enthielt als Grüße von Christen aus Bulgarien, wurde Pastor Korbut verhaftet und man versuchte durch Folterungen aus ihm herauszubringen, wer den Brief geschrieben hatte. Schon seit Jahren hatte Pastor Korbut Kreislaufschwierigkeiten in seinen Beinen. Da die Polizei dies wußte, zwangen sie ihn, während der Verhöre viele Stunden zu stehen, so daß seine Beine derart anschwollen, daß er vor Schmerzen nicht mehr stehen konnte. Endlich war er zusammengebrochen. In diesem Zustand, nicht mehr in der Lage, die Schmerzen weiter zu ertragen, hatte er den Namen der Person genannt, die den Brief geschrieben hatte: es war ein anderer Untergrundpastor. Pastor Korbut wurde freigelassen und der andere Pastor verhaftet. Pastor Korbut hatte sich selbst nicht vergeben können, daß er einen Bruder in Christo verraten hatte, und wurde seither unaufhörlich von Scham und Reue geplagt; und dies schien schlimmer zu sein als die physischen Schmerzen, durch die man ihn im Gefängnis zerbrochen hatte. „Wir können unter den augenblicklichen Umständen einige der Gebote Christi einfach nicht ausführen“, sagte Pastor Korbut. „Zum Beispiel das Gebot, in alle Welt zu gehen und das Evangelium zu predigen. Wir können nicht in andere Länder gehen.“ Er zuckte mit den Schultern und das schwache Lächeln erschien für einen Augenblick. „Also müssen wir in unserem eigenen Land unser Bestes tun. Und das ist sehr schwierig.“ Er schloß seine Augen und sein Gesicht wurde wieder von Schmerz und Leid überzogen. „Ihr könnt nicht ahnen, wie schwer es ist.“ Frau Korbut legte ihre schmale ausgearbeitete Hand auf die ihres Mannes. Der Ausdruck seines Gesichts wurde wieder etwas heller und er lehnte sich auf seinem Stuhl vor. „Wir können für die beten, die in alle Welt gehen. Es muß auch welche geben, die beten, und das haben wir gelernt zu tun. Aber wir brauchen Berichte von anderen Ländern, um zu wissen, wofür wir beten sollen. Ich hoffe deshalb, ihr werdet uns verzeihen, wenn wir euch viele Fragen stellen.“ Er schien von unserem Besuch und dem Gedanken, daß wir eine so weite Reise gemacht hatten, um ihn aufzusuchen, überwältigt zu sein. Die Gemeinde in Bulgarien war also im Westen nicht vergessen. Daß wir für ihn und die Untergrundgemeinden, denen er diente, beteten, bewegte ihn tief. Tränen liefen über sein Gesicht, als wir ihm das Geld übergaben, das wir für ihn mitgebracht hatten. Der Eindruck der armseligen Behausung hatte uns klar gemacht, daß die Korbuts es dringend benötigten. Doch er und seine Frau erhoben immer wieder starke Einwände, weil es zu viel sei. Endlich nahmen sie es an. Frau Korbut legte einen Arm um ihren Mann und sie beteten zusammen. Sie schienen sich unserer Gegenwart gar nicht mehr bewußt zu sein, während sie mit emporgehobenen Gesichtern weinend Gott dankten. Es wurde spät und wir mußten gehen. Die Korbuts umarmten uns heftig. Beide schienen ein wenig froher zu sein, als sei die Last erleichtert worden, die sie trugen. Während wir Sonja durch die Dunkelheit auf die Straße folgten, stand ich unter dem starken Eindruck, daß wir mehr mitgebracht hatten als nur Geld. So sehr sie dies auch gebraucht hatten, etwas anderes war noch nötiger gewesen: die Bestätigung, daß Christus sie verstand und vergab und daß sie von ihrem Vater im Himmel nicht verlassen worden waren. Ich war sicher, daß dies das größte Geschenk war, was Er ihnen durch uns gesandt hatte; und mein Herz war froh darüber. Wir erreichten die Straße und Sonja ging wieder in die Richtung, aus der wir gekommen waren. An der nächsten Ecke aber bog sie nach links ab und nach dem nächsten Block bog sie wieder ab. Wir gingen nun wieder in derselben Richtung, in der wir schon am frühen Abend gegangen waren, aber in einer Parallelstraße. Ich konnte meine Neugier dieses seltsamen Manövers wegen nicht mehr zurückhalten und fragte: „Warum tust du das?“ „Man geht nie denselben Weg zurück, den man gekommen ist“, sagte sie leise, „es gibt in jedem Block Spitzel.“ „Und die sind so spät in der Nacht noch munter?“ fragte Rene ungläubig. „Man kann es nie wissen. Aber die Chance ist die kurze Strecke Umweg wert.“ Wir schwiegen beide. Sie schien zu ahnen, was wir empfanden. „Man kann einem Menschen aus dem Westen wahrscheinlich nie ganz erklären, was dieses System unserem Land angetan hat. Wir wissen nie, wer ein Spitzel ist. Es könnte sogar jemand aus unserer Familie sein. Dadurch wird das natürliche Vertrauen und die Zuneigung zerbrochen, die zwischen Menschen bestehen sollte. Du mißtraust jedem - manchmal sogar anderen Christen. Es ist schrecklich.“ „Ich glaube nicht, daß ich hier leben könnte“, sagte Rene. „Wir haben keine Wahl. Hätten wir sie . . .“ Dieser unvollendete Satz hing immer noch in der Luft, als wir etwa 15 Minuten später Pastor Tisjkows Haus erreichten. Auf unser leises Klopfen hin wurde prompt geöffnet. „Wir haben dich den ganzen Tag erwartet“, rief er aus, während er mich umarmte. „Wir haben uns danach gesehnt, euch zu sehen.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte ich etwas beunruhigt. „Niemand wußte von unserer Reiseroute. Nicht einmal meine Frau weiß, daß ich heute hier bin. Wie also konntest du wissen, daß wir heute kommen.“ „Gott im Himmel weiß es“, antwortete er schlicht und zeigte nach oben. Dabei strahlte sein Gesicht vor kindlichem Vertrauen. „Und wie war es mit meinem Namen? Woher wußtest du den?“ bohrte ich weiter. Die Frage hatte mich beschäftigt, seit er mir in der Kirche meinen Namen zugeflüstert hatte. Sicherlich hatte keiner unserer Kuriere diesen mitgeteilt. Sie wußten nur zu gut, daß sie keine Informationen weitergeben durften, die zu einem Strick um den Hals dieses Pastors werden konnten, wenn er verhört wurde. Pastor Tisjkow zuckte mit den Schultern und gab mir wieder dieselbe rätselhafte Antwort: „Gott im Himmel weiß es.“ Sein Gesichtsausdruck sagte mir, daß ihm selbst diese Erklärung genügte. Es war so einfach: Was Gott im Himmel weiß, das sagt Er Seinen Kindern auf der Erde, wenn es nötig ist. „Ja, ich weiß, daß Gott im Himmel alles weiß“, gab ich hilflos lachend zurück. „Aber woher wußtest du?“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Siehst du meine Tochter dort?“ Er zeigte auf ein schmales, intelligent aussehendes Mädchen, das mich mit seltsamer Faszination ansah, seit wir eingetreten waren. Ich nickte. „Sie ist neun Jahre alt. Vor einer Woche hatte sie einen Traum. Sie sah zwei Männer, die westliche Kleidung trugen, auf der Empore unserer Kirche sitzen. Einer hatte starkes dunkles Haar, wie dein Freund. Der andere war schon fast kahl, genau wie du.“ Er lachte gutmütig und fuhr fort: „Doch was sie am meisten beeindruckt hatte, war das weiße Taschen- tuch, das aus der Brusttasche des kahlen Mannes herausschaute.“ Ich blickte hinab und sah das Taschentuch. Eigentlich hatte ich vorgehabt, diesen auffälligen westlichen Anzug zu wechseln und statt dessen einen dunkleren älteren zu tragen, mit dem ich in den Straßen Sofias nicht so auffallen würde. Doch durch die Flugzeugverspätung war die Zeit so knapp geworden, daß ich es nicht mehr getan hatte. „Sie hat noch nie in ihrem Leben jemand ein Taschentuch so tragen sehen“, lachte er, „und sprach deshalb die ganze Woche darüber.“ Rene und ich schauten uns an. Das war fast zu viel. „Aber mein Name?“ fragte ich weiter, immer noch kämpfend, um zu begreifen, was er erzählte. „Wir verstanden bald, daß dieser Traum besondere Bedeutung hatte, und deshalb baten wir den Herrn, uns die Auslegung zu geben. In der letzten Nacht hatte meine Frau den gleichen Traum und der Herr sagte ihr, dein Name sei Neerskov und du würdest kommen und uns besuchen.“ Ich atmete tief, lehnte mich im Stuhl zurück und schaute wieder zu Rene. Er schien genauso sprachlos zu sein wie ich. Wir kamen beide aus einer Pfingstgemeinde und glaubten an Wunder und Visionen. Doch ich konnte sehen, daß es ihm genauso schwer fiel wie mir, diese Geschichte einfach und schlicht zu glauben. Nicht etwa, daß ich Pastor Tisjkow nicht glaubte. Ich war sicher, daß er die Wahrheit erzählte. Doch ich war erschüttert von der schlichten und engen Gemeinschaft, die diese Menschen mit Gott hatten, denn dieses Erlebnis stellte mich vor eine niederschmetternde Frage: Wenn dies Christentum war, was war dann das, was wir im Westen so zu haben pflegen? 7 Krieg und Frieden „Schau! Schau! Da oben - über uns!“ Ich gab dem Ball einen Tritt und drehte mich um, um zu sehen, worüber mein Freund so aufgeregt war. Wir standen auf dem Spielplatz unserer Schule und auch andere Kinder zeigten in den Himmel. Und dann dröhnte der betäubende Donner über uns hinweg wie das Rauschen eines gewaltigen Stromes. Jetzt sah auch ich die Flugzeuge, die' im Formationsflug, Welle nach Welle, auf das Zentrum von Kopenhagen hinabtauchten. Unser Fußballspiel war vergessen. Wir standen bewegungslos und schauten fasziniert dem Schauspiel zu. Dann rief jemand: „Hurra! Hurra! Die Engländer sind hier, um uns zu befreien! Hurra! Hurra!“ Wir hatten gerade Unterrichtspause und alle Kinder, die im Freien waren, begannen zu schreien: „Hurra! Hurra! Die Engländer sind gekommen, uns zu befreien. Hurra! Hurra!“ Wir Kinder waren noch zu jung - ich war zwölf um zu verstehen, daß viele der Bomben, die das Hauptquartier der deutschen Besatzungsmacht und andere militärische Einrichtungen in Kopenhagen treffen sollten, ihr Ziel verfehlen würden und Verderben genauso über die Freunde wie über die Feinde brachten. Unsere Schule lag auf einem Hügel. Von dort aus konnten wir an diesem wolkenlosen Märztag genau verfolgen, wie Tonnen von Bomben aus den Schächten der Maschinen auf Kopenhagen fielen, wie große Eier aus mächtigen Vögeln, die aus der Sonne zu kommen schienen. Während wir die Zerstörung beobachteten, die auf die Stadt herabregnete, die Explosionen der Bomben hörten und die Rauchpilze aufsteigen sahen, dachten wir nicht daran, daß viele auch uns heb gewordene Gebäude in Trümmer fielen und daß Freunde starben. Wir sahen darin nur den Anfang vom Ende der Deutschen, die unser Land besetzt hielten, und tanzten und bejubelten die Flugzeuge und die Bomben, als hätten sie uns hören können. Meine Mutter daheim betete inbrünstig. Wir waren vier Kinder - zwei Jungen und zwei Mädchen, ich war der Jüngste -und alle gingen wir in verschiedene Schulen. Das Radio hatte berichtet, daß eine Schule von Bomben getroffen und alle Kinder getötet waren. Meine Mutter hatte das Gefühl, als wolle der Tag nie enden, bis im Laufe des Nachmittags alle vier Kinder und der Vater nach und nach heil und gesund daheim eintrafen. Wir versammelten uns im Wohnzimmer, um Gott für Seine Gnade zu danken und für andere zu beten, die nicht so bewahrt worden waren. Die Bomben hatten eine französische Schule ziemlich im Zentrum der Stadt getroffen und Hunderte getötet und verwundet. Der Krieg hatte viele Menschen in Dänemark dazu gebracht, sich ernstlich Gedanken über ihr Verhältnis zu Gott zu machen; zumindest zeitweise. Ich hatte Szenen miterlebt, die mich schon als Junge über den Sinn des Lebens nachdenken ließen, und dabei waren Eindrücke in meinem Leben geblieben, die ich nie vergessen werde. Es war ein Tag, der so friedlich begann. Doch dann schossen deutsche Soldaten in eine lange Reihe von Menschen, die warteten, um Brot kaufen zu können. Der erstaunte und erschreckte Blick derer, die von Kugeln getroffen wurden, die Schreie der Frauen und Kinder, die Angst, Furcht und Entschlossenheit in den Gesichtern der Menschen, alles war schrecklich. Kopenhagen streikte fünf Tage lang und wurde von Verpflegung, Wasser und Elektrizität abgeschnitten. Der Stacheldrahtverhau, den die deutschen Truppen um die Stadt zogen, ging nahe an unserem Haus vorbei. Da waren die Menschen, die zu entfliehen versuchten. Mir fiel besonders ein junger Mann mit blondem lockigen Haar auf, der mit seiner alten Großmutter auf einem dreirädrigen Fahrradkarren zu entkommen suchte. Solche Erlebnisse machten mir bewußt, wie zerbrechlich das Leben ist und wie sehr wir es nötig haben, uns auf die Stunde vorzubereiten, wenn wir vor Gott stehen müssen. Meine Mutter nahm uns Kinder jeden Abend zum Gebet zusammen. Vater kam auch dazu. Wir sangen die alten Lieder, lasen aus der Bibel und baten Gott, uns zu bewahren und unserem Lande die Freiheit wiederzugeben. Mein Vater hatte sein Geschäft während der Wirtschaftskrise 1932 verloren, und als er sich ein neues aufgebaut hatte, nahmen es die Deutschen ihm wieder weg, als sie Dänemark besetzten. Diese und andere Nöte sorgten dafür, daß in unserer Familie das gemeinsame Gebet gepflegt wurde. Ich wuchs mit dem festen Glauben auf, daß Gott real und lebendig ist und daß Er bereit ist, uns zu helfen, wenn wir Ihn anrufen. Kurz nach dem Krieg wurde ich in der Dänischen Staatskirche (lutherisch) konfirmiert. Dort war ich auch als Säugling getauft worden. Ich wuchs als Junge mit der Meinung auf, daß ich ein Christ sei, und zwar einfach deshalb, weil ich zur Kirche gehörte. Ich schämte mich zwar, meinen Freunden zu sagen, daß ich mit meinen Eltern regelmäßig zur Kirche ging, denn ich hatte Angst, ihre Achtung zu verlieren. Keiner von ihnen, noch ihre Eltern, gingen zur Kirche; außer bei Hochzeiten und Beerdigungen natürlich, und manchmal Weihnachten oder Ostern oder vielleicht bei der Konfirmation eines Verwandten oder engen Bekannten. Unsere Familie besuchte regelmäßig den großen Dom, der mehr als 2000 Sitzplätze hatte. An einem normalen Sonntagmorgen waren ungefähr 35 Besucher anwesend. Ich kann mich nicht erinnern, daß irgend jemand darüber jemals besonders besorgt gewesen wäre. Man sah dies als normal an. Uns gab diese Tatsache das Gefühl besonderer Gerechtigkeit, denn wir waren die „wenigen Treuen“, auf deren Besuch der Pfarrer rechnen konnte. Der Pfarrer, der meist im Dom predigte, war ein guter Freund meiner Eltern, und wir Kinder waren im selben Alter wie die seinen. Unsere Familien verlebten oft freie Tage und Ferien zusammen. Ich schätzte ihn als Mensch. Es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein. Doch als ich in meine mittleren Teenagerjahre kam, bedrückte es mich mehr und mehr, daß er die Regel hatte, an seinen freien Tagen nie über Gott oder die Religion zu reden. Genau beschaut redete er auch auf der Kanzel nicht sehr viel von Gott. Seine Predigten beschäftigten sich meist mit Politik und Philosophie, oder mit Psychologie und sozialen Reformen. Eines Sonntags, als es schon zu spät war, noch in den Dom zu gehen, nahm meine Mutter uns mit in eine andere Staatskirche, die näher bei unserem Haus lag. Dort predigte an diesem Morgen ein sehr feuriger Pfarrer, dessen Predigt sich völlig an die Bibel anlehnte. Und genau das war es, was ich zu hören wünschte. Mir schien dies wichtiger und gediegener zu sein als die menschliche Weisheit, die im Dom gepredigt wurde. Von da an ging ich so oft als möglich zu den Gottesdiensten dieses bibelfesten Pfarrers. In dieser Kirche gab es einen reichen und etwas überspannten Mann, der mir im Blick auf die Religion etwas sehr seltsame Ideen zu haben schien. Nach einem Sonntagsgottesdienst stellte er sich mir in den Weg, schaute mich durchdringend an und wollte wissen, ob ich gerettet sei. Dieser Ausdruck war mir unbekannt, doch ich vermutete, es habe etwas damit zu tun, ob man in den Himmel komme. Dies war nach meiner Meinung eine Sache, die niemand wissen konnte, bevor er starb. Doch wenn schon jemand dorthin kam - dann sicherlich ich. Ich sagte ihm, daß ich getauft und konfirmiert sei wie jeder andere und versuchte ihm mit Andeutungen klarzumachen, daß alles weitere niemand anderes etwas anging. Ich versuchte, diesem seltsamen Mann so viel wie möglich aus dem Wege zu gehen und stellte zu meiner nicht geringen Befriedigung fest, daß fast alle anderen Leute in dieser Kirchgemeinde ihm gegenüber ähnliche Empfindungen hatten wie ich. Ungefähr sechs Monate nachdem ich begonnen hatte in diese Kirche zu gehen, saß ich einmal mit einem engen Freund von mir vor unserem Haus. Wir unterhielten uns darüber, was wir nach der Schulzeit werden wollten. Wir waren beide siebzehn Jahre alt und Freunde seit unserm fünften Lebensjahr. „Das Leben bedeutet mehr als nur einen guten Job zu finden und viel Geld zu machen“, sagte ich ernst. „Wir müssen daran denken, daß es nach dem Tode weitergeht und sollten uns auch darauf vorbereiten.“ „Ich habe mir schon lange gewünscht, mehr von Gott zu hören, Hans“, sagte Arne. Ich war so erstaunt, als ich dies hörte, daß mir ganz schwach wurde. „Es gibt nur eine Möglichkeit dazu: du mußt zur Kirche gehen“, sagte ich. Am nächsten Sonntag ging er mit mir zum Gottesdienst, um den bibelfesten Pfarrer zu hören, und kam von da an regelmäßig. Ich bemerkte bald, daß sich Arne erstaunlich verändert hatte. Wir hatten sehr häufig miteinander gezankt und unser Streiten endete oft in regelrechten Prügeleien. Doch Arne war jetzt anders und ich konnte nicht mehr mit ihm streiten. Das bekümmerte mich ziemlich und ich begann zu vermuten, daß er sich einiges von den Predigten zu Herzen genommen hatte, was ich selbst aus Stolz nicht akzeptieren wollte. „Was ist mit dir los, Arne?“ fragte ich ihn eines Tages, nachdem ich eine ganze Woche mit mir gekämpft hatte, ob ich ihn dieserhalb überhaupt ansprechen sollte. „Du bist so verändert!“ „Christus hat mich gerettet, Hans“, rief er freudig. „Ich wußte nicht, wie ich dir das erzählen sollte, .deshalb bin ich froh, daß du fragst. Es ist wunderbar. Alles ist jetzt anders als früher.“ „O nein!“ dachte ich. „Nur nicht das. Dies ist ja dieselbe Sache, über die der komische Alte immer redet.“ Ich war wütend genug, um zu explodieren, brachte es aber mit großer Anstrengung fertig, mein Temperament unter Kontrolle zu halten. Laut sagte ich: „Ich habe dir ja erst geraten, zur Kirche zu gehen, das weißt du. Und jetzt, da du erst sechs Monate hingehst, bildest du dir ein, besser zu sein als ich. Vielleicht weißt du es ja nicht, aber ich gehe schon mein ganzes Leben lang zur Kirche.“ „Aber du bist ein Sünder, Hans“, sagte Arne schlicht. Jetzt wurde ich richtig zornig. Am liebsten hätte ich eine richtige Prügelei mit ihm vom Zaune gebrochen, doch ich wünschte mir für mich selbst so dringend Hilfe, daß ich meinen Zorn unterdrückte. Seit Wochen hatte ich um Mut gekämpft, um einmal mit dem bibelfesten Pfarrer über meine innere Not zu reden, doch Arne war in meinem Alter und würde mich sogar noch besser verstehen. Es fiel mir nicht leicht, Arne um Hilfe zu bitten, doch ich war der Verzweiflung nahe. „Ich möchte, daß du mir mehr darüber erzählst, Arne“, begann ich. „Ich meine, wie das war, was du sagst, und dann .. Ich zögerte und suchte nach Worten. Plötzlich sprang Arne auf und schaute auf seine Armbanduhr. „Oh, ich habe fast vergessen . . . Hans, ich habe eine dringende Verabredung. Wir unterhalten uns ein anderes Mal weiter darüber. Es tut mir leid.“ Er drehte sich um und lief schnell davon. Jetzt stand ich richtig unter Dampf. „Erst erzählt er mir, er sei gerettet und ich sei ein Sünder“, dachte ich, „und wenn ich ihn ehrlich bitte, mir zu helfen, dann hat er keine Zeit. Der will ein Christ sein? Ein Pharisäer ist er!“ In der Nacht wachte ich auf und Arnes Worte durchfuhren mich immer wieder wie Hammerschläge: „Du bist ein Sünder, Hans! Du bist ein Sünder, Hans!“ Ich war zu stolz, dies zuzugeben und hatte große Schwierigkeiten wieder einzuschlafen, weil ich gegen diesen Satz ankämpfte. Ich war sehr religiös und versuchte auch fromm zu leben. Ich war getauft und konfirmiert. Was sollte dann dieses Gerede über gerettet sein heißen, und warum erlebte Arne es, der doch erst einige Monate zur Kirche ging, und ich nicht, obwohl ich schon immer die Gottesdienste besuchte? Zwei Tage und Nächte dauerte dieser Kampf in mir. Mich quälten die Worte: „Du bist ein Sünder, Hans.“ Ich hatte keinen Appetit und konnte nicht schlafen. Als ich am dritten Tag mit der Straßenbahn fuhr, hatte ich mich allein hinten hingestellt, weil ich mich zu elend fühlte, um in der Nähe anderer Menschen zu sitzen. Ein Betrunkener bestieg den Wagen und ging unbeholfen durch den Mittelgang, um einen Sitz zu finden. Dann sah er mich und torkelte herbei, um mit mir eine Unterhaltung zu beginnen. Ich konnte seinen Geruch nicht ertragen. Doch noch mehr fürchtete ich, daß Freunde mich mit ihm sehen könnten. Ich war immer stolz darauf gewesen, nur mit anständigen Menschen Umgang zu haben. Und nun stand der Betrunkene mit blutunterlaufenen Augen und verdreckter und schmutziger Kleidung neben mir und redete schwerfällig auf mich ein. Ich drehte ihm den Rücken zu und ging auf die andere Wagenseite. Doch er stolperte hinter mir her und fuhr fort, mir Einzelheiten aus seinem unglücklichen und enttäuschten Leben zu erzählen. Von meinen eigenen Problemen bedrückt, floh ich vor ihm wieder von einer Seite zur anderen. Doch hartnäckig taumelte er hinter mir her und belästigte mich durch den Alkoholgeruch und die ekligen und wirren Erzählungen über seine Enttäuschungen und Fehlschläge. Etliche Mädchen hatten sich von ihm abgewandt. Er hatte oft seine Arbeit verloren, weil er so viel trank. Immer wieder hatte er versucht, von diesem Laster loszukommen, fand aber nicht die moralische Kraft dazu. Ich überlegte gerade, ob es nicht besser sei, in das Wageninnere zu flüchten und einen Sitz neben einem anderen Fahrgast zu finden, um ihn so loszuwerden, als etwas, das dieser aufdringliche Kerl sagte, mich festhielt. „Ich weiß, daß ich ein Sünder bin“, stotterte er, während ihm Speichel an dem verdreckten und zerrissenen Hemd hinunterlief. Diese Worte dröhnten wie eine Posaune in meinen Ohren. Ich packte ihn am Arm und rief: „Dann sind Sie einer der glücklichsten Menschen der Welt!“ Dabei schüttelte ich ihn, um sicher zu sein, daß er mir auch zuhörte. „Nein, ich bin der armseligste Mann der Welt“, klagte er. „Aber Sie sagten, Sie seien ein Sünder. Wissen Sie nicht, daß Jesus am Kreuz für Sünder wie Sie gestorben ist?“ Er schaute mich durch seine schwer herabhängenden Augenlider an und legte den Kopf auf die Seite. Ein Funke des Begreifens schien in seine Augen zu kommen. „Das ist etwas, was meine Mutter auch immer gesagt hat“, meinte er ernst. „Sie hat viele Jahre für mich gebetet.“ „Ihre Mutter hat recht“, fuhr ich eifrig fort und kam um seinetwillen richtig in Eifer. Die Lösung für sein Problem war ja so einfach. „Jesus starb für Sünder, und Sie sind ein Sünder. Rufen Sie Ihn an - Er wird Sie erretten. Die Bibel sagt, daß es so ist.“ Tränen rollten ihm über das Gesicht. „Ja, das will ich tun!“ rief er. Er klammerte sich an die Lehne eines Sitzes, schaukelte trunken hin und her und begann laut zu beten. Er bat Jesus, ihm zu vergeben und in sein Herz zu kommen. Vor meinen erstaunten Augen ging eine unglaubliche Verwandlung vor sich. Der Ausdruck seines Gesichts wechselte von trunkenem Stumpfsinn in wache Intelligenz. Friede und Freude strahlten plötzlich aus seinen Augen und er schien einer der beeindruckendsten Menschen zu sein, denen ich je begegnet war. ln diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und mir wurde noch etwas anderes klar: Ich begriff plötzlich, daß das Verhältnis des Menschen zu Gott auf Gnade beruht und nicht auf guten Werken, auf die ich bisher so stolz gewesen war und die mich gehindert hatten zu erkennen, daß auch ich ein Sünder war. Wie durch eine himmlische Offenbarung sah ich den Stolz, die dickköpfige Rebellion und den selbstsicheren Trotz meines eigenen Herzens. Niemand konnte ein größerer Sünder sein als ich. Und plötzlich war ich froh, daß Jesus für mich gestorben war. Ich übergab Ihm meinen Stolz, der die Tür meines Lebens verschlossen gehalten hatte, so oft Jesus auch bisher anklopfte, und öffnete Ihm mein Herz. Und im gleichen Augenblick war mir auch bewußt, daß Er in mein Leben eingezogen war, um in mir zu wohnen. „Ich bin auch gerettet!“ rief ich und schüttelte seine Hand. Wir standen da und schauten uns an wie zwei Kinder, die einen Schatz gefunden hatten. Dann begannen wir beide zu lachen. Es war ein Lachen, das ich vorher noch nicht gekannt hatte. Es war mir, als habe in meinem Inneren ein Brunnen der Freude zu sprudeln begonnen. Als wir die Bahn verließen und zusammen die Straße entlang gingen, sang irgend etwas in meinem Inneren immer wieder den Chorus des alten Liedes: „Dies hab‘ ich erlebt, Gott sei dafür die Ehre, ich bin nur ein Sünder errettet durch Gnad‘!“ Diese Worte hatten mich oft geärgert und verlegen gemacht. Ich war immer still gewesen, wenn andere sie gesungen hatten. Doch jetzt war dieser Chorus mein eigenes Lied. In dem Bewußtsein, daß Gott mir durch Christus vergeben hatte, wollte mich die Freude überwältigen. Ich fühlte mich gereinigt, erleichtert und frei. Als Brüder in Christo und neue Kinder in Gottes Familie gingen wir, uns eifrig unterhaltend, die Straße entlang, bis wir zu der Ecke kamen, wo er rechts zu gehen hatte und ich links. Als wir dort auf dem Fußweg standen, um uns zu verabschieden, aber damit immer noch zögerten, wurde mir plötzlich bewußt, daß wir vor dem Haus standen, in dem der Pfarrer wohnte, durch dessen Predigten ich den Anstoß bekommen hatte, mein Leben ganz Christus zu übergeben. Plötzlich umarmten wir uns. Ich mochte es gar nicht gern, meine Gefühle auf solche Weise auszudrücken. Doch diesmal geschah es spontan, und ich war selbst überrascht davon. Ich fühlte eine große Liebe für diesen Mann und war glücklich darüber, daß wir uns gegenseitig geholfen hatten, in das Reich Gottes hineinzutreten. Es wurde eine lange, feste Umarmung. Sie erweckte einen ganz neuen Sinn der Bruderschaft in mir, nicht nur für ihn, sondern für alle Glieder der Familie Gottes - sogar für diesen alten seltsamen Mann in der Kirche. Endlich ließen wir uns los, verabschiedeten uns, und jeder setzte seinen Weg fort. Da sah ich plötzlich den Sohn des Pfarrers, der in meinem Alter war, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck aus dem Fenster schauen. Er wußte, was für ein stolzer Heuchler ich war und hatte mit wachsender Verwunderung zugeschaut, wie ich diesen verwahrlosten Landstreicher umarmte. Ich war selbst überrascht, daß mir diese Entdeckung nichts ausmachte, winkte ihm zu und ging, mein neues Lied vor mich hinsummend, glücklich die Straße hinunter in Richtung unseres Hauses. 8 Flüchtlinge und Erweckung Von jenem Tage an war ich ein anderer Mensch. Meine Religion hatte sich in eine Lebensgemeinschaft verwandelt, und zwar nicht mit irgendeiner Kirche, sondern mit dem lebendigen Gott. Beten, was für mich bisher eine Sache der Form und Zeremonie war und wozu ich die richtige religiöse Umgebung brauchte, wurde jetzt zu einem ungezwungenen Teil meines Lebens und war mir überall und zu jeder Zeit möglich. Überrascht stellte ich manchmal fest, daß ich mit Gott redete, als sei Er tatsächlich anwesend und hörte zu. Mein Gebetsleben wurde so vertraut, daß es mir oft mehr eine Unterhaltung mit Gott zu sein schien, obwohl mir Beten vorher immer als eine schwierige und beschwerliche religiöse Notwendigkeit erschienen war. Durch dieses neue und wunderbare Erlebnis der persönlichen Gemeinschaft mit Gott durch den auferstandenen Christus, der in mir lebte, wuchs in mir immer mehr das Bewußtsein, daß Gott sicherlich auch einen bestimmten Plan für mein Leben hatte. Doch schien mir dies eine Sache zu sein, die noch mehr in der Zukunft als in der Gegenwart zu suchen war. Ich wußte noch nichts von dem Tag für Tag geführt werden, das die mit Gott erleben, die wirklich auf Seine Führungen warten. Als ich 1954 die Höhere Handelsschule und den Militärdienst beendet hatte, ging ich nach Hamburg, um dort ein Jahr als Volontär ohne Bezahlung in einer Baubedarfsgroßhandlung Erfahrungen zu sammeln. In dieser Zeit wurde ich in alle für das Geschäftsleben nötigen Gebiete eingearbeitet: Einkauf, Verkauf, Kalkulation, das Feststellen der nötigen Gewinnspannen usw. Kurz, alles was nötig war, um später einmal die Großhandlung meines Vaters übernehmen zu können, denn es war geplant, daß dies geschehen sollte. Zu jener Zeit gab es noch keine Mauer in Berlin. Die Ostdeutschen kehrten dem kommunistischen „Paradies“ zu Zehntausenden den Rücken und flohen nach Westberlin. Von Berlin aus kamen viele Flüchtlinge nach Hamburg - an manchen Tagen mehr als tausend -, wo sie vorübergehend in Lagern blieben, bis sie in anderen Teilen des Landes eine Arbeitsstelle und Wohnung fanden. Eine ehemalige Kaserne in Wentorf, die von den Bomben verschont geblieben war, diente als solches Flüchtlingslager, in dem gewöhnlich etwa zehntausend Flüchtlinge untergebracht waren. Die Lebensbedingungen waren fürchterlich. Oft wohnten mehr als zwanzig Menschen in einem der kleinen Räume. Es waren Menschen, die oft nicht viel mehr als die Kleidung, die sie trugen, mitgebracht hatten. Aber die Freiheit schien ihnen wichtiger zu sein als all ihr Besitz und die evtl. Ersparnisse, die sie im Osten zurücklassen mußten. Ich schloß mich einer unabhängigen Jugendgruppe an, die in diesem großen Lager das Evangelium verbreitete. Wir gingen durch die Baracken, sangen Lieder, verteilten Traktate und luden die Menschen zu unseren Gottesdiensten ein. Jede Woche versammelten sich in einer alten Garage etwa 500 Kinder zur Sonntagsschule und anschließend rund 300 Erwachsene zum Gottesdienst. Viele der Kinder und auch der Erwachsenen nahmen Christus als ihren Erlöser an. In diesem Lager hatte ich meine ersten Kontakte mit Menschen aus den kommunistischen Ländern des Ostens. Ich dachte aber nicht im Traum daran, daß mein Leben eines Tages ganz der Aufgabe gewidmet sein könnte, in diesen Ländern das Evangelium auszubreiten. Manche der Flüchtlinge waren Christen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich sie in meinem Eifer dafür tadelte, daß sie ihr Land verlassen hatten. „Ihr Zeugnis von Christus wird doch in Ihrem eigenen Land benötigt“, argumentierte ich eines Sonntagnachmittags mit einem jungen Flüchtling, der kurz vorher erst im Lager angekommen war. „Wenn alle Christen entfliehen, wer wird dann den Menschen, die Zurückbleiben, von Christus erzählen?“ „Wie können Sie so über meine Handlungsweise urteilen, wenn Sie die Verhältnisse in der DDR gar nicht kennen?“ antwortete der stattliche junge Mann ruhig. In seiner Stimme klangen Leid und Kummer mit, als hätte ich eine tiefe, noch offene Wunde berührt. „Ich war der beste Schüler der Klasse. Doch sie sagten, ich sei nicht intelligent genug, um weiter auf das Gymnasium zu gehen. So mußte ich die Schule mit fünfzehn Jahren verlassen. Der Grund: ich war ein Christ. Jahrelang hatten die Lehrer versucht, mich von meinem Glauben abzubringen, doch ich wollte mich nicht von Christus lossagen. Lieber wollte ich sterben. Ich versuchte, irgendwo als Lehrling unterzukommen, um einen Beruf zu lernen. Ich war bereit, alles zu tun. Doch die Leute in unserer Stadt hatten Angst mich einzustellen. Sie wußten, daß ich die Schule verlassen mußte, weil ich ein Christ war. Ich wollte weder meine Eltern noch die Stadt, noch die Freunde in unserer Gemeinde verlassen. Immer wieder versuchte ich es mit den seltsamsten Beschäftigungen, die ich hier und da vorübergehend bekam und die mir keine Gelegenheit ließen, meine Intelligenz und die Talente, die Gott mir gegeben hat, zu gebrauchen. Doch nach drei Jahren war mir klar, daß es keinen anderen Weg für mich gab. An meinem achtzehnten Geburtstag sagte ich zu meinen Eltern: ,Mutter, Vater, ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt, besonders aber dafür, daß ihr mich dazu geführt habt, Jesus Christus als meinen Erlöser kennenzulernen. Ich liebe euch sehr und möchte euch nicht verlassen. Aber es gibt hier keine Zukunft für mich.“ Wir umarmten uns und weinten. Der Gesichtsausdruck meiner Mutter brachte mich fast um - aber sie bat mich nicht, zu bleiben. Ich weiß nicht, ob ich meine Eltern auf dieser Erde noch einmal Wiedersehen werde.“ In der nächsten Stube lebte eine christliche Familie, die ich ebenfalls kennengelernt hatte. „Meine Frau ging allein“, erzählte Herr Schultz. Unsere älteste, gerade siebzehn Jahre alte Tochter fuhr mit unserem Jüngsten, der neun Jahre zählte, nach Ostberlin und ging dort in den Westen. Die beiden Jun-gens, vierzehn und elf Jahre alt, gingen zusammen bei Nacht über die Grenze. So lange es noch hell war, hatten sie sich ver- steckt. Wir hätten nicht als ganze Familie gehen können, weil wir zu viel Aufsehen erregten. Ich verließ als letzter das Haus. Vorher sammelte ich alle persönlichen Papiere zusammen, die ich nicht mitnehmen konnte, und verbrannte sie. Dann ging ich nochmals durch jedes Zimmer, berührte jedes Möbelstück, schaute durch die Fenster auf das vertraute Land ringsum, das mir wie ein Teil von mir selbst erschien. Mein Vater hatte das Haus gebaut und ich war darin geboren. Im Wohnzimmer stand ich etwa eine halbe Stunde und betrachtete das große Bild meines Vaters, das über den anderen Familienbildern hing. Ich hatte keine kleine Fotografie von ihm, die ich hätte mitnehmen können. Es war, als müßte ich mein Herz von seinen Wurzeln abtrennen, als ich mich endlich umdrehte und hinausging. Ich nahm den Schlüssel, um die Tür zu verschließen. Dann wurde mir klar, wie unsinnig dies war und ich warf ihn in den Hausflur. Ich schloß die Haustür und ging ohne noch einmal zurückzublicken. “ „Ich kann verstehen, wenn andere in den Westen fliehen, . . . aber bei einem Christen . . .?“ Ich versuchte die richtigen Worte zu finden, um ihn zu fragen, ob er wußte, daß er als Christ nicht weglaufen durfte, wollte ihn aber nicht so plump kritisieren wie andere Flüchtlinge, die mehr in meinem Alter waren. „Es geschah um unserer Kinder willen“, sagte er ruhig und unterdrückte das aufsteigende Gefühl in seiner Stimme. „Meine Frau und ich hätten es ertragen, aber wir mußten an unsere Kinder denken. Ich weiß, daß Sie denken, wir hätten bleiben müssen, um anderen von Jesus zu erzählen. Wir hätten es getan, wenn wir beide allein gewesen wären. Doch unsere Kinder - wir konnten nicht verantworten, sie unter einem System aufwachsen zu lassen, das alles tut, um sie zu Atheisten zu machen. Es wird schwer sein, hier neu anzufangen. Doch wir werden wenigstens frei sein zu glauben, was wir wollen; und die Kinder werden nicht in die Versuchung geraten, ihren Glauben zu verleugnen, um einen vernünftigen Beruf oder eine ordentliche Schulbildung zu bekommen.“ Die Berichte der Flüchtlinge von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die sie in solche Verzweiflung brachten, daß sie bereit waren, alles, was sie besaßen, um der Freiheit willen zu verlassen, erinnerten mich an die Besetzung meines eigenen Landes während des Krieges. Jene traumatischen Tage waren mit den meisten anderen Erinnerungen meiner Kindheit wie ein Schemen in die nebelhafte Vergangenheit zurückgetreten. Man vergaß so schnell. Doch jetzt stand ich wieder vor solchen inhumanen Taten, die Menschen an Menschen begingen. Die Tatsache, daß Menschen durch andere Menschen so viel leiden müssen, packte mich von nun an jedesmal, wenn ich durch die schmutzigen Kasernen ging, die Flüchtlinge sah und in ihren Gesichtern und Augen viel mehr an solchem Leid geschrieben stand, als sie bereit waren zu erzählen. Mir wurden die tieferen Zusammenhänge meiner neugefundenen Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus klar, als ich versuchte, die Lehren Christi in bezug auf die Welt, wie ich sie jetzt zu sehen begann, zu verstehen. Daß Christentum nicht die Ausübung irgendwelcher Formen oder Ritualien in Kirchen war, hatte ich mittlerweile schon begriffen. Doch jetzt wurde mir klar, daß Jesus Christus nicht gekommen ist, um eine neue Religion zu gründen, sondern um auf dieser Erde einmal die Herrschaft zu übernehmen. Zuerst verschwommen, aber dann immer deutlicher, erkannte ich, daß es auf dieser Erde weder Frieden noch Gerechtigkeit geben würde, bis Er nicht Seine Herrschaft angetreten hatte. Und daß Sein Königreich nicht durch neue soziale Reformen, neue politische Programme oder Ideologien, und am allerwenigsten durch Krieg und Gewalt errichtet werden konnte, war offensichtlich. Zunächst einmal mußte Christus in den Herzen der Menschen regieren. Er war nicht gekommen, um eine Armee aufzustellen, die Kriege und Schlachten ausfocht, noch wollte Er eine neue religiöse Organisation gründen, die Kompromisse aushandelte und Verträge mit Staaten schloß. Sein Ruf ging vielmehr an jeden einzelnen Menschen. Jeder sollte Ihm sein Leben übergeben, Ihm persönlich nachfolgen und bereit sein, das eigene Leben mit Christus in den Tod zu geben. Aus dieser Übergabe an Christus war eine neue Gemeinschaft wiedergeborener Menschen erstanden, die in einem neuen Leben unter der Herrschaft Christi lebten und die eine neue Gesellschaft - das Reich Gottes, die Gemeinde Jesu - bildeten, die so verschieden war von allen irdischen Staaten und menschlichen Träumen von Utopia, wie Licht von Finsternis oder die Wahrheit von der Lüge. Christliche Revolutionäre? Der Gedanke packte mich, als ich an die Erlösung Christi dachte, die Er für eine Menschheit vollbracht hatte, die nach Gottes Ebenbild gemacht war, aber jetzt diesem hohen Ruf entfremdet und eingesponnen war in Eigensucht, Sklaven ihrer eigenen ungöttlichen Ichsucht. Hier war eine Revolution im Gange, die die Herzen der Menschen durch die göttliche Liebe überwand und zustande bringen würde, was keine andere Revolution je vollbrachte noch vollbringen konnte - Friede und Gerechtigkeit auf die Erde zu bringen. Doch wenn ich an die Kirche dachte - sie war es doch, die all das verkörpern sollte, was Christus gelehrt hatte -, dann wurde mein Herz mutlos. Wo waren die Revolutionäre? Wo die Menschen, die bereit waren, ihr eigenes Leben niederzulegen, ja, die ihr Leben schon völlig Christus ausgeliefert hatten, damit Er durch sie leben konnte? Und unsere Jugendgruppe? Wir waren auch nicht besser. Unsere Besuche im Flüchtlingslager waren doch schon nur noch Gewohnheit, etwas, das weniger mit unserem Christentum zusammenhing als mehr damit, daß wieder einmal Sonntag war. Unser gemeinsames Bibelstudium erzeugte kein Leben, sondern in uns nur Stolz über wachsendes Wissen und Erkenntnis. Es war uns wichtiger geworden, den Menschen in ihrer sozialen Not zu helfen, als in ihrer geistlichen. Ehrliches Nachdenken zwang mich zuzugeben, daß wir mit all unserem Eifer mehr uns selbst dienten und erfreuten, als daß wir unser Leben einsetzten für andere; und genau das aber war es, davon wurde ich immer mehr überzeugt, was Christus von all denen forderte, die Ihm nachfolgen wollten. Ähnliche Überzeugungen wuchsen im Herzen eines anderen jungen Mannes unserer Jugendgruppe. Wir bekannten uns gegenseitig, wie wenig wir dem Vorbild glichen, das Christus selbst uns hinterlassen hatte. Zehntausende von Flüchtlingen ließen alles hinter sich, um aus dem Osten in den Westen zu kommen, verließen ihr altes Leben, um ein neues zu finden. Sollte die Flucht aus dem Reiche des Satans in das Reich Gottes etwa weniger kosten als dies? Christus hatte gesagt, daß jene, die Ihm nachfolgen wollten, alles verlassen mußten. Wir begannen, viele Stunden gemeinsam zu beten. Auf unseren Knien gelobten wir dem Herrn, daß wir nichts festhalten wollten, son- dem alles - unsere Besitztümer, unsere Freunde, unser eigenes Leben - Ihm ausliefern wollten, damit Er uns recht führen konnte. Ohne daß es uns selbst bewußt wurde, wurden unsere Gebete immer mehr auf bestimmte Ziele gerichtet. Wir beteten und weinten für Hamburg, für Deutschland - den Osten und den Westen - und für die Welt. Ein Eifer für das Königreich Christi brannte in uns. Unsere Gebetszeiten wurden immer regelmäßiger, länger und intensiver, bis unser Leben ein einziger, lauter, schluchzender und unaufhörlicher Schrei zu Gott um Erweckung wurde. Erweckung? Ich wußte nicht einmal genau, was das bedeutete, nur daß wir sie verzweifelt benötigten und daß sie in mir beginnen mußte, war mir klar. Irgendwie begriff ich, daß Erweckung das Werk des Heiligen Geistes ist. Also begann ich Gott zu bitten, mich mit dem Heiligen Geist zu erfüllen. Eines Abends wurde meinem Freund und mir plötzlich gewiß, daß eine Erweckung kommen würde. Gottes Geist würde in Hamburg etwas tun. Wir waren davon so überzeugt, daß wir vor innerer Freude fast überschäumen wollten. Als ich dann mit meinem Fahrrad durch die dunklen Straßen heimwärts fuhr, wurde ich plötzlich von einer entmutigenden Furcht ergriffen: Erweckung würde kommen und niemand war dafür bereit. Diese Besorgnis machte mich bestürzt. Ich befürchtete, mein Freund und ich waren uns nicht bewußt gewesen, um was wir beteten. Wir waren zu jung, um für Erweckung zu beten; die Kirche war nicht darauf vorbereitet und niemand würde wissen, was zu tun war. Immer wieder ging mir der Vers durch den Kopf: Das Kind ist zur Geburt gekommen, aber es ist keine Kraft da, es zu gebären. In hilfloser Angst sah ich, wie junge Leute zum Glauben kommen würden und den Wunsch hatten Christus zu folgen - aber dann würde niemand sie unterweisen. Unsicher würden sie sich wieder von Christus abwenden, den Glauben verleugnen und schlimmer werden als vorher. Ich stürzte in mein kleines Zimmer, fiel auf meine Knie und bekannte Gott, daß ich nicht vorbereitet und nicht würdig war für Ihn. „O Gott“, schluchzte ich, „ich kann nicht mehr in meiner eigenen Kraft kämpfen. Du selbst mußt durch mich wirken. Ich muß erfüllt' werden mit dem Heiligen Geist! Du mußt mich ganz ergreifen. Ich übergebe mich Dir völlig! Nimm mich und erfülle mich bis zum Überfließen. Gewinne andere durch mich. Gib mir die Kraft, für Christus zu zeugen, die Du den ersten Jüngern zu Pfingsten gegeben hast.“ Ich empfand, daß ich nichts Besonderes erbat, aber etwas, das unbedingt notwendig war, etwas Entscheidendes, das bisher in meinem Leben gefehlt hatte. Ein Gefühl des Friedens, der Ruhe und der Zuversicht durchdrang mich, und wieder wurde mein Herz mit Freude erfüllt. Meine Angst war geschwunden. Gewiß, ich war nicht bereit für die Erweckung und würde von mir aus nie bereit sein. Aber Gott würde mich mit Seinem Heiligen Geist erfüllen, so daß Er auch durch mich neue und wunderbare Dinge tun konnte. Dort auf den Knien vergingen die Stunden wie Augenblicke, so unmittelbar war meine Gemeinschaft mit Gott. Er war hier im Zimmer mit mir. Ich fühlte Seine Gegenwart und mein Herz bebte vor Freude. Aber - was war das für eine seltsame Sprache? Von meinen Lippen flössen Worte, die ich nicht verstehen konnte. Ich hatte eben noch in Dänisch gebetet. Vielleicht sollte ich die deutsche Sprache benutzen? Doch immer, wenn ich wieder zu sprechen begann, wurden es unverständliche Wörter. Während meines Bibellesens war mir bis zu dieser Zeit noch nichts über das Sprechen in Zungen aufgefallen. Auch von einer Pfingstgemeinde oder charismatischen Bewegungen hatte ich nie etwas gehört. Ich wußte nur, daß Gott mich in ganz neuer Weise berührt hatte, und mich endlich erfüllt hatte mit dem Heiligen Geist. Ich schaute auf meine Uhr. Es war 4 Uhr morgens! „Kein Wunder, daß ich nicht mehr in verständlichen Worten beten kann“, dachte ich. „Jetzt bin ich schon fast die ganze Nacht wach. Ich kann nicht mehr beten, weder dänisch noch deutsch. Ich bin schon zu erschöpft zum Sprechen und deshalb kommen diese fremden Laute aus meinem Mund, wenn ich es versuche. Gott wird mir vergeben, wenn ich jetzt nicht mehr weiterbete.“ Schnell entkleidete ich mich, kroch erschöpft in mein Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Gegen sechs Uhr erwachte ich und fühlte mich so frisch, als hätte ich die ganze Nacht geschlafen. Ich wurde von einem übermächtigen Wunsch getrieben, anderen von Christus zu erzählen. Deshalb zog ich mich rasch an und verließ das Haus. Auf dem Fußweg kam mir ein älterer Mann entgegen, dem ich schon einige Male von Jesus erzählt hatte, aber immer ohne Erfolg. In meinem Eifer vergaß ich, daß er nie Interesse gezeigt hatte. „Ich möchte Ihnen von Jesus erzählen“, rief ich eifrig, als er nahe genug herangekommen war. Fast unmittelbar danach begann er zu weinen, bekannte seine Sünden und bat Gott um Vergebung. Als ich später mit anderen darüber sprach, daß Christus für uns gestorben war, schienen dieselben Worte, die ich auch vorher immer gebraucht hatte, ganz neue Kraft in sich zu haben. Ich sah darin eine Antwort auf meine Gebete. Freunde von mir machten dieselbe Erfahrung, und eine ganz neue Offenheit für das Evangelium schien auf einmal in Hamburg zu herrschen. Es waren nicht große Massen, die sich bekehrten, aber in unserer Jugendgruppe hatte eine echte Erweckung begonnen. Wir empfanden neue Liebe zueinander und hatten neuen Eifer und neue Zuversicht, und überall, wohin wir kamen, durften wir jetzt Menschen zu Christus führen. In unserer nächsten Jugendstunde waren wir doppelt so viele als vorher. Bald war in der Wohnung, in der wir uns trafen, nicht mehr Raum genug für alle. Deshalb begannen wir in anderen Stadtteilen Hamburgs neue Gebetskreise. In jeder Minute, die ich erübrigen konnte, war ich nun mit meinem Fahrrad unterwegs zu diesen neuen und wachsenden Gruppen in der Stadt. Ich begann auf meinem Stadtplan anzuzeichnen, wo diese Gruppen sich trafen, und bald wurde klar, daß Gott in jedem Stadtteil Hamburgs solch eine Gebetsgruppe hatte entstehen lassen, ohne daß dies so geplant oder organisiert worden wäre. Das war mein erster kleiner Eindruck von dem, was Gott tun kann, wenn wir von ganzem Herzen bereit sind, Ihn durch uns wirken zu lassen. In meinem Herzen brannte jetzt ein Feuer und ich hatte das Interesse an der Geschäftswelt verloren. Ich wußte, daß Gott mich gerufen hatte, einen anderen Weg zu gehen. Sicherlich würde Er bald die Tür für den Dienst öffnen, den Er für mich geplant hatte, und Er würde mir dies auch zur rechten Zeit zeigen. 9 Was wahres Leben ist Dreißig Jahre alt zu werden kann eine Sache sein, die nachdenklich stimmt. Man merkt dann, daß das Alter nicht nur für andere bestimmt ist und nicht so fern ist, wie es bisher immer zu sein schien. Als ich, wieder in Dänemark, dieses Alter erreichte, beunruhigten mich außerdem noch andere Überlegungen. Seit jener unvergeßlichen Gebets- und Segensnacht in Hamburg hatte ich in meinem Inneren gewußt, daß ich mit dreißig Jahren ganz in den Dienst für Gott treten würde. Daß der Herr mich so sehr in Seinen Dienst ziehen würde, daß mir keine Zeit mehr für irdische Arbeit bliebe, hatte mich, so lange ich allein war, nicht besonders besorgt gemacht. Ich war mir aber auch der Bibelstelle bewußt: „Wenn aber jemand seine Angehörigen, zumal wenn sie seine Hausgenossen sind, nicht versorgt, so hat er damit den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5, 8). Nachdem ich Ninna geheiratet hatte, war ich wieder in das Geschäftsleben zurückgegangen, um sie und die Kinder zu versorgen, die bald, jeweils in Abständen von zwei Jahren, eintrafen. Jetzt wurde ich bald dreißig. Wenn ich meinen Beruf aufgab, wie der Herr gesagt hatte, wer würde dann meine Familie versorgen? „Es scheint mir nicht sinnvoll zu sein, meinen guten Beruf aufzugeben, ehe ich nicht wirklich einen Grund dafür habe“, sagte ich eines Tages zu Ninna, dabei mehr interessiert an ihrer Reaktion als an meinen eigenen Gedanken. „Der Herr hat es dir gesagt, ist das nicht Grund genug?“ war ihre fast unmittelbare Antwort. „Ja, schon - ich meine ... ich weiß nicht, welche Aufgabe ich dann übernehmen soll.“ „Ja, ja“, meinte sie und gab vor, ernst zu sein, konnte aber ein Funkeln in ihren Augen nicht unterdrücken. „Da sind Windeln zu wechseln, Geschirr zu spülen, Wäsche . . .“ „Ist es das, wozu der Herr mich berufen wird, wenn ich das dreißigste Lebensjahr erreiche?“ unterbrach ich sie. Wir lachten beide und ich nahm sie in die Arme. Es war gut, so eine Frau zu haben. Wenn Gott mich rief, stimmte Ninna zu und machte sich keine Sorgen. Sie war die einzige Christin in einer dreizehn Köpfe zählenden Familie. Ihre Brüder und Schwestern hatten sie, nachdem sie sich zu Christus bekehrte, immer ausgenützt, weil sie wußten, daß sie sich nicht beklagen würde. Sie hatten oft ausprobiert, wieviel von ihrer Arbeit Ninna übernehmen würde. Doch sie hatte den Spott und die Ungerechtigkeit geduldig und ohne bitter zu werden ertragen, und ihr Vertrauen in Christus war dabei nur noch gewachsen. Nach meinem dreißigsten Geburtstag kündigte ich meine Arbeitsstelle und bot an, noch vier bis fünf Monate zu bleiben, bis mein Chef jemand gefunden hatte, der mich ersetzen konnte. Ihm gefiel dies gar nicht, und, pessimistisch veranlagt, war er überzeugt davon, er würde mindestens sechs Monate benötigen, um den richtigen Mann zu finden. Bis dahin wollte er mich nicht gehen lassen. Ninna und ich beteten darum, daß Gott uns Seinen Willen zeigen sollte, indem Er dafür sorgte, daß der richtige Nachfolger bald gefunden wurde. Innerhalb von zwei Wochen war dieser Mann da, so daß ich genug Zeit hatte ihn einzuarbeiten. Der letzte Tag an meiner bisherigen Arbeitsstelle kam und ich verabschiedete mich. So weit - so gut. Im Glauben hatte ich die Brücken hinter mir abgebrannt, ohne zu wissen, was nun geschehen würde. Am nächsten Morgen erwachte ich zeitig und verbrachte lange im Gebet. Ich war froh und vertrauensvoll zu Gott und erinnerte Ihn daran, daß ich nun ohne Beschäftigung war und auf Seine Aufträge wartete. Kurz nach dem Frühstück klingelte das Telefon. Es war ein Gespräch von auswärts. Der Anrufer, der nichts davon wußte, daß ich gerade meinen Beruf aufgegeben hatte, fragte an, ob es mir möglich sei, sofort eine Reihe von Gottesdiensten in Norddänemark zu halten. Nachdem ich den Hörer hingelegt hatte, knieten Ninna und ich nieder und dankten Gott für diesen Beweis, daß wir nach Seinem Willen gehandelt hatten. Von diesem Tage an bekam ich so viele Rufe, daß es mir unmöglich gewesen wäre, daneben noch einem anderen Beruf nachzugehen. Und dies alles geschah, ohne daß ich etwas dazu getan hätte. Dann wurde ich gerufen, Pastor einer Gemeinde in Jütland zu werden. Als wir beteten, fühlten Ninna und ich die Gewißheit, daß dies ein weiterer Schritt im Plane Gottes für unser Leben sei. Während meiner Pastorenzeit in dieser Gemeinde hörte ich das erste Mal davon, daß in Rumänien so dringend Bibeln gebraucht wurden und gründete unter der Aufsicht der Ältesten meiner Gemeinde die Dänische Europa Mission, um zu helfen, diese Not zu wenden. Immer mehr empfand ich die Notwendigkeit, nicht nur Bibeln zu schicken, sondern persönlichen Kontakt mit den Christen im Osten aufzunehmen. Doch in meiner Gemeinde fand ich kaum Zustimmung dafür, man fühlte dort, daß die Mission ihre Aufgabe erfüllt hatte. Wenn ich nicht bald einen neuen Vorstand in einer anderen Gemeinde fand, würde das Werk der Mission wieder einschlafen. Es war kein Gedanke daran, diese Arbeit außerhalb einer lokalen Gemeinde zu tun. Unsere Gemeinden glaubten nicht, daß dies der richtige Weg sei. Zu dieser Zeit begannen die Ältesten der Pfingstgemeinde in Kopenhagen - es ist die größte Gemeinde einer Freikirche in Dänemark - ihr wachsendes Interesse an unserer Mission kund zu tun. Es wurde noch besonders angeregt durch den Besuch des bulgarischen Pastors, den ich in ganz Dänemark übersetzte. Also wurde die Mission in die Kopenhagener Gemeinde verlegt, und nach fünf Monaten wurde ich dort zweiter Pastor. Die Gemeinde war wirklich interessiert daran, die Gläubigen hinter dem Eisernen Vorhang zu unterstützen, und stellte aus ihrer großen Mitgliederzahl Freiwillige zur Verfügung, die bei der vielen Arbeit halfen. Eines der Mitglieder, Bent Jacobson, wurde der Kassierer und begann bald selbst in den Osten zu reisen. Auch Rene Hartzner, der Freund, der mich auf meiner ersten Osteuropareise begleitete, ist Glied dieser Gemeinde. Wie immer, wenn wir einen neuen Schritt unternahmen, ermutigte Ninna mich, Gott zu vertrauen. Ihr schlichter, unkom- plizierter Glaube inspiriert mich immer sehr, und ich benötigte diese Ermutigung in den kommenden Jahren mehr, als ich in jenen Anfangstagen wissen konnte. Ihr Glaube wurde schon bald hart geprüft auf eine Weise, die keiner von uns beiden sich hätte vorstellen können. Für Rene und mich war jene erste Reise ein Erlebnis, das uns tief veränderte. Wir glaubten, wir wüßten viel über Gottvertrauen und Leitung durch den Heiligen Geist, mußten aber entdecken, daß wir eigentlich fast nichts darüber wußten. Es war nur Gottes Gnade, die uns in unserer Unerfahrenheit davor bewahrte, etliche Glieder der Untergrundkirche und uns selbst in große Schwierigkeiten zu bringen. Ich habe schon davon berichtet, wie und warum Gott dafür sorgte, daß unser Flugzeug nach Sofia Verspätung hatte. Doch wir machten noch eine ganze Reihe ähnlicher Erlebnisse, die uns immer wieder darüber staunen ließen, wie Gott in Seiner Gnade uns und die Gläubigen, mit denen wir Kontakt suchten, bewahrte. Eines Morgens zeitig versuchten Ren6 und ich in einer großen bulgarischen Stadt die Wohnung einer gläubigen älteren Frau zu finden, die mit vielen Gläubigen in der genehmigten und auch in der Untergrundkirche in Verbindung stand. Wir hatten einen großen Geldbetrag bei uns. Ein wenig davon war für sie bestimmt, aber das meiste sollte sie an andere verteilen, die in Schwierigkeiten waren, weil sie wegen ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt wurden. Wir hatten vor dem Hotel ein Taxi genommen und verhielten uns wie Touristen auf Stadtbesichtigungstour. Dies ist eine ausgezeichnete Möglichkeit Adressen herauszufinden, die wir später aufsuchen wollten. Zuversichtlich, daß wir nicht beobachtet wurden, verließen wir das Taxi. Nach einem Fußweg von etwa 15 Minuten standen wir endlich vor dem großen Wohnhaus mit der richtigen Adresse. „Das paßt genau auf die Beschreibung“, sagte ich hoffnungsvoll. „Also laß uns hineingehen.“ Rene tat, wie er gesagt hatte, und ich folgte ihm durch die offene Tür. In dem schwachen Licht des engen Treppenhauses versuchten wir vergeblich, die Namen auf den Briefkästen zu entziffern, die unter einer hölzernen Treppe hingen, die nach oben führte. Keiner der Namen sah auch nur entfernt aus wie der, der uns gegeben worden war. Ich wußte, daß oft mehrere Familien in einer Wohnung lebten. Dies konnte vielleicht die Erklärung sein. „Ich bin sicher, daß es das richtige Haus ist“, flüsterte ich, obwohl ich nicht halb so überzeugt war wie ich vorgab. Renes Blick zeigte an, daß er hoffte, ich hatte mir die Adresse richtig gemerkt. „Wir wollen uns durch die Namen nicht irre machen lassen“, meinte ich. „Sie lebt in Wohnung Nr. 7 und die müssen wir finden.“ Wir stiegen die Stufen hinauf und begannen auf jedem Flur nach Nummer 7 zu suchen. Dabei versuchten wir, so leise wie möglich zu gehen, wußten aber nicht, was wir hätten sagen sollen, wenn jemand uns gefragt hätte, was wir hier suchten. An einigen Wohnungen waren Nummern, an anderen nicht -oder mindestens sahen wir sie in dem Halbdunkel nicht. Es war auch keine vernünftige Reihenfolge in den Nummern zu entdecken. „Hier ist Nummer sieben“, flüsterte Rene. „Ich glaube nicht, daß es hier ist“, sagte ich vorsichtig. „Laß uns weitersuchen.“ Auf der obersten Etage fanden wir noch einmal Nummer 7. Wir berieten flüsternd und gingen nochmals durchs ganze Haus. Dabei entdeckten wir eine weitere Nummer 7. „Hat man dir nicht gesagt, um welche Wohnung es sich handelt?“ fragte Rene leise, als wir wieder im Flur vor der Wohnung Nummer 7 in der obersten Etage standen. „Es war überhaupt nie davon die Rede, daß es diese Nummer mehr als einmal geben könnte“, flüsterte ich zurück. „Doch auf diese hier scheint nach meiner Erinnerung die Beschreibung zu passen: ,Gerade unter der Mansarde“.“ „Warum hast du das nicht gleich gesagt“, rief Renö, und vergaß vor Eifer, leise zu sprechen. „Das hier muß es dann sein. Worauf warten wir noch? Auf eine gedruckte Einladung?!“ Er trat auf die Tür zu und wollte anklopfen. Ich ergriff seinen Arm. „Warte noch“, sagte ich leise und legte meinen Finger an die Lippen. „Nicht so laut. Sieh dahin - noch eine Treppe. Vielleicht gibt es eine weitere Nummer 7 da oben.“ „Deine Anweisung sagt ,unter der Mansarde“, nicht in ihr“, gab Renö ungeduldig zurück. Ich zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, was sie in Bulgarien Mansarde nennen. Komm, wir sollten wenigstens nachschauen.“ Noch ehe wir ganz oben waren wußte ich, daß Rend recht hatte. Niemand würde da oben wohnen. Doch irgendwie war mir unbehaglich bei dem Gedanken, an jene Tür dort zu klopfen. Und ich wußte keinen anderen Weg, mit diesem Gefühl fertig zu werden, als alle Möglichkeiten erst zu erkunden. Ich blieb auf der obersten Stufe stehen - Rene hinter mir -und wollte mich genau in der Mansarde umsehen. Dabei blickte ich in das überraschte Gesicht eines Mannes, der etwas älter als dreißig zu sein schien, und der offensichtlich hier oben arbeitete. Ich kämpfte den ersten Impuls nieder, mich umzudrehen und fortzurennen. Leise betete ich. „Können Sie uns helfen?“ fragte ich in Deutsch. „Was suchen Sie?“ antwortete er vorsichtig und schaute uns argwöhnisch an. Immerhin verstand er wenigstens mehr als nur Bulgarisch. Immer noch still betend entschloß ich mich, den Namen der Kontaktperson zu nennen. Es war gefährlich, aber ich hatte noch immer ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, an jene Tür zu klopfen, und wußte nicht, was ich sonst noch hätte tun sollen. Ich mußte Gott vertrauen, daß Er es gut machte. „Wir suchen eine Frau Rumachik“, sagte ich zurückhaltend. „Wissen Sie, wo wir sie finden könnten?“ Er schüttelte den Kopf. Ich drehte mich um und sagte ruhig auf Dänisch zu Rend: „Laß uns gehen. Gott sei Dank, er kennt sie wenigstens nicht.“ Und schon begannen wir, eilig die Stufen hinabzusteigen. „Warten Sie!“ hörte ich ihn rufen. „Kommen Sie zurück!“ Dann fiel mir ein, daß man in Bulgarien „ja“ meint, wenn man den Kopf schüttelt. Wir stiegen wieder hinauf. Er stand lächelnd am Ende der Treppe. „Sie ist meine Mutter. Kommen Sie aus dem Westen?“ Ich nickte erst - erinnerte mich - und dann schüttelte ich den Kopf. „Dann sind Sie Georg?“ „Nein, ich bin nicht Georg.“ Er blickte erstaunt. „Warum meinen Sie das?“ Ich bekam Angst. Mir war gesagt worden, ihr Sohn Georg sei ein Christ. Wenn dieser hier nicht Georg war, dann war er vielleicht ein Spitzel. Seine Stimme unterbrach meine Gedanken: „Warum wollten Sie zu meiner Mutter?“ Ich gab eine ausweichende, nichtssagende Antwort und erwähnte dabei den Namen des bulgarischen Pastors, der uns in Dänemark besucht hatte, um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Sein Gesicht entspannte sich und er umarmte uns beide. „Dann seid ihr Christen. Preis dem Herrn!“ „Wohnt deine Mutter in Nummer 7 gleich auf der nächsten Etage unter uns?“ fragte Rene neugierig. „Ja. - Aber ich hoffe, ihr habt dort nicht nachgefragt“, fügte er schnell hinzu, und Sorge bewölkte plötzlich wieder sein Gesicht. „Wir wollten gerade“, antwortete ich, „und hätten es getan, wenn wir dich nicht hier oben getroffen hätten.“ Erleichtert rief er: „Preis Gott. Der Herr hat euch zurückgehalten. Die Geheimpolizei hat eine Frau in ihre Wohnung gesetzt, die jetzt mit ihr dort lebt. Die bewacht Tag und Nacht die Tür. Hättet ihr geklopft, wäre es sehr schlimm geworden.“ „Wohnst du auch hier?“ fragte ich. „O nein. Ich wohne auf der anderen Seite der Stadt. Es ist ein Wunder, daß ich gerade hier bin. Ich habe vor einigen Monaten einige Sachen hier oben gelagert, und heute morgen beschloß ich, hierher zu kommen und sie zu holen. Ich glaube, der Herr hat mich dazu veranlaßt. Es ist die Gnade Gottes.“ Wir wagten nicht, lange bei ihm zu bleiben. Kurz erklärten wir ihm flüsternd, warum wir hier waren, gaben ihm das Geld und die Papiere, die wir für seine Mutter mitgebracht hatten, und nach einer weiteren Umarmung gingen wir eiligst zurück auf die Straße. „Unglaublich!“ sagte Renü immer wieder, als wir auf einen Platz zugingen, wo wir ein Taxi nahmen, das uns zurück zum Hotel brachte. „Unglaublich! Wir rennen herum wie zwei verlorene Schafe in einer Wolfshöhle, und Gott sorgt dafür, daß alles gut geht.“ „Aber nicht nur um unsertwillen“, erinnerte ich ihn. „Gott brachte uns und ihn zur selben Zeit dorthin ..." Mir gingen die Worte aus. „Und auch noch in die Mansarde, wo niemand sonst uns sah“, fügte Rene hinzu. Als wir später am Nachmittag mit einem Taxi in einen anderen Teil der Stadt fuhren, dachten wir immer noch darüber nach, auf welch wunderbare Weise Gott über Seine Gemeinde im Osten wachte. Wir gebrauchten wieder die Methode, an die wir uns schon fast gewöhnt hatten, und verließen das Taxi ein bis zwei Kilometer vor unserem Ziel. Dann gingen wir zu Fuß weiter, wobei wir immer wieder stehenblieben und Schaufenster beschauten, dann auseinandergingen, um uns einige Blocks weiter wiederzutreffen. Auf diese Weise versuchten wir sicher zu gehen, daß uns niemand folgte. Langsam kamen wir in eine armseligere Gegend am Rande der Stadt. Wir hofften, hier das Haus eines ehemaligen Baptistenpastors zu finden. Mutig hatte dieser Pastor mißachtet, was die Polizei ihm „empfohlen“ hatte zu predigen. Daraufhin hatte man ihn ins Gefängnis gesperrt. Nach seiner Freilassung hatte die Regierung ihm keine Genehmigung mehr erteilt, Pastor zu sein. Der einzige Beruf, den man ihm zuteilte, war der eines Straßenkehrers, obwohl er ein hochqualifizierter Ingenieur war und neben seiner Muttersprache fließend Englisch, Französisch, Deutsch, Rumänisch und Russisch sprach. Da all diese Fähigkeiten in seinem Lande dringendst benötigt wurden, konnte man daran erkennen, wieviel es den Kommunisten wert war, in Bulgarien das Christentum zu unterdrücken. Rene und ich waren darauf hingewiesen worden, daß er in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Doch was wir sahen, als wir sein Haus erreichten, hatten wir nicht erwartet. Das Dach war an mehreren Stellen eingebrochen, und soweit wir sehen konnten, gab es nur noch einen Raum, in dem man halbwegs wohnen konnte. „Die Behörden werden ihm keine Reparaturen genehmigen“, meinte ich, als wir an der Haustür standen. Ich fürchtete mich, fest anzuklopfen, aus Sorge, das Haus würde einfallen. Ren6, der einige Schritte zurückstand und das Haus erstaunt betrachtete, stieß einen langen Pfiff aus. „Ich gehe nicht hinein. Auch nicht, wenn er uns einlädt.“ Er trat näher und untersuchte vorsichtig ein Stück des Mauerwerks am Hauseingang, das so aussah, als wolle es jeden Augenblick nachgeben. „Ich würde mich fürchten, der Bau könnte mir über dem Kopf zusammenfallen. “ Niemand antwortete auf mein leises Klopfen. Ich versuchte es ein wenig lauter. Dann hörten wir jemand in Bulgarisch etwas rufen. Als wir uns umdrehten, sahen wir einen älteren Mann mit einem Spazierstock. Er rief und winkte uns zu. In der Hoffnung, von ihm etwas zu erfahren, gingen wir zu ihm. „Sprechen Sie Deutsch?“ versuchte ich es. Er nickte. Diesmal erinnerte ich mich. Das hieß „nein“. „Do you speak English?“ Ein Blick des Nichtverstehens war die Antwort. „Parlez-vous Francais?“ Schulterzucken und ein verblüffter Gesichtsausdruck war alles. Es noch mit Dänisch zu versuchen, hatte wohl keinen Sinn. Hilflos schaute ich Rene an und zeigte dann auf das Haus. „Kajukow?“ sagte ich mit fragender Geste. Er schüttelte heftig den Kopf (was „ja“ bedeutete) und wedelte mit seinem Stock, als ob er uns sagen wollte, wir sollten ihm folgen. „Glaubst du, er bringt uns tatsächlich zu Pastor Kajukow?“ fragte Rene skeptisch. „Kajukow?“ fragte ich den Alten nochmals und zeigte in die Richtung, in die wir gingen. „Kajukow njet“, sagte er, auf das Haus weisend und mit dem Stock wedelnd, um klar zu machen, daß Kajukow nicht dort sei. Dann ging er wieder weiter und winkte uns, ihm zu folgen. Während der ganzen Zeit redete er in bulgarischer Sprache aüf uns ein. Das einzige Wort, das ich glaubte verstanden zu haben, war: Polizei. Das klingt fast in jeder Sprache ähnlich. „Politsia?“ fragte ich und zeigte wieder in die Richtung, in die er uns führte. Dabei versuchte ich, meine Beunruhigung nicht zu zeigen. „Da, da“, sagte er kopfschüttelnd, und wieder wurden seine Gesten von einem Strom bulgarischer Worte begleitet. „Entweder ist Kajukow umgezogen“, bemerkte Rend, „oder man hat ihn wieder verhaftet - oder was auch immer. Aber dieser Bursche hier bringt uns zur Polizei, weil er glaubt, die werden uns erzählen, wo wir ihn finden können. Werden wir einfach mit ihm gehen wie die Schafe zur Schlachtbank?“ „Ich weiß auch nicht“, erwiderte ich hilflos. „Wir können nur beten, daß der Herr ihn stoppt, ehe wir dort sind. Es sähe nicht gut aus, wenn wir uns vor der Polizei fürchten.“ Der alte Mann ging, obwohl er hinkte, recht flott. Rene und ich folgten und beteten dabei inbrünstig. Nach etwa zehn Minuten kamen wir auf einen kleinen Platz. Vor einem großen Geschäft, das den typischen Eindruck machte, als ob es nur wenig zu verkaufen hätte, saß ein Mann unter einem Schirm auf dem Bürgersteig und verkaufte Lotterielose. Als der alte Herr ihn sah, schien er plötzlich einen Einfall zu haben. Sein Gesicht erhellte sich und er führte uns über den Platz an den Lotterietisch. Dort sprach er schnell auf den Verkäufer ein. Während wir warteten, wandte dieser sich zu uns und sprach uns in Englisch an: „Sie suchen Kajukow?“ „Ja, wir sind Freunde von ihm“, antwortete ich, und das stimmte sogar, obwohl wir ihn noch nie gesehen hatten. „Wir sind auf der Durchreise und wollten ihn gern begrüßen.“ „Er arbeitet jetzt. Laßt mich überlegen. Heute ist Dienstag?! Ich kenne seine Zeiten. Er ist sehr pünktlich. Er wird diesen Platz gegen 16.30 Uhr fegen. Gegen 17 Uhr ist er mit seiner Arbeit fertig. Vielleicht kommen Sie um diese Zeit wieder. Ich werde ihm sagen, daß er auf Sie warten soll.“ Wir stimmten zu und bedankten uns. Unsere Unterhaltung hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert, aber es hatten sich schon etwa 30 Personen um uns versammelt und beschauten uns neugierig. Als wir gingen, drängten die Leute an den Tisch und redeten auf den Losverkäufer ein. Offensichtlich wollten sie die ganze Geschichte wissen. Es war jetzt gegen 15 Uhr. Wir beschlossen, in der Nähe zu bleiben und gingen zu einem Park, den wir vom Taxi aus gesehen hatten. Dort fanden wir eine Bank, die ein wenig hinter Büschen verborgen war, setzten uns und warteten. „Wir hätten Talent, große Spione zu sein“, sagte Rene sarkastisch. „Ich komme mir wie ein kompletter Narr vor, wenn ich mit diesem leuchtend roten Koffer herumlaufe.“ Er schob ihn mit dem Fuß weiter unter die Bank und schaute sich nach allen Seiten um. Doch wir schienen in dieser Ecke des Parks allein zu sein. Der Koffer war voll Kleidung für Pastor Kajukow. Er war uns von einer Mission mitgegeben worden, als wir durch Österreich fuhren. Wir hatten die Leute nicht beleidigen wollen und hatten deshalb nichts über die leuchtende Farbe gesagt. „Er ist ziemlich auffällig“, gab ich zu. „Doch vielleicht ist das gerade gut. Niemand würde annehmen, daß wir in so einem auffälligen Ding etwas herumtragen, was wir verbergen wollen.“ „Vielleicht nehmen sie uns als Weggelaufene aus einer Nervenheilanstalt fest“, bemerkte Rene trocken. Und dann mußten wir beide lachen, weil uns das Absurde der Situation bewußt wurde. Wir hatten diesmal extra alte, dunkle und schon etwas schäbige Anzüge an, um nicht aufzufallen - und nun hatten wir einen Koffer, der so groß und so leuchtend rot war, daß wir uns auch gleich ein Schild hätten umhängen können mit der Aufschrift: „Schaut uns alle mal an.“ Unsere Spannung schien sich durch das Gelächter zu lösen und unsere Gedanken wandten sich wieder dem Platz zu. Wir schienen beide dasselbe zu denken. „Hättest du geglaubt, daß in einem kommunistischen Land Lotterielose verkauft werden?“ bemerkte Rene. „Nicht, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte“, erwiderte ich. „Wenn einer gewinnt, wird er automatisch zum Kapitalisten“, überlegte Rene. „Ich bin sicher, sie geben denen Geld und nicht einen Lenin-Preis. Das ist so im Gegensatz zu allem, was ihre Revolution“ bedeutet, daß es noch auffälliger ist als unser roter Koffer.“ Kurz vor 17 Uhr waren wir wieder an dem Platz, stellten uns zu einer Gruppe von Leuten, die an einer Bushaltestelle warteten, und hielten nach dem Pastor Ausschau. „Ich wette, das dort ist er“, flüsterte Rene in Dänisch, ohne in die Richtung zu deuten. Ich folgte seinem Blick auf die andere Platzseite und sah einen Mann, der nur in Flicken gekleidet schien. Er hatte einen langen Kehrbesen ohne Stiel in der Hand und fegte tief vornübergebeugt den Rinnstein. Über den Platz hinweg hörten wir durch das Geräusch der trappenden Füße und murmelnden Stimmen, ab und zu unterbrochen vom Motor eines vorüberfahrenden Autos, Stücke eines Liedes, das er während der Arbeit sang. Ich war sicher, daß es sich um ein Evangeliumslied handelte. Wir beobachteten ihn mit wachsender Faszination, bis er sich endlich müde aufrichtete, über den Platz kam und in der Nähe des Lotterieverkäufers stehenblieb. Wir konnten sehen, wie er sich umsah. Sicherlich hielt er nach uns Ausschau. Wir kreuzten direkt vor ihm den Platz, so daß wir sicher waren, daß er uns bemerkte, und bogen dann in eine Straße ein. Als ich mich vorsichtig umsah, bemerkte ich, daß er uns folgte. Wir gingen langsam, und bald überholte er uns. „Folgt mir, ich bringe euch an einen Ort, wo wir uns unterhalten können“, sagte er schnell in fließendem Englisch, während er an uns vorbei ging und immer geradeaus schaute. Wir folgten ihm in sicherer Entfernung. Er machte einen Bogen und führte uns wieder in den Park. Bald saßen wir zu unserem Erstaunen mit ihm auf derselben Bank, auf der wir vorher schon gesessen hatten. Es war niemand zu sehen, als wir uns zu ihm setzten. Sein Gesicht war mit einem leuchtenden Lächeln überzogen, als er uns warm begrüßte. Wir stellten uns vor und berichteten, daß wir ihm Grüße der Gläubigen, die für ihn beteten, sowie etwas Geld und Kleidung mitgebracht hatten. „Es tut mir leid, daß der Koffer so eine auffallende Farbe hat“, entschuldigte ich mich, als ich diesen vor ihm hinstellte. Er wischte meine Sorge mit einer Handbewegung beiseite und dankte uns. Rene und ich hatten erwartet, einen Mann mit einem von Gram und Kummer gezeichneten Gesicht zu finden. Gründe dafür gab es genug: Die Gefängniszeit, die er ertragen hatte; der Verlust seines Pastorenamtes; die Demütigungen und Kränkungen, daß ein qualifizierter Ingenieur, der fließend sechs Sprachen sprach, gezwungen war, die Straße zu fegen; und über das alles hinaus die Tatsache, daß seine Frau ihn verlassen hatte, weil sie die Verfolgung, die lange Gefängnishaft, die elenden Wohnverhältnisse, die Diskriminierungen, den psychologischen Druck und die fortwährende Beschämung nicht mehr aushielt. Doch als er so neben mir auf der Bank saß, war ich sicher, nie ein glücklicheres Gesicht gesehen zu haben. Aus ihm leuchtete die Freude, die Christus denen gibt, die Ihm vertrauen und gehorchen. Hier saß ein Mann, dessen Streben es war, seinen Mitbürgern von Christus zu erzählen und die Liebe Gottes durch sein Leben offenbar werden zu lassen. Rene konnte seine Neugier nicht mehr zurückhalten. „Hast du heute den Stiel von deinem Besen abgebrochen oder verloren?“ fragte er. „Nein, das ist ein Teil des Preises, den ich bezahlen muß“, erwiderte er achselzuckend. Er schien nicht gern über seine Schwierigkeiten zu reden. Dann zeigte er plötzlich zum Himmel und sagte: „Glaubt ihr, daß Er bald wiederkommt?“ Würde mir jemand in Dänemark diese Frage gestellt haben, so hätte ich mich vielleicht in die Brust geworfen und ihm gezeigt, was ich über Prophetie und die gegenwärtigen Weltereignisse wußte. Doch bei diesem Mann fühlte ich mich unwürdig zu reden. „Was glaubst du?“ war alles, was ich sagen konnte. Das Lächeln in seinem Gesicht ging in Lachen über. Er klatschte in die Hände, lehnte sich weit zurück und schaute in den wolkenbedeckten Himmel. Er antwortete nicht, aber der Ausdruck seines Gesichts sagte alles. Endlich brach ich das Schweigen. „Du hast so viel gelitten, daß wir noch nicht einmal richtig beginnen zu begreifen, was es heißt, unter dem Kommunismus zu leben.“ „Ich bin nicht gegen den Kommunismus“, erwiderte er. „Die Bibel fordert von uns, der Regierung zu gehorchen. Doch zuerst kommt meine Pflicht gegen Gott. Ich muß das Recht haben, ein Christ sein zu dürfen .. .“ „Und ein Mensch“, unterbrach Rene, und beschaute den abgenutzten und stiellosen Besen zwischen seinen Füßen. „Christ zu sein ist die einzige Möglichkeit, ein wahrer Mensch zu sein“, sagte unser Freund. Es war eine ruhige Kraft in seiner Stimme, der Ton der Autorität eines Mannes, der nicht nur von Theorien redete, sondern der in seinem Leben das bewiesen hatte, wovon er sprach. „Wurde der Mensch nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen?“ fragte er. Wir nickten. „Dieses Bild der wahren Menschlichkeit ist durch Christus wieder hergestellt. Ich weiß es ganz sicher!“ Da war ein weit in die Ferne gehender Blick in seinen Augen. Ich fragte mich, was er sah? - spöttische Verhöre, Gefängnis, Folter, sein einsames Zuhause? Doch er lächelte. Er erhob sich, um zu gehen. Wir umarmten uns inbrünstig. Er mußte zu einem Gottesdienst gehen. Aber es würde zu gefährlich sein, wenn wir mitkamen. Renö und ich setzten uns nochmals auf die Bank. Er hatte uns gebeten, noch zehn Minuten zu warten, ehe wir auch gingen. Wir folgten ihm mit unseren Augen. In einer Hand einen leuchtend roten Koffer, in der anderen einen alten stiellosen Besen, so ging er, gekleidet wie ein Landstreicher, aber Pastor, Linguist und Ingenieur. Doch für uns war er dies alles nicht. Er war ein Heiliger! Er war ein Wunder der Gnade Gottes, ein Beweis aus Fleisch und Blut für die Auferstehung Jesu Christi. Wir hatten in diesem Manne buchstäblich Christus gesehen, der aus ihm herausleuchtete. Als wir ihn nicht mehr sehen konnten, schauten wir uns an. Tränen waren in unseren Augen. Ich war noch zu beeindruckt, um zu sprechen. Endlich sagte Rend: „Ich denke, ich fange an zu sehen, was das Leben eines Christen wirklich ist.“ Es klang so, als spräche er mehr zu sich selbst als zu mir. „Ich wollte ein besonderer Christ sein, besser als die anderen in der Gemeinde. Deshalb ging ich zur Bibelschule. Als ich zurückkam, glaubte ich, ich wisse jetzt so sehr viel. Weil die Ältesten dies aber nicht erkennen und meine Fähigkeiten nicht einsetzen wollten, wandte ich mich von ihnen ab. Ich wurde verbittert und erwartete dieselbe Bitterkeit auch in diesem Mann, nur noch schlimmer, denn er hat so viel mehr erduldet. Ich habe mir in Gedanken ein Bild von ihm gemacht: unglücklich, gebrochen, jämmerlich, bitter. Statt dessen habe ich das Gefühl, daß ich eben Christus begegnet bin.“ Ich konnte immer noch nicht sprechen. Rene schüttelte den Kopf. „Ich werde nie mehr derselbe sein“, sagte er leise. „Ich werde nie mehr derselbe sein.“ Zeugendienst verboten -und doch! Es war, wie schon erwähnt, während unserer ersten Reise nach Bulgarien, daß Ren6 und ich Sonja kennenlernten. Sie ist das Mädchen, das uns in Sofia zu den Häusern der beiden Pastoren führte. Während der kurzen Zeit, die wir mit ihr zusammen waren, versuchten wir von ihr soviel wie möglich über die Verhältnisse in Bulgarien zu erfahren. Vor allem interessierte uns, wie die Christen es anstellten, anderen Menschen von Jesus zu erzählen, wo doch die Regierung das, was sie „religiöse Propaganda“ nannte, verboten hatte. Eifrig erzählte Sonya uns: „Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Hauptsächlich zeugen wir durch unseren Lebenswandel. Oft werden wir gefragt, wieso wir so glücklich, selbstlos, geduldig und freundlich sind.“ „Aber wenn nun niemand kommt und fragt“, wollte ich wissen, „wie bringt ihr dann euren Landsleuten das Evangelium?“ „Das kommt darauf an, wie uns der Heilige Geist leitet. Es gibt keine Regel. Wir müssen weise wie Schlangen und ohne Falsch wie Tauben sein. Manchmal sind wir sehr kühn. Wir fürchten uns auch nicht, ins Gefängnis zu gehen, wenn es Gottes Wille ist. Manchmal schenkt uns der Herr feine und sogar raffinierte Möglichkeiten, um die Gute Nachricht weiterzusagen.“ „Kannst du uns einige Beispiele erzählen?“ fragte" Ren6 gespannt. „Nun, da gehen zum Beispiel zwei Schwestern in Christo zusammen in den Park, um von Jesus zu zeugen. Dort mag eine Dame allein auf einer Bank sitzen. Vielleicht hat sie einen Kinderwagen dabei und fährt ihr Baby aus, oder sie beaufsichtigt ihre Kinder, die in der Nähe spielen. Eine der Christinnen setzt sich neben sie auf die Bank, ohne zu sprechen. Vielleicht liest sie eine Zeitung oder schließt einfach die Augen, als wolle sie in der Sonne ein wenig dösen. Nach einigen Minuten kommt die andere Christin als Spaziergängerin daher und setzt sich an das andere Ende der Bank. Sie schaut umher und beginnt, ohne jemand speziell anzusprechen, die Schönheit des Himmels, der Bäume, der Blumen und des Grases laut zu bewundern. Nach einiger Zeit wird die Schwester, die zuerst kam, irgend etwas dazu sagen. Vielleicht: ,Ist es nicht wunderbar, wie Gott diese Dinge alle gemacht hat und daß Er uns die Möglichkeit gab, daran Freude zu haben?“ Die zweite Frau gibt vor, nicht an Gott zu glauben, findet den Gedanken lächerlich und empört sich darüber, daß die andere nicht auch Atheistin ist, wie jeder gute Staatsbürger in einem kommunistischen Lande sein sollte. Und so beginnen die beiden, die sich angeblich nicht kennen, eine Diskussion miteinander. Die eine verwendet die besten atheistischen Argumente, die der Staat für seine antireligiöse Propaganda gebraucht. Die andere macht klar, wie töricht diese Ideen wirklich sind. Die Unterhaltung wird so interessant, daß auch die fremde Frau beginnt, sich daran zu beteiligen. Vielleicht gelingt es der einen, das Problem der Sünde zu erklären, und warum Christus gekommen ist. Manchmal ist dies auch nur ein erster Schritt. Die drei vereinbaren vielleicht, sich wieder auf der Bank -oder in einer ihrer Wohnungen - zu treffen, um die Diskussion fortzusetzen.“ Ren6 und ich lauschten gespannt. Wir hatten noch nie vorher so etwas gehört. Die Methode schien auch für unser Land guten Erfolg zu versprechen. „Kannst du uns noch einige Beispiele geben?“ bat ich. Sonja lächelte geduldig. „Was würde euch wohl besonders interessieren? Laßt mich überlegen. Das wäre vielleicht etwas: Als ich eines Tages durch die Stadt ging, fiel mir eine Frau auf, die mir auf dem Bürgersteig entgegen kam. Es war kalt und auf dem Fußweg lag Eis. Es gab keinen besonderen Grund, wes- halb sie mir mehr auffiel, als die anderen alle. Es war mir, als sähe ich sie mit Christi Augen. Er liebte sie so sehr, aber sie wußte es nicht; und Er wünschte nun, daß ich ihr dies erzählte. Ich betete: ,Herr, laß sie gerade vor mir hinfallen.“ Als wir aneinander vorbeigingen, rutschte sie auf einem Stück Eis aus. Da ich damit gerechnet hatte, konnte ich sie auffangen, doch sie verstauchte sich den Knöchel und hatte nun Schwierigkeiten mit dem Gehen. Sie war nicht mehr jung und sah auch ziemlich gebrechlich aus, deshalb bot ich ihr meinen Arm an und führte sie nach Hause. Sie verstand nicht, daß eine Fremde ihr auf diese Weise half und fragte, warum ich so freundlich sei. ,Weil Christus in mir wohnt“, sagte ich und hatte dann Gelegenheit, ihr vom Evangelium zu erzählen. Da fällt mir gerade eine andere Frau ein, der ich auch einmal auf der Straße begegnete. Ich kam gerade vom Markt, wo ich für mein letztes Geld Lebensmittel gekauft hatte. Diese Frau stand vor einem Schaufenster und schaute verlangend hinein. Sie hatte zwei kleine, armselig gekleidete Kinder bei sich, die sich fest an sie klammerten und aussahen, als seien sie völlig durchgefroren. Sie machten einen so armseligen und hungrigen Eindruck, daß mich Mitleid ergriff. Deshalb gab ich ihr meine Tasche mit den Lebensmitteln.“ „Konntest du ihr dann auch von Christus erzählen?“ fragte ich und war sicher, daß sie eine Möglichkeit dazu gefunden hatte. „Nein. Ich gab ihr nur die Lebensmittel, und sie bedankte sich und ging. Daheim kniete ich nieder und betete für sie. Je mehr ich betete, um so klarer wurde mir, daß Gott wollte, daß ich ihr weiterhin half und ihr noch andere Dinge geben sollte. Ich wußte jedoch nicht, wo sie wohnte. Einige Tage später sah ich sie allein durch die Stadt gehen und folgte ihr bis zu ihrer Wohnung, ohne mich von ihr sehen zu lassen. Etwa eine Woche danach stand ich während des Gebets unter dem starken Eindruck, ich solle ihr ein Paar Schuhe bringen. Ich ging also zu ihrem Hause, klopfte an, und als sie an die Tür kam, gab ich ihr die Schuhe. Sie schaute mich überrascht an, bedankte sich dann und nahm die Schuhe. Ich sagte kein Wort, sondern gab sie ihr nur. Das war alles, was der Herr von mir wollte. Nach einigen Tagen beauftragte mich der Herr, ihr einen warmen Kinder- pullover zu bringen. Ich ging damit zu ihrem Haus, sagte aber immer noch nichts von Christus. Ich gab ihr den Pullover und ging wieder. Kurze Zeit später machte mir der Herr klar, daß ich ihr einige Taschentücher bringen sollte. Ich tat es. Dann legte der Herr mir eines Tages während des Gebets aufs Herz, für sie Unterwäsche zu kaufen - es mußte ganz neue sein. Ich tat dies und ging damit wieder zu ihrem Haus. Als sie die Tür öffnete und mich mit dem Päckchen sah, schien sie ärgerlich werden zu wollen. Doch dann nahm sie es. Als sie das Päckchen öffnete und sah, was darin war, begann sie zu weinen und sagte zornig zu mir: ,Warum kommen Sie nachts hierher, schauen in die Fenster und lauschen, worüber mein Mann und ich zanken?“ Ich wußte natürlich nicht, was sie meinte und fragte sie deshalb, warum sie solches von mir denke. Sie sagte, ihr Mann sei ein großer Säufer und vertrinke alles Geld, das er verdiene. Deshalb seien sie auch so arm. Eines Tages sei sie auf eine Straßenbahn gesprungen, die schon angefahren war. Dabei hatte sie einen ihrer Schuhe verloren. Sie konnte nicht wieder hinunter, da die Bahn schon zu schnell war, und ihren Schuh bekam sie nie wieder. Es war das einzige Paar, das sie hatte. An jenem Abend bettelte sie bei ihrem Mann um Geld für neue Schuhe. Er war betrunken wie immer und gab ihr nichts anderes als Schimpfworte. Am nächsten Morgen hatte ich ihr dann die Schuhe gebracht, die ihr tadellos paßten. Dann kam ihr ältestes Kind in die Schule, hatte aber keinen Pullover. Es wurde immer kälter, und endlich bat sie ihren Mann um Geld dafür. Er verweigerte es ihr wie üblich. - Am nächsten Morgen brachte ich einen warmen Kinderpullover zu ihr. Sie und ihre Kinder erkälteten sich. Sie bat um etwas Geld für einige Taschentücher. Ihr Mann gab ihr keines. - Am nächsten Tag brachte ich Taschentücher. Nachdem sie mir dies erzählt hatte, sagte sie: ,Wenn Sie nicht durch unsere Fenster schauen und nicht belauschen, was wir reden, wer sagt Ihnen dann, daß Sie diese Dinge bringen sollen? - und zwar gerade dann, wenn wir sie benötigen!“ ,Gott sagt es mir“, antwortete ich.“ „Und was war mit der Unterwäsche?“ fragten Rene und ich wie aus einem Munde, weil sie davon nichts weiter gesagt hatte. Sonja lachte. „Die Frau hatte davon noch nichts gesagt, und ich war genauso neugierig wie ihr und fragte sie deshalb. Sie sagte, sie habe sich am Tag vorher um eine Arbeitsstelle beworben, um Geld zu verdienen für die Dinge, die sie brauchten. Man hatte sie eingestellt. Doch ehe sie beginnen konnte, mußte sie erst noch zu einer ärztlichen Untersuchung. Ihre Unterwäsche war so alt und zerfetzt, daß sie sich schämte, damit zum Arzt zu gehen. So hatte sie gerade am Abend, ehe ich die Unterwäsche brachte, ihren Mann gebettelt, ihr Geld dafür zu geben. Er hatte sie nur beschimpft und gesagt, sie sei einfach zu stolz, und das Zeug, das sie hätte, sei mindestens genauso gut wie seine eigenen Sachen.“ „Hat sie Christus angenommen?“ fragte ich begierig. „Ja, das hat sie. Und ihr Mann interessiert sich jetzt auch schon für den Herrn und wir sind sicher, daß auch er bald gerettet wird.“ Als ich Sonja zuhörte, wie sie solche Erlebnisse erzählte, wurde ich dadurch selbst mächtig inspiriert. Während ich dann häufiger durch Osteuropa reiste, fand ich bald heraus, daß trotz des Geldes, der Zeit und der Anstrengung, die die kommunistischen Behörden darauf verwenden, aus jedem ihrer Bürger einen Atheisten zu machen, die Gemeinde Jesu Christi immer weiter wächst'. Viel wird bewirkt durch Radiosendungen, die aus anderen Ländern nach dem Osten ausgestrahlt werden. Es wird zum Beispiel geschätzt, daß mehr als eine Million Russen durch die Radiosendungen eines Mannes, der sich Gott für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat, für Christus gewonnen wurden. Dieser Mann lebt in Österreich, und seine Botschaften werden über mehrere Sender ausgestrahlt. Doch in all diesen Ländern gewinnen auch die einzelnen Gläubigen ihre Mitbürger für Christus, manchmal in einer solch großen Anzahl, daß die Regierungen dies als eines ihrer größten Probleme ansehen. Ich besuchte einmal die Tschechoslowakei. Mein Gastgeber war ein gebildeter Mann mit einem guten Beruf. Er war einer von den Menschen, von denen man glaubt, daß es schwer ist, sie für Christus zu gewinnen. Und doch war er vor noch nicht langer Zeit Christ geworden. Eines Abends erzählte er mir seine fesselnde Geschichte. „Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich viel reisen muß“, begann er. „Da wir keine so großzügig bemessenen Reisespesen bekommen wie ihr Dänen, übernachte ich lieber in Privatwohnungen als in Hotels; das ist viel billiger. In einer Stadt, etwa 300 km östlich, bin ich immer besonders gern. Die Preise sind dort vernünftig und das Frühstück sehr großzügig. Doch was mich am meisten anzieht, ist die ungewöhnliche Atmosphäre des Friedens und der Freude in diesem Haus. Ich freue mich schon immer darauf, dort sein zu können. Eines gefiel mir allerdings nicht: In den meisten Zimmern hingen Wandsprüche mit Bibeltexten. Ich habe nie etwas dazu gesagt, denn meine Wirtsleute sind einfache, ungebildete und schon ältere Leute. Ich dachte: ,Sie sind zu alt, um ihre Ansichten noch ändern zu können.“ Ich wollte auch ihre Gefühle nicht verletzen, weil sie immer so freundlich zu mir waren. Doch vor etwa zwei Jahren, als ich wieder einmal dort war, befand ich mich in recht schlechter Laune. Ich kam daher zu dem Schluß, es sei zwar ihre Sache, wenn sie an dieses dumme Zeug glauben wollten, es ginge aber zu weit, wenn sie ihre Gäste sozusagen dazu zwangen, immer wieder diese Bibelsprüche an den Wänden zu sehen. Außerdem war es eine Beleidigung und Verletzung der Gesetze, wenn • man in einem marxistischen Land, wo alle Bürger eigentlich Atheisten sein sollten, religiöse Propaganda so offen zur Schau stellte. Ich beschloß also, ihnen eine Lektion über den wissenschaftlichen Materialismus zu erteilen. ,Glauben Sie wirklich an Gott?“ fragte ich sie. Natürlich, sie glaubten an Ihn. Ich machte ihnen klar, wie unwissenschaftlich es in unserem Zeitalter der Raumfahrt und der fortgeschrittenen Technologie sei, an solche Mythen zu glauben, wie etwa, daß Gott in sieben Tagen die Welt geschaffen habe und viele andere. Ich fütterte sie mit allen Argumenten, die ich gelernt hatte und wies sie darauf hin, daß sie nicht die rechte staatsbürgerliche Einstellung hatten, da sie mit ihrem Glauben dem fortschrittlichen Sozialismus im Wege standen. Es war seltsam: Sie versuchten nicht zu argumentieren oder zu entkräften, was ich sagte. Meine Argumente schienen für sie überhaupt nicht wichtig zu sein. Sie waren durch Christus in ein persönliches Verhältnis zu Gott gekommen und erzählten mir, wie real Er in ihrem Leben war, wie Er ihre Gebete erhörte und ihnen Liebe und Freude ins Herz gab. Meine Argumente sahen dagegen recht töricht aus, aber ich war nicht bereit, das zuzugeben. Dann fragte mich die alte Dame, ob ich an diesem Abend mit ihnen zu einer Versammlung gehen wollte. Ich suchte nach Entschuldigungen, hatte aber am Abend tatsächlich nichts zu tun. Also beschloß ich endlich, ihnen den Gefallen zu tun, weil sie immer so nett zu mir waren. An der Predigt, die ich zu hören bekam, war nichts Intellektuelles. Aber sie ging mir ins Herz. Schon in dem Augenblick,' als ich den Versammlungsraum betrat, war mir, als käme ich unter den Einfluß einer übernatürlichen Kraft. Dies verblüffte mich um so mehr, als ich an Übernatürliches nicht glaubte. Sie mögen es seltsam finden, aber während des Abends war mir manchmal, als ginge elektrischer Strom durch mich. Ich fürchtete mich direkt ein wenig. Die Leute dort waren alle wie mein älteres Ehepaar: freundlich, nett und mit einer ruhigen inneren Stärke, die für mich nicht erfaßbar war. Als ich mich mit einigen von ihnen unterhielt, wurde mir klar, daß sie in Verbindung mit Gott standen und daß Er wirklich existierte. Trotz all meiner Argumente hatte mich die einfache Predigt und die Ausstrahlung sowie die Persönlichkeit dieser ruhigen Menschen davon überzeugt, daß ich von einem Gott geschaffen worden war, der mich so sehr liebte, daß Er Seinen Sohn Jesus sandte, der für mich starb. Doch ich war zu dickköpfig, um dies zuzugeben. Die beiden alten Leute sagten auf dem Heimweg nicht viel. Doch als später die anderen Pensionsgäste zu Bett gegangen waren und wir noch allein saßen, bekannte ich ihnen, ich sei überzeugt davon, daß sie recht hätten. ,Möchten Sie auch ein Christ werden?“ fragten sie mich. ,Das kann ich mir nicht leisten“, antwortete ich. ,Was würden die Leute sagen, mit denen ich arbeite? Ich würde meine Stellung verlieren. Und meine Frau - was sie wohl tun würde? Vielleicht würde sie mich bei den Behörden anschwärzen.“ ,Sie sollten sich keine Sorgen machen um die Leute, mit denen Sie arbeiten“, sagte die alte Dame. ,Gott wird das schon ordnen. Die größte Schwierigkeit scheint Ihre Frau zu sein. Doch überlassen Sie das mir und dem Herrn.“ Am nächsten Morgen fuhr sie mit der Bahn weg und kam direkt hierher in unsere Wohnung. Sie stellte sich meiner Frau vor und blieb für acht Tage, kochte, half bei der Hausarbeit und versorgte die Kinder. Als ich von meiner Geschäftsreise heimkam, mußte ich erleben, daß meine ganze Familie gläubig geworden war. Es blieb nichts weiter übrig, als Christus auch noch mein eigenes Leben auszuliefern.“ Während einer meiner Reisen nach Rußland stand ich mit einem Freund auf einer Hauptstraße in Leningrad und wartete auf den Bus. Ein Mann kam auf dem Fußweg daher, blieb stehen und fragte etwas auf Russisch. Mein Freund sprach einige Minuten mit ihm. Nachdem der Fremde wieder gegangen war fragte ich, worüber sie sich unterhalten hatten. „Er wollte wissen, welchen Bus er zu nehmen hat, um in einen bestimmten Stadtteil zu kommen. Ich sagte ihm dies -und auch, wo er diesen Bus bekommt. Doch dann erzählte ich ihm noch etwas, das wichtiger ist als Autobuslinien.“ „Was war das?“ fragte ich und fürchtete dabei, es eigentlich schon zu wissen. „Ich sagte ihm, daß Gott Seinen Sohn Jesus Christus gesandt hat, der für seine Sünden gestorben ist.“ Ich war entsetzt und schaute mich besorgt um, ob der Mann vielleicht schon mit der Polizei zurückkam. „Wie konntest du es wagen, mit einem völlig Fremden hier auf der Straße so zu reden?“ fragte ich ihn. „Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“ „Und weißt du nicht, wie gefährlich es für ihn ist, wenn er in die Ewigkeit geht ohne Christus?“ fragte er zurück. Ich schämte mich. In meinem Herzen mußte ich zugeben, daß ich mehr darüber besorgt gewesen war, was mir geschehen könnte, wenn die Polizei kommen würde, als meinem Freund. „Sie können mich ins Gefängnis bringen“, sagte er ruhig, „und sie haben es früher ja schon getan. Doch was sind diese wenigen Jahre im Vergleich zur Ewigkeit. Ich bin entschlossen, die gute Nachricht von Jesus Christus allen zu erzählen, denen ich begegne.“ Hirten, Wölfe und Schafe „Nicht alle Kommunisten sind auch wirklich Atheisten. Oder hast du geglaubt, das sei so?“ Ein Untergrundpastor, der mit mir im Auto saß, sagte dies plötzlich. Ich glaubte, es sei ein Scherz. Gemeinsam fuhren wir durch die herrliche Berglandschaft Zentralrumäniens. Wir waren auf dem Wege zu einer nicht genehmigten Versammlung. „Sicher hast du das nicht ganz ernst gemeint“, sagte ich bedächtig und schaute einen kurzen Augenblick von der Straße weg zu ihm, um zu sehen, ob vielleicht ein verräterisches Schmunzeln in seinem Gesicht stand. Doch er blickte ernst drein. „Doch, ich’meine es so“, fuhr er fort. „Es ist wahr.“ „Ich kann nicht sehen, wie jemand ein echter Kommunist sein kann und gleichzeitig in der Lage ist, an Gott zu glauben. Meinst du einen echten Marxisten-Leninisten oder irgendeine verwässerte Abart davon?“ „Einen Marxisten-Leninisten.“ „Aber der Atheismus ist das Fundament des Marxismus-Leninismus.“ Er lachte. „Sicher! Aber wer hat den Atheismus erfunden?“ „Der Satan, vor langer Zeit einmal, nehme ich an.“ „Genau! Er und seine Dämonen versuchen, die Menschen zum Atheismus zu überreden, aber sie selbst sind keine Atheisten. Die Bibel sagt uns: ,Die Teufel glauben auch und zittern.' Aber sie hassen Gott und kämpfen gegen Ihn.“ „Aber Menschen sind keine Teufel“, wandte ich ein, „auch wenn sie sich manchmal so benehmen.“ „Aber Satan ist der Gott dieser Welt und ist das Superhirn hinter den Verwirrungen, Leiden, Haß, Kriegen und allen anderen Übeln dieser Erde. Ihr im Westen glaubt, es sei ein Kampf zwischen zwei menschlichen Ideologien, der durch Entspannung langsam abgebaut werden kann. In Wirklichkeit ist dies ein Teil des großen Streites zwischen Gott und Satan, der langsam seinem Höhepunkt entgegengeht.“ „Ich bin sicher, der Satan gebraucht Kapitalisten genauso wie Kommunisten für seine Zwecke, nur auf verschiedene Weise“, sagte ich. „Ich habe auch oft gedacht, daß dieser Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen Gut und Böse, im Osten wie im Westen im Gange ist. Das muß nicht unbedingt nur der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus sein. Wir könnten uns da vom Teufel betrügen lassen.“ „Oh, ich habe das nicht auf politischer Ebene gemeint, damit will ich nichts zu tun haben. Ich weiß ja auch nicht, wie es in eurem Lande zugeht, denn ich kann euch dort nicht besuchen. Aber ich will dir erzählen, wieso ich weiß, daß entschiedene Kommunisten nicht unbedingt Atheisten sein müssen.“ „Bitte, tu dies. Da bin ich sehr gespannt.“ „Wann immer du von der Polizei festgenommen wirst, hast du das Recht zu fragen: warum? Sie sagen es vielleicht nicht, oder sie sagen vielleicht nicht die Wahrheit, oder du erfährst es vielleicht erst sechs Monate später bei deiner ,Gerichtsverhandlung' - aber du kannst wenigstens fragen. Vor einigen Jahren, als ich einmal verhaftet wurde und wie gewöhnlich fragte: warum?, sagte der Polizeiinspektor: ,Weil Sie die Leute dumm machen. Wenn die Ihnen zugehört haben, sind sie ganz verrückt.' ,Wieso?' fragte ich wieder. ,Ist es etwa deshalb, weil ich ein Christ bin und ihnen von Gott erzähle? Ist es das, was sie dumm macht?' ,Ja‘, erwiderte er. ,Nun‘, sagte ich, ,nach meiner Meinung seid ihr Kommunisten es, die dumm sind.' Es ist nicht meine Art, so mit ihnen zu reden. Bei allen anderen Verhaftungen vorher hatte ich noch nie etwas auch nur annähernd Ähnliches gesagt. Er war wütend und wollte wissen, wieso ich dies sagen konnte. Also erklärte ich es ihm: ,Ich denke, es ist eine recht dumme Sache, so viel Zeit und so viel Geld für den Kampf gegen Gott aufzuwenden, wenn Sie doch sicher sind, daß Er gar nicht existiert. Warum kämpfen Sie so eifrig gegen etwas Nichtvorhandenes?“ Darauf antwortete er mir etwas, das mich überraschte. ,Aber wir glauben auch an Gott“, sagte er. ,Wir wissen, daß Gott existiert. Aber wir lieben Ihn nicht, wie ihr Christen dies tut, und deshalb kämpfen wir gegen Ihn.“ Weißt du, was ich antwortete? Ich schüttelte meinen Kopf. Ich sagte ihm: ,Dann sind Sie ja noch dümmer als ich dachte. Wenn Sie wissen, daß Gott existiert und daß Er allmächtig ist und trotzdem gegen Ihn kämpfen . . . dann müssen Sie ganz sicher verrückt sein. Denn Sie wissen doch sicherlich selbst, daß Sie nicht gewinnen können.“ Ich bekam drei Jahre; nicht mehr, als die anderen Male vorher. Als ich wieder freigelassen wurde, sagten sie mir, ich dürfe nie wieder predigen. Aber Gott hat keiner Regierung das Recht gegeben, mir das zu verbieten. Und deshalb predige ich weiter, so, wie Christus es geboten hat, wenn auch jetzt im Geheimen.“ Weil so viele Gemeindehirten - genau wie dieser Mann im Auto neben mir - eingesperrt wurden und dann auch nicht mehr predigen durften, ist es den Kommunisten gelungen, etlichen Gemeinden Pastoren aufzuzwingen, die gar keine echten Christen sind, sondern Wölfe in Schafspelzen. Es sind Agenten, die von den Verfolgern der Christen gegen ihre eigenen Gemeinden angeworben wurden. Wenn solche Männer durch den Druck der Kommunisten in Kirchen und Gemeinden in führende Stellungen kommen, akzeptieren sie die Verordnungen der Regierung und richten sich danach. Auf diese Weise zerstören sie dann ihre eigenen Kirchen. Hier einige dieser Verordnungen als Beispiel: Niemand darf getauft werden, wenn er noch nicht achtzehn Jahre alt ist; es darf keinen Appell, gläubig zu werden, an Nichtchristen geben (das wäre religiöse Propaganda), noch nicht einmal in den eigenen Kirchen; niemand darf zur Bekehrung aufgefordert werden; außerhalb der kirchlichen Gebäude darf das Christentum überhaupt nicht in Erscheinung treten; Kinder dürfen keine religiösen Unterweisungen erhalten, noch nicht einmal daheim von ihren Eltern. Niedergehalten durch die satanischen Verordnungen, die von den Führern ihrer eigenen Kirchen überwacht werden, und seufzend unter dem Mangel an Freiheit, versammeln sich die Gläubigen trotzdem in Massen in den wenigen offenen Kirchen. Sie tun dies, obwohl der Pastor in vielen Fällen kein echter Christ ist, sondern von der Regierung bezahlt wird, um die Gemeinde in „gesetzlichen Grenzen“ zu halten. Vielfach werden die Gottesdienste nur erlaubt, um Besucher mit einer vorgetäuschten Religionsfreiheit zu beeindrucken. Mancher Tourist ist auf diese Weise schon hinter das Licht geführt worden und hat dann in seinem eigenen Land eifrig berichtet von den „offenen Kirchen“ und der „Freiheit des Gewissens“ in den kommunistischen Ländern. Gelegentlich ist es den Geheimpolizisten gelungen, einem Pastor eine Falle zu stellen und ihn mit moralischen Sünden oder Unehrlichkeit zu fangen. Man hat solche Männer dann bedroht, diese Dinge zu veröffentlichen, und hat sie auf diese Weise gezwungen, zu Spitzeln zu werden. Wenn ein solcher Mann dann seine geistliche Kraft verloren hat und nur solche verwässerten Dinge predigt, die von den Behörden genehmigt worden sind, dann mag sein Gewissen so absterben, daß er an den Vorrechten, die er durch seine Zusammenarbeit mit der Regierung genießt, auch noch Freude findet. Doch die Verordnungen sind oft solcher Art, daß es der Gemeinde nicht möglich ist, ihn abzuwählen und dafür einen Pastor zu rufen, der ein echter Mann Gottes ist und die Herde Christi recht weiden wird. Die Regierung hat in Wirklichkeit die Kontrolle über die Kirche an sich gerissen, während sie nach außen hin die Trennung zwischen Kirche und Staat proklamiert. Einmal besuchte ich in einer großen rumänischen Stadt eine Gemeinde, weil ich dort einige Kontakte herstellen wollte. Bei dieser Gelegenheit nahm ich meine Kamera mit und versuchte, mich wie ein Tourist zu benehmen. Ich hoffte, der Pastor würde mich auffordern, Grüße auszurichten, was Besuchern oft erlaubt wird. Der Pastor, der die englische Sprache beherrschte, ließ mir einen Zettel zukommen mit der Frage, ob ich ein Solo singen wollte. Ich schrieb zurück, daß ich nicht singen könne, aber gern Grüße von den Christen in Dänemark ausrichten würde. Ich war nicht überrascht, daß der Gottesdienst zu Ende ging, ohne daß mir eine Gelegenheit gegeben wurde. Als der Pastor nach dem Schlußsegen von der Kanzel kam, ging er nicht an den Eingang, um seine Gemeinde zu verabschieden, sondern stellte sich im Gang an die Reihe, in der ich saß, so daß ich nicht heraus konnte, bis alle Besucher gegangen waren. Sicher, er unterhielt sich mit mir und gab vor, mich besonders freundlich zu begrüßen, doch ich wußte, daß seine wahre Absicht darin bestand, jeden Kontakt zwischen mir und den Gliedern seiner Gemeinde zu verhindern. Er hatte einige Male in den Westen reisen dürfen. Das war ein Vorrecht, welches nur denen gewährt wurde, die mit den Zerstörern echten Christentums Zusammenarbeiten, die damit zeigen wollen, wie frei die Kirchen unter dem Kommunismus sind. Er war auch in unserem kleinen Dänemark gewesen. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Du lebst in einem schönen Land, aber jetzt bist du in ein wirklich freies Land gekommen. Du kannst in Rumänien überall hingehen, wo du willst.“ Ich brachte es fertig, die Antwort, die ich ihm gern gegeben hätte, hinunterzuschlucken und seine Heuchelei zu ertragen. Innerlich hoffte ich, draußen meine Kontaktpersonen zu treffen. Als alle die Kirche verlassen hatten, sagte er: „Komm doch mit mir, ich möchte dir gern mein Büro zeigen.“ Wenn Besucher aus dem Westen eine der wenigen offenen Kirchen in kommunistischen Ländern besuchen, werden sie nach dem Gottesdienst oft in das Büro des Pastors geführt und dort so lange mit Propagandareden über Religionsfreiheit festgehalten, bis alle Gemeindeglieder nach Hause gegangen sind. „Das wäre sehr nett“, antwortete ich mit naiver Höflichkeit, „aber vorher möchte ich mich gern draußen noch umsehen.“ Zögernd stimmte er zu. Als wir nach draußen kamen, stand die halbe Gemeinde, in kleine Gruppen verteilt und in Gespräche vertieft, immer noch herum. Ich versuchte, mich mit einigen, die deutsch oder englisch sprechen konnten, zu unterhalten, doch er wich nicht von meiner Seite, so daß niemand frei zu reden wagte. Ich wußte nicht, wie meine Kontaktpersonen aussahen. In der augenblicklichen Lage war es aber unmöglich, jemand zu fragen. In Dänisch sagte ich zu meinem Freund, der mit mir gekommen war: „Unterhalte dich mit ihm, ich werde versuchen mich abzusetzen.“ Mein Freund begann Fragen zu stellen über die Religionsfreiheit in Rumänien. Sobald der Pastor zu antworten begann, machte ich mich davon. Ich fand jemand, der Deutsch konnte und begann gerade, mich ein wenig mit ihm zu unterhalten, um herauszufinden, ob ich ihm vertrauen konnte, da bemerkte ich eine Unsicherheit im Gesicht meines Gesprächspartners. Ich drehte mich um und sah die Frau des Pastors, die direkt hinter mir stand und aufmerksam zuhörte. Die Person, mit der ich sprach, war offensichtlich nervös und wagte nicht, in diesem „freien“ Land offen mit Besuchern zu reden. Endlich mußten wir gehen, ohne die Leute getroffen zu haben, um deretwillen wir gekommen waren. Später am Nachmittag verließen wir unser Hotel mit einem Taxi. Wir wollten versuchen, eine wahrhaft gläubige Frau zu finden, die in armseligen Verhältnissen lebte und zu der unsere Kuriere schon ab und zu Bibeln gebracht hatten, die sie an andere weitergab. Es lag mir sehr daran, sie zu treffen und ihr einige Bibeln zu übergeben, die wir mitgebracht hatten. Nachdem unser Taxi ein Stück gefahren war, bemerkte ich, daß wir verfolgt wurden. Wir benahmen uns wie Touristen, ließen uns vom Fahrer durch die Stadt fahren und kehrten dann in unser Hotel zurück. Schnell liefen wir durch die Hotelhalle und zum anderen Ausgang wieder hinaus. Diesmal gingen wir zu Fuß. Wir waren erst ein kurzes Stück gegangen, da bemerkten wir einen Mann, der uns folgte. „An der nächsten Ecke biegst du rechts ab und ich links“, schlug ich vor und hoffte, unser Schatten würde meinem Freund folgen, der nicht im Besitz der Adresse war. Ich hätte dann die Möglichkeit gehabt, die Frau aufzusuchen. Statt dessen folgte der Fremde mir. Ich wurde langsamer, blieb immer wieder stehen und betrachtete mir die Schaufenster, als würde ich nur einen Spaziergang machen. Mein Verfolger gab vor, dasselbe zu tun und blieb immer ein ziemliches Stück hinter mir. Dann kam ich in die Nähe einer Bushaltestelle. Ich stellte mich an ein Schaufenster und schätzte ab, wie lange ich brauchen würde, um den Bus zu erreichen. Als der Bus kam, wartete ich, immer noch ins Schaufenster schauend, bis die letzte Person einstieg. Dann rannte ich plötzlich los und erreichte den Bus, als er anfuhr. Ab ging die Fahrt. Mein Schatten versuchte, auf dem Fußweg hinter uns herzurennen. Nach kur- zer Zeit verließ ich den Bus wieder, ging ein Stück zu Fuß und nahm dann einen Bus, der in eine andere Richtung fuhr. Endlich verließ ich auch diesen und ging den Rest des Weges zu der mir bekannten Adresse wieder zu Fuß. Dabei dachte ich verbittert an die heuchlerischen Worte des Pastors: „Jetzt bist du in einem wirklich freien Land. Du kannst überall hingehen, wo du willst.“ Ich fand die angegebene Adresse und stieg, wie mir beschrieben worden war, die außen angebrachte Treppe hinauf. Ein Stück der Mansarde war zu einer kleinen Wohnung ausgebaut worden. Oben auf der Treppe stehend fragte ich mich, ob ich hier richtig war. Ich schaute durchs Fenster und sah eine Frau beten. „Danke, Herr“, sagte ich im Inneren und klopfte leise an. Als sie zögernd ein kleines Stückchen die Tür öffnete, sagte ich ruhig in Deutsch: „Ich habe in meinem Hotel Bibeln für dich.“ Sie ließ mich schnell hinein. Nachdem wir wenige Augenblicke über den Herrn und Sein Wort gesprochen hatten wurde mir klar, daß ich jetzt schnellstens wieder gehen mußte. „Wann ist die beste Zeit, um die Bibeln zu bringen?“ fragte ich. „Heute nacht gegen 23 Uhr“, sagte sie. „Welchen Weg bist du jetzt gekommen?“ „Ich nehme an, es gibt nur einen Weg“, erwiderte ich erstaunt. „Es gibt noch einen Weg an der Rückseite. In der Hecke an der Straße ist eine schmale Pforte. Nimm heute Nacht diesen Weg. Im Erdgeschoß wohnt der Pastor. Er arbeitet mit den Kommunisten zusammen. Wenn du diesen Weg nimmst, wird er dich nicht sehen, aber sei vorsichtig. Und jetzt geh schnell. Vergiß nicht: du mußt jetzt auf dem gleichen Weg gehen, auf dem du gekommen bist. Die Geheimpolizei hat ein Haus auf der anderen Seite der Straße, die werden achtgeben, um festzustellen, wie lange du hier warst.“ Als wir in der Nacht mit den Bibeln wiederkamen, haften wir sorgfältig aufgepaßt, daß wir nicht verfolgt wurden. Diese liebe Witwe wollte uns etwas anbieten, obwohl sie so arm war. Auf einem Tablett servierte sie jedem von uns ein Glas Wasser und einen Löffel voll Fruchtgelee. Wir wußten: es war das Beste, was sie hatte. Wäre ich von einem König zum Festessen eingeladen worden, hätte ich mich nicht mehr geehrt gefühlt. Mir fiel ein, was Jesus über das „Scherflein der Witwe“ gesagt hatte und ich verstand dieses Wort nun in einer ganz neuen Weise. Wir verließen die große Stadt, um noch in eine kleinere zu fahren. Von dort hatte ich eine offizielle Einladung, in einer registrierten Kirche zu predigen. Der Pastor schien ein Mann zu sein, der wirklich Gott dienen wollte, aber die Notwendigkeit fühlte, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Er fürchtete, wenn er dies nicht tun würde, könnten die Behörden ihn absetzen und einen ihrer eigenen Leute an seinen Platz bringen, der die Gemeinde zerstören würde. Er bat mich, mindestens eineinhalb Stunden zu predigen. „Sage den Leuten, wie sie gerettet werden können“, bat er ernstlich. „Sprich von Hingabe an den Herrn und Heiligung, über Taufe und wahre Jüngerschaft. Sage ihnen all das, was ich nicht predigen darf. Du weißt, was das alles ist.“ Alle Stühle und Bänke hatte man hinausgetragen, damit mehr Besucher Raum fanden. Die Menschen standen eng nebeneinander in der Kapelle. Der Gottesdienst dauerte etwa vier Stunden. Sonntags war der Gemeinde nur ein Gottesdienst erlaubt, also hatten sie immer einen langen. Am Abend ging der Pastor mit mir in eine Untergrundversammlung, die in einem Privathaus stattfand. Einige der Leute, die am Vormittag in der Kirche gewesen waren, trafen wir hier wieder. Es gibt oft keine genaue Grenze zwischen den genehmigten Kirchen und den sogenannten Untergrundkirchen. Einige Gläubige gehen in alle Gottesdienste, weil es sie nach der Gemeinschaft mit Christen verlangt, wo und wann sie diese nur finden können. Auf dem Weg zu dieser Versammlung sagte der Pastor zu mir: „Versprich mir, daß wir 21.30 Uhr wieder gehen, und nicht später.“ „Sicher“, stimmte ich zu. „Ich bin dein Gast. Was immer du wünschst, das werde ich tun.“ Wir erreichten das Haus gegen 18 Uhr. Nach einer Mahlzeit und vielen fröhlich gesungenen Liedern wurde ich gebeten, zu predigen. Als ich etwa eine Stunde gesprochen hatte, begannen die Leute Fragen zu stellen. „Was ist Gottes Gnade? Ist der Glaube eine Gabe? Was ist Heiligung? Wie wirkt sich die Heili- gung in unserem Leben aus? Was ist der Unterschied zwischen Heiligung und Erlösung?“ Einige der Fragen waren völlig aus dem Zusammenhang gerissen und verrieten, wie wenig man die Bibel kannte. Doch ich wußte auch, daß es dafür gute Gründe gab. Unter all denen, die an diesem Abend zusammengekommen waren, gab es nur zwei Bibeln. Früher am Abend hatte ich eine davon betrachtet. Auf der Innenseite des Umschlags standen viele Namen geschrieben. „Sind das die Leute, die diese Bibel lesen dürfen?“ hatte ich gefragt. „Diesen allen steht die Bibel pro Woche für eine Stunde zu“, bekam ich zur Antwort. „Aber in dieser Zeit lesen sie nicht darin, sondern schreiben Teile davon für sich ab.“ Wenn man dies wußte, war es nicht mehr schwer, geduldig zu sein, wenn sie so verdrehte Fragen stellten. Ich dankte Gott für das Vorrecht, gläubige Menschen in Osteuropa, wie die an diesem Abend, über Sein Wort belehren zu dürfen. Es waren Menschen, denen ihre Regierungen das Recht verweigerten, eine eigene Bibel zu haben. Ich habe eine komplette handgeschriebene Bibel gesehen. Aber viele Leute haben nur Teile davon abschreiben können. Sie verstehen die Bibel nicht so gut, weil sie nie Gelegenheit hatten, die ganze Bibel zu lesen, und schon gar nicht, diese zu studieren. Manchmal habe ich in solchen Versammlungen die ganze Nacht hindurch Fragen beantwortet. Doch diesmal stand der Pastor um 21.25 Uhr auf und erklärte, wir beide müßten jetzt gehen. Laute Proteste von allen Anwesenden. „Nein! Du kannst ihn jetzt nicht mitnehmen. Wir .werden kaum wieder Kontakt mit jemand aus dem Westen haben, und wir sind mit so vielen Fragen gekommen.“ Doch der Pastor blieb dabei. „Ich muß jetzt gehen“, beharrte er. „Das ist nicht recht! Wir haben noch so viel zu fragen.“ „Ich muß gehen“, sagte er ernst. „Es ist zu gefährlich für mich, wenn ich noch länger bleibe. Man könnte mich anklagen, an einer Untergrundversammlung teilgenommen zu haben. Ich kann nicht länger bleiben.“ Die meisten Leute waren sehr ärgerlich, als wir gingen. Nach solchen Erlebnissen versteht man besser, warum unter den Gläubigen in manchen Teilen Osteuropas auch Spannungen herrschen. Manche nehmen einen harten Standpunkt ein und weigern sich, mit der offiziellen Kirche etwas zu tun zu haben. Sie nennen diese die „Synagoge des Satans“. Andere sagen, man müsse mindestens ein wenig Zusammenarbeit zeigen, da sonst zu befürchten ist, daß die Regierungen alle Kirchen schließen, wie dies in Albanien und China schon geschehen ist. Man braucht sich also nicht zu wundern, daß es in den westlichen Kirchen deshalb oft viele unterschiedliche Berichte über die Verhältnisse in den Kirchen und Gemeinden hinter dem Eisernen Vorhang gibt. Während meiner Reisen habe ich gesehen, daß Kompromisse verschiedenster Abstufungen gemacht werden; und ich habe auch einige der oftmals tragischen Gründe dafür erfahren. Daraus habe ich gelernt, daß es vor allem für einen Besucher, der nur kurze Zeit dort sein kann, nicht immer leicht ist, manche Situation richtig zu verstehen. In manchen Fällen wird die volle Wahrheit wohl erst offenbar werden, wenn unser Herr wiederkommt und gerecht richten wird. Ich vergesse nicht, daß auch ich einmal nach meinen Worten und Werken gerichtet werde. Ich reiste weiter und aß in einer anderen Stadt einige Tage später bei einem recht bekannten und auch behördlich anerkannten Pastor zu Mittag. Wir saßen in einem gut möblierten Zimmer mit großen Fenstern und einem schönen Balkon, von dem aus man einen herrlichen Ausblick hatte. Im stillen mußte ich dies alles mit der Lage eines anderen Pastors vergleichen, den ich wenige Tage vorher getroffen hatte und der mit einem stiellosen Besen die Rinnsteine ausfegte. Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei hatte unbestreitbar auch Vorteile. Den sichtbaren Beweis hatte ich in dieser gut eingerichteten Wohnung vor mir und in der bedrückenden Armut vieler Gläubiger der Untergrundgemeinden. Doch ein weiterer Unterschied fiel mir auch auf: Die Unterhaltung hier am Mittagstisch mit diesem Mann, seiner Frau und seinem Sohn war sehr angenehm, aber - es fehlte etwas. Die Ungezwungenheit, die tiefe Freude und das Vertrauen, der Funke von Humor, die Offenheit, die intensive Liebe und der Sinn der Gemeinschaft, die ich bei denen getroffen hatte, die nur von einem kleinen Teil des Einkommens leben mußten, das dieser Mann an Gehalt bekam, fehlten hier, und dies stimmte mich nachdenklich. Als wir unsere Mahlzeit beendet hatten beschloß ich, ihn über das Für und Wider der Zusammenarbeit mit den Behörden zu befragen. Er würde da sicherlich Bescheid wissen. „Was hat es mit den Berichten auf sich, die du über deine Gemeindemitglieder machen mußt? Wieviel mußt du erzählen, um die Polizei zufriedenzustellen?“ fragte ich. „Oh, es gibt da überhaupt keine Schwierigkeiten“, antwortete er schnell. „Meinst du nicht auch, daß Rumänien ein wunderschönes Land ist? Und was für ein Wetter wir zur Zeit haben! Sollten wir das nicht ausnützen und einen Spaziergang machen?“ Er legte einen Finger an seine Lippen und forderte mich mit der anderen Hand auf, ihn nach draußen zu begleiten. „Ich kann in meiner Wohnung nicht über solche Dinge reden“, sagte er, als wir auf der Straße waren. „Ich bin nicht sicher, ob man bei mir nicht ein Mikrophon versteckt hat und mithört, was ich sage.“ Während wir durch einen nahegelegenen Park gingen, schüttete er mir sein Herz aus. „Ich bin etliche Jahre im Gefängnis gewesen und habe keine Furcht, wieder eingesperrt zu werden oder auch für Christus zu sterben, wenn dies Sein Wille sein sollte. Aber ich liebe meine Gemeinde, und deshalb muß ich mit den Behörden Zusammenarbeiten. Wenn ich ihnen einen Vorwand liefere, werden sie mich absetzen und einen ihrer eigenen Leute als Pastor hierherbringen. Einen, der Theologie studiert hat, um sie mit dem Marxismus zu vermischen. Einen Wolf in Schafskleidung. Einen Gotthasser, der ein Pastorengewand trägt. Dies wäre so schrecklich für die Gemeinde, daß ich es nicht ertragen könnte.“ Ich konnte spüren, wie seine Seele litt. Er schaute mich fragend an, doch ich wußte nicht, was ich hätte antworten sollen. Wer war ich, daß ich ihn hätte verurteilen können? „Ich arbeite nicht völlig mit ihnen zusammen“, fuhr er fort. „Ich mache Berichte, aber die Informationen, die ich ihnen gebe, sagen gewöhnlich gar nichts. Häufig behalte ich Dinge für mich. Aber ich kann nicht alles verbergen. Kannst du das verstehen?“ „Es ist schwierig für mich, dies zu begreifen, da ich hier nie leben mußte. Wie sehr beraubt dich dies der Möglichkeit, wirklich Pastor und Seelsorger zu sein?“ Wir saßen jetzt auf einer Bank und schauten uns halb an. Ich sah einen Ausdruck von Not und Pein in seinem Gesicht. „Sicher gibt es für mich große Beschränkungen. Du weißt, daß es mir nicht erlaubt ist, alles zu predigen, was ich gern möchte. Ich darf nicht evangelisieren. Ich darf keinen Kindergottesdienst haben. Ich darf die Jugend nicht über Christus belehren. Ich muß eine Genehmigung von der Regierung bekommen, wenn ich jemand taufen will. Ich wage auch nicht, zu viele zu taufen oder solche, die noch sehr jung sind. Einige aus meiner Gemeinde sind im Geheimen getauft worden. Wir sind in einer schrecklichen Lage. Aber was soll ich tun?“ Eine lange Zeit der Stille trat zwischen uns ein. Es war mir sehr ungemütlich zumute, denn ich wußte nicht, was ich antworten sollte. „Verurteilst du mich deshalb?“ fragte er endlich. Ich hatte zugehört, wenn solche Männer von anderen Christen dieserhalb verurteilt worden waren. Und als ich in der Sicherheit meines eigenen Landes war, hatte ich auch zugestimmt. Aber jetzt schien mir dies nicht mehr ganz so recht zu sein. Ich fürchtete mich bei dem Gedanken, was ich in einer ähnlichen Lage tun würde. Ich zögerte lange, ehe ich antwortete. „Ich liebe dich als meinen Bruder“, sagte ich dann. „Ich weiß, daß du Christus liebst, und Er ist der einzige, der dein Verhalten richtig beurteilen kann. Auch ich werde eines Tages vor Ihm stehen und Rechenschaft geben müssen.“ Ein tiefes inneres Leid schien sich auf seinem Gesicht auszudrücken. „Ich will es dir sagen: ich bin ein gequälter Mann. Manchmal glaube ich, daß diese Art der Qual schlimmer ist als alles, was ich im Gefängnis ertragen habe. Soll ich ganz offen für das eintreten, wovon ich weiß, daß es richtig ist, wenn dies geichzeitig bedeutet, daß meine Gemeinde dann einen Kommunisten als Pastor bekommt, der ihnen einen Mischmasch aus Theologie und Marxismus predigen wird? Was wäre damit gewonnen?“ „Ich verstehe, was du dabei empfindest“, sagte ich mitfühlend, „und ich weiß auch keine Antwort. Was würden Paulus oder Petrus getan haben? Was würde Jesus tun? Ich glaube, Er muß dir die richtige Antwort geben - und den Mut.“ Plötzlich ließ er seinen Kopf sinken, als könne er mir nicht mehr in die Augen sehen. „Und mein Sohn . . . mein einziger Sohn . . Er zögerte - vielleicht hatte er gar nicht vorgehabt, dies zu sagen - dann redete er fast ohne zu atmen wie ein Büßer in der Beichte weiter. „Mein Sohn kommt im nächsten Monat zur Oberschule. Wenn ich nicht tue, was die von mir wollen, dann bekommt er keine gute Schulbildung - und dies wäre schlimmer für mich, als wenn ich ins Gefängnis müßte.“ Er preßte seine Hände zusammen. „Ich hoffe immer noch, daß die Lage leichter wird . . . vielleicht nimmt sich jemand im Westen unserer Sache an ... vielleicht, daß die Vereinten Nationen . . . oder die öffentliche Meinung in der ganzen Welt zwingt unsere Führer . . .“ Die abgerissenen Sätze flatterten unvollendet mit dem leichten Nachmittagswind davon. „Willst du für mich beten?“ bat er plötzlich. Während wir dort auf der Parkbank miteinander beteten, sah ich in meinem Geist Millionen der Christen des Westens, die ein leichtes und selbstzufriedenes Leben führen und sich um die Leiden ihrer Brüder und Schwestern im Osten keine Sorgen machen. Einige fühlten sich vielleicht durch einen Appell, der Kirche hinter dem Eisernen Vorhang zu helfen, manchmal angesprochen und spendeten Geld. Aber wo waren Liebe und Mitgefühl, wo das bleibende Mittragen und das anhaltende Gebet? Also die Dinge, die ernsteren Einsatz forderten und die doch noch viel nötiger sind. Während ich für diesen Mann, der von seinem eigenen Gewissen gequält wurde, um Kraft bat, weil er trotz seiner Übergabe an Christus Kompromisse machte, fragte ich mich im stillen, ob die Kirche Christi im Westen, von der auch ich ein Teil war, nicht schon mehr und größere Kompromisse gemacht hatte, nur - es wird uns nicht bewußt. Ich reiste weiter nach Bulgarien. Eines Sonntags war ich in der Gemeinde zum Gottesdienst, in welcher der bulgarische Flüchtling, für den ich in Dänemark Ubersetzerdienste getan hatte, ein sehr geachteter und geliebter Pastor gewesen war. Er hatte mich ausdrücklich gebeten, zu versuchen, dort besondere Grüße auszurichten. In Bulgarien ist es keinem Ausländer erlaubt zu predigen. Doch man erlaubte mir an diesem Sonntag, im Gang zu stehen und einige Grußworte zu sagen. Da ich besorgt war, der Pastor könnte das, was ich sagte, beim Über- setzen abändern, wenn es ihm nicht gefiel, versuchte ich meine Worte so zu wählen, daß er nicht ahnen konnte, was ich als nächstes sagen würde. „Ich bringe Grüße von den Christen aus Dänemark und den anderen Ländern des Westens. Von meinem Land wird gesagt, daß es ein freies Land ist. Doch eigentlich stimmt das nicht, denn wir sind gebunden von der Sünde. Das Wichtigste ist nicht, ob wir in einem sogenannten freien Land leben, sondern ob wir selbst frei sind. Wen Christus frei macht, der ist wirklich frei. Es gibt einige Bibelverse, die meine besonderen Grüße viel besser ausdrücken, als ich dies könnte. Sie stehen im ersten Kapitel des Philipperbriefes, Vers 27-30.“ Der Pastor las die Verse für mich aus der bulgarischen Bibel vor: „Nur verwaltet die Gemeinde so, wie es der Heilsbotschaft Christi würdig ist; denn ich möchte, falls ich kommen sollte, an euch sehen oder, falls ich fern bleibe, über euch hören, daß ihr in einem Geiste feststeht, indem ihr einmütig wie ein Mann für den Glauben an die Heilsbotschaft kämpft und euch in keiner Beziehung von den Widersachern einschüchtern laßt; . . . Denn euch ist in eurem Christenstand die Gnade zuteil geworden, nicht nur an Christus zu glauben, sondern auch um seinetwillen zu leiden, indem ihr denselben Leidenskampf zu bestehen habt, wie ihr ihn bei mir gesehen habt und jetzt bei mir hört.“ Während er las, blieb ich im Gang stehen und schaute mich in der Gemeinde um. Tränen begannen über manche Gesichter zu laufen. Taschentücher wurden herausgezogen, um die Augen zu wischen. Als der Pastor mit Lesen fertig war, weinten viele ganz offen. Ich bin sicher, sie begriffen, daß dies keine gewöhnlichen Grüße waren, sondern eine Botschaft von ihrem geliebten ehemaligen Pastor, der unter falschen Anschuldigungen verhaftet worden war und durch Folterungen dahin gebracht wurde, ein Geständnis abzulegen, das nicht stimmte. Er war zwar jetzt im Westen, aber er hatte sie nicht vergessen. 10000 Dollar -und andere Fehler „Nummer 347“, sagte ich zu der jungen Dame hinter der Re-ception, als sie ihre Aufmerksamkeit einen Augenblick von einigen Gästen. abwandte, mit denen sie hitzig auf Bulgarisch diskutierte. Mechanisch griff sie nach dem Schlüssel, zog ihn aus dem schmalen Fach und gab ihn mir. Nach einem kurzen Blick auf meinen Paß, den ich auf die Theke gelegt hatte, wandte sie sich wieder der Gästegruppe zu. Ich hoffte, daß sie von ihnen lange genug aufgehalten werden würde. So weit war alles gut gegangen. Ich befand mich in einem der besten Hotels Bulgariens, in einem großen Ferienort am Schwarzen Meer. Als ich über die dicken Teppiche zum Fahrstuhl ging hatte ich Mühe, vor den vier russischen Offizieren, die mir entgegenkamen, die Hochstimmung und Begeisterung zu verbergen, die sich in mir breit machten. Ich beschleunigte unwillkürlich meine Schritte, und mein Herz klopfte heftig. Ich hatte guten Grund aufgeregt zu sein. Seit etwa zweieinhalb Jahren hatte ich - und hatten andere -versucht, in das Zimmer 347 hineinzukommen. Jedesmal ohne Erfolg. Ich hatte geschrieben und ausdrücklich um Reservierung dieses Zimmers gebeten. Ich hatte weite Umwege gemacht, um in diesem Hotel zu übernachten. In meinen Briefen und auch persönlich am Empfang hatte ich immer wieder so gut es ging, ohne Verdacht zu erregen, von den Qualitäten des Zimmers 347 gesprochen: Die besonders schöne Aussicht vom Fen- ster; die günstige Lage in der Nähe des Fahrstuhls; das bequeme Bett; die Bilder an der Wand und die hübsche Tapete; der leichte Abendwind, den man von diesem Balkon besonders genießen konnte; der angenehme Aufenthalt bei einem früheren Besuch; die so beruhigende Art der Einrichtung und „eine ganz besondere Note“, die dafür zu sorgen schien, daß es sich in diesem Zimmer besonders gut schlafen ließ. Ich hätte gerade dieses Zimmer liebend gern gemietet und bereitwillig auch einen extra hohen Preis dafür bezahlt, hatte aber auf meine Bitten immer dieselbe Antwort bekommen: „Besetzt“. Bis jetzt! So groß, wie die Vorzüge von Zimmer 347 auch immer sein mochten, der eigentliche Grund, daß ich es haben wollte - ein Grund, von dem ich hoffte, daß ihn das Hotelpersonal bis jetzt noch nicht herausgefunden hatte - waren die 10 000 Dollar in bar, die dort versteckt lagen. Der Kurier einer anderen Mission, der von Furcht gepackt worden war, hatte sie dort gelassen. Er hatte neben seinem Reisegeld diese 10 000 Dollar mit über die bulgarische Grenze gebracht und beim Zoll nicht angegeben. Als er hier im Hotel ankam, hatte er Zimmer Nr. 347 bekommen. Er hatte den Auftrag, dieses Geld einem Bulgaren aus der Stadt zu übergeben, der es dann an Angehörige von Gefangenen und andere Glieder der Untergrundkirche verteilen sollte, die in großer Not waren. Doch jedesmal, wenn er vom Hotel aufgebrochen war, um seinen Kontaktmann aufzusuchen, war er unaufhörlich verfolgt worden. Nachdem er mehrere erfolglose Versuche gemacht hatte, seinem Schatten zu entkommen, war er ängstlich geworden und hatte keinen Mut mehr gehabt, es noch weiter zu probieren. Als er von seinem letzten erfolglosen Versuch, die große Summe an die richtige Person abzuliefern, zurückkam, ergriff ihn wegen seiner Unfähigkeit, die zweibeinigen Bluthunde, die ihm unaufhörlich folgten, abzuschütteln, eine Panikstimmung. Er war überzeugt davon, daß man ihn in Kürze verhaften würde. Jeden Augenblick erwartete er, die Polizei würde an die Tür klopfen. Der eine Gedanke, der ihn auch in seiner Angst nicht losließ, war: „Ich muß das Geld verstecken - und zwar schnell. Aber wo?“ Er zwang sich, seine Furcht vor der Verhaftung zu überwinden und begann wieder ruhig nachzudenken. Dann nahm er eine schnelle aber sorgfältige Untersuchung des Zimmers vor. Vielleicht in die Matratze? Doch die konnte ausgewechselt werden - oder ein Unvorsichtiger legte sich mit einer brennenden Zigarette ins Bett und zündete sie an. Hinter ein Bild? In eine Lampenfassung? Plötzlich fiel ihm die Metallverkleidung des Zentralheizungskörpers auf, welche durch zwei Schrauben befestigt war. Er hatte ein Messer bei sich. Damit löste er die Schrauben und zog die Verkleidung beiseite. Der Heizkörper war in eine Nische unter dem Fenster eingelassen. Das war der richtige Platz! Das Loch, durch das die Warmwasserleitung lief, war nicht sorgfältig gemacht und viel zu groß. Während er verzweifelt Gott bat, Er möge ihm seine Furcht vergeben und das Geld bewahren, stopfte er den recht umfangreichen Geldscheinpacken so weit wie möglich in das Loch unter das Zuleitungsrohr. Niemand, der sich nicht sehr tief herunterbeugte, konnte die Scheine sehen. Wenn nur die Heizung gut funktionierte, so daß kein Handwerker daran zu arbeiten hatte. In einigen Wochen konnte dann ein anderer Kurier kommen, das Geld aus dem Versteck holen und zu dem Kontaktmann bringen. So würde außer ein wenig Zeit nichts weiter verlorengehen. Dieses Ereignis lag nun schon bald drei Jahre zurück, und seither waren viele Versuche gemacht worden, in dieses Zimmer zu kommen. Doch ich hatte den Schlüssel jetzt in meiner Hand und alles, was ich wünschte, war, daß man mich fünf Minuten in dem Zimmer allein ließ. Ich drückte auf den Knopf und die Fahrstuhltür öffnete sich. „Hallo, H^rr! Sie . . . am Fahrstuhl!“ Ich zwangf mich dazu, mich langsam umzudrehen und sah, wie das Mädchen, das mir den Schlüssel gegeben hatte, auf mich zurannte und dabei mit meinem Paß wedelte. Die vier russischen Offiziere waren stehengeblieben und beobachteten uns. Ein Mann kam hinter einem Pult hervor und rannte ihr nach. Atemlos kam sie bei mir an. „Geben Sie mir bitte den Schlüssel.“ „Aber Sie haben ihn mir doch gerade erst gegeben“, sagte ich und versuchte, so erstaunt und naiv auszusehen wie nur möglich. „Sie sind nicht Oberst Krakow!“ Sie hielt mir meinen Reisepaß unter die Nase. „Das ist nicht Ihr Zimmer. Warum haben Sie mich nach diesem Schlüssel gefragt?“ „Aber Sie haben mir doch den Schlüssel gegeben“, protestierte ich und versuchte jetzt, mich als beleidigter Gast zu geben. „Ich habe nicht gesagt, daß dies mein Zimmer ist, ich habe noch gar keines. Aber ich habe geglaubt, Sie wollten mir dieses Zimmer geben. Ist es denn besetzt?“ Ich hielt ihr den Schlüssel hin und sie riß ihn weg. „Natürlich! Die gesamte dritte Etage ist von einer Delegation russischer Armeeoffiziere besetzt. Warum wollten Sie denn dieses Zimmer haben?“^ Sie und der Mann, der mittlerweile auch herangekommen war, betrachteten mich jetzt äußerst mißtrauisch. „Ein Freund von mir, der vor einiger Zeit in diesem Zimmer gewohnt hat, sagte, es sei sehr schön und hat es mir empfohlen . . .“ Ich sprach langsam und ungehalten, so daß bei ihnen kein Zweifel sein konnte, daß ich mich sehr beleidigt fühlte. Ihr scharfer Blick begann sich zu mildern. Ich streckte meine Hand aus. „Würden Sie bitte so freundlich sein und meinen Reisepaß zurückgeben. Ich werde in ein anderes Hotel gehen, wo man die Gäste höflich und wie Menschen behandelt.“ Sie zögerte, schaute unsicher zu dem Mann und händigte mir dann meinen Paß aus. Ich ging langsam und hochaufgerichtet -ein Bild beleidigter Gerechtigkeit - durch die Eingangshalle und zur Tür hinaus. Als ich mein Auto erreicht hatte, atmete ich erleichtert auf. Und doch - es war wieder ein Fehlschlag. Einige Wochen später, als ich mit Bent Jacobson in Richtung Tschechoslowakei fuhr, ärgerte ich mich immer noch über meine wiederholten Mißerfolge, an diese 10 000 Dollar zu kommen. Nach dem letzten Vorfall würde ich es nicht wagen, es noch einmal zu versuchen. Warum war ich so töricht gewesen und hatte meinen Paß an der Anmeldung liegen lassen? Das Mädchen dort war so beschäftigt, daß sie vielleicht geglaubt hätte, ich sei der Oberst So-und-so, wenn ich dies nicht getan hätte. Doch zu diesem Augenblick wußte ich ja nicht, daß der Raum besetzt war. Und es ist üblich, den Paß vorzulegen, wenn man als neuer Gast ankommt. Verdrießlich mit diesen Gedanken beschäftigt, war ich überrascht, daß wir schon so bald die Grenze erreichten. Der österreichische Zöllner beachtete unsere Pässe kaum und winkte uns durch. Plötzlich wurde mir klar, daß ich soeben noch einen anderen Schnitzer gemacht hatte, und zwar einen schlimmeren. Wir hatten hinten in unserem nahezu leeren Kombiwagen einen Karton voll tschechischer Bibeln stehen, die jedermann sehen mußte. Es war zu spät, sie jetzt noch zu verstecken. Wir waren in dem schmalen Streifen Niemandsland zwischen Österreich und der Tschechoslowakei, und die tschechischen Grenzbeamten erwarteten uns schon. „Herr, vergib mir diesen Fehler“, betete ich. „Hilf bitte, daß sie den Karton nicht sehen oder nimm die Bibeln hinweg. Nicht um meinetwillen, Herr, aber um des Namens Jesu willen und für die Deinen, die Dein Wort gebrauchen.“ Ich wußte nur zu gut, daß Kisten und Kartons die besondere Aufmerksamkeit der Zöllner und Grenzbeamten erregen, vor allem dann, wenn es sich um einen so großen handelt, wie jener, der hinter mir stand und voller Bibeln war. Ganz offensichtlich enthielt er nicht die Dinge, die jemand während einer Reise braucht und erforderte deshalb dringend eine Untersuchung. Ich betete weiter, während die Beamten unser gesamtes Gepäck sorgfältig untersuchten. Nur den großen Karton ignorierten sie völlig, geradeso, als sei er nicht vorhanden. Ich war schon oft genug über Grenzen gefahren, um zu wissen, daß Gott in Seiner Gnade wieder einmal ein Wunder für uns getan hatte, als wir es dringend benötigten. Warum hatte Er dann in jenem Hotel nicht geholfen? Ich wußte auch keine Antwort für solche Fragen. Nachdem wir am frühen Nachmittag im Haus unserer Kontaktperson angekommen waren, fuhren wir den Wagen an einen nicht gut einzusehenden Ort und entluden die Bibeln. Dies ist immer das erste, was getan wird. Irgendein Spitzel mag die Polizei von unserer Anwesenheit informieren, so daß sie plötzlich auftauchtp'um eine Kontrolle zu machen. Wir hatten uns gerade ein wenig entspannt, als eine Frau erregt in die Wohnung kam und erzählte, daß ein Kurier einer anderen Mission entdeckt und verhaftet worden sei. Er war gut über die Grenze gekommen, doch während er durch das Land fuhr, stieß sein Auto mit einem Eisenbahnzug zusammen und er wurde ernstlich verletzt. Durch den Zusammenprall wurden aber auch die Bibeln aus ihrem Versteck herausgeschleudert. Als die Polizei eintraf, lagen die Bibeln verstreut im Wagen. Er wurde verhaftet, und die Polizei begann eine hektische Suche nach den Bibeln, die er schon ausgeliefert hatte. „Dieser Mann hat zweihundert Bibeln bei den Cherneys gelassen“, rief unser Gastgeber. „Die Polizei wird es herausfinden und ihr Haus durchsuchen. Wir müssen sie warnen.“ „Wo wohnen sie?“ fragte ich. „Mehr als hundert Kilometer von hier - und wir haben kein Auto.“ „Aber wir haben eins!“ Innerhalb von wenigen Minuten waren Bent und die Frau, die die Neuigkeit gebracht hatte, mit dem Wagen unterwegs. Gegen 18.30 Uhr etwa trafen die ersten Besucher für die Abendversammlung ein. Sie kamen nach und nach, einzeln oder höchstens zu zweit, mit Abständen von mehreren Minuten dazwischen. So leise wie möglich betraten sie das Haus und kamen die Treppe herauf. In der Wohnung angekommen, zogen sie sogar die Schuhe aus, und während des gesamten Abends wurden so wenig Geräusche wie möglich gemacht, damit die Bewohner der Nachbarwohnungen und besonders die darunter nicht merkten, daß so viele Gäste im Haus waren. Als Bent spät am Abend zurückkam, dauerte die Versammlung immer noch an. Obwohl wir mehrere Tage blieben und jeden Abend ein solcher Gottesdienst sein sollte, mußten wir bis 4 Uhr morgens Fragen beantworten. Wir sprachen über Themen wie: Gnade, Erwählung, Vorherbestimmung, Taufe, Heiligung usw. Aber am meisten interessierte alle Anwesenden die Wiederkunft Jesu Christi. Ob ich glaubte, daß Sein Kommen nahe sei? Welches die Zeichen Seiner Wiederkunft seien und ob manche davon in unserer Zeit schon zu beobachten wären? Dies ist eine der hinter dem Eisernen Vorhang am häufigsten gestellten Fragen, da neben der Bibel auch alle andere Literatur, die nicht in die offizielle Linie des Systems paßt, verboten ist. Bücher von Einstein z. B. sind in Rußland nicht erlaubt, da er sagt, die Entdeckungen der Wissenschaft wiesen auf die Existenz Gottes hin. Westliche Zeitungen und Zeitschriften sind selbstverständlich auch nicht zu haben. Die Verbreitung von Nachrichten steht unter totaler Kontrolle der Regierung. Da alle Unternehmen im Besitz des Staates sind, sind auch alle Herausgeber von Zeitungen, Reporter, Fotografen, Radio- und Fernsehkommentatoren staatliche Angestellte; und es wird ihnen kein Abweichen von den offiziellen Dogmen erlaubt. Vieles von dem, was in der Welt geschieht, wird in Osteuropa überhaupt nicht oder nur sehr unvollständig und verzerrt berichtet. Manchmal auch erst Monate zu spät, so daß es nicht mehr aktuell ist. Wie alle anderen, die unter solchen Verhältnissen leben, hungern auch die Christen nach den Ereignissen in der Welt; sie aber aus ganz bestimmten Gründen. Sie sind brennend daran interessiert zu erfahren, ob die Prophezeiungen der Bibel sich erfüllen. Da sie dies in ihrem eigenen Land nicht erfahren können, sind sie auf Quellen von außerhalb angewiesen, um an die nötigen Informationen zu kommen. „Welche Dinge gehen heute in der Welt vor, die darauf hinweisen, daß das Kommen Christi nahe ist? Bitte nimm die Prophezeiungen Daniels und der Offenbarung und zeige uns, wie die gegenwärtigen Weltereignisse auf die Erfüllung derselben hinweisen.“ Solche Fragen hielten uns bis in den frühen Morgen wach. Dann gingen die Leute wieder so leise und vorsichtig wie sie gekommen waren. Immer einer oder zwei zusammen. Die letzten verließen uns gegen vier Uhr. Nach einigen Stunden Schlaf und einem sehr späten Frühstück hatte ich Gelegenheit, Bent nach der Fahrt vom vergangenen Abend zu fragen. „Als wir uns dem Dorf näherten, standen große Wasserlachen auf den Straßen und die Felder ringsum standen unter Wasser. Gerade kurz vorher hatte es ein böses Unwetter gegeben. Der Sturm hatte etwa zwei Kilometer vor Cherneys Haus einen mächtigen Baum quer über die Straße geworfen, der nun den Verkehr blockierte. Die Polizei war da, sowie ein großer Kran und Arbeiter mit Motorsägen. Die größeren Autos mußten auf beiden Seiten der Straße in langer Reihe warten. Wir mit unserem kleineren Wagen kamen aber durch und konnten ohne Aufenthalt weiterfahren. Als wir bei ihrem Haus ankamen, machte das Dorf einen verlassenen Eindruck. Ich nehme an, fast alle Einwohner waren gegangen um zuzuschauen, wie der gefallene Baum weggeräumt wurde. Die Cherneys aber waren daheim. Nachdem wir unseren Wagen in einem alten Schuppen abgestellt hatten, damit er nicht auffiel, erklärten wir, warum wir gekommen waren. Sie sagten uns, daß der Herr sie schon gewarnt hatte. Deshalb hatten sie die Bibeln an einen anderen Ort gebracht. Einer von ihnen hatte ein Gesicht - oder eine Offenbarung -aus dem sie entnahmen, daß die Polizei durch irgendein Hindernis auf der Straße so lange abgehalten wurde zu kommen, bis die Bibeln in Sicherheit waren.“ „Würdest du es wagen, den Leuten in Dänemark die Geschichte zu erzählen?“ fragte ich Bent ernst. „Wer würde dir glauben?“ „Ich weiß auch nicht, ob ich es selbst geglaubt hätte“, meinte er, „wenn ich nicht dort gewesen wäre. Hör zu: Die Frau, die mit mir fuhr, erzählte mir, daß ihr Mann sich kürzlich bei einem Sturz den Arm brach. Zwei Wochen nachdem er gerichtet und in Gips gekommen war, machte der Arzt eine Röntgenaufnahme und entdeckte, daß der Arm sich verkrümmte. Ihr Mann sollte am nächsten Morgen ins Krankenhaus kommen. Der Arm mußte neu gebrochen und wieder gerichtet werden. Am Abend versammelte sich eine Gruppe von Gläubigen in ihrem Hause, die ihrem Mann die Hände auflegten und mit ihm beteten. Am nächsten Morgen bat er den Arzt im Krankenhaus, erst noch eine Röntgenaufnahme zu machen, ehe sie etwas mit dem Arm unternahmen. Zögernd erfüllte der Arzt die Bitte und entdeckte, daß der Arm völlig heil war und tadellos gerade.“ Nicht immer geschehen Wunder. Wie in der Zeit der ersten Christen müssen auch heute treue Christen oft in Gefängnissen leiden, werden dort gefoltert und müssen hungern oder sterben gar in den Zellen. Gott wirkt nicht immer durch Wunder, obwohl die meisten von uns ganz sicher mehr von der wunderwirkenden Kraft Gottes selbst erfahren würden, wenn sie nicht durch religiöse Argumente oder gar durch Unglauben so blind und voreingenommen wären. Doch der Christ schwebt in seinem Leben nicht einfach auf einer rosafarbenen Wunderwolke dahin. Es gibt auch Arbeit und Leiden, und wir haben viel zu lernen, oft auch durch unsere Fehler. Als ich nach Dänemark zurückkehrte, fand ich den Brief eines unserer Kuriere vor, der mir über eine gerade beendete Reise nach Bulgarien berichtete. Er hatte fast alle Bibeln gut ausgeliefert und nur noch etwa einhundert übrig, die er in einem bestimmten Dorf noch abgeben wollte. Auf der Fahrt dorthin fiel ihm jedoch auf, daß ihm schon eine ganze Strecke ein Auto folgte. Man wird in Bulgarien fast immer beobachtet. Genau wie in Rußland schreibt auch hier jeder Polizist die Autonummer, den Ort und die Zeit auf, wenn du an ihm vorbei fährst. Deshalb hielt unser Kurier in dem Dorf nicht an, sondern fuhr noch einige Kilometer weiter bis in eine große Stadt. Hier nahm er ein Hotelzimmer. Als er das Zimmer betreten • hatte, verschloß er sofort die Tür, nahm die Bibeln aus dem Gepäck und versteckte sie unter dem Bett. Dann verteilte er seine Kleidung und die anderen Reiseutensilien schnell in alle Koffer. Er hatte sich sehr beeilt und war gerade fertig, als laut an die Tür geklopft wurde. Als er öffnete, drängten sich mehrere uniformierte Polizisten ins Zimmer und durchsuchten seine Gepäckstücke. Während er aus dem Fenster schaute, konnte er sehen, daß andere Beamte durch die Fenster seines Autos blickten, das er verschlossen hatte. Doch niemand schaute unter das Bett. Am folgenden Morgen verließ er das Hotel, schloß seine Koffer, die wiederum die Bibeln enthielten, in das Auto ein und begann eine Stadtrundfahrt mit dem'Autobus. Nachdem er einige Male den Bus gewechselt hatte, entkam er der Person, die ihm folgte, kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr in das in der Nähe gelegene Dorf. Diesmal war er sicher, daß ihm niemand folgte. Schnell lieferte er die Bibeln ab, die sofort zu einem anderen Ort gebracht wurden, der wieder etliche Kilometer entfernt lag. Dann fuhr er davon. Später erfuhr er, daß schon nach einer knappen Stunde die Polizei bei dem Haus ankam, vor dem er geparkt hatte, und es durchsuchte. Offensichtlich war er von einem Spitzel gesehen und gemeldet worden. Ninna und mir war es mittlerweile sehr klar, daß ich eine gefährliche Aufgabe übernommen hatte. Der Tag konnte kommen, an dem ich von einer meiner Reisen nicht zurückkam, wenn dies Gottes Wille sein sollte. Unsere Kuriere waren sich alle der Tatsache bewußt, daß wir uns sehr eng an den Herrn halten mußten und aufmerksam auf Seine Führungen zu achten hatten, wenn Er uns bewahren sollte. Doch Fehler konnten immer geschehen. Als einige Monate später einer unserer Kuriere in die Tschechoslowakei fuhr, hatte ich ein ungutes Gefühl. Durch eine besondere Vereinbarung mit einigen Bibelgesellschaften des Westens wurden jetzt in der Tschechoslowakei eine beschränkte Anzahl Bibeln gedruckt. Es gab noch immer nicht genug, aber unsere Mission war der Meinung, daß die Knappheit nicht mehr so groß war, dafür das immer mehr wachsende Risiko des Bibeltransports über die Grenze herauszufordern. Besonders seit dem russischen Einmarsch in das Land hatte die Geheimpolizei ihre Kontrollen sehr verschärft. Die Situation für die christlichen Gemeinden erschwerte sich dadurch auch ziemlich. Wir hatten mit besonderen Radiosendungen für die Tschechoslowakei begonnen, die dazu bestimmt waren, die Christen dort zu ermutigen. Wir wußten, daß nach der relativen Freiheit unter Dubcek die Gemeinde für die neue Welle der Verfolgung, die der russischen Besetzung folgte, nicht genug vorbereitet war. Um den Christen dort unsere neue Radiosendung bekanntzumachen, gab es nur einen Weg: Wir mußten einen Kurier senden. „Vergiß nicht, was dein Auftrag ist“, warnte ich den Kurier noch einmal, ehe er abreiste. „Halte dich nur daran und laß dich auf nichts anderes ein. Du sollst so viele Christen in Schlüsselstellungen wie möglich über unser neues Radioprogramm informieren und sie ermutigen, diese Nachricht weiterzugeben. Und nimm keine Bibeln mit!“ „Aber ich muß doch wenigstens einige mitnehmen“, protestierte er. „Schau“, sagte ich streng, „das ist diesmal nicht der Zweck deiner Reise.“ „Hans, ich werde wirklich nicht viele mitnehmen. Der Herr hat mich doch bei allen vorherigen Reisen gut durchgebracht.“ „Ich glaube nicht, daß du auch nur eine dabeihaben solltest.“ „Nur zwei? Ja? Und selbst, wenn sie diese beiden finden würden, wäre das keine große Sache.“ „So scharf, wie sie gerade jetzt Vorgehen, könnte es schon sehr viel bedeuten“, beharrte ich. „Ich glaube nicht, daß du welche mitnehmen solltest. Aber du kennst unseren Grundsatz - wir zwingen dich nicht. Bist du überzeugt davon, daß es der Wille Gottes ist, dann will ich dich nicht hindern. Aber sei dir wirklich ganz gewiß, daß Er dich damit beauftragt hat.“ Nach seiner Rückkehr kam er zu mir, um zu berichten. Ich war überrascht, daß er so schnell zurück war. Sein Gesicht sah verdrießlich aus. Man konnte erkennen, daß es ernste Schwierigkeiten gegeben hatte. Wir setzten uns in mein Büro und er begann zu erzählen: „An der Grenze wurde der Zug für etwa eine Stunde angehalten. Die Polizei war überall. Ich begann zu wünschen, ich hätte deinen Rat befolgt. Zwei Beamte kamen auch in unser Abteil. Sie nahmen alles aus meinem Koffer, schauten jedes Stück einzeln durch und untersuchten auch alle Kleidungsstücke. Nichts blieb unbeachtet. Natürlich fanden sie auch die Bibeln. Glaube mir, Hans, denen war es ernst. Sie verhafteten mich, zerrten mich in höchster Eile aus dem Zug und fuhren mich in einem Auto zu einem Verhörraum. Dann fielen sie über mich her. Und sie waren sehr rauh.“ „Nur der zwei Bibeln wegen?“ fragte ich. Er lächelte schüchtern. „Ja, für zwei Bibeln. Und dabei genehmigt die tschechische Regierung, daß eine kleine Anzahl Bibeln im Lande gedruckt wird. Das ist doch unlogisch.“ „Sie brauchen Devisen aus dem Westen“, erklärte ich ihm. „Außerdem bekommen sie die Bibeln doppelt bezahlt: Einmal von den Bibelgesellschaften und dann noch einmal von den tschechischen Christen, die den Mut haben, eine zu kaufen. Sie müssen sich registrieren lassen, um eine zu bekommen. Und viele Christen haben nicht den Mut dazu, obwohl sie gern eine Bibel hätten. Nun ja - erzähle weiter.“ „Das Schlimmste kommt erst noch: Während des Verhörs fiel mir etwas Schreckliches ein. Ich hatte die Namen und Adressen auswendig gelernt, die du mir gegeben hast, doch dann habe ich vergessen, den Zettel zu vernichten, auf den sie geschrieben waren. Er steckte immer noch in meiner Jackentasche. Ich war sicher, sie würden auch noch eine gründliche Leibesvisitation vornehmen, ehe sie mich gehen ließen. Als sie mich aufforderten, meine Jacke auszuziehen, gelang es mir irgendwie, den Zettel aus der Tasche zu holen. Ich knüllte ihn fest zusammen und begann, meine Hemdsärmel aufzuwickeln. Das zusammengeknüllte Stück Papier wickelte ich mit ein. Während einer sich meine Jacke vornahm, begann der andere, mich zu durchsuchen. Als erstes griff er nach dem Hemdsärmel, in den ich den Zettel mit eingewickelt hatte. Als er ihn herunterzog, fiel das kleine Papierknäuel heraus. Ich fing es mit der rechten Hand auf und steckte es in den Mund. Niemand von ihnen bemerkte es. Frage mich nicht, Hans, wie mir das gelungen ist. Es hätte unter diesen Umständen eigentlich gar nicht möglich sein dürfen, und ich kann dir auch nicht beschreiben, wie es doch ging. Jedenfalls hatte ich das Papier auf einmal in meinem Mund. Das ist alles, was ich sagen kann. Es war ein Wunder.“ „Hast du es verschlungen?“ „Ich konnte nicht, dazu war es zu groß. Ich wäre sicher erstickt. Ich mußte es erst mit Speichel aufweichen. Dann begann ich vorsichtig zu kauen, und irgendwie verschlang ich es auch.“ „Ließen sie dich anschließend Weiterreisen?“ „Die dachten gar nicht daran. Außer den beiden Bibeln hatte ich noch ein deutsch-dänisches Wörterbuch bei mir. Das haben sie auch beschlagnahmt. Dann brachten sie mich wieder zum Bahnhof und sorgten dafür, daß ich mit dem nächsten Zug zurück nach Deutschland fuhr. Sie sagten mir noch, daß ich nie wieder in die Tschechoslowakei zurückkommen dürfte.“ Wir beteten zusammen und dankten Gott auch für die Schwierigkeiten, die Er zuläßt, damit wir das begreifen, was wir lernen sollen. Wir bekannten, daß wir nur begrenzte, fehlbare und schwache Kreaturen sind, die immer auf Seine Führung und Bewahrung angewiesen bleiben. Dann dankten wir Ihm für Seine Gnade und ganz besonders auch, daß Er dafür gesorgt hatte, daß die Namen und Adressen nicht in die Hände der Polizei gefallen waren. Unsere Mission hatte mittlerweile drei Kuriere. Durch ihre und meine eigenen Erlebnisse war mir längst klar geworden, daß wir nicht mit Geheimpolizei und Spitzeln kämpften. Auch nicht mit Atheisten, die versuchten, das Christentum zu zerstören. Wir standen vielmehr in einem geistlichen Kampf, dessen Ausdehnung und Intensität über unsere Vorstellung hinausging. Ich war fest davon überzeugt, daß Gott uns in diese Aufgabe berufen hatte. Es war ein Auftrag, für den wir die Kraft, Bewahrung und Führung des Heiligen Geistes brauchten. Alles andere würde zu wenig sein. Eines Tages erhielt ich die Nachricht, daß es nach drei Jahren voller Fehlschläge und Enttäuschungen endlich jemand gelungen war, Zimmer 347 zu bekommen. Er fand die 10000 Dollar immer noch im Versteck und brachte sie zu den verfolgten Christen. Dies erinnerte mich daran, daß Gott immer noch dabei ist, uns Christus ähnlicher zu machen. Zu diesem Prozeß bedient Er sich auch der Fehler, die wir machen. Ich war sicher, daß es nicht Gottes Wille war, daß sie geschahen. Doch ich war auch dankbar dafür, daß ich einem Gott diente, der sogar meine Torheiten in Segnungen verwandeln konnte. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß alle Menschen Ihn kennen und ehren würden, damit Sein Reich auf Erden Wirklichkeit werden könnte. 13 Für immer gelähmt Gegen Ende 1969 kam eine unglaubliche Neuigkeit aus Rußland: Maria Braun hatte ihren Glauben verloren! So, zumin-destens, schrieben die russischen Zeitungen. Doch ich weigerte mich, dies zu glauben. Marias ganzes Leben war eine Inspiration. Sie war ein Held im Glauben. Als 18jähriges Mädchen hatte sie in ihrem Dorf viele Kinder über Jesus belehrt, obwohl eine gottlose Regierung dies verbot. Sie war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, hatte es mutig hingenommen und als Ehre betrachtet, für Christus leiden zu dürfen. Und jetzt sollte sie Ihn verleugnen? Unmöglich! Dann kamen Kuriere aus Rußland zurück und bestätigten es. Marias Mutter hatte sie kurz vor ihrer Freilassung im Gefängnis besucht. Maria betete nicht mehr und sagte, sie glaube nicht mehr an Gott. Welch ein Triumph für den Atheismus! Die sowjetischen Zeitungen schrieben lange Artikel darüber; einschließlich Marias eigener Erklärung, wie sie von den religiösen Mythen und vom Aberglauben befreit worden war: Gottesdienste und Fasten hatten meine Gesundheit zerstört. Deshalb kam ich ins Krankenhaus. Tief bewegte es mich, daß die Ärzte und Schwestern mit einem kranken Menschen wie mir so lieb waren und auch dann noch freundlich blieben, als sie erfuhren, daß ich eine Verbrecherin sei. Im Jahre 1969 gab ich meinen Glauben auf und erhielt bald darauf die Frei- heit. Noch ehe meine Strafzeit um war, sahen die Behörden meine gewissenhafte Arbeit und ließen mich frei. Ich möchte allen danken, die mir geholfen haben. Meine lieben Freunde, ich möchte euch sagen, wie glücklich ich jetzt bin. Mit Abscheu denke ich an die früheren Tage. Allen Eltern, die ihre Kinder erziehen, möchte ich sagen: Nehmt euch um eurer Kinder willen vor dem Einfluß der Sekten und Kirchenleute in acht. Diese „Diener des Herrn“ werden versuchen, euch zu geistlichen Sklaven zu machen, und es ist später sehr schwer, die religiösen Ketten zu zerbrechen. Marias Erklärung ließ sehr stark Gehirnwäsche vermuten. Es waren keinesfalls „Gottesdienste und Fasten“ gewesen, die ihre Gesundheit zerstört hatten. Die war völlig in Ordnung, als sie ins Gefängnis kam. Erst zwei Jahre später war sie ins Gefängniskrankenhaus gekommen. Während dieser zwei Jahre hatte sie keinen Besuch empfangen dürfen. Ich war sicher, daß ich wußte, warum. Jetzt rühmte sie die Freundlichkeit der Ärzte und Schwestern. Aber was war mit den Folterungen, die erst dazu geführt hatten, daß sie deren Dienste benötigte? Sie hatten mit ihrer „Rehabilitation für die sozialistische Gesellschaft“ gründliche Arbeit an ihr geleistet. Mit bitterer Reue bekannte ich dem Herrn, daß ich vergessen hatte, für Maria zu beten. Zu Anfang schloß ich sie täglich in meine Gebete ein, aber bald hatte es nachgelassen und dann ganz aufgehört. Hatte ich vielleicht geglaubt, Maria würde meine Gebete nicht benötigen? Hatte ich so viele Wunder hinter dem Eisernen Vorhang gesehen, daß mir die verfolgten Gläubigen dort als Superchristen erschienen waren, die immer Überwinder und Sieger sein würden? Marias „Bekehrung“ zum Atheismus versetzte meinem eigenen Glauben einen schweren Schlag und stellte mich vor eine beunruhigende Frage: Um Maria zu zerbrechen, waren Gefängnis und Folter nötig gewesen, aber wie war das mit uns anderen, die noch nicht unter solchem Druck gestanden hatten? Würden wir besser widerstehen? Waren wir vielleicht alle „Marias“, ohne es zu wissen? Mich ergriff bei diesem Gedanken die Angst. Und wie viele andere Marias gab es in Rußland, China, Albanien, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei noch, die unter der Last von nahezu unerträglichen Bedrückungen zusammenbrechen würden? Wie sehr wußte und sorgte sich die Gemeinde Jesu in den anderen Teilen der Welt um diese Menschen? Der geistliche Kampf ging tiefer, war bösartiger und gleichzeitig auch hinterlistiger als ich geglaubt hatte. Ich fragte mich, ob ich wirklich in diesem Kampf meinen Mann stand oder nur so am Rande ein wenig mitspielte. Meine Aufgaben als einer der Pastoren der großen Gemeinde in Kopenhagen beanspruchten mich Tag und Nacht. Außerdem brauchte ich lange Stunden, um auch nur die laufende Korrespondenz für die Mission abzuwickeln. Deshalb blieb nur wenig Zeit für den Schlaf übrig. Die körperlichen Anstrengungen waren groß, doch seit einiger Zeit fühlte ich, daß die geistigen Beanspruchungen mich noch viel schlimmer mitnahmen. In der Gemeinde war die erste Begeisterung für die Arbeit im Osten dahin, und etliche der Glieder kamen immer mehr zu der Ansicht, daß wir den Gläubigen in diesen fernen Ländern zu viel Aufmerksamkeit widmeten und dadurch zu viele Kräfte und Finanzen von den Bedürfnissen der eigenen Arbeit abgezogen würden. Endlich sagte mir unser Gemeindeleiter und erster Pastor, daß ich meine Arbeit hinter dem Eisernen Vorhang in der Gemeinde nicht mehr erwähnen sollte. Dies führte dazu, daß ich mir darüber Gedanken machte, ob es besser sei, die Arbeit unserer Mission nicht im Rahmen einer lokalen Gemeinde, sondern mit einem extra dafür berufenen Komitee zu tun. Gerade in der Zeit dieser mich bewegenden Fragen kam die Nachricht von Marias Bekehrung zum Atheismus, die dann wieder zu meinen Selbstvorwürfen und Fragen führte, ob ich alles getan hatte, was ich hätte tun können. Von diesen mich bedrängenden Fragen und den großen Nöten der leidenden Christen im Osten getrieben, bat ich unseren Gemeindevorstand um Genehmigung, eine zweiwöchige Reise durch die Gemeinden in Dänemark machen zu können, und um Gebetshilfe und finanzielle Unterstützung für die Christen in den kommunistischen Ländern zu bitten. Ich fühlte mich getrieben, die Gemeinden in Dänemark zur tätigen Liebe für ihre Brüder und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang herauszufordern. Während dieser zwei Wochen stand ich jeden Abend irgendwo auf der Kanzel und appellierte um Hilfe für die Untergrund- kirche. Nicht nur um finanzielle Hilfe und Bibeln für den Osten bat ich, sondern um Liebe und anhaltendes Gebet - jene Art von Gebet, das ich bei Maria selbst versäumt hatte. Die Reaktion der Gemeinden war gut, aber ich hatte mir selbst zu viel zugemutet. Die vielen Stunden ohne Pause, der Mangel an Schlaf und die innere Spannung verlangten ihren Preis. Als ich am Ende der Reise auf dem Heimweg war, fühlte ich, wie totale Erschöpfung mich ergriff. Ich war auf der Autofähre, die mich von Jütland zurückbrachte. Mein Wagen stand auf dem Parkdeck und ich ging in den oberen Aufenthaltsraum. Ich kann mich noch erinnern, daß ich mich auf einen Stuhl setzte. Als ich dann die Augen wieder öffnete, lag ich auf dem Fußboden. Ich war ohnmächtig geworden. Einige Leute beugten sich über mich, und im Schiffslautsprecher hörte ich die Durchsage, ob sich ein Arzt an Bord befände. Ich öffnete meinen Mund um zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Meine Brieftasche mit meinen Ausweisen steckte in meiner Jackentasche. Nachdem ich bemerken mußte, daß ich meinen rechten Arm nicht gebrauchen konnte, brachte ich es fertig, mit der linken Hand darauf zu deuten. Als mir die Lähmung meiner rechten Seite klar wurde, packte mich eine Panik und ich fiel wieder in Ohnmacht. Später erfuhr ich, daß man Ninna sofort vom Schiff aus per Telefon benachrichtigt hatte. Als die Fähre im Hafen anlegte, wartete schon ein Krankenwagen auf mich und brachte mich in ein nahegelegenes Krankenhaus. Als Ninna später am Abend dort eintraf, lag ich noch immer im Koma. Die Ärzte sagten ihr offen, daß es nicht sicher sei, ob ich überleben würde. Am folgenden Morgen erlangte ich das Bewußtsein wieder. Ninna saß an meinem Bett. Ich erkannte sie und konnte hören, wie sie zu mir sprach, war aber nicht fähig zu antworten. Ninna, die Schwestern, der Apparat zur künstlichen Ernährung, an den ich angeschlossen war, der in Weiß gehaltene Raum und alles andere um mich herum schienen irgendwie nicht wirklich zu sein; so, als hätte ich diese Welt verlassen und würde alles aus bestimmter Entfernung beobachten. Die Ärzte hatten mittlerweile einen Schlaganfall diagnostiziert, und zwar einen so heftigen, daß sie keine Hoffnung für mich hatten, aber doch alles taten, was möglich war. Ich wurde in ein größeres Krankenhaus nach Kopenhagen überführt. Ninna kam mit mir im Krankenwagen, und einer der Fahrer folgte mit meinem Auto. Einen Tag nach der Ankunft in Kopenhagen konnte ich wieder sprechen, aber mein Mund schien sehr wenig Verbindung mit meinem geschädigten Gehirn zu haben. Mein Arzt warnte Ninna vor zu viel Hoffnung. Sie versuchte mir zu erzählen, daß unser jüngster Sohn gerade Geburtstag hatte. Er wurde ein Jahr alt. Ich versuchte zu lächeln und erwähnte irgendwie unzusammenhängend etwas davon, daß er neunzehn Jahre alt sei. Dabei war unser ältestes Kind erst sieben. Ninna war sehr tapfer. Sie ließ sich mir gegenüber nie ansehen, wie verzweifelt sie innerlich war. Irgendwie klammerte ich mich an das physische Leben. Mein Kopf wurde langsam wieder klar. Aber die gesamte rechte Seite war immer noch gelähmt. Nach zwei Monaten konnte ich etliche Stunden am Tag im Rollstuhl sitzen, und irgendwie gelang es mir auch, ihn mit der linken Hand ein wenig vorwärts zu bewegen. Ich konnte jedoch kaum mehr tun als lesen, beten und - nachdenken. Ich wurde unter der Untätigkeit und Hilflosigkeit ungeduldig. Da ich die Prognosen der Ärzte nicht kannte, träumte ich von dem Augenblick, da meine Gesundheit völlig wiederhergestellt sein und ich wieder in den kommunistischen Ländern arbeiten würde. Während der meisten Stunden, die ich wach war, beschäftigten sich meine Gedanken mit den zurückliegenden Jahren. Immer wieder dachte ich über meine Erfahrungen in Osteuropa nach, hörte im Geist die Gespräche, sah den Ausdruck der Gesichter, wenn ich ihnen Bibeln brachte, erinnerte mich an die Wärme ihres Lächelns und die Innigkeit der brüderlichen Umarmungen. Und immer wieder fielen mir die notvollen Situationen ein, die ich gesehen hatte und die mir in meiner Hilflosigkeit keine Ruhe ließen. Ich erinnerte mich an das Bekenntnis einer jungen Frau in Rußland: „Vor zwei Jahren starb meine Mutter. Ich war sehr traurig darüber und weinte. Aber zur gleichen Zeit erlebte ich etwas Schreckliches. Tief in meinem Inneren war ich froh. Ich versuchte, dieses Gefühl loszuwerden, es gelang mir aber nicht. Weißt du, warum ich so fühlte? Meine Mutter besaß eine Bibel, und die konnte ich jetzt für mich bekommen. Mein ganzes Leben hatte ich mir eine eigene Bibel gewünscht. Jetzt bekam ich eine. Ich war siebzehn und mein Bruder fünfzehn. Mein Vater war schon vor vielen Jahren im Gefängnis gestorben. Aber mein Bruder bestand darauf, daß er der Sohn sei und deshalb die Bibel bekommen müßte. Ich sagte ihm, er könne alles andere haben, das einzige was ich wünschte sei die Bibel. Wir zankten uns bitter und ich schämte mich dann. Der Herr redete zu meinem Herzen und ich entschuldigte mich bei meinem Bruder. Der Herr zerbrach uns beide. Wir taten Buße und versöhnten uns.“ Während solche Erinnerungen das Verlangen in mir wachsen ließen, diesen Menschen zu helfen, wurde mir bewußt, daß die Ärzte mit mir nie richtig über meinen Zustand geredet hatten. Während ich darüber nachdachte schien es mir, als seien sie meinen diesbezüglichen Fragen immer aus dem Wege gegangen. „Ich glaube, Sie sind meinen Fragen immer ausgewichen“, sagte ich eines Tages zu meinem Arzt. „Welche Aussichten bestehen für meine Wiederherstellung?“ „Ich glaube, wir sollten damit noch warten, bis Sie sich ein wenig mehr erholt haben . . .“ „Ich fühle mich stark genug, um die Wahrheit zu erfahren.“ Er zögerte. Unsicherheit stand auf seinem Gesicht geschrieben. „Sind Sie sicher, daß Sie nicht doch lieber noch etwas warten wollen?“ „Sagen Sie mir bitte jetzt die Wahrheit. Ich bin ein Christ. Ich kann damit fertig werden. Ich bin bereit, alles zu akzeptieren, was Gott für mich bestimmt hat.“ „Vielleicht haben Sie recht“, sagte er und atmete erleichtert auf. „Zuerst will ich Ihnen Ihren Zustand erklären: Die Lähmung Ihrer rechten Seite kommt daher, daß die Gehirnzellen, die diesen Teil Ihres Körpers kontrollieren, zerstört sind.“ „Was meinen Sie mit ,zerstört“?“ „Durch diese Zellen ist tagelang kein Blut und kein Sauerstoff geflossten. Als der Kreislauf endlich wieder funktionierte, war es zu spät. Diese Gehirnzellen sind tot.“ „Wieso können Sie das so sicher wissen?“ Ich versuchte mir einzureden, seine Ansicht sei vielleicht falsch. Auch Ärzte wissen nicht alles. „Wir haben dies auf verschiedene Weise überprüft und bestätigt bekommen. Zum Beispiel haben wir mehrere Male ihre Gehirnströme gemessen. Es gibt darüber keinen Zweifel.“ Das Mitleid in seinen Augen war mehr als ich ertragen konnte. Ich drehte mein Gesicht zum Fenster und versuchte, mich auf die Regenwolken zu konzentrieren, die draußen schnell näherkamen. Langsam wurde mir die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, klar. Ich hatte eigentlich noch mehr Fragen zu stellen, doch jetzt begann ich, mich zu fürchten. Und ich hatte gesagt, ich sei stark genug. Die Stille dehnte sich wie ein Gummiband, das dem Zerreißen nahe war. Ich zwang mich selbst, ihn wieder anzusehen. Dann hörte ich meine Stimme, wie sie in scheinbar großer Entfernung in einem leblosen und furchtsamen Ton Fragen stellte, die ich eigentlich gar nicht mehr beantwortet haben wollte. „Was bedeutet das für mich: Die Zellen sind tot?“ „Das Gehirn ist in unserem Körper etwas Einmaliges. Wenn man ein Stück von der Leber wegschneidet, baut sie sich selbst wieder auf. Wird Haut vom Finger abgeschnitten, wächst sie wieder nach. Doch bei unserem Gehirn ist es nicht so. Wenn Gehirnzellen absterben, gibt es keine Möglichkeit, sie wieder zu ersetzen.“ „Heißt das . . .?“ Er nickte langsam. „Es tut mir leid. - Ihr Zustand wird sich hoffentlich in den nächsten Monaten langsam weiter verbessern, aber am Grundsätzlichen ändert das nichts. Sie werden Ihre rechte Körperseite nie wieder gebrauchen können.“ Ich sah vor meinen Augen die Zukunft ablaufen. Ninna und die Kinder würden von nun an alles für mich tun müssen. Ich war gelähmt, ein hilfloser Invalide - lebenslang. Und was war mit der Arbeit in der Mission? - Vorbei! Es war, als sei ein Alptraum wahr geworden. Es war nicht besser, als seien beide Seiten gelähmt. Ich konnte doch nichts Vernünftiges mehr tun. In diesen kurzen Augenblicken waren meine Träume, meine Wünsche, meine Gründe zum Leben mit absoluter Gewißheit zerbrochen, niedergewalzt, im Staub zertreten. Ich hatte einen geistlichen Kampf kämpfen wollen -doch jetzt war ich ein zerbrochener Spielzeugsoldat, den man zum Verrosten in die Ecke gestellt hatte. Ein tiefer Seufzer der Verzweiflung stieg aus meinem Inneren empor. Ich mußte zweimal heftig schlucken, damit er nicht aus mir herausbrach. Dann konnte ich den berstenden Damm nicht länger stabil halten. Durch eine Flut von Tränen sah ich, wie sich die verschwimmende Figur des Arztes umdrehte und den Raum verließ. Ich begrub mein Gesicht im Kopfkissen und versuchte meine Schluchzer zu ersticken. Das Bett bebte unter mir, weil ich wie ein Kind weinte. Wie ein höhnisches Echo klang es durch die Einsamkeit meiner Seele: „Ich fühle mich stark genug, um die Wahrheit zu erfahren. Ich bin ein Christ. Ich kann damit fertig werden.“ Jetzt, kannte ich die Wahrheit: Ich war keinesfalls stark, sondern der Schwächste der Schwachen! In meiner Verzweiflung begriff ich nicht, daß ich soeben einen kostbaren Schatz entdeckt hatte. Es war eine der größten Entdeckungen meines Lebens. Ehe ich nicht wußte, wie schwach ich war, konnte ich nie wirklich erfahren, wie stark Gott ist. Unheil auf einem törichten Weg Die nächsten Tage verliefen abwechselnd in Perioden, in denen mich Alpträume quälten, und dann wieder Zeiten der Hochstimmung, die durch Medizin, die Drogen enthielt, hervorgerufen wurden. Häufig standen Krankenschwestern an meinem Bett, maßen Temperatur und Puls, gaben mir Spritzen und Tabletten, um meine durchdrehenden Nerven zu beruhigen. In den lichten Momenten wußte ich, warum der Arzt gezögert hatte, mir die Wahrheit zu sagen. Ich fühlte, wie ich zerfiel und die Kontrolle über mich verlor. Immer wieder weinte ich und fürchtete mich davor, mit Ninna zu reden. Ich fragte mich, ob sie die Wahrheit kannte. Gewiß wußte sie alles. Langsam, als ob ich aus einem schwarzen Tunnel heraus allmählich wieder ans Licht käme, begann ich zu begreifen, welchen Fehler ich gemacht hatte. Ich hatte meine Hoffnung auf Ärzte und Medizin gesetzt statt auf Gott. Ärzte konnten keine toten Gehirnzellen erneuern, aber Christus hatte sogar den Tod besiegt! Ich war dankbar für alles, was die Ärzte und Schwestern getan hatten. Ärztliches Können zurückzuweisen hieße Gott versuchen. Aber mein Fall ging über die Möglichkeiten der Medizin hinaus. Als mir dies klar geworden war, fühlte ich seltsamerweise eine große Erleichterung. Es gab keinen Zweifel, daß nur noch Gott mir helfen konnte. Und ich war sicher: Er würde mich nicht enttäuschen. Bald saß ich wieder im Rollstuhl und fuhr herum. Wenn Ninna kam, lächelte ich fröhlich und erklärte ihr, daß ich, wenn Gottes Zeit gekommen sei, ganz sicher wieder gehen würde. Ich fand nachts ruhigen Schlaf und tagsüber Frieden, weil ich meine Sache ganz in Gottes Hand gelegt hatte. In mir wuchs die Gewißheit, ich würde nicht nur gehen können, sondern völlig geheilt werden und auch wieder nach Osteuropa reisen. Obwohl ich Rechtshänder war, gewann ich jetzt mit meiner Linken eine erstaunliche Geschicklichkeit. Nach und nach gelang es mir, mich allein anzuziehen, und zur Freude der Schwestern brachte ich es fertig, meine Schuhe mit einer Hand zuzuschnüren. Eines Tages kam mir ein Gedanke, und ich bat den Arzt um eine elektrische Schreibmaschine. Vielleicht würde die lange Gewohnheit einen Reflex auslösen. Als man mich am nächsten Morgen in den Therapieraum brachte, wartete die Maschine auf mich. Ich fuhr vor zu ihr, und die Schwestern hoben meinen rechten Arm hoch, so daß die Hand über der Schreibmaschine hing und die Fingerkuppen leicht die Tasten berührten. Die Maschine wurde eingeschaltet und ich begann zu schreiben. Ich schrieb aus einem Buch ab, das neben mir lag. Doch die einzigen Buchstaben, die auf dem eingespannten Blatt erschienen, waren die, die ich mit der linken Hand schrieb. Doch ich ließ nicht nach, sondern konzentrierte mich geistig darauf, wie ich mit zehn Fingern blind zu schreiben hatte. Und plötzlich war ein Zucken in einem der Finger meiner rechten Hand . . . dann in einem anderen . . . und wieder in einem anderen. In drei Fingern war ganz leichte Bewegung. Nicht genug, um die Tasten in Tätigkeit zu setzen, aber sie bewegten sich. „Ich muß dir etwas Aufregendes erzählen“, rief ich am Nachmittag, als Ninna ins Zimmer trat. „Ich kann drei Finger bewegen. Heute hätte ich damit schon fast Schreibmaschine schreiben können.“ Wir weinten beide. Sie küßte mich und streichelte meine Hand. „Ich weiß, daß Gott dich heilen wird“, flüsterte sie. „Ich weiß es.“ Überzeugt davon, daß dies der Anfang eines Heilungsprozesses war, der die Ärzte in Erstaunen versetzen würde, fuhr ich mit meinen Schreibbemühungen Tag für Tag fort. Doch so sehr ich mich auch mühte, über diese geringfügige Bewegung kam ich nicht hinaus; und es waren auch immer nur diese drei Finger. Die Tage schleppten sich mühsam dahin. Ich war nun schon etliche Monate im Krankenhaus. Die Ärzte entschlossen sich, mich in eine Spezialklinik mit den modernsten Geräten zu überführen. Dort wurde mir beigebracht, wie ich ohne Hilfe stehen und endlich auch mit einem Stock ein wenig gehen konnte. Zwar konnte ich meinen rechten Fuß nicht bewegen. Aber sie zeigten mir, wie ich mich auf den Stock lehnen mußte, um einen kleinen Schritt mit dem linken Fuß zu machen. Dann lehnte ich mich wieder auf den Stock und hob mich rechts an, so daß ich den rechten Fuß vorwärtsschieben konnte. Dann war ich wieder bereit für einen kleinen Schritt mit dem linken Fuß. Mein rechter Arm und die Hand waren immer noch nicht zu gebrauchen, aber ich konnte wenigstens kurze Strecken langsam gehen. Die Ärzte waren der Meinung, weiterer Krankenhausaufenthalt und Behandlung seien nutzlos. Ich war so weit wiederhergestellt, wie dies bei meinem Zustand nur möglich war. Mit meinen Entlassungspapieren wurde mir bescheinigt, daß ich völlig arbeitsunfähig sei. Das hieß, meine Familie und ich mußten, wie schon in den vergangenen Monaten, weiter von staatlicher Unterstützung leben. Von der Mission hatte ich nie ein Gehalt genommen, und die Gemeinde zahlte nach drei Monaten Krankenhausaufenthalt auch keines mehr. Der Vorstand hatte beschlossen, einen anderen Pastor an meiner Stelle einzustellen. Ich konnte ihnen deshalb keine Vorwürfe machen. Sie brauchten einen zweiten Pastor, der nicht fortwährend nach Osteuropa reisen mußte oder die Gemeinden in Dänemark besuchte, um Geld für die Untergrundkirche zu sammeln. Und außerdem wußten sie, daß ich nie mehr gesund werden konnte. Es wurde mir nicht leicht, jetzt mit einem Rollstuhl in die Gemeinde zu fahren. Zuerst fuhr mich Ninna immer hinein, wenn der Gottesdienst schon begonnen hatte. Wir blieben ganz hinten, und während des Schlußliedes verließen wir die Kapelle schon wieder, um mir die Anstrengung zu ersparen, so viele Menschen zu begrüßen und mir ihre Worte der Teilnahme und Ermutigung anhören zu müssen. Doch nach und nach gewöhnte ich mich daran. Und außerdem war es gut zu wissen, daß so viele Freunde für mich beteten. Das Beste war, daß ich nach sieben Monaten Aufenthalt in drei verschiedenen Krankenhäusern wieder daheim sein konnte. Die Kinder freuten sich und halfen, wo sie konnten. Ich konnte ihnen aus der Bibel vorlesen, mit ihnen beten und mit der linken Hand sogar mit ihnen spielen. Sie versuchten ihre Schuhe auch mit einer Hand zu schnüren, wie ich das konnte, gaben es aber wieder auf. Diese kleine Überlegenheit machte mich in ihren Augen immer noch zum Helden. Während ich am Schreibtisch saß, die eingehende Pöst las und Briefe diktierte, brannte mein Herz mehr als je für die Mission. Ich war dabei, sie aus der Lokalgemeinde zu lösen und einen eigenen Vorstand dafür zu finden. Und vor allem hatte ich viel Zeit zum Beten. Ich war mittlerweile etwa einen Monat daheim, da packte mich eines Morgens gegen 5.30 Uhr, während ich betete, der Gedanke, Sonja sei in großen Schwierigkeiten und müsse dringend aus Bulgarien heraus. Große Sorge für sie überwältigte mich und ich flehte ernstlich zu Gott, Er möge ihr in ihrer Notlage helfen, welche das auch immer sein mochte. Und da war mir, als sage der Herr etwas ganz Seltsames zu mir: Ich sei der, der sie aus Bulgarien herauszubringen hätte. Doch dies schien mir keinerlei Sinn zu ergeben. Zwei Stunden später, am Frühstückstisch, sagte ich zu Ninna: „Als ich heute morgen betete, stand ich unter dem starken Eindruck, Sonja sei in großen Schwierigkeiten und müsse dringend aus Bulgarien herausgebracht werden.“ „Du hast lange nichts von ihr gehört, ja?“ antwortete sie nachdenklich. Ich schüttelte den Kopf. „Eins habe ich nicht verstanden . .. vielleicht sollte ich gar nicht mit dir darüber reden . . . Mir war, als erwarte der Herr von mir, zu gehen und sie herauszuholen.“ Während der Aufregung, die Kinder fertigzumachen und auf den Schulweg zu bekommen, vergaßen wir das Thema einstweilen. Es war etwa eine Stunde nach dem Frühstück - ich diktierte gerade einige Briefe - als das Telefon klingelte. Obwohl das Gespräch aus ziemlicher Entfernung kam, erkannte ich sofort die Stimme des Leiters einer anderen skandinavischen Mission, die hinter dem Eisernen Vorhang arbeitete. Nachdem wir kurz Grüße ausgetauscht hatten, sagte er: „Wir haben gerade eine dringende Botschaft für dich bekommen - von Sonja.“ Unwillkürlich preßte ich den Hörer fester ans Ohr. Aufregung packte mich. Ich lauschte hellwach, was noch kommen würde. „Sonja, ihr Bruder und seine Frau sind in den letzten Tagen mehrmals von der Geheimpolizei zu Verhören bestellt worden. Sie werden auf Schritt und Tritt bewacht und erwarten jeden Augenblick ihre Verhaftung. Du weißt, daß ihr Bruder drei Kinder hat. Sie können das Risiko nicht eingehen, ins Gefängnis zu kommen. Ihre Kinder würden dann in ein atheistisches Internat eingewiesen. Sie möchten fliehen und hoffen, daß du ihnen helfen wirst.“ In meinem Kopf ging es durcheinander. „Sie wünschen meine Hilfe?“ „Sie wollen versuchen, nach Ungarn zu kommen, in das Haus von Kranos. Dort sollst du sie mit dem Wagen abholen und nach Österreich bringen.“ „Haben sie Reisepässe?“ „Das sollte alles in Ordnung gehen. Du weißt doch?“ Eigentlich hätte ich verstehen müssen was er meinte, aber am Telefon nicht sagen wollte: Ich sollte mir Pässe von dänischen Freunden leihen, die so ähnlich aussahen wie die Flüchtlinge. Doch ich konnte im Moment keinen vernünftigen Gedanken fassen. Alles, was ich denken konnte war, daß Gott mir etwas sagen wollte, wovor ich mich fürchtete. „Bruder, vielleicht hast du gehört, daß ich gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich kann meine rechte Seite nicht gebrauchen. In meinem Zustand . . .“ „Ich kann das verstehen. Ich gebe dir ja nur die Nachricht weiter. Bete doch darüber und laß mich dann wissen, wie es ist. Aber so schnell wie möglich. Wenn du nicht fahren kannst, muß ich jemand anders finden.“ „Ich werde darum beten“, sagte ich verzagt, „und dich benachrichtigen.“ Ich legte den Hörer auf und lehnte mich im Rollstuhl zurück. Ich zitterte am ganzen Körper. „Hans! Wer hat angerufen?“ Ninna stand in der Tür meines Büros. Ich riß mich zusammen. „Es war wegen Sonja. Sie und die Familie ihres Bruders müssen fliehen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Polizei und möchten, daß ich . . Ich zögerte und versuchte es anders zu erklären. „Sie haben wahrscheinlich noch nichts über meinen Zustand gehört, denn sie möchten, daß ich mit dem Auto komme und sie heraushole.“ „Wie kannst du mit ihnen über die Grenze kommen? Haben sie Reisepässe?“ „Ich denke schon . . . Aber schau mich an! Ich bin doch nicht fähig dazu, bin mir selbst eine Last. Ja, wenn ich gesund wäre . . Für mehrere Minuten schwiegen wir beide. Ich wollte nicht gehen. Aber ich wollte es auch nicht zugeben. Es gab eine Möglichkeit, mich aus der Sache herauszuziehen. Ich mußte die Entscheidung Ninna überlassen. Sie würde nicht wollen, daß ich ging - und um ihretwillen mußte ich dann „nein“ sagen. Ich unterbrach die drückende Stille: „Was meinst du?“ Ninnas Antwort kam sofort: „Aber Hans! Du solltest selbstverständlich gehen! Hat der Herr dir das nicht schon heute morgen gesagt?“ Sie legte mir die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, es wird furchtbar schwer werden. Autofahren, aus- und einsteigen, in das Flugzeug hineinkommen und wieder heraus. Aber wenn der Herr will, daß du gehst, dann wird Er dir auch die Kraft dazu geben.“ Ich sah keinen Ausweg mehr und gleichzeitig schämte ich mich. „Ich habe zu dem Bruder am Telefon gesagt, ich würde darum beten. Laß mich noch einmal mit dem Herrn darüber reden.“ Drei Stunden kämpfte ich mit dem Herrh. Ich fragte nicht nach Seinem Willen, sondern erzählte Ihm meine Wünsche. Wenn ich nur gesund wäre, doch Er hatte mich bis jetzt noch nicht geheilt - daran erinnerte ich Ihn vorwurfsvoll. Es war unvernünftig, von einem Gelähmten zu erwarten, mit einer solchen Aufgabe fertig zu werden. Doch je mehr ich betete, um so klarer wurde mir, daß Gott nicht auf mein Klagen hören würde. Ich hatte zu gehen. Er hatte verheißen, mich durchzubringen. Ich würde mit den Flüchtlingen sicher nach Österreich kommen. Als ich in Wien landete, mietete ich auf dem Flughafen einen Volkswagenbus und fuhr damit zum Stadtbüro der Skandinavischen Fluggesellschaft (SAS). Ehe ich Kopenhagen verließ, hatte ich ein Telegramm an Bruder Kranos in Ungarn gesandt mit dem Wortlaut: „Anrufen heute in Wien (hier hatte ich die Nummer des SAS-Büros eingesetzt) zwischen 15 und 16 Uhr -Hans.“ Jetzt saß ich im Büro der Fluggesellschaft und wartete. Meine Befürchtungen wuchsen mit dem Vorrücken der Uhr- zeiger immer mehr. 15.30 - 15.45 - 16.00 Uhr. Etwa zwei Minuten nach 16 Uhr wurde ich ans Telefon gerufen. „Hans! Bist du es? In deinem Telegramm stand nicht, in welcher Stadt wir anrufen sollten.“ „Aber ich habe Wien hineingeschrieben.“ „Es gab nur eine Nummer, aber keine Stadt. Wir beteten, und gerade vor wenigen Minuten sagte uns der Herr, du seist in Wien.“ „Gut“, sagte ich und dachte daran, daß das Gespräch vielleicht abgehört wurde. „Ich werde morgen in Kapuvar sein. Kannst du nicht mit dem Zug nach dort kommen? Wir könnten uns am Bahnhof treffen. Ich würde mich freuen, dich wiederzusehen.“ Es war kurz nach Mittag des nächsten Tages, als ich in Kapuvar eintraf. Am Bahnhof erfuhr ich, daß dreimal täglich Züge aus der Stadt ankamen, in der Bruder Kranos wohnte. Ich würde jedesmal am Bahnhof sein müssen. Es war nicht leicht für einen Mann in meinem Zustand, aus dem Wagen heraus-und wieder hineinzukommen, vom Hotel zum Bahnhof und wieder zurück zu fahren. Doch ich mußte zu jedem Zug, um zu sehen, ob sie kamen. Als dann auch am zweiten Tag noch nichts von ihnen zu sehen war, verwandelte sich meine wachsende Sorge in Alarmstimmung. Was konnte sie aufgehalten haben? Hatten sie mich mißverstanden und waren in die falsche Stadt gefahren? Oder schlimmer: hatte die Polizei sie in Kranos Haus gefunden und verhaftet? Dann kamen sie endlich, stiegen aus dem Zug und rannten auf mich zu. Wir begrüßten und umarmten uns auf dem Bahnsteig. Mir wurde ganz schwindlig, weil das Wiedersehen nun doch noch so plötzlich gekommen war und ich dies noch gar nicht ganz begriff; und auch, weil ich mir Sorgen machte um das, was vor uns lag. „Hans, dein Bein“, flüsterte Sonja mitfühlend und betrachtete mich teilnahmsvoll. „Und der Arm auch?“ Doch dafür war jetzt keine Zeit. „Wo ist euer Gepäck?“ fragte ich. Georgi, Sonjas Bruder, hielt einen kleinen Koffer hoch und zuckte mit den Schultern. Das war alles für sechs Personen. Er verstand ein wenig Deutsch, konnte aber, wie seine Frau und die drei Kinder, nur Bulgarisch sprechen. Langsam gingen wir zum Wagen. Sonja setzte sich nach vorn, um mit mir zu sprechen und mir an Hand der Straßenkarte den Weg zu weisen. Georgi saß mit dem ältesten Kind auf der mittleren Bank und Tanja, seine Frau, mit den beiden Jüngeren hinten. „Wie ist es euch gelungen, Reisepässe zu bekommen?“ fragte ich Sonja, als wir alle unsere Plätze eingenommen hatten. „Welche Reisepässe?“ fragte sie und schaute mich erstaunt an. „Hast du keine mitgebracht?“ Ich war schockiert. „Ihr habt keine? Wie seid ihr dann nach Ungarn gekommen?“ „Mit unseren Personalausweisen. Die genügen, um von einem kommunistischen Land in das andere zu kommen. Aber wir kommen damit nicht in den Westen. Wir dachten, du bringst Reisepässe mit.“ Sonja wandte sich den anderen zu und redete mit ihnen bulgarisch. Ich hörte Ausrufe - dann wurde es ganz still. Mir wurde übel. Mit meiner gesunden Hand klammerte ich mich so fest ans Steuerrad, daß die Fingerknöchel weiß wurden. Ich versuchte die Panik niederzuhalten, die in mir aufstieg. „Es ist mein Fehler“, sagte ich endlich, „ich habe am Telefon nicht alles richtig begriffen.“ „Mache dir keine Vorwürfe“, sagte Sonja. „Wir sind in der Hand des Herrn. Wenn Er es so zugelassen hat, dürfen wir sicher sein, daß es einen Grund dafür gibt.“ Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich bat Sonja, die Landkarte auszubreiten. „Vielleicht können wir an einer kleinen Grenzstation . . .“ ich begann, laut zu denken. „Ich werde versuchen, mich zu erinnern . . . Jemand hat einmal den Namen genannt ... Es gibt dort nur einen Beamten auf jeder Seite der Grenze. Dort! Das muß es sein. Führe uns dorthin.“ In Serpentinen ging es die schmale Bergstraße hinauf. Nach ungefähr zwei Stunden waren wir an dem einsamen Grenzübergang. Es war, wie es mir beschrieben wurde: ein schmales Schilterhaus und ein Schlagbaum auf jeder Seite, und von jedem Land nur ein Grenzbeamter. Ich hielt vor dem Schlagbaum, kletterte aus dem VW-Bus und ging, so schnell ich konnte, auf den ungarischen Beamten zu, der aus seinem Häuschen herauskam. Er sollte so weit wie möglich vom Wagen entfernt bleiben und die anderen nicht zu genau betrachten. „Aber Sie sind Däne“, sagte er, als er meinen geöffneten Paß betrachtete. „Sie können hier nicht über die Grenze. Dieser Übergang ist nur für österreichische Staatsbürger.“ Damit gab er mir meinen Paß zurück. Ich hatte genug Bargeld eingesteckt und zog eine Hundertdollarnote aus dem Geldscheinpacken, den ich wieder in die Tasche steckte, damit er nicht sah, wieviel es war. Ich drückte ihm die Banknote in die Hand. „Meine Freunde und ich müssen in wenigen Stunden in Wien sein“, sagte ich drängend. „Sicher müssen die Bestimmungen in einem Notfall nicht eingehalten werden. Sie könnten uns helfen und uns durchlassen.“ Er nickte kaum wahrnehmbar und blickte aus den Augenwinkeln in Richtung des österreichischen Beamten. Der hatte uns aus etwa 20 Meter Entfernung beobachtet und kam nun heran. Ich beglückwünschte mich im Stillen. Das würde leichter gehen als ich gedacht hatte. „Was ist los?“ fragte der Österreicher, als er herangekommen war. „Kann ich Ihren Paß sehen?“ „Bitte“, sagte ich und reichte ihn hin. Dabei bat ich: „Wir sind keine Österreicher, aber wir müssen nach Wien .. .“ Er klappte meinen Paß schon wieder zu und gab ihn zurück. „Sie können nicht passieren“, sagte er fest. „Drehen Sie um und fahren Sie zum richtigen Übergang.“ Ich hatte eine zweite Hundertdollarnote in der Hand und reichte sie ihm hin. „Wir haben doch einen in Österreich zugelassenen Wagen, also brauchen Sie Ihre Vorschriften nicht zu genau zu nehmen.“ Er schüttelte den Kopf und nahm seinen Blick von dem Geldschein. „Aber unsere Zeit ist knapp“, sagte ich, „und wir werden das Flugzeug nicht bekommen.“ Ich ging näher zu ihm, so daß der Ungar mich nicht hören konnte. „Wieviel?“ flüsterte ich. Ich sah, wie er seine Kinnbacken zusammenpreßte und sich steif aufrichtete. Ein verachtungsvoller Blick lag in seinem Gesicht. „Sind Sie verrückt?“ Er spie die Worte fast aus. Er machte kehrt und ging auf seine Seite der Grenze zurück. Dort lehnte er sich auf den Schlagbaum, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete uns. Empört und ärgerlich wandte ich mich wieder an den kommunistischen Posten. „Der Kerl da ist sehr kleinlich“, sagte ich ungehalten und zeigte mit dem Daumen auf den Österreicher. „Und auch sehr unmenschlich. Er fordert von uns, daß wir 150 Kilometer Umweg machen.“ Ich schüttelte verachtungsvoll meinen Kopf und streckte die Hand aus. Er gab mir den Geldschein zurück. Schulterzuckend zündete er sich ebenfalls eine Zigarette an und beobachtete mich, als ich in den VW-Bus kletterte. „Wir hätten es fast geschafft“, sagte ich zu Sonja, als ich den Bus auf der schmalen Straße umdrehte und wieder den Berg hinunterfuhr. „Es war eigentlich schon der richtige Gedanke. Wir müssen nur einen anderen kleinen Grenzübergang finden. Dort werden wir es dann noch einmal versuchen. Es werden doch nicht alle österreichischen Grenzbeamten so kleinlich sein wie dieser hier.“ Als wir in ein langes und schmales Tal hinabkamen, begann es stark zu regnen. Sonja, die unseren Weg mit der Straßenkarte verglich, dirigierte uns an einer Abzweigung am Ende des Tales nach links. Bald ging es wieder steil in die Berge hinauf. Als wir höher kamen, wurde der Regen so stark, daß ich kaum noch sehen konnte. Blitze zuckten und das Echo der Donner hallte dumpf aus der tiefen Schlucht zurück, die an der linken Straßenseite lag. Das Gebläse arbeitete nicht, so daß die Fenster stark beschlugen. Sonja fand unter dem Sitz einen Lappen und wischte damit ab und zu die Windschutzscheibe ab. Plötzlich hörte die Teerdecke auf und aus der bisher schon engen Straße wurde ein schmutziger Weg mit tiefen Querrinnen und Löchern, in denen das Wasser stand. Ich war mittlerweile überzeugt davon, daß wir die falsche Straße genommen hatten und hielt nach einer Stelle Ausschau, wo wir wenden konnten. Plötzlich drehten die Räder auf dem nassen und steilen Untergrund durch und der Wagen begann zu schleudern. Ehe ich noch richtig wußte was geschah, schwang das hintere Teil des Wagens herum und rutschte in einen schmalen Graben neben der Straße, der aber durch den Regen zu einem reißenden Bach geworden war. Ich versuchte, wieder herauszukommen. Doch jetzt hatte sich auch noch das Gaspedal verklemmt, und die Hinterräder drehten nun bei Vollgas durch und schienen fast in der Luft zu hängen. Ich schaltete den rasenden Motor ab und wollte die Tür öffnen um auszusteigen, da hielt mich Sonja am Arm fest. „Schau!“ stöhnte sie. Dann sah ich sie auch - etwa 15 Soldaten; jeder von ihnen trug ein automatisches Gewehr. Sie sahen aus, als kämen sie gerade aus dem Krieg. Sie standen rundherum. Durch die beschlagenen Fenster konnte ich sehen, daß alle Gewehre auf uns zeigten. Und der Lärm! Sie schrien wie aufgeregte Kinder. Als ob sie gerade einen ganzen Wagen feindlicher Spione gefangen hätten. Die Tür an meiner Seite wurde aufgerissen, und ich starrte in das gespannte Gesicht eines jungen Offiziers, der wohl die Gruppe führte. Der gezogene Revolver in seiner Hand zielte auf meine Brust. Er schrie mich in ungarischer Sprache an. „Du sollst aussteigen“, sagte Sonja. „Aber du hast alle unsere Ausweise einstecken und sie werden dich durchsuchen.“ Während ich mühsam aus dem Bus stieg, gelang es mir, die Ausweise der Flüchtlinge aus meiner Jackentasche zu holen und auf dem Sitz liegenzulassen. Ich fühlte, wie Sonja sie schnell in den Lappen einwickelte, den sie in der Hand hielt. Eifrig begann sie, mit demselben wieder die beschlagenen Scheiben zu putzen. Ich hatte meinen Stock vergessen und mußte mich nun an der Autotür festhalten, die ich hinter mir wieder geschlossen hatte. Ich fühlte, wie meine Schuhe völlig im Schlamm verschwanden. Auch mit dem Stock wäre ich auf diesem Untergrund vollkommen hilflos gewesen. Der Offizier stand jetzt hinter mir und bohrte mir den Lauf des Revolvers in den Rücken. Ich wußte, daß ich die Hände heben sollte und tat es langsam. Doch nun konnte ich mich nicht mehr am Wagen festhalten und schwankte, am Rande des Grabens stehend, unsicher hin und her. Ich verstand kein einziges der ungarischen Worte. Doch er zeigte mit der Hand nach der Spitze des Hügels, die ich in Nebel und Regen verschwommen vor mir liegen sah. Er drückte mir den Revolverlauf noch heftiger in den Rücken, und ich wußte, daß ich den Hügel hinaufgehen sollte, doch ich war hilflos und hätte nicht einen Schritt machen können. Da ich mich nicht bewegte, wiederholte er die Aufforderung; diesmal lauter und nachdrücklicher und unterstrich dies noch mit einem neuen Stoß mit dem Revolver in meinen Rücken, der mich fast umgeworfen hätte. Irgendwie bewahrte ich das Gleichgewicht, denn er würde vielleicht schießen, wenn ich plötzlich nach der Wagentür gegriffen hätte. Mir wurde auch klar, daß Befehle gewöhnlich dreimal gegeben werden und nicht mehr. Aber mein Verstand weigerte sich, darüber hinaus zu denken. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß mehrere der Soldaten die Türen auf der anderen Busseite geöffnet hatten und den Wagen durchsuchten. Durch die zuckenden Blitze, rollenden Donner, den strömenden Regen und die schreienden Männer fühlte ich mich wie hypnotisiert. Mein Verstand schien genauso gelähmt zu sein wie meine rechte Seite. Ich dachte nicht daran zu beten - ich dachte eigentlich überhaupt nicht. Irgendwie verblieb mir nur die vage Vorstellung, daß dieser junge Offizier so begeistert über den Fang seines ersten Spions war, daß er auf keinerlei Argumente eingehen würde, auch nicht, wenn man seine Sprache hätte sprechen können. Zum dritten und sicherlich letzten Mal befahl er mir zu gehen. Ich fühlte einen scharfen Schmerz, als sich der Lauf der Waffe tief in meinen Rücken bohrte. Ich beugte mich unter dem scharfen Stoß nach vorn und war dabei, mein Gleichgewicht zu verlieren. Es war mir unmöglich, seinen Befehl zu befolgen. Ich war sicher: als nächstes würde ein Schuß folgen. 15 Nicht mein -sondern Dein Wille Ein trommelfellzerreißendes Krachen erfüllte plötzlich die Luft. Für einen Augenblick glaubte ich, der Revolver, den ich im Rücken fühlte, sei losgegangen, und wunderte mich, daß ich keine Schmerzen empfand. Als aber dann der Donner mit seinem Grollen den Hügel einhüllte und von der Schlucht her das Echo zurückrollte, wurde ich von etwas geschüttelt, das wie ein gewaltiger elektrischer Schock durch meine rechte Seite lief. Es war wie eine mächtige Explosion, die augenblickliche Kraft in meine Nerven und Sehnen brachte. Dann stellte ich zu meinem grenzenlosen Erstaunen fest, daß ich lief. Nach einigen Augenblicken wurde der Hügel schon so steil, daß wir manchmal auch noch die Hände benutzen mußten, um vorwärts zu kommen. Wir klammerten uns an Felsen und Büschen fest, während wir uns über das rauhe und vom Regen schlüpfrige Gelände vorwärtskämpften. Während ich vor dem jungen Offizier herstolperte, staunte ich immer wieder darüber, daß mein rechtes Bein genauso kräftig war wie das linke, und daß ich auch meinen rechten Arm gebrauchen konnte, mit dem ich Zweige beiseite schob und mich an Felsen klammerte. Mir blieb allerdings keine Zeit, mich über dieses Wunder meiner augenblicklichen Heilung zu freuen. Der schwere Atem des grimmig entschlossenen Soldaten hinter mir, der immer wieder, wenn er an schlüpfrigen Stellen rutschte, Flüche ausstieß, und die Furcht vor dem, was für mich und die Flüchtlinge vor mir lag, vertrieben alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Oben angekommen, mußten wir uns noch durch eine Gruppe eng zusammenstehender Fichten hindurchschieben, ehe wir auf einer geschützten Lichtung, auf der ein langgestrecktes Blockhaus lag, standen. Mein Bewacher deutete mit dem Revolver auf den Eingang, mich so auffordernd, einzutreten. Als er die Tür hinter mir wieder geschlossen hatte, präsentierte er mich einem höheren Offizier, von dem ich annahm, daß er der Befehlshaber dieser Gegend war. Er saß an einem Pult und brütete über einigen Landkarten. Nachdem die beiden sich in Ungarisch kurz unterhalten hatten, bat mich der Kommandant in deutscher Sprache um meine Papiere. Ich händigte ihm meinen Reisepaß aus und begann schnell mit meinen Erklärungen. „Ich bin ein Tourist“, sagte ich entschuldigend. „Wir sind auf dem Weg nach Wien und haben uns verfahren. Ich wußte nicht, daß dies militärisches Gebiet . . .“ Er schaute mich skeptisch an und betrachtete dann sorgfältig jede Seite meines Passes. Als er den Einreisestempel meiner jetzigen Tour gefunden hatte, aus dem hervorging, über welchen Grenzübergang ich hereingekommen war, strich er nachdenklich über sein Kinn und schaute mich wiederum durchdringend an. „Ich sehe, was Sie getan haben“, sagte er barsch. „Schauen Sie her.“ Er drehte eine seiner Karten auf dem Pult herum, so daß ich sie gut betrachten konnte, und fuhr mit dem Bleistift eine schmale Linie entlang, welche sich als die Straße herausstellte, die wir genommen hatten. „Sehen Sie diese Abzweigung hier? An dieser Stelle hätten Sie rechts abbiegen müssen, dann wären Sie zu dem Grenzübergang gekommen, den Sie auf der Herfahrt benutzten. Statt dessen sind Sie dort links gefahren. Fahren Sie also die Straße zurück bis zur Abzweigung, dann scharf links und noch einmal links auf die Hauptstraße. Sie können es gar nicht verfehlen.“ „Vielen Dank, mein Herr“, sagte ich und war ihm wirklich dankbarer, als er wissen konnte. „Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Ärger gemacht habe, aber ich habe noch ein anderes Problem. Unser Wagen sitzt im Graben fest und wir können nicht drehen.“ Er sprach schnell auf den jungen Offizier ein, der erst jetzt, und wir mir schien nur sehr zögernd, seinen Revolver wegsteckte. „Gut“, sagte der Kommandant nach einer kurzen Diskussion. „Er hat genug Männer da unten, die werden Ihnen helfen. Und seien Sie in Zukunft vorsichtig mit falschem Abbiegen.“ „Hans, du bist geheilt!“ rief Sonja, nachdem der Bus aus dem Graben und umgedreht war und wir vorsichtig die steile und schmale Straße wieder hinabfuhren. Das Gaspedal klemmte noch und der Motor dröhnte in höchsten Touren, während ich immer wieder schaltete und bremste. „Preis sei Gott! Der Herr ist mit uns!“ Ich berichtete ihr kurz, was oben im Blockhaus geschehen war. Sie erzählte, daß sie immer wieder mit dem Lappen, in dem die Ausweise steckten, die Scheiben gewischt hatte, während drei Soldaten den Bus durchsuchten und nach den Ausweisen fragten. Sie hatten so getan, als verstünden sie nicht. Trotz des Lärms, den Donner, Regen, Wind und die schreienden Soldaten machten, hatten die Kinder auf wunderbare Weise weitergeschlafen. Wären sie wach geworden und hätten begonnen, in bulgarischer Sprache zu reden, hätte man sie wohl sofort festgenommen. „Was werden wir jetzt tun?“ fragte Sonya besorgt, nachdem wir wieder auf der Hauptstraße waren. „Es ist alles meine Schuld“, bekannte ich bedrückt. „Ich hätte Gott fragen sollen, was wir tun müssen. Statt dessen habe ich einen Plan gemacht und versucht, uns über die Grenze zu mogeln. Fast hätte ich uns alle ins Gefängnis gebracht. Es tut mir leid.“ „Aber der Herr war treu, nicht wahr?“ „Ja, trotz meiner Torheiten“, bekannte ich ernüchtert. „Jetzt benötigen wir dringend Schlaf. Ich kenne einen Pastor, der etwa 80 Kilometer von hier in einer Stadt wohnt. Ich bin sicher, er wird uns für eine Nacht aufnehmen.“ Es war gegen 23 Uhr, als wir dort ankamen. Durch den Fensterladen sah man einen schmalen Lichtschein hindurchschimmern. Ich ließ die anderen im Bus und klopfte an die Vordertür. Ich hörte zögernde Schritte und dann eine Stimme, die leise hinter der Tür fragte: „Wer ist draußen?“ „Hans Kristian Neerskov“, flüsterte ich zurück. Erst war das Klicken eines Riegels und dann Kettenklirren zu hören. Die Tür ging auf und der Pastor rief: „Hans! Was führt dich zu dieser nächtlichen Stunde zu uns?“ „Ich habe sechs Leute mit mir“, sagte ich und vermied es absichtlich, ihm irgendwelche Informationen zu geben, die ihn hätten belasten können, wenn man ihn später vielleicht einmal fragen würde. „Vielleicht ist es für dich gefährlich, aber wir brauchen dringend etwas Schlaf. Sie haben seit zwei Tagen nicht schlafen können.“ „Kommt herein“, sagte er schlicht. Ich drehte mich um und winkte den anderen, die im Bus warteten, zu. „Schau dir deinen Anzug an“, rief die Hausfrau, als wir alle im Haus waren und der Pastor nach genügend Stühlen suchte. „Du bist durch bis auf die Haut. Jon, wickle ihn in ein Badetuch und eine Decke und bring mir die Kleidung, damit ich sie trocknen kann.“ Nachdem wir etwas Heißes getrunken hatten, bekamen die erschöpften Flüchtlinge Steppdecken, legten sich auf den Fußboden und schliefen schnell ein. Ich ging durch einen Nebenausgang zu der kleinen Kapelle, die neben dem Haus stand. Durch die Dunkelheit tappend fand ich eine Holzbank und fiel auf meine Knie. Ich zitterte vor Kälte, wickelte mich fester in die Decke und begann zu beten. Es gab ein Geheimnis, das ich Sonja nicht erzählen konnte. „Du kennst mein Herz, Herr. Du weißt, daß ich nicht hierher fahren wollte. Ich bekenne es Dir, Herr, aber ich schäme mich, es jemand anders zu sagen. Es war nicht meine Liebe für die Flüchtlinge, die mich hierher brachte. Es war noch nicht einmal Liebe oder Gehorsam zu Dir. Ich habe mich davor gefürchtet, was Ninna und andere von mir denken würden, wenn ich nicht gefahren wäre. Ich wollte nicht als Heuchler gelten. Und jetzt fürchte ich mich, wieder über die Grenze zu fahren. O Gott! Was soll ich tun?“ Während ich beschämt kniete, schien die Verdorbenheit meines Herzens offen vor mir zu liegen. Ich hatte versucht, mich mit meiner Lähmung zu entschuldigen, aber Gott hatte mich geheilt. Trotzdem fürchtete ich mich jetzt noch mehr als zuvor. Wenn ich einen Ausweg für mich gesehen hätte, würde ich die Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen haben. Doch ich saß in der Falle. Ich fürchtete mich vor dem Versuch, über die Grenze zu gehen, aus Angst, verhaftet zu werden. Ich fürchtete mich aber auch vor dem, was die Leute sagen würden, wenn ich es nicht versuchte. Und meine Heilung? Eine nahezu unglaubliche Sache war geschehen! Ich versuchte, Gott dafür zu danken, wurde aber immer wieder von meinen Sorgen abgelenkt. „Habe Dank, Herr“, begann ich. „Welch ein Wunder hast Du an mir getan! Hilf mir, daß ich dankbarer sein kann. Ich schäme mich, muß es aber zugeben: Es erscheint mir fast als nichts, zwar geheilt zu sein, aber immer noch in diesen Schwierigkeiten sitzen zu müssen. Wie können wir über die Grenze kommen ohne Reisepässe?“ Ich dachte wieder an den Abend, an dem wir das erste Mal Sonja begegnet waren. Gott hatte ihr gesagt, sie solle diesmal einen anderen Weg zum Gottesdienst nehmen und auf der Straße nach zwei Männern aus dem Westen Ausschau halten. Sie hatte uns gefunden und geführt. Wir waren durch die Art, wie Gott zu ihr redete und sie bewahrt hatte, inspiriert worden. Ich fühlte, wie Ärger in mir aufstieg. Warum tat Gott dies nicht auch jetzt? Und warum lag sie nicht auch auf den Knien und betete, anstatt im Nebenhaus ruhig zu schlafen? Warum ließ man mich mit dieser Last allein? Plötzlich sah ich, was ich falsch machte. Ich versuchte immer noch stark zu sein, obwohl ich wußte, wie schwach ich war. Gott konnte nichts tun, ehe ich nicht aufhörte, der große Held und Befreier der Flüchtlinge sein zu wollen. Sonja hatte so viel für mich getan, und ich war entschlossen gewesen ihr zu zeigen, daß ich auch für sie etwas tun konnte. Es war immer ich - ich -ich! Ich hatte den klugen Plan gemacht. Ich hatte uns alle aus der Schwierigkeit herausgebracht! Ich hatte sogar versucht, zu bestechen. Und Gott war bei all dem nicht dabei gewesen. Ich war zu sehr mit meinen eigenen Plänen beschäftigt gewesen, um Ihn nach den Seinen zu fragen. In der Ruhe und Dunkelheit, die mich umgab, wurde mir dies ganz klar. „Herr, es tut mir leid“, rief ich. „Ich habe nicht nach Deinem Willen gefragt, sondern Dich gebeten, meine Pläne zu segnen. Und Du hast uns in Deiner Barmherzigkeit bewahrt. Du hattest einen Ausweg, als ich uns in Schwierigkeiten brachte. Und Du hast mich sogar noch geheilt. O Gott! Wie oft muß ich dieselbe Lektion immer neu lernen? Ich werde keinen Schritt mehr gehen, wenn Du mir nicht den Weg zeigst.“ Als ich mich von meinen Problemen ab und dem Herrn zuwandte, sah ich auch, daß es so viel gab, wofür ich dankbar sein konnte, und mein Herz wurde mit Lob und Preis erfüllt. Ich konnte nicht nur für das danken, was wir eben erlebt hatten - meine Heilung, den festen Schlaf der Kinder, die Befreiung von den Soldaten -, ich schaute vielmehr auf mein ganzes Leben zurück und sah, wie wunderbar Gott mich geführt und gesegnet hatte und wie groß Seine Gnade in meinem Leben gewesen war. Wie meine Furcht und mein Unglaube Ihn jetzt betrüben mußten. Er war in der Lage, uns sicher nach Österreich zu bringen. Für mich war es natürlich eine Unmöglichkeit. Aber was uns unmöglich ist, das ist möglich bei Gott. Alles, was wir tun mußten, war, uns von Ihm führen zu lassen. Jetzt wurde ich still und wartete auf Sein Reden. Gegen 1 Uhr in der Nacht begann Er zu reden, nicht hörbar - aber mit einer so tiefen und festen inneren Gewißheit und Überzeugung, daß ich nur gehorchen konnte. Genau 3 Uhr morgens mußten wir am gleichen Grenzübergang sein, an dem ich vor drei Tagen ins Land gekommen war. Es war ein großer, hell erleuchteter und von vielen Reisenden benutzter Grenzübergang, an dem es deshalb auch viele Grenzbeamte gab. Aber der Herr würde uns gut hinüberbringen. Wir brauchten uns nicht zu fürchten. Ich legte mich, in die Decke gewickelt, auf den Fußboden und schlief sofort ein. Zwei Uhr nachts erwachte ich, rannte ins Haus zurück und weckte die anderen. „Es ist Zeit aufzustehen“, rief ich. Jemand machte Licht. „Es ist erst zwei Uhr“, sagte Sonja. „Wir haben kaum ein wenig geschlafen.“ Ich flüsterte ihr zu, damit der Pastor und seine Frau es nicht hörten. „Der Herr hat zu mir geredet. Wir müssen um drei Uhr an der Grenze sein. Er wird uns hinüberbringen.“ Sie redete mit dem Bruder und der Schwägerin. Nach einer schnellen Tasse heißen Kaffees betete der Pastor noch mit uns und befahl uns der Fürsorge Gottes an. Dann sagten wir eilig „Auf Wiedersehen“. Als ich zwei Kilometer hinter dem Dorf in die Hauptstraße Budapest-Wien einbog, zeigte meine Uhr 2.30 morgens. „Wir müssen beten“, sagte ich zu Sonja und begann: „Herr, wir vertrauen Deiner Zusage. Wir bitten Dich, die Augen der Wachen an der Grenze zu blenden. Hilf, daß sie in diesem Auto niemand sehen als mich. Bedecke meine Freunde mit Deiner Hand.“ Sonja übersetzte und wir beteten gemeinsam weiter um ein Wunder. Die anderen bulgarisch, ich dänisch. Wir beteten alle laut und gemeinsam. Keiner versuchte, den anderen mit wohlgesetzten Worten zu beeindrucken, sondern wir suchten von ganzem Herzen die Verbindung mit Gott. Während wir beteten fühlte ich, wie Gottes Gegenwart und Kraft den Wagen erfüllte. Aus unseren Bitten wurde freudiger Lobpreis. Alle Furcht wich und wir begannen, Ihm für das zu danken, was Er für uns tun würde. Auf einmal priesen wir Ihn alle in neuen Zungen und fuhren fort, auf diese Weise zu beten, bis wir die Grenze erreichten. Es war genau drei Uhr morgens als wir ankamen. Die Grenzstation lag in hellem Licht. Ich drehte den immer noch rasenden Motor schon ein Stück vorher ab und versuchte leise heranzufahren. Zwei Beamte durchsuchten gerade ein Auto. Ich stellte mich dahinter und ein anderer Mann in Uniform kam aus dem Gebäude. Während ich noch die Scheibe herunterdrehte, reichte ich mit der anderen Hand den Reisepaß hinaus. Er kontrollierte ihn sorgfältig, betrachtete dann das Bild und verglich es mit mir, um sicher zu gehen, daß ich der Mann auf dem Bild war. Da ich in meinem gelähmten Zustand kein Gepäck hatte tragen können, führte ich keinen Koffer mit mir. Ich hatte nur eine Zahnbürste in meiner Jackentasche. Der eine kleine Koffer, den die Flüchtlinge mitgebracht hatten, stand neben Sonjas Bruder auf dem Mittelsitz. Die Augen des Grenzers fielen darauf. „Lassen Sie mich in Ihren Koffer sehen“, sagte er in Deutsch. Ich stieg aus, ging um den Bus herum, öffnete die Seitentür, nahm den Koffer heraus und öffnete ihn. Er steckte seinen Kopf in den Bus, wobei er Georgi fast berührte, und durchsuchte sorgfältig den Koffer. Während er ihn wieder schloß, sah er sich nochmals im Bus um und richtete sich dann mit einem zufriedenen Seufzer auf. „Ich wünsche gute Reise“, sagte er, händigte mir den Paß aus und gab mit einer Handbewegung den Weg frei. Ich ging wieder um den Bus herum und setzte mich hinter das Steuer. Als ich den Motor startete, winkte ich ihm noch zu und fuhr an. „Preis sei Gott“, rief ich. „Endlich sind wir hinaus. Jetzt müssen wir uns nur noch mit den Österreichern auseinandersetzen.“ „Was ist, wenn sie uns festhalten?“ fragte Sonja. „Sie werden uns doch nicht wieder zurückschicken, oder?“ „Ich glaube nicht, daß sie dies tun, wenn ihr um Asyl bittet. Aber sie werden uns vielleicht zunächst alle festnehmen müssen.“ Wir hatten noch etwa 200 Meter bis zur österreichischen Grenzstation. Da das Gaspedal immer noch klemmte, ließ ich die Kupplung nur halb fassen, um nicht mit vollem Tempo in die Grenzstation hineinzurasen. Das Dröhnen der auf vollen Touren laufenden Maschine kündigte uns auf ärgerliche Weise an und zog alle Aufmerksamkeit auf uns. Ein großer Lastwagen stand an der Grenze, und alle Zollbeamten waren mit der Untersuchung seiner Ladung beschäftigt. Als wir mit nervtötendem Gedröhn langsam herankam, blickten die Beamten uns fragend entgegen und schienen für einen Augenblick zu zögern. Dann winkten sie und gaben die Weiterfahrt frei. Die Flüchtlinge unterhielten sich erregt. Ich pries Gott in meinem Herzen und konzentrierte mich auf die Straße. „Weißt du, was wir zusammen sprachen?“ fragte Sonja. Nun, ich konnte mir eine ganze Menge vorstellen. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Wir haben uns darüber unterhalten, daß wir uns wie die Kinder Israel fühlen, als sich vor ihnen die Wasser des Jordans teilten und sie in das verheißene Land einzogen.“ Einige Kilometer weiter hielt ich an. Wir sprangen alle heraus und knieten neben der Straße in das nasse Gras. Nicht auf den Regen achtend, der immer noch fiel, hoben wir unsere Gesichter und Hände empor, weinten Tränen der Freude und dankten unserem himmlischen Vater. Wieder in Rußland Als ich wieder in Kopenhagen auf dem Flugplatz ankam, war ich in vielerlei Weise ein anderer Mann als der ich noch vor wenigen Tagen beim Abflug gewesen war. Mein erster Gedanke war, ans Telefon zu gehen, Ninna anzurufen und ihr alles zu erzählen. Doch dann nahm ich gleich ein Taxi nach Hause, um sie zu überraschen. Ich wünschte, daß sie selbst bemerkte, was geschehen war, ehe ich etwas sagte. Mein Herz klopfte heftig, als ich den Schlüssel in unsere Wohnungstür steckte und leise öffnete. Schon im Flur hörte ich, daß im Wohnzimmer eine lebhafte Unterhaltung im Gange war. An den Stimmen erkannte ich Rene und seine Frau Ruth. Das war eine angenehme Überraschung. Wie gut, daß sie gerade hier waren. Meine Finger zitterten vor Erregung, als ich vorsichtig die Wohnzimmertür öffnete und eintrat. Mit wenigen Schritten stand ich in der Mitte des Raumes und lächelte die drei an. Sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie mich kaum wahrnahmen. „Oh, da bist du ja“, rief Ninna. „Ich hatte erwartet, du würdest anrufen.“ „Wie geht es Sonja und der Familie ihres Bruders?“ fragte Rene. „Sind sie . . .?“ „Preis dem Herrn!“ antwortete ich. „Sie sind alle in Österreich in Sicherheit.“ „Preis sei dem Herrn!“ riefen die drei wie im Chor. Ninna hatte mich genau betrachtet. „Hans, du siehst schlimm aus. Du mußt dich dringend rasieren. Und dein Anzug - er ist so dreckig, als seist du im Schlamm gewesen.“ Ich beobachtete sie ruhig und mit amüsiertem Lächeln. „Fällt dir sonst noch etwas auf?“ „Nein. Aber erzähle uns doch von der Reise.“ Ich machte einige Schritte, schwang meinen rechten Arm und hob mein rechtes Bein hoch. „Könnt ihr jetzt noch etwas anderes feststellen?“ Ninna schnaufte tief und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Ich rannte zu ihr und hielt sie auch schon in den Armen. Sie klammerte sich an mich und weinte leise. „Dank sei Gott! Dank sei Gott!“ flüsterte sie immer und immer wieder. Dann umarmte ich Rene und Ruth. Mittlerweile kamen auch die Kinder gerannt um zu sehen, was geschehen war. Sie häng-ten sich an mich, umarmten mich und riefen: „Gott hat Papi geheilt! Gott hat Papi geheilt!“ Als sich die Gefühle beruhigt hatten, setzte ich mich und erzählte von der Reise. Vor allem aber berichtete ich von der geistlichen Lektion, die ich gelernt hatte. Dann bat ich sie noch, niemand etwas über die gelungene Flucht zu erzählen, bis die Flüchtlinge sicher in Schweden angekommen waren. Am nächsten Tag fuhr ich ins Krankenhaus, um mich untersuchen zu lassen. Die Ärzte staunten, als sie mich sahen. Ich wollte keine staatliche Unterstützung mehr, da ich wieder für mich selbst sorgen konnte, und versuchte sie dahin zu bringen, mir Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu bescheinigen. „Es ist alles in Ordnung mit Ihnen, wir können nichts mehr feststellen“, sagte der Arzt, der mir ein entsprechendes Attest schreiben mußte. „Aber das ist unmöglich. Wir können keine ,Wunderheilung1 akzeptieren. Ich bin für Sie verantwortlich. Es ist vielleicht nur eine vorübergehende Besserung und Sie mögen bald wieder in Ihren vorigen Zustand zurückfallen. Ich kann Ihnen Ihre Gesundheit nicht bescheinigen.“ Ich versuchte, ihn zu überreden, doch er beharrte auf seinem Standpunkt und forderte mich auf, in einem Monat zu einer weiteren Untersuchung zu kommen. Sechs Monate ging das so. Es waren Monate voller Arbeitskraft und Aktivität für die Mission. Endlich war ich entschlossen, das „nein“ der Ärzte nicht mehr hinzunehmen. Es war nicht recht, mich weiterhin körper- behindert und arbeitsunfähig schreiben und vom Staat unterstützen zu lassen, nur weil die medizinische Wissenschaft keine Erklärung für Wunder hatte. „Sie müssen mir endlich meine Arbeitsfähigkeit bescheinigen“, beharrte ich nach einer weiteren gründlichen Untersuchung. Wieder bekam ich vom Arzt die üblichen Fragen zu hören: Hatte ich Schmerzen in der rechten Seite, im Arm oder im Bein? Wurde ich von Kopfschmerzen geplagt? Konnte ich nachts ohne Schlaftabletten schlafen? Wie lange nahm ich schon keine Medikamente mehr? Ermüdete ich schnell? Nein! Nein! Nein! Ich gab ihm die üblichen Antworten. Wir hatten dies schon viele Male wiederholt und alles, was die Ärzte dazu sagten war: „unmöglich“. „Ich weiß, daß Gott mich geheilt hat“, beharrte ich. „Ich habe Ihnen erzählt, wie es geschah. Ihr Problem ist, daß Sie es nach medizinischen Gesichtspunkten nicht verstehen können. Aber Sie müssen es ja gar nicht verstehen, glauben Sie es doch einfach.“ Verbissen schüttelte der Arzt den Kopf. „Ich glaube trotzdem nicht an Wunder, und niemand kann mich zwingen zu glauben. Ich sehe selbst, daß mit Ihnen alles in Ordnung ist, dazu brauche ich keinen Glauben. Aber ich habe keine Erklärung, die ich in meinen Bericht schreiben kann. Aber ich werde Sie trotzdem gesundschreiben.“ Die Mission hatte mittlerweile einen neuen Vorstand und war unabhängig von lokalen Gemeinden. Ich bildete neue Kuriere aus, die vieles lernen mußten, wie zum Beispiel: wie man sich am besten Namen und Adressen merkt; wie man einen Kode benutzt; daß sie äußerst behutsam und vorsichtig sein mußten, wenn sie Kontakte mit Christen suchten, da sie durch Unweisheit die Schwierigkeiten, die die Gläubigen im Osten hatten, noch sehr vergrößern konnten; daß alle politischen Diskussionen zu vermeiden waren, außer, wenn es nötig wurde, mit Ungläubigen; den Unterschied zwischen der Bibel, die das Handbuch des Christen ist, und aller anderen christlichen Literatur nicht zu vergessen. Gegen das Bringen von Bibeln über die Grenze konnte eigentlich kein gewichtiger Grund vorgebracht werden, aber alle anderen Bücher, ganz gleich, wie sehr sie sich auf die Bibel bezogen, konnte man als „Propaganda“ und vielleicht sogar als politische Beeinflussung hinstellen. Aber die wichtigste Lektion, die ich ihnen beizubringen versuchte, war, daß sie beständig in Verbindung mit Gott bleiben mußten, um Seine Stimme zu hören, und daß sie ihre Aufgabe erfüllen mußten aus Liebe zu Ihm und aus Gehorsam zu Seinem Willen. Dies war eine der größten und schwierigsten Lektionen meines eigenen Lebens gewesen. Ich hatte immer gedacht, das erste Gebot sei, Gott zu lieben mit ganzem Herzen, doch erst bei genauerem Lesen war mir aufgefallen, daß dieses erste und Hauptgebot - wie Christus es nennt - mit den Worten beginnt: Höre, Israel, ... du sollst lieben den Herrn, deinen Gott .. . Da verstand ich eines der größten Geheimnisse des Christentums, das mich besonders hinter dem Eisernen Vorhang so beeindruckt hatte, besser. Viele dieser Gläubigen lebten wirklich in Verbindung mit Gott. Ich war immer so eifrig bemüht gewesen, Gott zu dienen und zu Ihm zu beten, daß ich nie zugehört hatte, wenn Er zu mir reden wollte. Endlich fing ich langsam an, dies zu lernen. Jesus sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme und sie folgen mir.“ Ich hatte auf Seine Stimme zu hören, die im Herzen zu mir sprach, auf Seine Befehle und auf Seine Verheißungen. Es war eine Sache, die Bibel zu lesen und Teile davon auch auswendig zu lernen, und eine ganz andere, sie für mich persönlich zu nehmen und zu hören, wenn Gott durch Sein Wort zu mir sprach. Ich mußte auf das hören, was Er mich tun hieß, und mich in allen Lagen Schritt für Schritt von Ihm führen lassen. Eines Tages, als ich betete und auf Seine Stimme lauschte, schien es mir, als sage Er zu mir: „Du mußt wieder nach Rußland fahren.“ Offiziell war mir zwar gesagt worden, daß ich nie wiederkommen dürfe, aber das waren die Worte der Menschen. Nun sagte Gott etwas anderes und ich wollte gehorsam sein. Ich wollte auch noch sehen, wie Ninna darüber dachte, denn wir gehörten für dieses Leben zusammen. „Ich sehe keine Schwierigkeiten“, sagte sie. „Sie haben zu dir gesagt, du darfst nie wieder nach Rußland kommen, also werden sie dir wahrscheinlich kein Visum geben. Geben sie dir doch eins, sehen wir daran, daß es Gottes Wille ist.“ Ich bekam das Visum. Diesmal ging ich mit einer Reisegruppe per Flugzeug. In Moskau besuchten mein Reisegefährte und ich, wie sich das für gute Touristen gehörte, Lenins Grab. In diesem Mausoleum wird mehr Respekt und Achtung gefordert, als die meisten Christen in ihren Kirchen und Kapellen zeigen. Wenn man die Achtung sieht und den ehrfurchtsvollen Blick, mit dem die meisten Russen den in einem Glassarg hegenden, mit chemischen Mitteln frisch erhaltenen Leichnam Lenins betrachten, dann erkennt man, daß auch die Atheisten eine Religion haben. Lenins Grab ist ihre Kathedrale und Lenin ihr Gott. Eine Moskauer Tageszeitung veröffentlichte die Selbstkritik eines Autobusfahrers, der zugab, an einer Haltestelle vorbeigefahren zu sein. Ein Schulmädchen, die dort wartete, hatte ihn angezeigt. In seiner Selbstkritik erklärte er, sein größter Fehler sei gewesen, sich nicht zu fragen, was Lenin in dieser Lage getan haben würde. Er versprach, für die Zukunft dies zu einer festen Regel seines Lebens zu machen: immer zu tun, was Lenin getan hätte. Eine meiner Absichten während dieser Reise war es, das „Historische Museum für Atheismus und Religion“ in Leningrad zu besuchen. „Wir hätten gern einen Führer für heute nachmittag 14 Uhr“, sagte ich zu der jungen Frau hinter dem Intourist-Stand in der Halle unseres Hotels. „Sehr gut. In welcher Sprache bitte?“ „Dänisch, Deutsch oder Englisch, es spielt keine Rolle.“ „Das macht die Sache leicht“, sagte sie lächelnd. „Ein Führer wird Sie heute 14 Uhr hier erwarten. Wohin möchten Sie gehen, bitte?“ „Wir möchten das ,Historische Museum für Atheismus und Religion' besuchen.“ Plötzlich sah sie verwirrt aus und räusperte sich verlegen. „Oh, das wird nicht gehen“, rief sie und schaute sich nervös um. „Warum nicht?“ wollte ich wissen. „Es tut mir leid, ich habe vorhin nicht richtig nachgeschaut. Alle unsere Führer sind für heute schon ausgebucht.“ Ich ging in einen anderen Teil des Hotels, wo es auch einen Vertreter von Intourist gab. „Ich hätte gern einen Führer für heute nachmittag 14 Uhr“, sagte ich. „Englisch, Dänisch oder Deutsch.“ „Das läßt sich leicht machen“, sagte das Mädchen. „Wir haben viele Führer. Ich werde Ihren Namen aufschreiben. Wohin möchten Sie gehen?“ „In das ,Historische Museum für Atheismus und Religion“.“ Wieder diese verlegene Reaktion. „Es tut mir leid, ich glaube, wir haben heute doch keine Führer mehr frei.“ „Doch, Sie haben Führer“, beharrte ich. „Ich weiß es.“ „Aber es ist sehr teuer - acht Rubel.“ „Das ist in Ordnung.“ „Aber wir haben keine Führer für das Museum für Atheismus. Die einzigen Führer dafür sind nur für russische Besucher. Sie sprechen keine andere Sprache.“ Ich bestand weiter auf unserem Wunsch, da man in Rußland so verfahren muß, und endlich bekamen wir unseren Führer. Es war ein zierliches Mädchen aus Nordkorea, die in Leningrad studierte und fließend Englisch und Russisch sprach. Sie war überaus nett und höflich. Das Museum war früher einmal eine der größten und schönsten Kirchen Leningrads. Eines der ersten Bilder, das mir nach unserem Eintreten auffiel, war das von Jury Gagarin. „Was steht unter dem Bild?“ fragte ich. „Ach, nichts besonderes“, antwortete unsere Führerin. „Sicher ist es wichtig, sonst würde es nicht hier stehen“, erwiderte ich. „Würden Sie es bitte für uns übersetzen.“ „Na gut. Hier steht, daß Gagarin der erste Mensch im Weltraum war und sich dort überall umgesehen hat, aber keinen Gott finden konnte. Deshalb sind wir sicher, daß es keinen Gott gibt.“ „Was steht noch da?“ „Nichts weiter.“ „Doch! Ich kann sehen, daß eine Menge mehr geschrieben ist als das.“ „Meinetwegen. Es wird weiter gesagt, wenn jemand einwen-den würde, Gott sei viel tiefer im Weltraum als Gagarin fliegen konnte, so haben Sowjetwissenschaftler kalkuliert, daß Er, auch wenn Er existiert, doch so weit weg ist, daß es 30 Millionen Jahre dauern würde, ehe Gebete von der Erde bis zu Ihm kämen, und auch 30 Millionen Jahre, ehe Seine Antwort wieder hier wäre. Deshalb, so wird erklärt, hat es keinen Sinn, die Zeit mit Gebeten zu vergeuden.“ Ich konnte mir nicht helfen und mußte schallend lachen. „Das ist doch kindisch“, platzte ich heraus. „Glauben Sie das etwa?“ Wir gingen langsam weiter und kamen an andere Bilder. „Was wird mit denen gezeigt“, fragte ich und schaute sie näher an. Sie kam herbei und stellte sich neben mich. „Der Mann, der an dem Schreibtisch sitzt, war früher ein Christ und ist jetzt ein Atheist und hat deshalb jetzt einen guten Beruf. Und diese Männer: der ist ein Baptist, dieser ein Adventist und jener ein Zeuge Jehovas. Sie haben das Gesetz gebrochen und sind deshalb im Gefängnis.“ Eine Gruppe recht junger Schulkinder kam herein, die offensichtlich von ihren Lehrern begleitet wurden. Ich sagte zu unserer Führerin: „Wir gehen mit denen und Sie übersetzen bitte für uns.“ Doch einer der Aufseher, dem dies nicht zu gefallen schien, kam zu uns und forderte uns auf, von allen russischen Bürgern Abstand zu halten. Sollten wir uns weiter so eng an die Gruppe halten, würde man uns aus dem Haus weisen müssen. Ich hatte gehofft, etwas Ähnliches zu erleben wie einer meiner Freunde, als der einmal ein anderes atheistisches Museum in Rußland besuchte. Das erste, zu dem man in diesem Museum kam, war ein Bild von Lenin als zwölfjähriger Junge. Eine Lehrerin sagte gerade zu ihrer Klasse: „Kinder, schaut! Dieser Junge ist zwölf Jahre alt. Seht, was für schöne Augen er hat. An seinem Gesicht könnt ihr sehen, daß er ein guter Junge ist. Wie intelligent er blickt. Das ist Lenin. Hier ist auch ein Bild seiner Eltern. Er war seinen Eltern immer gehorsam und hatte in der Schule die besten Noten. Ihr solltet versuchen, wie er zu sein. Tut immer das, was Lenin tun würde.“ Es gab auch eine ganze Menge phantastischen Unsinn über die Evolutionstheorie im Museum und sollte als Beweis dienen, daß das Universum durch Zufall entstanden sei und es deshalb keinen Gott gibt. Doch es wurden auch eine Menge Dinge gezeigt, gegen die man nicht argumentieren konnte, weil sie Wahrheit waren. Zum Beispiel gab es eine Ikone, die offensichtlich echt war. Das Bild sah so aus, als sei es von Tausenden geküßt und gestreichelt worden. Der gemalte „Heilige“ weinte angeblich, wenn man zu ihm betete. In der Ausstellung konnte man nun sehen, wie dieser betrügerische religiöse Trick funktionierte. In jedem Augenwinkel war ein winziges Loch, zu dem jeweils ein Schlauch führte, der mit einer Wasserflasche verbunden war. Ein hinter der Ikone versteckter Priester konnte jedesmal auf einen Auslöser drücken und so den „Heiligen“ weinen lassen, wenn ein Gläubiger zu ihm betete. Der unter der Ikone stehende begleitende Text sagte nun, daß dies ein Beweis für den betrügerischen Charakter aller Religion sei. Dieses Argument wurde durch andere Ausstellungsstücke, die ähnliche Tatsachen zeigten, weiter unterstrichen. Es wurde darauf hingewiesen, daß die großen Kathedralen Rußlands für die wenigen Reichen gebaut worden waren, die Armen durften in diese prächtigen Kirchen nicht hinein. Große Kathedralen wurden von Adelsfamilien oft nur für ihren eigenen Gebrauch gebaut. Die meisten Kathedralen, die in Rußland stehen, besonders die berühmtesten, haben viele kleine Räume, aber keinen großen für einen öffentlichen Gottesdienst. Natürlich wurde auch die mittelalterliche Inquisition deutlich herausgestellt. Auch die Tatsache wurde nicht vergessen, daß es zur gleichen Zeit auch schon mehrere Päpste gegeben hatte, von denen jeder für sich in Anspruch nahm, der wahre Nachfolger Petri und Führer der Kirche zu sein. Von den Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten, die jeweils behaupteten, den richtigen Glauben zu haben, und von den Kreuzfahrern, die im Namen Christi raubten und mordeten, wurde berichtet. Viel Nachdruck wurde darauf gelegt, wie religiöse Führer und Kirchen ihre Macht oft gebraucht haben, die Menschen in Unwissenheit zu halten und ihnen noch Teile ihres armseligen Einkommens abnahmen, indem sie Vorgaben, die Spenden an die Kirche würden ihnen bei Gott Verdienste einbringen. „Viel von dem, was hier gezeigt wird, ist wirklich wahr“, stimmte ich unserer Führerin zu. „Doch das sind keinesfalls Dinge, die Jesus gelehrt hat. In Wirklichkeit hat Er sie verdammt. Jeder, der solche Verbrechen an der Menschheit begeht, ist kein wahrer Christ.“ „Aber sie sagen, sie seien Christen“, sagte sie. „Es gibt auch Menschen, die behaupten, sie seien Kommunisten“, erinnerte ich sie, „und leben doch nicht nach dem hohen Ideal, allen Besitz mit den anderen Menschen gemeinsam zu haben. Viele schreckliche Verbrechen sind von Kommunisten begangen worden; denken Sie zum Beispiel an Stalin. Sind das Beweise dafür, daß die hohen Ideale des Kommunismus falsch sind?“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Kirche hat jemals auch nur annähernd so viele Verbrechen begangen wie Stalin. Ich bezweifle, daß alle Kreuzfahrer zusammengenommen so viel mordeten und raubten wie er. Obwohl dieses Museum wirklich üble Wahrheiten zeigt, die böse Menschen unter dem Mantel des Christentums begangen haben, zieht es keine ehrlichen Folgerungen aus diesen Tatsachen, statt dessen berichtet es damit Lügen und tut deshalb selbst Übles. Es ist vorsätzlich unehrlich, wenn es die Verbrechen der Heuchler und religiösen Organisationen zeigt und dabei behauptet, dies sei das wahre Christentum, obwohl dies nicht stimmt. Und es ist auch unehrlich darin, daß es nichts von der wohlbekannten Tatsache sagt, daß es in dieser Welt auch immer echte Nachfolger Christi gegeben hat, Seine wahre Kirche, in der oft große Führer auf dem Gebiet der Erziehung und der Befreiung der Menschheit von Unterdrückern gewesen sind.“ Unsere Führerin hörte dem, was ich sagte, höflich zu, aber es schien kaum Eindruck auf sie zu machen. Offensichtlich hatte man ihr den kommunistischen Standpunkt derart eingehämmert, daß sie keinen Sinn darin sah, andere Ansichten wenigstens einmal zu überdenken. Vielleicht hatte sie auch selbst religiöse Heuchelei erlebt, die dazu beigetragen hatte, daß sie so uninteressiert und ablehnend war. Ich sah keine Möglichkeit, es herauszufinden. Dieses Museum ist nur ein Beispiel der vielen raffinierten Ideen des Ministeriums für Religion, dem eines der größten Budgets der Sowjetunion zur Verfügung steht. Ungefähr 2 Millionen vollbezahlte Mitarbeiter in der Organisation Znanie bemühen sich, die russischen Menschen dahin zu „erziehen“, daß sie die falschen Lehren der Religionen zurückweisen und erkennen, daß es keinen Gott gibt. Allein in Moskau gibt es etwa 15 000 solche Mitarbeiter. Sie haben große Mengen hervorragend gemachter Filme produziert, die in ganz Rußland gezeigt werden und in denen der Atheismus verherrlicht und die Religion verächtlich gemacht wird. Ihre eigenen Statistiken zeigen, daß von ihnen jeden Tag etwa 40 000 Vorträge in Schulen, Fabriken, Vereinen und anderen Zusammenkünften gehalten werden, in denen „bewiesen“ wird, daß es keinen Gott gibt. Trotzdem glauben heute in Rußland mehr Menschen an Gott, als jemals vorher in der Geschichte. Und obwohl jeder Sowjetbürger von Kindheit an dem gewaltigen psychologischen Druck antireligiöser Propaganda ausgesetzt ist, hat das Ministerium für Religion selbst geschätzt, daß mehr als 60 Prozent der russischen Bevölkerung an Gott glauben. Wir verließen das Museum und unsere Führerin, um in einen anderen Teil der Stadt zu fahren. Dort trafen wir einen Freund von Aida Skripnikowa, der uns zu einer Untergrundversammlung junger Leute am Stadtrand von Leningrad mitnahm. Er übersetzte mich, als ich kurz zu den Zusammengekommenen sprach. Ich hatte gehofft, Aida dort zu treffen, doch sie war zur Zeit nicht in Leningrad anwesend. Wir fanden aber viele andere junge Leute dort, die genauso waren wie sie. Ihre Namen waren zwar in der Welt nicht so bekannt, aber doch bei Gott. Sie alle waren bis zum Uberfließen erfüllt mit der Liebe Gottes und scheuten sich nicht, für Christus ins Gefängnis oder gar in den Tod zu gehen, wenn dies Sein Wille sein sollte. Als wir die Versammlung spät in der Nacht verließen, ging mir ein Gedanke durch den Kopf: 40000 Vorträge pro Tag und 2 Millionen bezahlte Mitarbeiter, und niemand darf ihnen widersprechen - man darf noch nicht einmal eine Bibel auf offener Straße in der Hand tragen, denn dies wäre, wie alles andere, „verbotene religiöse Propaganda“, und die ist strikt verboten. Solch ein einseitiger Kampf sollte doch längst mit einem überwältigenden Sieg geendet haben, mindestens nach nunmehr fünfzig Jahren. Und doch - dies ist nicht geschehen, im Gegenteil. Es braucht wohl kaum noch stärkere Beweise um zu erkennen, daß der Geist des Menschen nicht mit Materialismus zu befriedigen ist und daß physische Waffen, wie Folter und Gefängnis, niemals im geistlichen Kampf Sieger bleiben können. 17 Kapitalismus, Kommunismus und Christentum „Ich gebe zu, daß die Kapitalisten uns auf einem Gebiet weit voraus sind - bei Verbrechen.“ Fjodor lehnte sich zurück, blinzelte mir mit seinen tiefliegenden stahlgrauen Augen zu und lachte. „Das bestreite ich nicht“, gab ich zu. „Sie haben hier einen wunden Punkt berührt. Ich würde mich nicht fürchten, nachts durch die Straßen von Leningrad zu gehen, doch ich wäre verrückt, würde ich dies in Los Angeles tun oder in New York oder in hundert anderen amerikanischen Städten.“ „Es gibt keine Morde, keine Überfälle, keine Krawalle und keine Räubereien auf öffentlichen Straßen in Rußland“, brüstete er sich. „Wir erlauben das nicht.“ Dann verzog sich sein Gesicht wieder zu dem fröhlichen Grinsen, und ein etwas schadenfroher Blick trat in seine ausdrucksvollen Augen. „Aber Sie brauchen ja gar nicht so sehr von den Amerikanern zu reden. Kopenhagen, Ihre Heimatstadt, ist die Pornografie-Hauptstadt der Welt. Offensichtlich sind es solche Dinge, die die Menschen in eurem christlichen Land lieben.“ „Ich glaube ja nicht, daß die Christen sich dieses Zeug an-sehen, und Dänemark ist eigentlich gar kein christliches Land. Ich glaube nicht, daß es christliche Länder überhaupt gibt“, antwortete ich vorsichtig und vermied es bewußt, darauf näher einzugehen. Ich wollte nicht, daß Fjodor wußte, daß ich ein Christ war - noch nicht. „Dänemark berauscht sich an Sex“, erklärte ich zustimmend. „Ich schätze es sehr, daß Pornografie in der Sowjetunion verboten ist. Aber die meisten Menschen in Dänemark würden dies auch begrüßen.“ Fjodor arbeitete als englischsprechender Führer für Intourist und hatte uns am Nachmittag auf einer kurzen Tour durch Leningrad begleitet. Wir hatten Gefallen aneinander gefunden und saßen seit dem Abendessen schon zwei Stunden in der Halle des Hotels und diskutierten über die Differenzen zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Er hatte einen scharfen Verstand und viel Sinn für Humor; und dies schätzte ich sehr. Eines der Dinge, die mich bei meinen Reisen durch Osteuropa oft enttäuscht hatten, war, daß es mir nie gelungen war, mit einem echten Kommunisten in eine ernsthafte Diskussion zu kommen. Es ist seltsam, aber echte Kommunisten scheinen in kommunistischen Ländern sehr rar zu sein. Die Revolution sollte für den einfachen Mann gemacht werden, doch 50 Jahre später gehören 90 Prozent der Menschen dort immer noch nicht der Partei an. Und die meisten, die Parteimitglieder sind, scheinen dies nur um der Vorteile willen zu sein und weniger, weil sie als ehrliche Idealisten für die Sache arbeiten wollen, an die sie glauben. Wenigstens jene, die ich getroffen hatte, enttäuschten mich mit der Hohlheit ihrer Argumente. Es ist, als würden sie die marxistischen Lehrsätze nur nachplappern, ohne selbst je darüber nachgedacht zu haben. Oft hatte ich Gott gebeten, mir jemand in den Weg zu führen, der wirklich von den Idealen des Kommunismus überzeugt war, fest an sie glaubte und auch wußte, warum er dies tat. Fjodor war die Erhörung meiner Gebete. Er war ein großartiger Student, der seine Examen an der Moskauer Universität mit Auszeichnung bestanden hatte, und er war auch ein überzeugter Idealist. Also war er genau der Mann, den ich gesucht hatte, der mir die Gründe für seine Hingabe an den Kommunismus erklären konnte und mit dem ich auch über das Reich Gottes diskutieren würde. Doch das letztere zögerte ich absichtlich noch hinaus, denn wenn er in mir einen Christen vermutete, würden seine Vorurteile ihn vielleicht davon abhalten, • auf das zu hören, was ich ihm sagte, und vielleicht würde er sich sogar verpflichtet fühlen, das Gespräch abzubrechen. „Woher wissen Sie so viel von Dänemark?“ fragte ich ihn. „Sie sind doch noch nie dort gewesen, oder?“ „Wir haben Zeitungen und Bücher. Ich habe viel über die wirtschaftlichen Probleme des Westens gelesen. Ich weiß zum Beispiel, daß nur sehr wenige Leute in Dänemark ein Auto besitzen. Nur die Reichen können sich eins leisten.“ „Entschuldigen Sie“, lachte ich. „Ich bin keinesfalls ein reicher Mann, aber ich habe zwei.“ Er schaute mich ungläubig an. „Aber die Arbeiter haben keine Autos.“ „Sicher haben sie. Manche von ihnen sogar zwei, und ein Haus und Wohnwagen oder Segelboot - oder beides, das können sie ans Auto koppeln und fahren damit irgendwohin.“ Zum ersten Mal sah ich einen Schatten von Mißtrauen über sein sonst so offenes Gesicht ziehen. Doch dann lächelte er wieder. „Sie machen sicher einen Scherz?“ „Fjodor, ich erzähle Ihnen nur Tatsachen. Das ist, wie in Westeuropa die Menschen leben. Und in den USA haben viele Familien drei Autos und auch noch einen eigenen Swimmingpool.“ Hartnäckig schüttelte er seinen Kopf. Er war nicht in der Lage, das zu glauben. Ich mußte ihn von meiner Aufrichtigkeit überzeugen, sonst würde eine weitere Diskussion keinen Wert mehr haben. Ich brach das Schweigen wieder. „Auch in euren Büchern und Zeitungen wird nicht immer nur die Wahrheit gesagt.“ „Natürlich wird uns nur die Wahrheit gesagt.“ „Ich weiß, daß es nicht so ist. Sie wissen nicht, was außerhalb Ihres Landes geschieht. Sie erfahren nur das, was der Staat möchte, daß Sie es wissen. Alles, was Sie lesen oder hören, ist vorher zensiert worden.“ „Aber die Zensoren berauben uns nicht der Wahrheit, sondern achten darauf, daß wir sie erfahren. Wir brauchen Zensoren, um uns vor der kapitalistischen Propaganda und den dummen Ideen der Reaktionäre zu schützen.“ „In Dänemark haben wir keine Zensoren. Und warum sollten Sie in Ihrem Lande welche brauchen? Wovor haben die Sowjets Angst, wenn nicht vor der Wahrheit?“ Fjodor lehnte sich vor und senkte seine Stimme. „Sie glauben vielleicht, Rußland sei ein kommunistisches Land - aber das stimmt nicht. Wir haben bis jetzt nur den Sozialismus erreicht. Die meisten Menschen bei uns glauben auch heute noch nicht an den Kommunismus. Deshalb müssen sie noch erzogen werden. Um dies zu erreichen, muß der Staat kontrollieren, was der einzelne lesen kann.“ „Aber hat der Staat denn immer recht? Wer entscheidet dies? Sie erlauben kein Abweichen von der offiziellen Meinung. Männer wie Solschenitzyn zum Beispiel können das, was sie schreiben, in Ihrem Lande nicht veröffentlichen.“ „Diese Leute sind Konterrevolutionäre und Verräter. Kein Individuum hat das Recht, unabhängig zu denken, denn wir müssen zusammenstehen. Die Zensoren achten darauf, daß bei uns Einigkeit herrscht. Aber wenn wir erst ein wirklich kommunistisches Land geworden sind, brauchen wir keine Zensoren mehr, denn dann wird jeder an unsere Sache glauben.“ „Also ist der Kommunismus doch eine Religion, etwas, was man ,glaubt'?“ Er runzelte die Stirn und dachte darüber nach. „Natürlich ist es keine Religion, das ist ja absurd. Ich überlege gerade, wie ich es in Englisch richtig sagen kann. Ich würde es Glaube nennen. Ich glaube an den Kommunismus, und die Geschichte wird beweisen, daß wir recht haben. Wir befinden uns in dem ganz eindeutig ablaufenden Schicksalsstrom; das ist unausweichlich.“ „Ich weiß, daß Marx und Engels daran glaubten, daß der Sozialismus unaufhaltsam kommen müsse, etwa so, als sei er vorherbestimmt. Lenin glaubte das auch. Er wollte allerdings dieser Bestimmung noch etwas nachhelfen. Doch wie kann es für die Menschheit eine unausweichliche Bestimmung geben? Und warum sollte es eine geben?“ Fjodor zuckte die Achseln. „Es ist einfach so, genau wie die Weiterentwicklung der Tiere. Der Mensch ist schon eine höhere Art, ein soziales Tier sozusagen, aber auch er entwickelt sich immer noch.“ „Aber in einer vorausbestimmten Richtung - auf ein ganz bestimmtes Schicksal hin? Gibt es etwa einen ,Geist' in der Geschichte, der, wie die Animisten glauben, irgendwo in Bäumen, Felsen oder der Sonne lebt?“ Wieder zuckte er mit den Achseln. „Wie bei so vielen Dingen mag es auch hier keine Antwort geben. Sehen Sie zum Beispiel das Universum. Es ist einfach da. Niemand kann es erklären.“ Fjodor war ehrlich und bereit, seine Zweifel zuzugeben. Ich achtete ihn dafür und hätte gern gesagt: „Es gibt ohne Gott wirklich keine Erklärung.“ Aber es war noch zu früh dafür. Ich mußte noch warten. „Ihr Kapitalisten sterbt aus“, sagte er, als ich schwieg. „Schauen Sie sich in der Welt um. Der fortschrittliche Sozialismus gewinnt überall die Oberhand, und Sie können diese Entwicklung nicht aufhalten. Dies ist der Beweis dafür.“ „Aber Sie haben ja auch Ihre eigenen Probleme“, gab ich zurück. „Es ist ja gar nicht alles so rosig mit den Sozialisten. Zwischen Marx und Lenins Ansichten gibt es Meinungsverschiedenheiten - wie heute zwischen Rußland und China. Und Sie haben in Ihrem Land ein großes Alkoholproblem. Gewiß, es gibt keine Drogen und kaum Prostitution, aber Alkoholiker in Massen.“ „Das ist wahr“, gab er offen zu. „Aber wir haben auch unser Ziel noch nicht erreicht. Wenn wir es einmal erreicht haben, wird die Trunksucht verschwinden; sie wird dann nicht mehr nötig sein; genau wie die Religion. Es gibt jetzt noch Menschen, die den Alkohol brauchen, um mit ihren Problemen fertig zu werden, aber wenn wir auf der Welt erst einmal den wahrhaft kommunistischen Zustand erreicht haben, brauchen sie ihn nicht mehr.“ „Ich will offen sein, Fjodor. Wir Besucher sehen in Rußland viele Dinge, die uns nicht gefallen.“ „Welche?“ „Den Eisernen Vorhang. Die Beschränkungen in diesem Land, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt. Die genaue Kontrolle über alles, einschließlich der Gedanken. Es ist, als käme man in ein Gefängnis. Sie zerstören jeden privaten Unternehmungsgeist und Wettbewerb. Die Verkäufer in den Geschäften sind unhöflich, da es ihnen gleichgültig ist, ob der Kunde etwas kauft oder nicht. Gehen Sie einmal im Westen in ein Geschäft. Man wird Sie dort höflich bedienen und Ihnen helfen, weil man Ihnen etwas verkaufen will . . . aber hier?!“ Ich hob meine Hände empor. „Es kommt mir manchmal vor, als würde ich die Verkäufer beleidigen, wenn ich darum bitte, mir zu zeigen, was sie zu verkaufen haben.“ Er lachte. „Oh, ich ärgere mich darüber auch. Aber hier liegt gerade einer der Unterschiede zwischen unseren Systemen. Der Kapitalismus versucht, den Menschen etwas zu verkaufen, was diese gar nicht brauchen. Aber warum sollten wir das tun? Wenn man etwas braucht, dann kauft man es. Jedes Geschäft ist wie das andere. Sie sind alle im Besitz des Staates, so wie es auch sein sollte. Alle bekommen ihre Waren von derselben im Staatsbesitz befindlichen Fabrik. Deshalb gibt es auch keine Konkurrenz und für die Verkäufer in einem Geschäft keinen Grund, Sie dazu zu bekommen, etwas von ihnen zu kaufen.“ „Genau das ist es. Es ist ihnen gleichgültig, und man kann es sehen. Sie könnten wenigstens höflich und menschlich sein. Aber man sieht dann nur steinerne Gesichter.“ „Aber ihr Kapitalisten gebt vor, höflich zu sein, nur um eure Waren zu verkaufen. Euch sind die Menschen gleichgültig - ihr wollt nur das Geld der Leute.“ „Vielleicht ist auf beiden Seiten etwas Wahres daran“, räumte ich ein und schwieg wieder, während ich darüber nachdachte, wie schwierig es ist, über eine Sache zu reden, wenn keiner des anderen Standpunkt verstehen kann. Fjodor jedoch schien unsere Unterhaltung großen Spaß zu machen. „Schauen Sie, was wir seit der Revolution in diesem Land geschafft haben“, sagte er voller Stolz. „Unter dem Zaren besaßen die Menschen nichts.“ „Sie haben auch jetzt noch nicht viel mehr“, sagte ich offen. „Mindestens nicht im Vergleich zu den kapitalistischen Ländern.“ „Lassen Sie uns Zeit. Bald wird es keinen Kapitalismus mehr geben, und die Menschen werden dann auch keine Steuern mehr zu bezahlen brauchen. Ich denke, darüber werden dann auch Sie sich freuen ... ja?“ „Sie glauben, Sie bezahlen keine Einkommensteuer in Rußland?“ „Ich weiß es.“ „Aber ich weiß, daß Sie Steuern bezahlen. Jeder hier arbeitet für den Staat. Und der Staat nimmt die Steuern vom Lohn weg, ehe er die Lohnhöhe festsetzt. Die Löhne sind im Vergleich zu anderen industriealisierten Staaten bei Ihnen sehr niedrig. Und bei allem, was der Staat Ihnen verkauft, macht er einen großen Gewinn. Fast alle Preise in Ihren Geschäften sind viel zu hoch, und die Qualität der Waren ist sehr schlecht. Auf diese Weise zahlen Sie Ihre Steuern, und zwar sehr hohe.“ Jetzt schaute er nicht gerade glücklich drein. „Sie mögen es vielleicht so sehen, aber ich bezahle trotzdem keine Steuern.“ „Na gut. Glauben Sie, was Sie glauben wollen. Ich möchte Sie etwas anderes fragen. Ich habe bei Ihnen oft Bilder gesehen, auf denen Menschen vor irgendwelchen Fabriken abgebildet sind, und konnte mit diesen Bildern nichts anfangen. Wer sind diese Leute?“ „Das sind die besten Arbeiter dort. Es ist für sie eine große Ehre. Ich würde mir wünschen, eines Tages auf so einem Bild vor einer Fabrik zu sehen zu sein.“ „Es ist wenigstens viel billiger als den Lohn zu erhöhen“, dachte ich. Laut aber sagte ich: „Ist das der Lohn dafür, daß sie mehr gearbeitet haben als die anderen?“ „Kein Lohn . . .“, sagte er stirnrunzelnd und dachte einen Augenblick nach. „Ich weiß nicht recht, wie ich es auf Englisch erklären soll. Aber es ist jedenfalls eine große Ehre. Wir betrügen die Arbeiter hier nicht, wie es bei Ihnen im Westen geschieht, wo die Reichen die Massen ausbeuten und von Zeit zu Zeit zur Beruhigung der Unzufriedenen den Lohn erhöhen, während sie selbst Milliarden scheffeln. Ein guter Kommunist arbeitet, um damit dem Staat zu dienen - dem Gemeinwohl -und nicht, um für sich selbst höheren Lohn zu bekommen. Ich glaube an den Kommunismus und möchte mein Leben geben, um dem sozialen Fortschritt in der Welt zum Sieg zu verhelfen.“ „Fjodor, Sie sind ein Idealist, und ich achte Sie dafür sehr hoch. Aber wie viele Leute bei Ihnen denken wie Sie?“ „Es ist wahr, daß viele Leute immer noch bürgerliche Ideen haben. Aber das wird sich durch immer bessere Bildung und Belehrung ändern, sie wissen es jetzt noch nicht besser. Deshalb gibt es bei uns immer noch Beschränkungen. Ihr Kapitalisten sagt dafür .Eiserner Vorhang“. Wir bauen unsere Gesellschaft auf einer Ideologie auf und müssen deshalb die Menschen bei uns vor falschen Ideen schützen. Aber eines Tages werden diese .Vorhänge“ und Grenzen nicht mehr nötig sein.“ „Wann wird das sein?“ „In fünfzig Jahren haben wir die halbe Welt erobert. Gebt uns noch einmal fünfzig, und wir werden die andere Hälfte auch noch besiegt haben - vielleicht auch schon vorher - und dann wird die Welt ein Paradies werden.“ Ich konnte nicht anders, ich mußte über dieses Wort lächeln. „Paradies? - Wie kommt es, daß ein Atheist einen religiösen Begriff gebraucht?“ Fjodor lachte kurz. „Nennen Sie es, wie Sie wollen - Sie wissen aber, was ich meine.“ „Aber es ist doch interessant für mich“, sagte ich betont, „daß Sie, um Ihre vollkommene Gesellschaft zu beschreiben, ein religiöses Wort gebrauchen. Ein Wort, das so viel bedeutet wie ,Himmel1.“ Er lachte wieder und zuckte mit den Schultern. „Auch Wörter haben ihre Geschichte, und dieses hier kommt nun einmal aus der Religion. Aber es ist ein Wort, das jeder versteht.“ Ich lehnte mich vor und sah ihm direkt ins Gesicht. „Fjodor“, sagte ich in ernstem Ton, „ich will Ihnen etwas sagen: Sie werden die Welt nie erobern.“ „Sicher werden wir. Die Geschichte ist auf unserer Seite.“ „Nein, Sie werden sie nicht erobern, und ich kann Ihnen auch sagen warum.“ „Warum?“ „Weil niemand gut genug ist, um den hohen Idealen des Kommunismus gerecht zu werden. Weil niemand immer alles, was er hat, gleichmäßig mit anderen teilt und immer nur für den Nutzen der Gesellschaft arbeitet anstatt aus selbstsüchtigen Gründen.“ Die Zuversicht in seinem Gesicht machte der Nachdenklichkeit Raum. „Sie haben recht“, sagte er endlich mit einem Seufzer. „Wir sind nicht gut genug. Ich bin nicht gut genug. Ich versuche es, aber es gelingt mir nicht.“ Ich fühlte eine große Liebe für Fjodor. Er war ein Idealist und war bereit, für das Wohl des Staates zu arbeiten, ohne an sich selbst zu denken. Aber er war auch ehrlich - ehrlich genug, um zuzugeben, daß er selbst nicht in der Lage war, nach seinen Idealen zu leben. Mit ernstem Gesichtsausdruck nickte er. „Ich habe auch schon darüber nachgedacht - und Sie haben recht. Hier liegt wirklich das Problem: Wir sind nicht gut genug. Wären wir gut genug, hätten wir schon gesiegt.“ „Ich kenne die Antwort, Fjodor; die Lösung des Problems.“ „Sie kennen sie? Was ist es?“ „Gott sandte Seinen Sohn Jesus Christus, der für unsere Sünden starb. Wenn wir Ihn in unser Leben aufnehmen, macht Er einen neuen Menschen aus uns.“ Fjodor saß auf einmal kerzengerade und schaute mich mit offenem Mund erstaunt an! „Sie sind ein Christ!“ sagte er fast flüsternd. „Ich hätte nie gedacht, daß Christen so intelligent sein können.“ „Vielen Dank“, sagte ich verlegen lachend. „Aber ein Mensch muß nicht sehr klug sein, um zu erkennen, daß in ihm etwas nicht in Ordnung ist und daß er selbst keine Kraft hat, dies zu ändern. Jeder Mensch weiß über sich selbst Bescheid.“ An der Art, mit der er mich anschaute, sah ich seine Erschütterung. „Gebildete Menschen, wie Sie, sind in Dänemark wirklich Christen?“ fragte er endlich. „In Rußland glaubt doch niemand an Gott. Unsere Wissenschaftler . . .“ „Das ist nicht die Wahrheit“, unterbrach ich ihn. „Ihr eigenes Ministerium für Religion gibt zu, daß heute mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Rußlands an Gott glauben.“ „Nein, das ist nicht möglich.“ „Ich gebe nur die Zahl wieder, die Ihr eigenes Ministerium für Religion selbst bestätigt.“ „Aber wo sind diese Leute? Fast alle Kirchen sind geschlossen? Außer ein paar alten Frauen geht doch da niemand mehr hin.“ „Das ist nicht wahr, Fjodor. Ihre Regierung schließt zwar die Kirchen, aber die Gemeinden versammeln sich weiter im Geheimen. Gestern abend traf ich eine ganze Anzahl junger Leute, die sich in einem Flaus, nicht weit von hier, versammelt hatten, um die Bibel zu studieren und zu beten.“ Fjodor gab sich keine Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. „Junge Leute? Sagen Sie mir auch die Wahrheit? Warum begegne ich denn niemals welchen?“ „Weil es ihnen verboten ist, mit irgend jemand über Gott zu reden. Man hat sie gezwungen, in den Untergrund zu gehen, verfolgt sie und steckt sie ins Gefängnis. Aber sie halten trotzdem am Glauben fest.“ „Sie werden nicht verfolgt“, sagte er ungehalten. „Wir haben Religionsfreiheit, sie ist in unserer Verfassung garantiert. Wenn sie den Gesetzen gehorchten, hätten sie keine Schwierigkeiten.“ „Kennen Sie die Gesetze? Und vor allem auch die Verordnungen? Was Sie ,Religionsfreiheit“ nennen, gibt diesen Leuten die Erlaubnis, einige Stunden in der Woche in ihrer Kirche Christ zu sein, es verbietet ihnen aber für die ganze andere Zeit, ihr Christentum irgendwo zu zeigen. Sie dürfen weder daheim noch in der Fabrik und schon gar nicht in der Öffentlichkeit von Gott reden; ja, sie dürfen noch nicht einmal auf der Straße ihre Bibel offen tragen.“ „Natürlich! Das wäre ja religiöse Propaganda. So etwas können wir in einem atheistischen Staat nicht erlauben.“ „Aber ist das gerecht? Ist es wenigstens menschlich?“ „Warum nicht?“ „Sie haben niemals etwas von den Argumenten und Fragen von Aida Skripnikowa gehört. Sie ist ein junges Mädchen und Christin und wohnt auch hier in Leningrad. Ihre Zeitungen würden das, was sie sagt, nicht drucken. Aber sie stellt folgende Frage: ,Würden Sie zufrieden sein, über das Theater nur im Theater zu sprechen, oder über den Sport nur im Stadion? Warum darf ein Christ dann nur in seiner Kirche über Gott reden? Sie können mit ihren Freunden jederzeit Zusammenkommen und über alles sprechen, was Ihnen beliebt, aber ein Christ bricht das Gesetz, wenn er seinen Freund besucht und sich mit ihm über Jesus unterhält, obwohl dieser doch der Herr seines Lebens geworden ist. Ist das gerecht?““ Fjodor sah mich ernst und nachdenklich an. In seinem Inneren schien ein Kampf vor sich zu gehen. Ich war sicher, daß sein Gerechtigkeitssinn die Wahrheit in Aidas Frage erkannte. „Aber der Atheismus ist die Grundlage für Sozialismus und Kommunismus“, sagte er. „Wir können nicht erlauben, daß das, was wir erreichen wollen, durch Mythen zerstört wird.“ „Welche Mythen?“ „Nun, den Glauben an Gott und an Wunder.“ „Sie glauben doch auch an Wunder, und zwar an größere Wunder als alle Christen“, sagte ich ruhig. „Alle Atheisten tun das.“ „Wie meinen Sie das?“ „Fjodor, Sie glauben, daß alles, was existiert, das gesamte Universum, aus nichts entstanden ist. So ist es doch? Nun, das ist ein größeres Wunder als alle Wunder von denen die Bibel redet.“ Jetzt lächelte er, sagte aber nichts. Deshalb fuhr ich fort: „Sie glauben, daß Leben und Intelligenz sich ohne Mithilfe oder Steuerung von irgendwo durch bloßen Zufall aus totem und leerem Raum entwickelt haben. Das ist ein viel größeres Wunder als alles, woran ich glaube.“ Fjodor lachte gutmütig und sagte: „Vielleicht haben Sie in diesem Punkt nicht ganz Unrecht.“ „Ist es denn nicht das, woran ein Atheist glaubt?“ „Jedenfalls glauben wir ganz bestimmt nicht an einen ,Schöpfer1.“ „Haben Sie irgendeinen wissenschaftlichen Beweis, daß alles aus dem Nichts und dann auch noch durch Zufall entstanden ist, ohne Beeinflussung von irgendeiner Intelligenz? Ich frage noch nicht einmal, ob dieser Gedanke vernünftig ist, denn er ist es ganz offensichtlich nicht. Aber hat man irgend etwas in einem Laboratorium oder bei anderen wissenschaftlichen Versuchen beobachtet, was dieser Ansicht wenigstens etwas Gewicht verleihen könnte? Steht sie nicht vielmehr im Gegensatz zu allen Naturgesetzen, die wir entdeckt haben?“ Er lächelte jetzt verlegen, gab aber immer noch keine Antwort. „Es sind wirklich phantastische Wunder, an die ihr Atheisten glaubt. Deshalb sollten Sie nicht auf einen Christen herabsehen, wenn er an Wunder glaubt. Und wie wollen Sie Ihre Wunder erklären? Die große Begründung ist: Zufall! Es muß nur genug Zeit da sein, dann wird aus ,nichts“ nachher ,alles1, und zwar ganz durch Zufall. Schauen Sie, die Wunder, an die ich glaube, wurden von einem allmächtigen Gott getan, der unendliche Weisheit und Liebe besitzt. Es gibt eine Bestimmung und einen Sinn für die Menschheit, denn Gott hat einen Plan mit allen, die Ihm vertrauen und gehorchen wollen. Das ist viel leichter zu glauben und auch eine viel bessere Erklärung als all das, was Sie glauben.“ „Ich kann gegen Ihre Logik nichts einwenden“, gab Fjodor offen zu. „Ich habe die Dinge noch nie so betrachtet. Doch ich glaube, daß auch der Atheismus einige große Wunder durchaus anerkennt, wenn Sie damit die Dinge meinen, die wissenschaftlich nicht erklärbar sind. Ich war jedoch bisher überzeugt davon, daß die Wissenschaft Gott überflüssig gemacht hat, weil sie alles ohne Ihn erklären konnte.“ „Sie wissen aber auch, daß dies nicht wahr ist. Die moderne Wissenschaft ist der Erklärung der eigentlichen Wahrheiten des Universums noch nicht näher als die Alchimisten des Mittelalters. Sicher, wir haben mittlerweile viel gelernt und erforscht, aber die Menge der Fragen um die Dinge, die wir nicht wissen, wächst schneller, als unser Wissen wächst. Einstein sagt: Je mehr die Wissenschaft entdeckt, um so mehr sind wir gezwungen, an Gott zu glauben.“ „Aber die Religion ist so wenig realistisch. Die Bibel sagt, daß der Mensch kein Brot zum Leben braucht. Der Kommunismus dagegen erklärt, daß Brot die Hauptsache ist.“ „Hier hat man Sie ja schon wieder falsch informiert“, gab ich ernst zurück. „Die Bibel sagt ja in Wirklichkeit, daß der Mensch Brot nötig hat. Jesus sagt vielmehr, der Mensch kann nicht von Brot allein leben, da er mehr ist als ein Klumpen Protein-Moleküle mit Nerven. Der Mensch ist auch ein geistiges Wesen, was daran zu erkennen ist, daß wir Schönheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe und andere Dinge hoch schätzen, obwohl nichts von ihnen durch die in menschlichen Körperzellen ablaufenden chemischen Reaktionen oder durch den sogenannten natürlichen Auswahlprozeß des jeweils Tüchtigeren erklärt werden kann. Der geistige Teil des Menschen ist vorhanden, weil Gott uns nach Seinem Bilde geschaffen hat. Deshalb konnte Gott selbst Mensch werden - und dieser Mensch war Jesus. So trat Gott in die menschliche Geschichte, um sich selbst zu offenbaren.“ Fjodor saß einige Minuten schweigend und tief in Gedanken versunken. Dann sagte er: „Mir erscheint am wichtigsten, daß ich nicht gut genug bin, um die hohen Ideale des Kommunismus auszuleben, und ich bin interessiert daran, hier eine Lösung zu finden. Sie sagen, Jesus ist Gott, der Mensch wurde und auf die Erde kam, um dieses Problem für uns zu lösen. Wie kann ich denn überhaupt wissen, daß Jesus wirklich existiert hat?“ Ich erklärte ihm, daß es für die Tatsache, daß Jesus wirklich gelebt hat, mehr gute geschichtliche Gründe gibt, als für die Existenz der meisten anderen historischen Persönlichkeiten des Altertums. Und der Beweis der Auferstehung Jesu ist in der Tatsache zu sehen, daß Millionen von heute lebenden Menschen Ihn als ihren persönlichen Erlöser kennenlernten. Ich erzählte ihm, wie Jesus mein eigenes Leben verwandelt hatte und sagte: „Der einzige Weg, um die Gesellschaft wirklich zu verändern, ist der, daß die Menschen erneuert werden.“ Ich erklärte ihm, daß der Kommunismus dem Menschen zwar einen neuen Anzug anziehen kann, daß aber Jesus den Menschen in diesem Anzug neu macht, wenn der Ihm das Leben öffnet. Fjodor wiederholte nochmals, daß ihm schon lange klar geworden sei, daß das eigentliche Problem im Menschen selbst liege und daß er zuerst geglaubt habe, daß es sich dadurch lösen ließe, daß man bereit und entschlossen ist, nach den kommunistischen Idealen zu leben. In Augenblicken der Ehrlichkeit mußte er sich jedoch selbst zugeben, daß weder ihm noch anderen dies gelang. Doch dann hatte er diese Zweifel jedesmal unter neuen guten Vorsätzen begraben. Wir unterhielten uns bis nach Mitternacht und Fjodor bat mich, für ihn zu beten. Nachdem wir zusammen gebetet hatten, nahm er ein Neues Testament an und versprach, er wolle es lesen. Das war ein großer Schritt. Er traf an diesem Abend keine „Entscheidung“ in der Weise, wie wir es bei uns im Westen gewöhnlich erwarten, doch ich bin zuversichtlich, daß Fjodor sich von seinem Atheismus abwandte und begann, an Gott zu glauben. Ich bin auch sicher, daß ihm klar wurde, daß er Christus braucht und daß er an jenem Abend den ersten Schritt dazu tat, Sein Nachfolger zu werden. Gottes Wort hat sicherlich weiter an ihm gearbeitet. Eines Tages hoffe ich Fjodor im „Paradies“ wiederzusehen. 18 Revolution der Liebe „Hans, du machst Scherze“, sagte Rene und schaute mich skeptisch an. „Du willst uns erzählen, daß die Russen eine Delegation nach Schweden gesandt haben, um dort Erfahrungen zu sammeln, wie man am besten die christliche Kirche zerstört? Und wir sollen das glauben?“ Wir saßen zu fünft beisammen - Rene, Johny Noer, Leon Have, Johannes Facius und ich - und diskutierten darüber, was wir gegen den immer schlimmer werdenden Verfall der Moral in Dänemark tun konnten. „Doch, es stimmt“, antwortete ich. „Das sowjetische Ministerium für Religion war so beeindruckt vom Niedergang des Christentums in Schweden, daß es eine Gruppe von antireligiösen Experten nach dort schickte, die das Geheimnis herausfinden sollen, das verantwortlich ist für diesen schwedischen Religionsverfall.“ „Man sollte so etwas wirklich nicht glauben“, entfuhr es Johny. „Was haben sie denn entdeckt?“ „Das weiß ich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, daß das, was sie in Schweden an Gründen entdeckten - hoher Lebensstandard, das große Angebot an Vergnügungen, freizügiger Sex und Pornografie -, nicht gerade das ist, was sie in Rußland einführen möchten. Sie werden wohl bei ihren eigenen Methoden bleiben.“ Es begann eine, für längere Zeit andauernde, lebhafte Unterhaltung, die immer wieder zu der erstaunlichen Tatsache zu- rückkehrte, daß die Kirchen in Westeuropa, trotz der Freiheit für Gottesdienst und Evangelisation zu jeder Zeit und an jedem Ort, viel schwächer zu sein schienen als die verfolgten Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang. „In Rußland predigen die Kommunisten den Materialismus“, sagte ich, „aber die Christen bei uns leben ihn aus. Hier im Westen wird Christus gepredigt, aber die Gläubigen im Osten leben nach Seinem Vorbild.“ „Weißt du, was mir wirklich Sorge macht?“ fragte Rene. „Die Kommunisten haben eigentlich keinen moralischen Halt, denn sie glauben nicht an Gott. Aber sie haben genug Verstand, um die Degeneration zurückzuweisen, die im Westen um sich greift. Es gibt in diesen atheistischen Ländern kaum Prostitution, keine Drogen, keine Pornografie und keine Sex-Verherrlichung, aber in unserem angeblich christlichen Dänemark, in dem 90 Prozent der Bevölkerung irgendeiner Kirche angehören, sind wir so dekadent geworden, daß wir jede Art von Unmoral und Perversion erlauben und auch noch gesetzlich schützen.“ Diese Feststellung gab einen neuen Anstoß zu weiterer Diskussion. Hatte die Bibel nicht vorausgesagt, daß die überhandnehmende Bosheit ein Zeichen der baldigen Wiederkunft Jesu Christi sein würde? Also trugen die Christen doch auch keine Verantwortung für diese unmoralische Lebensweise, die alles erlaubte und unserer Generation zur Gewohnheit geworden zu sein schien. Sollten wir nicht einfach „Christus predigen“? Solcher Art Fragen besprachen wir in allen Einzelheiten, besonders im Blick auf das kürzlich in Dänemark erlassene Gesetz, das die Pornografie legalisierte. Endlich kamen wir zu dem Schluß, daß wir mehr zu tun hätten als nur darüber zu reden und dafür zu beten. Wir als Christen trugen Verantwortung und mußten etwas unternehmen. Aber was? „Johannes der Täufer sagte es öffentlich, daß Herodes gegen Gott sündigte, als er die Frau seines Bruders nahm“, sagte ich. „Auch unsere Generation muß gesagt bekommen, daß Pornografie, freizügiger Sex, Drogenmißbrauch und Homosexualität nicht nur ein Ärgernis für einige engstirnige Mucker sind, sondern, genau wie einst in Sodom und Gomorra, ein Greuel in den Augen Gottes. Wir müssen den Mut haben, für die Gerech- tigkeit Gottes auf die Barrikaden zu gehen. Die Frage ist nur, ob man uns zuhören wird.“ „Wir müssen versuchen, die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen“, rief Rene. „Das ist richtig“, stimmte Johny zu, „und wir dürfen uns dann auch nicht vor den Konsequenzen fürchten. Herodes warf Johannes ins Gefängnis und ließ ihm dann auch noch den Kopf abschlagen. Die Christen in den kommunistischen Ländern werden eingesperrt und sogar um ihres Glaubens willen getötet. Ich denke, wir müssen uns schämen, weil uns niemand unseres christlichen Zeugnisses wegen verfolgt.“ Rene und ich schauten uns an. Das war ein Punkt, über den wir beide schon oft gesprochen hatten. Wir waren zu dem Schluß gekommen, daß wir deshalb keine Schwierigkeiten hatten, weil Satan schlafende Hunde weiterschlafen läßt. Wir machten unserem Feind, dem Satan, offensichtlich keine Sorgen, also kümmerte er sich auch nicht weiter um uns. Johny geriet immer mehr in Feuer. „Die Art, in der die Pornografie die von Gott beabsichtigte Schönheit und Würde von Liebe und Sexualität verfälscht und vergiftet, ist schrecklich und erniedrigt den Menschen. Wir müssen etwas gegen die Pornogeschäfte unternehmen.“ „Die Idee ist gut“, sagte Johannes, der mit einem ruhigeren Temperament ausgestattet war als wir anderen, „aber was können wir tun?“ „Vielleicht sollten wir nachts ihre Schaufenster zukleben“, schlug ich vor, „damit niemand mehr hineinschauen kann.“ „Was würde das nützen?“ meinte Leon trocken. „Die reißen das Papier wieder herunter, und wir haben nur Ärger, obwohl wir nichts damit erreicht haben. Wir schaffen ihnen im Gegenteil damit sogar noch unnütze Puplizität. Ich meine, es sollte nicht einfach nur leeres Papier sein.“ „Schlagworte!“ rief einer. „Wir müssen Bibelworte auf das Papier drucken!“ schlug ein anderer vor. Wir lachten begeistert, da die Idee uns allen gefiel. „Stellt euch ein Pornogeschäft vor, das mit Bibelversen beklebt ist!“ Aufgeregt sprachen wir alle durcheinander. „Wir müssen auch mit irgendeinem Namen unterschreiben.“ „Warum?“ „Damit die Leute wissen, wer das getan hat.“ „Wir wollen ja gar kein Lob für uns selbst ernten.“ „Das stimmt, aber jeder sollte wissen, daß Christen dies getan haben. Wie wäre es, wenn wir die Plakate mit Junge Christen* unterzeichnen?“ Auf diese Weise wurden „Die Jungen Christen“ gegründet. Uns trieb die Entschlossenheit, ganz Dänemark wissen zu lassen, daß der Verfall der Moral für den Gott, der uns alle geschaffen hat, ein Ärgernis ist. Deshalb nahmen wir Verbindung mit allen gleichfalls besorgten jungen Christen in den Städten und Dörfern unseres Landes auf und formten so in aller Stille eine „Armee“. Dann kam jener unvergeßliche Tag, an dem um 3 Uhr morgens diese Armee in ganz Dänemark zum Angriff überging - mit Plakaten, Leim und Gebet! Mit militärischer Präzision befolgten die jungen Leute den abgesprochenen Plan. Überall in Dänemark, wo es Pornogeschäfte gab, beklebten Gruppen junger Christen zur gleichen Zeit die Schaufenster mit zu diesem Zweck hergestellten Plakaten. „Liebe ist rein“, konnte man in großen Buchstaben lesen, und darunter „Die Jungen Christen“. Allein in Kopenhagen wurden ungefähr 50 Geschäfte beklebt, und so geschah es im ganzen Land. Einige der Gruppen wurden auf der Stelle festgenommen und gezwungen, die Plakate wieder abzureißen. Doch dann erschienen plötzlich andere junge Leute in den verlassenen Straßen und beklebten die Schaufenster neu. Gegen 5 Uhr morgens wurde überall bei den Zeitungen angerufen und mitgeteilt, was wir getan hatten. Als Dänemark an diesem Morgen erwachte, war in vielen Tageszeitungen schon zu lesen, daß „Die Jungen Christen“ die Pornogeschäfte im ganzen Land angegriffen hatten. Sicher -die Pornogeschäfte fuhren fort, ihren Schmutz anzubieten und unter die Leute zu bringen, aber wir hatten unsere Überzeugung vor der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht, und viele Leute begannen über den moralischen Verfall unserer Gesellschaft nachzudenken. Andere Demonstrationen folgten. Es war für uns Christen in Dänemark eine uns selbst begeisternde neue Methode, unsere Stimmen in der Öffentlichkeit hörbar zu machen, mit dem Versuch, das öffentliche Gewissen aufzuwecken. Immer wieder gelang es mir, trotz meiner vielen anderweitigen Verpflichtungen, Zeit zu finden, mich aktiv an den Unternehmungen der „Jungen Christen“ zu beteiligen. Unsere Mission war ja an ganz Europa interessiert und nicht nur an den kommunistischen Ländern. Sonja und die anderen Flüchtlinge lebten jetzt in Schweden. Sie arbeiteten für eine Mission, die hinter dem Eisernen Vorhang tätig war. Die Neuigkeit über ihre erstaunliche Flucht hatte sich herumgesprochen. Wenn ich jetzt auf Vortragsreisen war und überall um Gebetshilfe und finanzielle Unterstützung für unsere verfolgten Brüder hinter dem Eisernen Vorhang bat, wurde ich oft von Menschen angesprochen, die mich baten, auch ihre Verwandten aus Ländern hinter verschlossenen Grenzen herauszuholen. „Aber ich bin nicht in der Lage, jemand über irgendeine verschlossene Grenze zu bringen“, gab ich jedesmal zur Antwort. „Sie haben es doch einmal getan und könnten es wieder tun“, wurde mir gesagt. „Würden Sie die ganze Geschichte kennen“, erwiderte ich immer und immer wieder, „dann wüßten Sie auch, daß ich alles nur verpfuscht habe. Gott war es, der uns alle sicher herausgebracht hat. Es war eine einmalige Situation. Ich glaube nicht, daß Er mich je wieder mit so einer Aufgabe beauftragen wird; und ich würde und könnte es nicht tun, es sei denn, Gott sagt es mir ausdrücklich.“ Es wurde mir immer mehr bewußt, welche Aufgabe uns in dem Kampf, den Gott und der Satan um die Herzen der Menschen führen, zukommt, und daß wir einfach Gottes Aufträge zu erfüllen und zu gehorchen haben. Manchmal staunte ich über die Macht und Klugheit des Satans: In einem Teil der Welt inspiriert er einen eisenharten Atheismus dazu, mit Unterdrückung gewaltsam zu versuchen das Christentum zu vernichten, während er zur gleichen Zeit in anderen Teilen im Namen angeblicher „Freiheit“ versuchte, durch eine Flut von Schmutz, Unmoral usw. den Geist der Menschheit zu vergiften. Doch noch mehr staunte ich darüber, wie Gott gerade diese Methoden des Feindes immer wieder benutzte, um dadurch die Heuchelei einer satten, innerlich hohlen, faulen und falschen Christenheit ins Licht zu rücken und alle die zu erschüttern, deren Leben nicht auf festem Grund gebaut war, während er gleichzeitig den echten Glauben dadurch stärkte. Ich begann, Gottes Wirken hinter der Bühne des Weltgeschehens zu entdecken, wo ich es bisher nie vermutet hatte. Er bringt auf diese Weise den Ablauf der Geschichte zu dem vorausgesagten prophetischen Höhepunkt. In mir wuchs ein ganz neues Verantwortungsgefühl, allen Menschen und ihren Führern zu sagen, daß diese Erde Gott gehört, der sie geschaffen hat, und daß eines Tages - und zwar bald - Sein Sohn Jesus Christus zurückkommen wird. Diesmal würde Er nicht in Niedrigkeit kommen, um sich der Verachtung und Kreuzigung auszusetzen, sondern um in Gerechtigkeit und Macht zu regieren. Zeit wäre es wirklich für jeden, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten. Rene und ich unterhielten uns oft darüber, daß es dem Satan erstaunlicherweise gelang, im Osten wie im Westen, zwar mit verschiedenen Methoden, doch dasselbe zu erreichen. Die Methoden waren genau entgegengesetzt: Unterdrückung auf der einen - Freiheit auf der anderen Seite. Aber das Resultat war das gleiche. In Rußland wurden die Christen auf ihre Kirchen und Kapellen beschränkt, in denen sie wenige Stunden in der Woche Zusammenkommen durften, alles andere war ihnen durch Gesetze und Verordnungen verboten. In Dänemark beschränkten sich die christlichen Aktivitäten im allgemeinen auch auf die kirchlichen Einrichtungen und auf wenige Stunden in der Woche, aber hier aus freiwilligem Entschluß. Wir konnten uns dieser unterdrückten Christen wegen, die so wenig Freiheit hatten, Sorgen machen und Mitgefühl zeigen, und dann unser eigenes Christentum ganz freiwillig auf die gleichen unvernünftigen Forderungen dieser Gesetze beschränken. Unsere Presse und unsere Politiker rühmen sich, daß Dänemark zur „freien Welt“ gehört, und nur sehr wenige Menschen merken, daß wir Sklaven der Sünde und Sinnlichkeit sind. Ich war schon lange davon überzeugt, daß ich für Christus zu leben hatte, doch mir wurde immer klarer, daß dazu nicht nur ein stiller Lebenswandel in den christlichen Tugenden gehörte. Christus hatte die Pharisäer und andere christliche Heuchler öffentlich gebrandmarkt; Er war in den Tempel gegangen und hatte dort die hinausgetrieben, die das Haus des Gebets zu ihrem eigenen Nutzen mißbrauchten. Er war an jenem Tag an der Spitze eines Zuges in den Tempel geritten, den man in unseren Tagen eine Demonstration nennen würde. Tausende hatten an den Straßen gestanden und „Ehre sei Gott“ geschrien. Sie hatten Ihn als den Sohn Davids und als rechtmäßigen König begrüßt und waren Ihm in der Erwartung nach Jerusalem gefolgt, daß Er die Regierung Israels übernehmen würde. Er hatte sich geweigert, die Menschen, die so schrien, zu tadeln, sondern hatte gesagt, wenn sie schweigen sollten, dann würden die Steine schreien. Wie sehr die Demonstration an jenem Tag zu Seiner Kreuzigung beigetragen hatte, wußte ich nicht, aber Er hatte sie jedenfalls gutgeheißen. Aber in Dänemark waren viele der Meinung, daß es eine Schande wäre, wenn die Pflastersteine auf den Straßen „Ehre sei Gott“ rufen müßten, wo es doch Christen gab, die ihre Stimmen hören lassen konnten. Also begannen wir Pläne für eine öffentliche Demonstration zu machen, die Dänemark sagen sollte: Tut Buße - oder erwartet das Gericht Gottes. Die Demonstration, die uns vorschwebte, sollte viel mehr werden als nur ein Marsch. Sie sollte am zeitigen Morgen beginnen und bis in die späte Nacht hinein dauern. Wir nannten sie den „Langen Tag“. Johny Noer wollte in diesem Zusammenhang auch ein „Jesus-Festival“ in einem der bekanntesten Parks Kopenhagens veranstalten. Ich nahm Verbindung mit Bruder Andrew auf, der in Dänemark sehr geachtet war, und er sagte seine Teilnahme zu. Loren Cunningham bot die Hilfe jjer „Jugend mit einer Mission“ an. Der „Lange Tag“ begann eigentlich schon am Abend vorher mit einem Gottesdienst im lutherischen Dom Kopenhagens. Die Kirche hat etwa 2300 Plätze, doch rund 3500 Besucher füllten sie an diesem Abend, als Bruder Andrew die Christen der ganzen Welt zu einer „Revolution der Liebe“ aufrief, die diese Welt aus der Gewalt des Satans reißen und auf die Seite Jesu Christi bringen könnte. Allein in Christus könnten die ihrem Schöpfer entfremdeten Menschen wieder mit Gott versöhnt werden, und so auch miteinander. Am nächsten Morgen, dem 11. August 1972, versammelten sich etwa eintausend Menschen in einer Kirche, die normalerweise nur für 650 Besucher Raum hat und in der sich zu einem üblichen Sonntagmorgengottesdienst nur ein kleiner Bruchteil dieser Anzahl einfindet. Wir beteten eine Stunde zusammen und baten Gott, unserem Land eine Erweckung zum echten Christentum zu schenken und unsere Brüder im Osten aus den Ketten der Gefängnisse und Verfolgungen zu befreien. Ungefähr hundert von „Jugend mit einer Mission“ organisierte Gruppen verteilten den ganzen Tag in den Straßen Kopenhagens etwa 70 000 Traktate. Das große Festival fand dann am Nachmittag im Felldpark statt. Etwa 7 000 Menschen versammelten sich - das waren nicht zu viele im Vergleich zu ähnlichen Ereignissen in anderen Ländern, aber Dänemark ist nur ein kleines Land -, um von der Liebe Christi zu singen und öffentlich zu proklamieren, daß diese Erde Ihm gehört und nicht den Menschen oder gar dem Satan. Am frühen Abend, nach dem Festival, versammelten sich die Christen von neuem. Einen Monat vorher hatten wir den Behörden mitgeteilt, daß wir etwa 2 000 Teilnehmer sein würden. Das war viel für Kopenhagen. Die Polizei teilte diese Zahl durch vier und entschied, daß sie sich um 500 friedliche Marschierer nicht allzuviel Sorgen zu machen brauchte. Als sich aber immer mehr versammelten, rannte ich zum Telefon und erzählte dem diensthabenden Polizeioffizier, daß wir etwa 5 000 sein würden und doch einige Hilfe bei der Regelung des Verkehrs brauchten. Überrascht und mit roten Gesichtern traf die Motorradeskorte ein und wir begannen unseren etwa vier Kilometer langen Marsch durch die historischen Straßen Kopenhagens. Unterwegs schlossen sich noch viele an, und als wir den Rathausplatz erreicht hatten, waren wir etwa 10 000. Bruder Andrew, Loren Cunningham und Johny Noer sprachen kurz darüber, was es heißt, ein echter Christ zu sein: Man muß Christus erlauben, in uns zu leben und durch uns zu lieben. Wieder hörten wir von der „Revolution der Liebe“, die den Teufel vom Thron stoßen und Christus zum König krönen würde. Es war ein dramatisches Ereignis, wie es Kopenhagen noch nicht gesehen hatte. Ich war tief bewegt, als ich auf die große Menge schaute, die Loblieder zu Gott sang. In meinem Herzen seufzte ich für jene Christen, die nie eine solche Freiheit wie wir kennengelernt hatten - und auch für meine Landsleute, die das Vorrecht dieser Freiheit besaßen, es aber mißachteten oder gar mißbrauchten. Unter den Teilnehmern waren viele junge Leute, die am nächsten Tag nach München fahren wollten, um den Sportlern und Zuschauern der Olympischen Spiele von der Liebe des Herrn zu erzählen. Noch wußten wir nicht, daß diese Spiele, die dazu bestimmt sind, die Jugend der Welt friedlich zusammenzuführen, durch Haß und Mord grausam gestört werden würden. Die jungen Leute kamen nach vorn und knieten auf den Stufen des Rathauses nieder. Andere Christen legten die Hände auf sie, und wir alle beteten zusammen, daß Gott sie gebrauchen und eine Armee aus ihnen machen möchte, die die Flammen Seiner Liebe nicht nur nach München, sondern durch die ganze Welt tragen könnte. Und dann gingen die Veranstaltungen zu Ende. Allzubald war der „Lange Tag“ vorbei. Als ich, auf den Stufen der Rathaustreppe stehend, beobachtete, wie die Menschen langsam und zögernd auseinandergingen, dachte ich an eine ganz anders verlaufene Demonstration, die vor etwa sechs Jahren in Rußland stattgefunden hatte. Aus der ganzen Sowjetunion waren etwa 500 Abgeordnete von rund 400 unregistrierten Baptistengemeinden auf dem Alten Platz in Moskau zusammengekommen, wo sich dann noch weitere 100 Mitglieder der Moskauer Baptistengemeinde ihnen angeschlossen hatten. Sie hatten das für Rußland Undenkbare und Unerhörte getan: In einer Massendemonstration brachten sie eine Bittschrift an den Eingang des Büros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Ihre Bitte - zehn ihrer Führer baten um ein Gespräch mit Leonid Breschnew, dem Vorsitzenden des Zentralkomitees - wurde abgelehnt. Aber sie ließen ein Dokument dort, in dem sie um Beendigung der religiösen Verfolgung in Rußland und um Freilassung ihrer Brüder, die um des Glaubens willen überall in Rußland in Gefängnissen saßen, baten. Die einzige Antwort auf die Bittschrift, die sie so ruhig, legal, respektvoll und auch hoffnungsvoll abgegeben hatten, war, daß alle Teilnehmer brutal zusammengeschlagen und verhaftet wurden, als sie zusammen von ihrem Wunsch sangen, die gute Botschaft von der Liebe Gottes, die durch Christus offenbart worden ist, der von Sünde verwüsteten Welt zu bringen. Zwei nationale Führer der unregistrierten Baptistengemeinden -Georgi Wins und Gennadi Krutchkow -, die von der russischen Polizei seit Jahren gesucht wurden, sprachen zwei Tage später mutig im Büro des Zentralkomitees vor, wo sie um die Freiheit ihrer verhafteten Gefährten baten. Auch sie wurden unter falscher Anklage noch verhaftet. Einiges von dem, was diese Männer später während ihrer schandbaren Gerichtsverhandlung in Moskau sagten, fiel mir jetzt ein: Ich bin glücklich, daß ich wegen meines Glaubens an Gott Gefangenschaft ertragen darf . . . jene Brüder, die in diesem Augenblick in Gefängnissen und Lagern leiden, nicht weil sie sowjetische Gesetze gebrochen hätten, sondern weil sie Gott und ihrer Gemeinde treu waren . . . Ich stehe vor Ihnen mit einem ruhigen und reinen Gewissen . . . Ich möchte Gott danken, daß ich ein Christ bin . . . Ich sehe Sie, Genosse Richter, und Sie, Genosse Staatsanwalt, nicht als meine Feinde an, sondern als meine Menschenbrüder . . . Ich werde in meiner Zelle für Sie beten . . . Weitere Verfolgungen werden nur den Glauben stärken und für nachfolgende Generationen ein Zeugnis der ewigen Wahrheiten Gottes sein . . . Heute wird hier, genauso wie in den Tagen von Pilatus, Christus, unser Erlöser, gerichtet . . . Ich dachte an die Juden in der Sowjetunion, denen man gerade jetzt die Auswanderung nach Israel verweigerte und die, weil sie darum gebeten hatten, zuerst ihren Beruf verloren und dann ins Gefängnis gebracht wurden, weil sie keine Arbeit hatten. Da waren die 400 Mitglieder von Georgi Wins Gemeinde, die Jahr für Jahr verweigerten sich registrieren zu lassen, und die von der KGB hochgenommen und zusammengeschlagen wurden, als sie sich am Sonntag nach Georgis Verhaftung zu einem Gottesdienst in einem Wald in der Nähe von Kiew versammelten. Da waren die Schriftsteller Andrei Sinjawskj und Juli Daniel, die 1966 verhaftet wurden, und der Mut der anderen Schriftsteller, Wissenschaftler und Intellektuellen, die den Kampf für die menschlichen Rechte unter großen eigenen Risiken aufgenommen hatten. Mir fielen die von dem mutigen „Rat der Angehörigen der Gefangenen“ zusammengestellten und in den Westen geschmuggelten langen Listen mit Namen der Verhafteten ein, die um ihres Glaubens willen gefoltert wurden und die sich mir wie eine Last auf die Seele legten. Erinnerungen stiegen vor mir auf: Ein Besen ohne Stiel, mit dem in Bulgarien ein Heiliger die Rinnsteine fegte; Gemeinden, denen man keinen Platz genehmigte, an dem sie sich hätten zum Gottesdienst treffen können, und die man dann verhaftete, als sie sich illegal versammelten; Pastoren, die man unter Gefängnisandrohung dazu brachte, Kompromisse gegen die Gebote Christi zu schließen, und die dann von ihrem Gewissen gefoltert wurden; die Lügen über angebliche „religiöse Freiheit“, die von Kirchenführern verbreitet wurden, die in den Westen reisen durften; Hände, die sich ausstreckten, um eine Bibel zu empfangen; und die Hunderte und Tausende von Opfern der Christenverfolgung, die zu Gott und Menschen um Hilfe schrien. Wir waren Zehntausend gewesen, die an diesem Abend auf dem Rathausplatz in Kopenhagen gestanden, von Christus gesungen und uns Ihm für die „Revolution der Liebe“ geweiht hatten, um Sein Leben und Seine Liebe in die Welt zu tragen. Würde es sich erweisen, daß wir nur leere Worte gemacht hatten, oder würden wir unser Gelöbnis durch die Kraft des Heiligen Geistes auch erfüllen? Die Antwort hing davon ab, wie ernst es uns wirklich war und wie groß und tief unsere Liebe war. Ich mischte mich in die Menge der auseinandergehenden Christen und ging quer über den Platz. Wir waren hier nur eine Handvoll gewesen. Aber es gab Millionen andere in der ganzen Welt. Wenn wir doch alle aufstehen und handeln würden. Handeln in der Liebe! Für einen Augenblick konnte ich es im Geist geschehen sehen. Es konnte geschehen - und es muß geschehen! Die Anschrift des Verfassers lautet: Hans Kristian Neerskov Dansk Europamission Postbox 60, DK-2880 Bagsvaerd; er empfiehlt für Anfragen und Spenden aus dem deutschsprachigen Raum die untenstehende Anschrift des Aktionskomitees für verfolgte Christen. Der Bibel immer wieder einen neuen „verbotenen Weg“ zu öffnen, ist auch die Arbeit des „Aktionskomitees für verfolgte Christen“. Seit Jahren durften wir Tausende von Bibeln in Länder bringen, wo sie nicht frei erworben werden können. Wußten Sie, daß es in der Sowjetunion Völker gibt, die noch nie in ihrer Muttersprache ein Neues Testament, geschweige denn eine Bibel hatten? Wir unterhalten Radiosendungen für China, in denen die Bibel in Diktiergeschwindigkeit vorgelesen wird. So können viele ihre „eigene Bibel“ mitschreiben. Wenn Sie informiert sein möchten, bestellen Sie unsere Zeitschrift „Verfolgte Brüder“. Sie wird Ihnen kostenlos zugesandt. Für Fragen und Spenden hier unsere Adresse: Aktionskomitee für verfolgte Christen Postfach 1330, 5308 Rheinbach Postscheckkonto Frankfurt/Main Nr. 511909—605 Spar- und Darlehnskasse Meckenheim-Ersdorf Konto-Nr. 2000 (BLZ 37069251) AKTUELLE BÜCHER — MAN MUSS SIE GELESEN HABEN! OFFENBARUNG DES VERBORGENEN R. Douglas Wead Ist es möglich, Informationen zu erhalten, die man durch die fünf menschlichen Sinne bzw. durch andere normale menschliche Möglichkeiten nicht bekommen kann? Wenn ja — wie ist es möglich? Durch übersinnliche menschliche Fähigkeiten? Durch dämonischen Einfluß und okkulte Praktiken? Durch Gott, der, wenn Er es nötig findet, dem Menschen Verborgenes offenbart, wie z. B. den Propheten im Alten Testament. Wenn Gott es heute noch tut, auf welche Weise tut Er es? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich das Buch und zeigt dabei etwas von den Möglichkeiten der Gaben des Heiligen Geistes. Art.-Nr. 20 066 148 Seiten DNI9,80 DER AGENT DES SATANS Mike Warnke Das Buch, welches Sie in der Hand haben, weißt auf den in der heutigen Zeit rapide wachsenden Okkultismus hin und bezeichnet ihn als eines der wichtigsten „Zeichen der Wiederkunft Christi“. Jedem, der mehr über die satanische Wirklichkeit und die riesige Gefahr des Okkultismus wissen möchte, kann man Mike Warnkes „DER AGENT DES SATANS” nur empfehlen. Es gibt unseres Wissens kein Buch, welches so realistisch schildert, „was wirklich dahintersteckt“, wie dieses. Dies ist allerdings kein Wunder, denn der Autor war selbst dabei. Noch beeindruckender ist.aber dann sein Bericht darüber, wie vor der Erlösermacht Christi und der Kraft des Heiligen Geistes die Mächte des Bösen weichen müssen. So wird dieses Buch zu einem mächtigen Zeugnis der Gnade und Kraft Jesu Christi. Art.-Nr. 20 054 224 Seiten DM9,80 FOLGE MIR! Malcolm Smith Vom gleichen Verfasser wie „Probleme? Es gibt eine Lösung“ liegt nun auch das Buch „Folge Mir!“ vor. Hier greift Smith die Frage auf, wie Menschen, die eine Christusbegegnung gemacht haben, durch die Leitung des Heiligen Geistes und durch das Vorbild und die Führung anderer Christen zu echten Christusnachfolgern werden. Wahres Christentum heißt eim treten in ein echtes Jüngerschaftsverhältnis. Gleichzeitig wird jede Gemeinde und jeder Geistliche gefragt, ob er bereit ist, aus christlicher Gesinnung für den Nächsten Verantwortung zu übernehmen. Art.-Nr. 20 068 160 Seiten DM9,80 PROBLEME? ES GIBT EINE LÖSUNG Malcolm Smith Ein bekannter Prediger mit großer Karriere (man nannte ihn den „englischen Billy Graham“) entdeckt, daß seinem Dienst der geistliche Tiefgang fehlt. Er hat wohl Erfolg zu verzeichnen, aber keine bleibende Frucht. An dieser Erkenntnis zerbricht er. Dies ist Gottes Gelegenheit, ihm durch den Heiligen Geist neu zu begegnen und auszurüsten. Diese neue Gottesbegegnung löst seine eigenen Probleme und auch die seiner Gemeinde. Es gibt eine neue Belebung. Ein Buch, das jeder ernste Christ lesen sollte. Art.-Nr. 20055 144 Seiten DM5,80 ES BEGANN MIT KREUZ UND MESSERHELDEN David Wilkerson Zehn Jahre nach „Das Kreuz und die Messerhelden“ hat Wilkerson nun dieses Buch geschrieben. Natürlich sind in der Zwischenzeit auch eine Reihe anderer Bücher von ihm erschienen, die sich mit brennenden Jugend- und religiösen Fragen unserer Zeit beschäftigen. Aber in diesem Buch knüpft er ganz bewußt an „Messerhelden“ an. Wir erleben immer noch den selben Wilkerson, mit dem gleichen Eifer und der Einsatzbereitschaft wie vorher — nur um zehn Jahre Erfahrungen reifer. Dies macht das Buch um so wertvoller. Sie sollten es wirklich lesen. Art.-Nr. 20 034 208 Seiten DM9,80 DIE UNBEQUEME GENERATION Don und David Wilkerson „Ratschläge aus der Praxis“ — Rauschgiftsucht — Alkoholismus — Homosexualität — Gammlertum — Rebellion — Sexualismus ohne Schranken — dies sind die Themen dieses Buches. Hier theoretisieren nicht einige Leute über diese Probleme, sondern hier reden zwei Männer davon, die ihr Leben der Arbeit mit Menschen in solchen Nöten verschrieben haben. Ein Buch, welches unentbehrlich ist für alle, die irgendwie mit solchen Problemen zu tun haben, sei es als Betroffene oder Helfer. Art.-Nr. 20 042 292 Seiten DM9,80 LASS MICH IN RUHE! David Wilkerson Wer einige Bücher von David Wilkerson kennt und „Laß mich in Ruhe!“ liest, wird finden, daß er sich keinesfalls auf seinen Lorbeeren ausruht, sondern nach wie vor die Hand am Puls der Jugend, ihrer Kultur und Unkultur, hat. David Wilkerson holt sich seine Antworten auf die Probleme, indem er selbst mitten unter die Jugend geht, um sie zu verstehen. Man merkt, daß manche Jugendprobleme oft auch Erwachsenenprobleme sind, und man merkt vor allen Dingen, daß hier nicht vom „Olymp-“ herab geredet wird, sondern aus einem engagierten Herzen, das helfen will. Art.-Nr. 20 040 " 128 Seiten DM4,80 DIE HEILUNG DER SEELE Bert Bauman Unruhe und Unzufriedenheit sowie Krankheiten und Probleme des inneren Menschen sind heute größer geworden als je zuvor. Immer mehr Menschen neigen zu Neurosen, Depressionen und anderen seelischen Krankheiten, als Ergebnis der Vernachlässigung des inneren Menschen. Gerade hier knüpft Bauman an und zeigt die Zusammenhänge auf, die zwischen Geist, Seele und Leib bestehen, und auch echte Hilfen in Christus. Bauman schreibt für Menschen, die in innerer Not sind. Ihnen wird das Buch eine echte Hilfe sein. Aber auch Seelsorgern und Mitarbeitern. Art.-Nr. 20063 80 Seiten DM4,80 Zu beziehen durch: Leuchter-Verlag eG, Industriestraße 6—8, 6106 Erzhausen, Postfach 60 In der Schweiz: Dynamis Verlag, Rathausgasse 8, CH-5400 Baden In Österreich: Buchhandlung der Methodistenkirche, A-1082 Wien, Trautsongasse 8, Postfach 65 Bibeln auf verbotenen Wegen Hans Kristian Neerskov mit Dave Hunt „Sie kommen mit uns”, ließ mir der kommunistische Offizier durch den Dolmetscher sagen und zeigte auf mich. „Und Sie warten draußen", sagte er zu Bent. Sie führten mich durch einen schmalen Gang in ein weiter hinten gelegenes Büro. Ein kleiner, muskulös gebauter Mann mit dunklem Teint machte den Eindruck, als habe er auf uns gewartet. Er saß hinter einem Schreibtisch und blickte auf, als wir eintraten. Und dann sah ich zu meinem Schrecken vor ihm auf dem Schreibtisch drei Bibeln liegen, zwei davon in durchsichtige Plastikhüllen verpackt. Sie sahen denen, die wir mitgebracht und verteilt hatten, beängstigend ähnlich. Aber wie waren sie hierher gekommen? Hatte uns jemand verraten? Dieser kurze Auszug zeigt schon, daß das Buch sich so spannend liest wie ein Abenteuerroman. Dabei hat es den Vorzug, daß es sich hier um keine zusammengefabelte Geschichte handelt, sondern um die Wahrheit. Sie können hier Tatsachen davon lesen, wie Christen heute in den Ländern Osteuropas um ihres Glaubens willen unterdrückt und verfolgt werden. Außerdem ist das Buch die Geschichte eines Mannes, der es mit der Forderung der Bibel, ein Herz für den Nächsten, der leidet, zu haben, genau nimmt und sich dieser Forderung persönlich stellt. Dabei erlebt er, wie Gott ihn auf vielen gefährlichen Wegen führt und bewahrt. Es ist ein Buch voller Wunder, die in unserem Jahrhundert noch geschehen. Bestell-Nr. 20 060 Leuchter-Verlag eG, Postfach 60, D-6106 Erzhausen