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FRANCKE
Dave Hunt
Im Schatten der Nacht
FRANCKE
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Hunt, Dave:
Im Schatten der Nacht / Dave Hunt. [Dt. von A. Goldhahn]. -Marburg an der Lahn : Francke, 1993 (Francke-Lesereise : Aufwind)
Einheitssacht.: Sanctuary of the chosen
ISBN 3-86122-053-9
Alle Rechte Vorbehalten Originaltitel: Sanctuary of the chosen © 1992 by Dave Hunt
Published by Harvest House Publishers, Eugene, Oregon, USA © der deutschsprachigen Ausgabe 1993 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH 35037 Marburg an der Lahn Deutsch von Agentur Lardon, Hamburg/A. Goldhahn Umschlaggestaltung: Agentur Lardon, Hamburg Satz: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen Druck: St.-Johannis-Druckerei, Lahr-Dinglingen
Francke-Lesereise Aufwind
Inhalt
1. Verrat! ............................................ 7
2. Ein Flüchtling ..................................... 16
3. „Du bist ein dreckiger, stinkender Jude!“ .......... 27
4. In die Nacht hinaus ................................ 35
5. Feind des Volkes ................................... 41
6. R. Harrison Dünn IV ................................. 47
- 7. Ein Alptraum ......................................... 57
8. Der Professor ...................................... 63
9. Eine Frage des Prinzips............................. 73
10. Das Komitee .......................................... 83
11. Nicole ............................................... 90
12. Die Ost-West-Verbindung .............................. 98
13. Abdul ............................................... 104
14. Eine erschreckende Möglichkeit ...................... 114
15. Die Entwicklung eines Terroristen? .................. 123
16. Anschuldigungen und Verleugnungen ................... 132
17. Opium des Volkes .................................... 138
18. Euphorie und Verzweiflung ........................... 145
19. Sein oder Nichtsein ............................... 152
20. „Falls mir etwas zustoßen sollte“ ................... 160
21. Der langersehnte Erfolg ............................. 167
22. Lebt wohl, Freundschaft und Liebe ................... 173
23. Auf Leben und Tod ................................... 181
24. Staatenlos .......................................... 189
25. Ein unglücklicher Kompromiß.......................... 196
26. „Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein“ .......... 201
27. Willkommen in Israel ................................ 208
28. Der alte Kämpfer .................................... 218
29. Eine Wandlung........................................ 230
30. Elor von den Neun ................................... 240
31. Miriam .............................................. 250
32. Barmitzwah — endlich ................................ 259
33. Entführt! ........................................... 270
34. Der Mossad ...................;...................... 276
35. Der Auftrag ......................................... 283
36. Dejä Vu ............................................. 291
37. Fortschritt und Fährnis ............................. 300
38. Ein gefährlicher Auftrag ............................ 309
39. Wieder fest im Sattel .............................. 315
40. Der Bezug zu Israel ................................ 324
41. Eine unwiderstehliche Einladung...................... 334
42. Kongreß für eine Neue Welt ......................... 347
43. Die Hölle bricht los! .............................. 360
44. Ein Traum wird wahr ................................. 374
45. Von den Toten zurück ................................ 382
46. Unter Verdacht....................................... 391
47. In „Schutzhaft“ ..................................... 397
48. Das Warschauer Ghetto-Syndrom ....................... 405
49. Eine überraschende Bestätigung....................... 416
50. Aus der Nacht heraus ................................ 425
51. Rendezvous .......................................... 433
Epilog ................................................... 442
1. Verrat!
Leipzig Ende April 1964
Das schrille Klingeln des Telefons drang nur gedämpft und wie aus weiter Ferne in die Tiefen von Aris beinahe besinnungslosem Schlaf. Aber es klingelte weiter, mit unbarmherziger Beharrlichkeit, kam . immer näher und wurde lauter und lauter. Das disharmonische, sich wiederholende Gerassel schien zunächst Teil seines seltsam vertrauten Alptraums zu sein. Er wurde, wie immer, verfolgt. Gespenstische Gestalten, bewaffnete Männer in schwarzen Anzügen — einer davon kam ihm bekannt vor, er konnte ihn jedoch nirgends einordnen — sprangen ihm auf seiner Flucht ununterbrochen aus den dunklen Winkeln seines Gehirns in den Weg, bis er schließlich umzingelt war und ihm keine Fluchtmöglichkeit mehr blieb.
Irgendwo ging eine Alarmanlage los. Während ihr Läuten anschwoll, vermehrten sich die Gespenster, bis sie zu einer dämonischen Florde geworden waren, mit unheimlichen, drohenden Gesichtern und gewaltigen Waffen, die ihre Hände nach ihm ausstreckten und ihn ergreifen wollten. Er hatte die beunruhigende Gewißheit, daß er all dies schon einmal erlebt hatte — eine Gewißheit, durch die sich die panische Angst dieses Erlebnisses auch noch mit Verwirrung mischte. Warum mußte er das immer und immer wieder durchleben?
Ari begann, sich in die Realität zurückzukämpfen — entsetzlich langsam, wie ein Taucher, dessen Lungen schon beinahe platzen und der voller Angst versucht, an die Oberfläche zu kommen. Schließlich war er halb bei Bewußtsein. Das Telefon ...!Endlich wurde ihm klar, daß das gellende Geräusch von etwas Bekanntem erzeugt wurde. Er tastete nach dem Gerät neben seinem Bett, warf es auf den Boden, suchte erneut und bekam endlich den Hörer zu fassen. Ausgerechnet heute nacht, wo er so dringend Schlaf brauchte!
„Hallo ...?“
„Ich muß mit Fritz sprechen.“
„Fritz ...?“
„Ich rufe aus Berlin an und muß Fritz sprechen! Es ist dringend!“ „Hier gibt es keinen Fritz. Was für eine Nummer ...?“
Mitten im Satz hörte er ein Klicken. Die Leitung war tot. Ari warf wütend den Hörer auf und machte eine Lampe an, um auf seine Arm-
banduhr zu sehen: 22.04 Uhr. Erst zwei Stunden Schlaf... In den letzten 48 Stunden hatte er so gut wie keinen Schlaf bekommen und mußte das irgendwie nachholen. Es durfte keine weiteren Störungen geben. Er streckte die Hand aus, um den Hörer neben das Telefon zu legen — und erstarrte.
„Fritz?“ Der Name löste eine instinktive Reaktion aus, die ihn aus dem Bett springen ließ. Einen kurzen Moment stand er unschlüssig da. Seine Haltung ließ die sofortige und katzengleiche Wachsamkeit des Jägers — oder des Gejagten — erkennen. Ari versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte, ungekämmte schwarze Haar, das ihm zerzaust in die breite Stirn fiel. Sein Schlafanzug spannte an einigen Stellen und verriet seine breiten Schultern, den großen Umfang seines Brustkorbes und die kräftigen Hüften, so daß er mit seinen 1,78 Metern mehr einem Spieler der amerikanischen Football-Nationalliga ähnelte als einem deutschen Intellektuellen.
„Für Fritz .. . aus Berlin!“ murmelte er laut, und plötzlich fiel es ihm ein. Nein, es konnte nicht sein ... aber es gab keine andere Möglichkeit. Kein Wunder, daß die Stimme angespannt geklungen hatte. Es war keine falsche Nummer gewesen! Wie lange war es her, daß sie diese Warnung geplant hatten — in der Hoffnung, sie niemals einsetzen zu müssen! Zwei Jahre?
In rascher Folge erschienen lebhafte Bilder vor seinem inneren Auge. Eine friedliche, beinahe zu geordnete Studentendemonstration an der Leipziger Universität hatte sich in die Straßen der Stadt ergossen. Es waren etwa 500 Demonstranten, die da marschierten, und ihre Zahl nahm allmählich zu. Glücklich, daß sie endlich den Mut gefunden hatten, etwas zu tun, riefen sie laut und im Gleichklang: „Wahrheit und Ehrlichkeit — freie Wahlen ... Wahrheit und Ehrlichkeit — freie Wahlen ...“ Wie naiv sie doch gewesen waren!
Er war ganz vorne marschiert — einer der sechs fest entschlossenen Organisatoren, ein 18-jähriger Idealist, der zu einem eingeschworenen Gegner jenes Marxismus geworden war, in dem man ihn erzogen und an den er einst geglaubt hatte. Im Alter von zehn Jahren war Ari von der winzigen Dorfschule „versetzt“ worden. Er gehörte zu einem Dutzend handverlesener, außergewöhnlich intelligenter Schüler, die jeden Tag zu einer besonderen naturwissenschaftlichen Schule im nahegelegenen Wittenberg gefahren wurden, wo er sieben Jahre verbrachte, bevor er auf die Universität ging. Dort hatte er den luxuriösen Lebensstil der führenden Parteimitglieder mit eigenen Augen gesehen
und selbst gekostet, und dort hatte auch seine Desillusionierung begonnen.
Zunächst war er von der großen Ehre überwältigt und fühlte sich von den berauschenden Versprechungen, die ihn zu etwas Besonderem machten, geschmeichelt.
Aber schließlich kam der Tag, an dem er die scheußliche Günstlingswirtschaft durchschaute. Sie brachte die schändliche Korruption hervor, die er überall in den höheren Rängen des DDR-Regimes erlebte — und er haßte sie. Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, daß diese Korruption das unvermeidliche Ergebnis des totalitären Marxismus war.
Und es dauerte auch nicht lange, bis Ari bemerkte, daß man sehr plötzlich und aus den unerfindlichsten Gründen bei dem Regime in Ungnade fallen konnte. Der Staatssicherheitsdienst hatte überall seine Informanten. Die geheimen Fühler der Stasi reichten sogar in die Klassenräume und bis in die Familien, wo die Schüler und die Familienangehörigen sich gegenseitig ausspionierten. Ob man überlebte oder nicht, hing davon ab, daß man auch nicht die leiseste Kritik an der Regierung äußerte. Und man mußte auch aufpassen, daß man sie nicht zu sehr lobte — selbst gegenüber Freunden und Verwandten. Das verabscheuungswürdige System zerstörte bewußt jedes natürliche Vertrauen und sorgte dafür, daß enge und vertraute Beziehungen einen unschätzbaren Wert hatten — und daß sie selten waren.
Im Laufe der Jahre war Aris Flaß auf alles Marxistische zu einer Leidenschaft geworden. Die Protestkundgebung an der Leipziger Universität war der Höhepunkt einer Frustration und Wut gewesen, die schon lange in ihm gekocht hatten, bis sie schließlich ein Ventil brauchten. Er hatte gewußt, daß es ihn alles kosten würde. Aber er war an den Punkt gelangt, wo er bereit war, den Preis zu zahlen. Ihm war klar, daß es verrückt war, aber das machte ihm nichts mehr aus.
Jetzt, in diesem kurzen Moment des Zögerns, während er neben seinem Bett stand, sah er es alles noch einmal — den Horror, den er unzählige Male aufs Neue durchlebt hatte. Plötzlich waren die Polizisten da! Hunderte von ihnen! Sie gingen frontal auf sie los, prallten auf die Spitze jenes friedlichen Marsches wie Geier, die über totes Fleisch herfallen und es zerreißen. Kalte, höhnische Gesichter sahen sie heimtückisch durch schwere Visiere an, die das ganze Gesicht abdeckten. Lange Knüppel wurden durch die Luft geschwungen und spalteten die Köpfe mit einem durchdringenden Krachen, das selbst jetzt noch Übelkeit in ihm erzeugte. Aus den Augenwinkeln sah er den Schlag
kommen und duckte sich. Es war eine Reflexhandlung, die er sich in jahrelangem Training und Wettkämpfen in verschiedenen Kampfsportarten angeeignet hatte. Er griff nach dem Schlagstock und stieß ihn dem überraschten Offizier in den Bauch. Mit einem zufriedenen Grunzen sah er, wie die Augen des Mannes aus den Höhlen traten und glasig wurden, während er auf das Pflaster fiel.
Bei dem schrecklichen Anblick der Polizisten, die auf unbewaffnete Studenten einschlugen, und dem plötzlich anschwellenden Lärm aus Schmerz- und Angstschreien rastete in ihm etwas aus. Er hielt jetzt den Schlagstock in der Hand, wirbelte herum und wollte mit zwei Polizisten kämpfen, die auf ihn zustürzten, als plötzlich etwas vollkommen Unerwartetes geschah — etwas, was er sich nicht erklären konnte. Jemand, der außergewöhnlich kräftig war und den er zuvor nicht gesehen hatte, ergriff seinen Arm, hielt ihn fest umklammert und zog Ari mit unwiderstehlicher Kraft durch die Masse von blutigen Köpfen, wild schlagenden Armen und stürzenden Leibern, die er nur verschwommen wahrnahm. Dann konnte er sich an nichts mehr erinnern. Sein Gedächtnis setzte erst ab dem Moment wieder ein, als er allein eine Seitenstraße hinunterlief und der beißende Geruch von Tränengas und die schrecklichen Geräusche des Chaos allmählich schwächer wurden.
In den folgenden Tagen und Wochen wurde die Universität von Angst beherrscht. Selbst Studenten, die keinerlei greifbare Verbindung zu dem Aufruhr hatten, verschwanden — verschlungen von einem bösartigen System, das sicher gehen mußte, daß es nie wieder eine solche Demonstration geben würde. Ari wartete ängstlich auf die unvermeidliche Verhaftung. Aber sie kam nicht. Hatte ihn jemand geschützt? Jemand, der Einfluß hatte und sich in einer strategisch wichtigen Position befand? Das schien die einzig logische Erklärung zu sein. Aber wer? Und warum? Irgendwann kam er zu dem Schluß, daß das Schicksal ihn dazu auserwählt habe, seinen Kampf gegen die Korruption fortzuführen. Damals hatte er mit all dem Idealismus und der Kampfeslust der Jugend geschworen, nicht zu ruhen, ehe nicht das marxistische Regime in der DDR vernichtet sei — oder es ihn vernichtet hätte.
Von jenem Zeitpunkt an gab es für ihn kein Zurück mehr. Sein Land nannte sich die Deutsche De?nokratiscbe Republik, aber die Menschen hatten kein Mitspracherecht. Eines Tages würden sie es haben! Dieser Entschluß wurde zu einer Leidenschaft, die ihn antrieb — er würde eine Studentenbewegung anführen, die es schaffen würde, das ver-
haßte Regime zu stürzen. Diesmal würden sie sehr viel Sorgfalt darauf verwenden, eine gute Grundlage zu schaffen, und sie würden nichts unternehmen, bevor sie nicht stark genug wären, um zu siegen.
Ari war neunzehn Jahre alt, als er gemeinsam mit vier Freunden, denen er vertraute und die ihn unterstützten, heimlich damit begann, eine Organisation aufzubauen, die sich schließlich über die gesamte DDR ausbreitete. Sie arbeiteten mit großer Vorsicht und entdeckten dabei eine erstaunliche Zahl von heimlichen Dissidenten, die ungeduldig auf eine Gelegenheit warteten, um ihrem leise brodelnden Zorn Luft zu machen. Sie waren eine hochmotivierte Revolutionsarmee, die nichts weiter brauchte, als eine fähige und mitreißende Führung, um ihre explosiven Energien in eine geschlossene und unwiderstehliche Kampftruppe umzuwandeln.
Ari hatte die Organisation sorgfältig strukturiert, so daß außer ihm niemand mehr als nur einen kleinen Teil des Bildes kannte. Auf allen Ebenen herrschte strenge Disziplin. Es durfte keinen Fehlstart geben. Niemand würde sich rühren, bevor der richtige Zeitpunkt gekommen war. Beim nächsten Mal würden Hunderttausende marschieren. Ihre Unterdrücker würden schon allein durch die Menge überwältigt werden. So hatte er es sich zumindest gedacht.
Nach zwei Jahren sorgfältiger Planung war für die kommende Woche eine landesweite Demonstration in Verbindung mit einem massiven Streik der Arbeiter angesetzt worden. Die intensiven Vorbereitungen hatten ihm kaum Zeit zum Schlafen gelassen. Ari hatte Tag und Nacht fieberhaft gearbeitet. Und nun dieser niederschmetternde Anruf am Vorabend des Erfolges! Die kodierten Warnungen, die sie vereinbart hatten, betrafen verschiedene Alarmstufen. Das Schlüsselwort Fritz stand für die schlimmstmögliche Situation: Man hatte Spione eingeschleust, und sie waren verraten worden. Keine Fragen. Keine Erklärungen. Untergrund — jeder — sofort.
Jetzt rasten Aris Gedanken. Die Stasi ist hinter uns her! Arrest! Folter! Raus hier! Keine Panik! Denk nach, Mann, denk nach!
Ari machte das Licht aus und tastete sich zum Fenster. Vorsichtig zog er den ausgeblichenen Vorhang gerade so weit beiseite, daß er hinausspähen konnte. Er sah suchend auf die schwach erleuchtete Straße, die sechs Stockwerke unter ihm lag. Soweit er sehen konnte, war sie nach beiden Seiten hin menschenleer. Er würde im Halbdunkel arbeiten müssen. Die gefürchtete Stasi konnte jeden Augenblick eintreffen. Sie durften nicht ahnen, daß er schon wußte, daß sie hinter ihm her waren. Es muß so aussehen, als wäre ich schon fiüher gegangen — als wäre
ich nicht in panischer Angst geflohen. Damit könnte ich etwas Zeit gewinnen, sie verwirren, von meiner Spur abbnngen.
Er zog die Vorhänge weit auf, um das gedämpfte Licht, das mehr vom Vollmond als von den Laternen unten auf der Straße kam, hereinzulassen. Er zog sich im Halbdunkel rasch an, sammelte dann mit zitternden Fingern die belastenden Papiere auf, an denen er gearbeitet hatte, und stopfte sie wieder in seine Aktentasche. Es muß aufgeräumt aussehen ... kein Zeichen von Eile. Als er das Bett machte — schnell, aber ordentlich —, fiel ihm die Lugger ein, die auf dem Nachttisch neben dem Telefon lag, und er steckte sie in ihren Gurt. Er würde nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank gehen.
Ari klappte die Bücher zu, die auf dem Tisch lagen, stapelte sie ordentlich aufeinander und legte die Unterrichtsnotizen daneben. Ich war sowieso nicht auf die Prüfung vorbereitet. Der Gedanke rief ein kurzes Lächeln hervor, dann tiefe Traurigkeit und danach Wut.
Nur noch einen Monat, und ich hätte meinen Abschluß gemacht — mit Auszeichnung. Er gehörte zwar nicht zu den Leuten, die mit ihren Talenten prahlten, aber dies war eine Ironie, die er nicht einfach so übersehen konnte.
Er hatte gute Gründe für seine Bescheidenheit, und sie gingen tiefer als nur gesunder Menschenverstand und Anstand. Trotz seiner ausgezeichneten Noten hatte er versucht, sich zurückzuhalten. Er hatte völlige Loyalität zur Kommunistischen Partei, der SED, vorgegeben und keinerlei Ambitionen gezeigt, eines Tages mehr zu werden als ein unterwürfiger Physiker, der keinerlei Bedrohung für die Führer und die Politik der Partei darstellte. Jetzt kannten sie die Wahrheit. Wir waren so kurz vordem Zze//Er konnte nicht bleiben und hoffen, wieder so viel Glück zu haben wie beim letzten Mal. Falls sie tatsächlich noch nicht wußten, daß er die Verschwörung leitete, würden sie schon bald genügend Informationen haben, um zu diesem Schluß zu kommen. Niemand war in der Lage, ihrer Folter standzuhalten.
Das Telefon begann wieder zu läuten. Er drehte sich um, hielt dann inne und schüttelte den Kopf. Wenn er den Hörer abhob und sie die Leitung angezapft hatten, würden sie wissen, daß er da war. Er konnte nur hoffen, daß sie den kurzen Anruf, der ihn geweckt hatte, nicht aufgefangen hatten. Aber wenn es nun Hans wäre oder Wolfgang oder Karl ... Wenn sie wissen wollten, ob er schon Bescheid wüßte und ihre Flucht absprechen wollten? Nein, sie wußten, daß das dumm wäre. Jeder war jetzt auf sich selbst gestellt. Sie mußten sich verteilen und so gut wie möglich verstecken, ohne den geringsten Kontakt mit-
einander. Aber angenommen, es war Berlin und sie wollten ihm mit-teilen, daß ihnen ein Fehler unterlaufen war, daß es ein falscher Alarm gewesen war? Er würde ihnen nicht glauben. Jetzt nicht mehr.
Der Anrufer schien sich sicher zu sein, daß er da war. Das Telefon läutete weiter, fast so, als wollte es ihn überreden. Ari streckte die Hand aus.
Nein! Er durfte den Hörer nicht abheben. Aber was, wenn ...? Es gab Tausende von Möglichkeiten. Es war mehr als nur Neugier, die ihn jetzt ergriff. Offensichtlich war der Anruf dringend. Möglicherweise ging es um Leben oder Tod — für ihn oder jemand anderen. Nein, absolut nichts war offensichtlich.
Es kostete Ari große Anstrengung, sich abzuwenden. Er nahm die abgenutzte Aktentasche, die neben dem kleinen Tisch auf dem Boden lag, an sich. Mit dem kostbaren Inhalt, den er überall mit sich trug, war sie zu einem Teil seiner selbst geworden. Jetzt stopfte er rasch ein zweites Hemd, ein paar Socken, einen Pullover und frische Unterwäsche hinein ... und eine Schachtel Munition für die Luger. Dann hielt er inne. Stille — nur sein Herz klopfte laut. Das Telefon läutete nicht mehr, und er hatte es nicht einmal bemerkt.
Er zog eine warme Jacke an, stolperte zurück zum Fenster und sah wieder hinaus. In dem Augenblick bogen zwei Wagen um die Ecke zu seiner Linken. Fasziniert und wie erstarrt beobachtete er, wie sie sechs Stockwerke unter ihm am Straßenrand hielten und wie etwa ein halbes Dutzend Männer in Zivil in das Gebäude eilten. Die Stasi! Ich bin von der Treppe abgeschnitten!
Voller Verzweiflung verlor er wertvolle Sekunden mit seiner letzten Aufgabe. Er tastete in dem kleinen Wandschrank herum, stellte die zwei Paar Schuhe, die er zurückließ, ordentlich nebeneinander, zog den Koffer und den Tennisschläger unter der Kleidung hervor, so daß sie besser zu sehen waren, und hängte dann hastig die zerknitterten Hemden und Hosen auf, die er über einen Stuhl geworfen hatte. Es muß so aussehen, als wäre ich nur für ein oder zwei Tage weggefahren, als käme ich jeden Moment zurück ... dann werden sie vielleicht nicht das ganze Land nach mir absuchen.
Er schien von der Realität losgelöst zu sein und beobachtete sich selbst mit beinahe klinischer Nüchternheit aus einiger Distanz. Jetzt stand er im Badezimmer, die Aktentasche umklammert und eine weiche Schirmmütze auf dem Kopf und wußte nicht, wie er dort hingekommen war. Wie durch einen unwirklichen Nebel hindurch, der ihn zu umgeben schien, hörte er, wie das Telefon wieder zu läuten begann
— dann lautes Klopfen an seiner Wohnungstür und der gefürchtete Befehl: „Polizei! Öffnen Sie die Tür!“
Unter seiner Mütze strömte der Schweiß hervor. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung vollführte Ari die Bewegungen, die er, dem Himmel sei Dank, mehrere Male geübt hatte, „nur für den Fall, daß ..Der kühle Luftzug, der sein Gesicht traf, als er das Fenster öffnete, schärfte seinen Blick. Vorsichtig ließ er die Aktentasche etwa einen Meter tief auf das steile Dach an der Rückseite des Wohngebäudes fallen. Sie kippte um und rutschte mit einem lauten, kratzenden Geräusch ein kurzes Stück nach unten, bis sie an die niedrige Barriere stieß, die er extra für diesen Zweck dort errichtet hatte. Er zog sich schnell durch die schmale Öffnung, schlidderte ein kurzes Stück hinunter und kauerte sich einen Moment lang neben seine kostbare Last. Als er sich aufrichtete, um das Fenster zu schließen, konnte er immer noch das Hämmern und Rufen hören. Dann hörte er das Splittern von Holz und ein lautes Krachen, als der Sicherheitsriegel aus dem Türpfosten gerissen wurde.
Es hatte geregnet, und das moosbewachsene Dach war gefährlich schlüpfrig. Er durfte keinen Fehltritt machen, denn es wäre sein letzter gewesen. Zum Glück war der Mond wieder hinter den Wolken hervorgekommen und er konnte gut genug sehen, um das Dach hinunterzurutschen. Er stemmte die Kanten seiner Tennisschuhe in das Moos, so, als fahre er auf Skiern eine steile, vereiste Piste hinunter. Zum Schluß noch ein gefährlicher Sprung über den Abgrund, und er landete auf dem flachen Dach eines benachbarten Wohngebäudes. Dort kauerte er sich außer Sichtweite nieder, um zu verschnaufen und zu dem Fenster zurückzusehen, aus dem er gestiegen war. Es war immer noch geschlossen. Durch das Milchglas hatten sie ihn unmöglich sehen können, ohne das Fenster zu öffnen. Und wer würde schon auf so einen Fluchtweg kommen? Selbst ausgezeichneten Skiläufern mußte der Versuch wie Selbstmord Vorkommen. Die Stasi würde niemals vermuten, daß er zu Hause gewesen war, als sie kamen.
So schnell und so leise er konnte, rannte Ari über das Flachdach und kletterte auf eine rostige Feuerleiter. Nach einem eiligen Abstieg vier Stockwerke hinunter kam ein einfacher Sprung auf ein Garagendach hinter dem Gebäude, dann ein gefährlicher Sprung auf die schmale, bröckelige Krone einer hohen Gartenmauer. Er schwankte einen Moment lang hin und her und wedelte mit den Armen, bis er seine Balance wiedererlangt hatte. Schließlich umklammerte er seine Aktentasche und tat den letzten Sprung in die dunkle Gasse hinunter. Ein
kurzer Sprint nach links brachte ihn auf die breite Hauptstraße. Sie kreuzte die Straße, in der er wohnte. Er sah sich vorsichtig um, aber in beiden Richtungen war niemand zu sehen.
Ein kurzer Blick auf seine Uhr zeigte ihm, daß er den nächsten Zug gerade noch erreichen würde, wenn er sich beeilte. Er trat auf die Straße und begann, in schnellem Trab zu dem fünf Kilometer entfernten Bahnhof zu laufen.
2. Ein Flüchtling
Nach einem kurzen, schnellen Lauf fiel Ari in einen gleichmäßigen Trab, den er die ganze Strecke lang beibehalten konnte. Außer dem Klatschen seiner Schuhe auf dem Pflaster war nur noch das unheimliche Flattern der Fahnen zu hören, die von den schmutzig-braunen Ladenfronten herabhingen. Der Putz bröckelte von den einst gepflegten Backsteinfassaden, und die grauen Metallrolläden, die heruntergelassen und fest über Türen und Fenster verschlossen waren, vermittelten den Eindruck einer Stadt, deren bessere Tage weit zurücklagen — so weit, daß man sich nicht einmal mehr daran erinnerte.
Die knalligen Farben und wilden Bewegungen der Flaggen, die laut in der steifen Brise flatterten, wiesen auf die letzte Leipziger Messe hin. Dieses Ereignis, das zweimal pro Jahr stattfand, brachte immer einen Strom von Besuchern, hauptsächlich aus anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, in die Stadt. Und es brachte auch einen erstaunlichen Zustrom von Delikatessen, vom Kaviar bis zu Erdbeeren, die auf wundersame Weise — und nur für kurze Zeit — in den Restaurants auftauchten, um die Aussteller aus dem Westen mit den Wohltaten des Sozialismus zu beeindrucken. Es gab immer noch erstaunlich viele westliche Intellektuelle, die naiv genug waren, auf diese offensichtliche Lüge hereinzufallen. Bei diesem Gedanken schnaubte Ari verächtlich und verlangsamte seinen Lauf zu einem normalen Schritt, bis ein vorbeifahrendes Auto ihn überholt hatte und außer Sichtweite war. Dann fiel er wieder in einen gleichmäßigen Lauf.
War das alles real? Seine Beine sagten ja, aber sein Kopf schien anderer Meinung zu sein. Es war schwer zu glauben, daß er um sein Leben lief — daß alles, wofür er die letzten zwei Jahre voller Leidenschaft gearbeitet hatte, jetzt, so dicht vor dem Ziel, in sich zusammenfiel. Gesichter tauchten kurz vor seinem inneren Auge auf, jene Studentenführer, die zum Kreis seiner engsten Mitarbeiter gehört hatten, die er gut kannte und mit denen er zusammengearbeitet hatte — nicht nur in Leipzig, sondern an Universitäten in der gesamten DDR. Jeder von ihnen war eine einzigartige Persönlichkeit, voller Leben. Er hatte sie rekrutiert und motiviert und davon überzeugt, daß sie diesen Kampf für die Freiheit gewinnen könnten. Und jetzt fühlte er sich verantwortlich für ihr Leben.
Wen würde man erwischen? Würde irgendeiner von ihnen entkommen? Würde er selbst es schaffen? Sie alle hatten gewußt, welches
Risiko sie eingingen. Für diese jungen, eifrigen Idealisten hatte der Traum, ihr Land zu befreien, ihr ansonsten hoffnungsloses Leben lebenswert gemacht. Sollten sie jetzt im Gefängnis verrotten oder sterben? Und alles wäre umsonst gewesen?
Vor seinen inneren Augen verzogen sich die vertrauten Gesichter vor Schmerz. Verhöre. Folter. Tod. Ein Schluchzen kam aus seiner Kehle, und An verwandelte den Schmerz rasch in Haß. Er machte sich keine Illusionen darüber, was mit ihm selbst geschehen würde, falls man ihn erwischte. Man würde ihn beschuldigen, für den Westen spioniert zu haben und ihn so lange foltern, bis er „gestehen“ würde. Vielleicht sogar in einem Schauprozeß. Sie werden mich niemals lebend bekommen! Sie werden mich niemals gefangen nehmen!
Während er wieder in seinen Laufschritt fiel, erinnerte sich Ari wütend an die Errichtung der Berliner Mauer im Jahre 1961. In einer einzigen unglaublichen Nacht hatte dieses unrühmliche Bauwerk seine schlimme Narbe auf das Gesicht der Stadt geschlagen! Er hatte sich geschämt, Günstling eines Regimes zu sein, das seine Bürger einsperren mußte, um sie im Land zu halten. Für ihn wie auch für Zehntausende anderer war dies der Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Es hatte ihm die Rekrutierung neuer Leute um so leichter gemacht.
Der schwache Hoffnungsfunke, der noch in Osteuropa geflackert hatte, war ausgegangen. Eine Welle blinder Angst war durch die DDR gefegt. In den darauffolgenden Jahren war die Angst zu hoffnungsloser Resignation geworden. Aber selbst jetzt noch, wo er um sein Leben lief, war sein Entschluß stärker denn je: Er wollte seinen Landsleuten helfen, das tyrannische DDR-Regime irgendwie zu stürzen — und vielleicht sogar noch andere in Osteuropa. Wenn sich Millionen zusammenschließen und weigern würden, auch nur einen Finger zu rühren, bevor ihre Forderungen erfüllt wurden, könnten sie ganze Länder lahmlegen und ihre Freiheit gewinnen. Das war die logische Grundlage, auf der er seine Pläne aufgebaut hatte, und selbst der Fehlschlag, den sie jetzt erlitten hatten, hatte diese Theorie nicht widerlegt.
Er bog um die letzte Ecke. Man konnte die Bahnstation etwa einen halben Kilometer weiter vorne sehen. Es war ihm unmöglich, diesem Gefühl der Verantwortung zu entfliehen. Niemals würde er den Traum aufgeben können, sein Heimatland eines Tages wieder frei zu sehen.
Das ganze Land ist ein einziges Gefängnis! Der Gedanke verursachte
eine neue Welle von Wut. Eine Flucht in den Westen — einst die Hoffnung, die so viele innerlich am Leben gehalten hatte — war keine realisierbare Möglichkeit mehr. Es war nicht nur die unrühmliche Mauer, die eine Flucht verhinderte. Jeder Zentimeter der fast 1500 Kilometer langen Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR war mit zwei Zäunen abgesperrt worden. An dem 2-3 Meter hohen ersten Zaun waren in Kopf-, Brust- und Kniehöhe Signaldrähte angebracht worden. Das Gelände hinter dem Zaun war mehrere hundert Meter weit mit viel Aufwand freigeräumt und sorgfältig vermint worden. Es gab stählerne Wachtürme, auf denen Maschinengewehre und Flutlichtanlagen montiert waren. Scharfe Wachhunde patroullierten überall und waren ständig einsatzbereit. Die wenigen Touristenübergänge waren mit Wärmedetektoren ausgerüstet, um Menschen aufzuspüren, die sich in Fahrzeugen oder Lastkähnen versteckt hatten. Als Folge davon hatte sich eine fast greifbare Hoffnungslosigkeit wie ein erstickender Nebel über das Land und die Leute gelegt, die er liebte.
Selbst wenn ihm persönlich eine Flucht in den Westen möglich gewesen wäre, hätte er auf Grund der moralischen Verpflichtung, die er verspürte, jeden Gedanken daran weit von sich gewiesen. Doch wie sollte er sich der allgegenwärtigen und allwissenden Geheimpolizei entziehen, ohne das Land zu verlassen? Das war die Herausforderung, vor der er jetzt stand. Es gab eine Möglichkeit in Berlin — wenn er es nur schaffte, dorthin zu kommen.
Der Bahnhof war jetzt nur noch knappe fünfzig Meter entfernt. Ari, der schweißnaß war und nach Luft schnappte, verlangsamte sein Tempo zu einem normalen Schritt. Er näherte sich vorsichtig dem Haupteingang und sah mit Erleichterung, daß es nirgends ein Anzeichen von Polizei gab. Die große Uhr über der Tür zeigte ihm, daß er sich mit diesen fünf Kilometern wahrscheinlich einen Platz in der Olympiamannschaft verdient hätte. In sieben Minuten würde er sich im 10.49-Uhr-Zug nach Berlin befinden. Vorsichtig betrat er das Gebäude und wischte sich den Schweiß aus Stirn und Nacken.
Die große, schwach erleuchtete Wartehalle mit ihren wenigen abgenutzten, dünn gepolsterten Stühlen und Holzbänken war fast leer. Nur hier und da saßen verstreut einige verschlafene Reisende. Ari nahm die Szene mit einem Blick in sich auf. Da war eine Mutter, die ein Nickerchen machte. Ihre Arme hatte sie um zwei schlafende kleine Kinder gelegt und ihre Füße standen auf einem Stapel von Koffern. Dann war da noch ein Betrunkener, der sich auf dem Bauch ausgestreckt hatte und laut schnarchte. Ferner ein Paar in mittlerem Alter,
überarbeitet, unterernährt und mit sorgenvollen Gesichtern, die sich wortlos umschlungen hielten.
Ari erstarrte instinktiv. Zu seiner Rechten, gleich an der Tür, saß ein ungewöhnlich muskulöser Mann von mittlerer Größe, der scheinbar in eine Zeitung vertieft war. Seine flache Nase sah so aus, als sei sie mehrmals gebrochen gewesen. Man konnte sich ziemlich sicher sein, daß er über längere Zeit Boxer gewesen war. Auf der anderen Seite des gewölbten Raumes, gleich bei dem Ausgang, der zu den Bahnsteigen führte, stand ein großer jüngerer Mann, der wie ein gut durchtrainierter Sportler aussah und ebenfalls gleichgültig die abendlichen Propagandablätter las. Beide Männer trugen dunkle Anzüge. Stasi!
Ari unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen und wieder zum Haupteingang hinauszugehen. Wohin sollte er sich wenden? Sie hatten ihn mit Sicherheit bereits gesehen. Er zwang sich zur Ruhe, ging lässig zu dem einzigen Schalter, der geöffnet war, und sagte laut: „Bitte eine einfache Fahrkarte nach Fürstenwalde. “ Das war zwar nicht sein Ziel, aber es würde seine Verfolger in die Irre leiten und die Strecke führte an seinem Heimatdorf vorbei. Nachdem er die Fahrkarte gekauft hatte, ging er durch den Ausgang, stieg einige Treppen hinauf und dann wieder einige Treppen hinunter und betrat den Bahnsteig nach Berlin.
In fünf Minuten sollte der nächste Zug einlaufen. Ari wandte sich nach rechts und ging langsam den Bahnsteig entlang, bis er den letzten der wenigen Passagiere, die auf den Eilzug nach Berlin warteten, hinter sich gelassen hatte. Tatsächlich, die beiden Männer in Straßenanzügen kamen beinahe sofort auf den Bahnsteig hinaus. Die Zeitungen hatten sie unter den Arm geklemmt. Der Kräftigere ging voran, und wenige Schritte hinter ihm folgte der Größere. Vorsichtig, wie eine Katze, die sich an eine Maus heranschleicht, kamen sie näher.
Ari wandte seine rechte Körperhälfte von den anderen auf dem Bahnsteig ab, zog seine Jacke zurück, legte seine Hand auf die Luger, entsicherte sie und wartete. Die Männer blieben etwa sechs Meter von ihm entfernt stehen, entfalteten ihre Zeitungen und begannen wieder zu lesen. Sie wollen mich noch nicht gefangennehmen. Sie wollen mir nur folgen. Sie hoffen wohl, daß ich sie zu ein paar anderen führe. Na gut, woll’n sehen, wo dieses Spielchen hinführt.
Ari sicherte die Waffe wieder, nahm die Hand von der geladenen Pistole und ließ seinen Mantel nach vorne fallen, um die Waffe zu verdecken. Als der Zug einlief, ging er absichtlich weiter nach hinten und stieg in die erste Tür des letzten Waggons ein. Der Größere stieg hinter
ihm ein, während der Boxer an ihnen vorbeiging und am hinteren Ende einstieg.
Abgesehen von einem älteren Ehepaar, das in der ersten Reihe saß und fest schlief, war das Abteil leer. Ari setzte sich auf einen Platz etwa in der Mitte des Waggons. Der Mann, der hinter ihm eingestiegen war, saß mehrere Plätze vor ihm, und Boxernase setzte sich einige Reihen hinter ihm hin. Sie sind so plump, so übertrieben selbstsicher. Es ist so selbstverständlich für sie, daß alles so läuft, wie sie es wollen. Halten die mich für einen Idioten?
Der Zug fuhr pünktlich ab und beschleunigte rasch — dies war der einzige öffentliche Dienstleistungsbetrieb, dessen Leistungen der sprichwörtlichen deutschen Tüchtigkeit nahekamen. Ari dachte angestrengt nach, ging die verschiedenen Möglichkeiten durch, versuchte, den besten Plan zu entwerfen. Es schien nur eine einzige überzeugende Lösung zu geben: er mußte seine beiden „Schatten“ töten und ihre Leichen aus dem Zug werfen. Aber er konnte sie nicht einfach umbringen. Wenn er das täte, würde er sich auf ihr Niveau hinabbegeben. Solch eine unerhörte Tat würde ihm jede moralische Grundlage dafür nehmen, ihr Regime zu stürzen. Selbstverteidigung war eine Sache, aber kaltblütiger Mord kam nicht in Frage. Er wußte, daß er niemals imstande wäre, einen Menschen zu töten, es sei denn, dies wäre der einzige Weg, um sein eigenes Leben oder das eines anderen zu retten.
Der Schaffner trat ein und kontrollierte die Fahrkarten. Er war ein großer, beleibter Mann mit einer schmutzigen Uniform und einem freundlichen Lächeln — absolut untypisch für einen Beamten der DDR, ganz gleich, wie unbedeutend seine Aufgabe sein mochte. Nachdem er diese kurze Aufgabe erfüllte hatte, schlenderte er den Gang zurück und blieb kurz stehen, um dem schlafenden Paar freundlich zuzunicken. Als er den Waggon verließ, um zum vorderen Teil des Zuges zu gehen, hob er kurz den Arm zum Gruß. Er würde erst nach der nächsten Station wiederkommen.
Ari durfte nicht zulassen, daß die beiden Stasi-Agenten zusammen mit ihm den Zug verließen und ihm bis nach Hause folgten. Aber wie konnte er es verhindern? Irgendwie mußte er den Zug verlassen, ohne daß sie es merkten — oder er mußte sie rechtzeitig aus dem Zug befördern. Ja, das war’s! Plötzlich hatte er die rettende Idee und wußte, was er tun würde.
Dies war ein Eilzug, der nur selten hielt. Sein Dorf würde die zweite Station sein. An sah auf seine Uhr. Er hatte noch ungefähr sechs Minuten.
Er ließ die kostbare Aktentasche zurück und ging zwanglos zum Ende des Waggons, so, als wolle er auf die Toilette gehen. Aber statt dessen schlüpfte er schnell auf den Sitz hinter dem Muskelmann. Mit einer raschen Bewegung zog er die Luger aus dem Gurt und preßte den Lauf fest gegen den Schädel des Stasi-Mannes, direkt hinter seinem rechten Ohr.
„Aufstehen! Sofort!“ flüsterte Ari. „Geh nach vorne, Hände an die Seiten. Verhalte dich normal. Falls du irgendeinen Trick versuchen solltest, bist du sofort tot!“ Der Agent stand zögernd auf. Ari preßte ihm immer noch die Luger an den Schädel und klopfte ihn schnell ab. Er zog eine 32er Pistole mit kurzem Lauf aus einem Unterarmgurt und steckte sie in seinen eigenen Gurt unter die Jacke. Die Taschen des Mannes enthielten ein kleines tragbares Funksprechgerät, ein Portemonnaie und einen Schlüsselbund. Ari nahm das Geld. Es waren mehrere tausend Mark. Alles andere warf er auf den Sitz und bedeckte es mit der Zeitung des Mannes. Dann schob er den Boxer in den Gang.
„Hände an die Seiten! Augen gerade nach vorn! Geh zu deinem Freund. Ich bin zum Äußersten entschlossen. Liefere mir einen Grund, und ich werde dich töten!“
Der große, athletische Agent, der jetzt ein Taschenbuch las, merkte erst was geschah, als sie wenige Schritte hinter ihm waren. Er wirbelte in seinem Sitz herum, sah Aris Pistole, zögerte und hob dann langsam seine Hände. Ari schob den Boxer vorwärts und winkte seinem Partner, aufzustehen und sich gleich hinter dem Boxer in den Gang zu stellen. Ari nahm sich schnell den Revolver des Mannes und steckte ihn in eine seiner eigenen Jackentaschen. Dann kam noch einmal dieselbe Prozedur: er entfernte das Geld, ließ das Portemonnaie und das Funksprechgerät auf den Sitz fallen und bedeckte alles rasch mit der Zei-tung.
Das ältere Ehepaar schlief immer noch und schwankte im unregelmäßigen Rhythmus des Zuges hin und her.
„Ich bin ein Flüchtling ... keine Familie, keine Zukunft in diesem Land ... entschlossen, zu entkommen“, sagte Ari seinen Gefangenen leise, aber bestimmt. „Folgt meinen Anweisungen — oder ihr seid tot. Durch die Tür dort, geradeaus!“
Widerwillig öffnete der Boxer die vordere Tür. Ari schob die beiden Männer hindurch, folgte dicht hinter ihnen und schloß die Tür hinter sich. Der Lärm der Räder, die über die Schienen rasten, war jetzt ohrenbetäubend, und er mußte schreien, um gehört zu werden.
„Offne die Tür da!“ Ari wies auf die Wagentür auf der rechten Seite.
„Wir können nicht dort hinaus!“ wandte der größere der beiden ein. Jetzt, wo er ihn aus der Nähe sah, bemerkte Ari seine lange Nase, das spitze Kinn und die schmalen Augen, die ihm eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Wiesel verliehen.
„Damit wirst du niemals durchkommen!“ schnarrte der Muskelmann. „Sie werden dich kriegen!“
Ari ignorierte sie und sah auf seine Uhr. „In etwa einer Minute“, schrie er, „wird der Zug langsamer fahren, weil eine alte Brücke über einen See kommt. Das Wasser ist nur etwa 3 Meter weiter unten. Es gibt ein niedriges Geländer, über das ihr springen könnt... aber alle 30 Meter kommt ein Stützträger. Ihr müßt zwischen den Trägern springen. Öffnet jetzt die Tür.“
Die Männer rührten sich nicht. Sofort schlug Ari Boxernase mit der Pistole so hart ms Gesicht, daß er herumwirbelte. Ari packte ihn von hinten, legte ihm seinen Arm um den Hals, preßte ihm erneut den Lauf der Pistole direkt hinter dem rechten Ohr gegen den Schädel und brüllte das Wieselgesicht an: „Öffne die Tür — sofort—, oder ich werde euch beide töten und rauswerfen!“
Der große Stasi-Agent zog die Tür nach innen auf und stand in der Öffnung. Er lehnte sich gegen die Zugwand, um nicht die Balance zu verlieren. Der Mond, der halb hinter Wolken verborgen war, gab gerade noch genug Licht, um Gegenstände zu erkennen, die dicht an der Bahn vorbeihuschten. Der Zug wurde langsamer. Plötzlich änderte sich das gleichmäßige, klappernde Summen der Räder auf den Schienen. Es klang höher und hohler.
„Wir sind über dem See!“ schrie Ari. „Das war der erste Träger. Wenn ihr den nächsten seht, spring schnell, alle beide! Da ist er — springt!“
Mit einem Schubs von Ari flogen sie beide hinaus in die Nacht. Er hörte ein doppeltes, beinahe gleichzeitiges Aufklatschen. Erleichtert lehnte sich An an die offene Tür und wischte sich mit dem Handrük-ken den Schweiß von der Stirn. Mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen sog er in tiefen Zügen die vorbeirauschende Nachtluft ein.
Die Stasi-Agenten waren irgendwo in der Mitte des kleinen Sees gelandet. Sie hatten nicht weit zu schwimmen, aber einen um so längeren Fußmarsch vor sich. Bis zum nächsten Dorf würden sie mehrere Stunden brauchen. Und dann, so hoffte er, wäre er schon längst in Berlin in Sicherheit.
Ari schlug die Waggontür zu und ging wieder ins Abteil. Das alte
Ehepaar schnarchte immer noch im Duett. Rasch sammelte er die Gegenstände ein, die er den beiden Männern abgenommen hatte, wik-kelte sie in die Zeitungen und warf sie aus der hinteren Zugtür. Dann ging er schnell wieder zu seinem Sitz und lehnte sich zurück, um zu verschnaufen und über das nachzudenken, was vor ihm lag.
Es gab einige belastende Unterlagen, die er wiederbekommen mußte — Sicherheitskopien der Papiere, die er in seiner Aktentasche trug. Er hatte sie vor einigen Wochen zu Hause in der Wand seines winzigen Schlafzimmers versteckt. Unter anderem befanden sich die genauen Pläne für den jetzt gescheiterten Aufruhr unter den Unterlagen, sowie eine vollständige Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern aller wichtigen Mitarbeiter der Verschwörung. Die Unterlagen mußten vernichtet werden. Er durfte keinerlei Risiko eingehen — er mußte alles in seiner Macht Stehende tun, um die anderen zu schützen.
Seine Eltern würden nicht erfreut sein, ihn unter diesen Umständen zu sehen. Er mußte sich für diesen plötzlichen und kurzen Besuch mitten in der Nacht eine gute Erklärung ausdenken. Sie durften nicht ahnen, daß er auf der Flucht war. Wenn die Polizei sie später verhören würde, mußten sie schwören können, daß sie von seiner Verschwörung oder seiner Flucht nichts gewußt hatten. Ansonsten würde man sie womöglich ins Gefängnis werfen und foltern — ein Schicksal, das er selbst seinem Vater nicht wünschte.
Seine Mutter hatte ihm oft im Vertrauen gesagt, daß sie die Führung des Landes für „Gangster“ hielt. Unter dem Marxismus hatte die Wirtschaft der DDR schwer nachgelassen. Sie war unproduktiv geworden und konnte in keiner Hinsicht mehr mit dem Westen konkurrieren. Lediglich im Sport war man voraus. Um den Westen zu täuschen, wurden daher riesige Summen in die Oympischen Spiele gepumpt -viel mehr, als man sich eigentlich leisten konnte.
Aris Vater sah alles ganz anders. Sein fanatischer Nationalsozialismus hatte sich mit erstaunlicher Leichtigkeit in einen genauso fanatischen Marxismus verwandelt. In seinen Augen war das Regime unfehlbar, und er ließ keine Gelegenheit aus, um seine Loyalität zu bekunden. Aber bisher hatten ihm seine Versuche, sich bei der Partei lieb Kind zu machen, nichts eingebracht, nicht einmal eine Erleichterung der schweren und niedrigen Arbeiten, die er in der LPG verrichtete.
„Sie werden mich befördern — du wirst sehen!“ hatte Aris Vater oft gesagt, wenn er seine Enttäuschung im Alkohol ertränkte. „Ein einziger mieser Jude im Komitee steht im Wege.“
Er würde mich verraten! Sein einziges Kind! Um Pluspunkte bei der Partei zu sammeln! Mit Sicherheit! Diese beunruhigende Erkenntnis weckte aufs neue einen Schmerz, den Ari lange unterdrückt hatte. Wie ist es möglich, daß ein Vater seinen eigenen Sohn haßt? Es war eine Frage, die Ari jahrelang gequält hatte, eine Frage, die er immer und immer wieder in die schweigende Stille geschleudert hatte, wenn er sich nachts in seinem Bett hin- und herwälzte und lebhafte Szenen des Grauens von jenem Tag oder auch besonders häßliche Episoden der Vergangenheit an ihm vorbeizogen. Er war damals noch ein Junge gewesen, kurz vor der Pubertät. Sein Vater war ein einfacher Bauer mit einer geringen Schulbildung. Er ärgerte sich über Aris Intelligenz und die Tatsache, daß er von der Partei besonders bevorzugt wurde — um so mehr, als er auf Grund dieser Bevorzugung Unterricht erhielt, der ihn neun Monate im Jahr von seinen Pflichten in der Landwirtschaft befreite.
Aris Vater war ein großer, kräftig gebauter Mann, der plötzlich gewalttätig werden konnte, besonders dann, wenn er getrunken hatte. Seine häufigen Wutausbrüche hatten Ari als Kind in Angst und Schrecken versetzt. Soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte ihn sein Vater regelmäßig ohne ersichtlichen Grand geschlagen. Seine Mutter mußte oft das gleiche Schicksal erleiden, wenn sie sich für Ari einsetzte. Später, als Ari mit den Kampfsportarten begonnen hatte, war aus seiner Angst Verachtung geworden. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er seine Mutter und sich selbst mit einer Schnelligkeit und einem Können verteidigt, gegen die sein Vater mit seiner rohen Gewalt und seiner Kneipen-Schlägertechnik nicht ankonnte. Es war eine blutige Schlägerei gewesen. Nicht, weil Ari seine Rache auskostete, sondern weil sein Vater erst aufgab, als er besinnungslos am Boden lag. Seit jenem denkwürdigen Tag hatte es in ihrer Familie keine körperliche Mißhandlung mehr gegeben — nur Blicke, die einen hätten töten können.
Es würde Mitternacht werden, bis er da war. Vielleicht könnte er hineinschlüpfen und wieder gehen, ohne daß ihn jemand sah. Es wäre leichter gewesen, wenn er und seine Eltern nicht in diesen Kaninchenbau in eine der dicht an dicht liegenden Höhlen hätten ziehen müssen, als die Bauernhöfe 1960 kollektiviert worden waren. Ihre Nachbarn schienen ein perverses Vergnügen darin zu finden, einander auszuspionieren. Am schlimmsten war diese jüdische Familie mit dem Jammerlappen von einem Sohn und der raffinierten Tochter, die immer hinter den Vorhängen stand und ihn auf Schritt und Tritt beobachtete!
Sie waren mit Sicherheit bezahlte Informanten der Stasi. Woher sollten sie sonst so viel Geld für einen Fernseher, ein eigenes Auto und andere Luxusartikel haben, die sich sonst niemand in der LPG leisten konnte?
Juden! Wie er diese hebräische Brut haßte! Der Haß auf die Juden war das einzige, was ihn sein Vater als Kind gelehrt hatte und was er immer noch als persönliche Überzeugung beibehalten hatte. Er hatte nicht viele Juden kennengelernt, aber die, denen er begegnet war, besaßen all jene Eigenschaften, vor denen ihn sein Vater gewarnt hatte und die er verachtete.
Wäre seine Mutter nicht gewesen, wäre Ari längst von zu Hause weggegangen und nie mehr zurückgekehrt. Trotz ihres närrischen religiösen Glaubens liebte er diese Frau leidenschaftlich. Sie betete zu einer eingebildeten Gottheit, die sie niemals erhörte, „bekreuzigte“ sich in einem vergeblichen Versuch, Böses von sich fernzuhalten, und bildete sich manchmal sogar ein, daß eines ihrer Gebete erhört worden war. Sie war eine schlichte, freundliche Frau ohne Falsch, ein krasser Gegensatz zu der komplexen Welt, in der er sich bewegte.
„Glaube an Gott, Ari, und an die Jungfrau Maria“, hatte sie ihn so oft gebeten.
„Du weißt, daß ich kein Atheist bin wie die Marxisten“, hatte er dann immer protestiert. „Jedes Atom hat seine eigene Struktur. Und wenn man an eine lebende Zelle denkt... und das menschliche Gehirn ... natürlich muß es irgendein intelligentes Wesen geben, das all das geplant hat. Man kann es ,Gott’ nennen, wenn man will ...“
„Aber Ari“, wandte sie dann immer ein, „du betest niemals ...“ „Das ist Religion, mit ihren Ritualen und ,Heiligen’, die sich irgendwelche machthungrigen Scharlatane, die vorgeben, für ,Gott’ zu sprechen, ausgedacht haben, damit sie die Leute kontrollieren können. Ich mag es nicht, wie du darauf hereinfällst!“
„Die Heilige Jungfrau Maria ist überall auf der Welt erschienen“, erwiderte sie dann jedesmal ernsthaft. „Sie verspricht, uns Frieden zu bringen und uns in den Himmel zu holen. Ich könnte nicht weiterleben, wenn ich keinen Glauben hätte.“
„Glauben!“ erwiderte er dann scharf, unfähig, seine Verachtung zu verbergen. „Glauben an einen ,Gott’, der Krankheit, Hunger und Ungerechtigkeit zuläßt — der zuläßt, daß marxistische Teufel Tausende von Menschen abschlachten und uns alle zu Gefangenen machen? Wir müssen die Welt selbst verändern — kein ,Gott’ wird uns dabei helfen!“ Wenn dann ein schmerzlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien,
legte er einen Arm um sie und sagte sanft: „Es tut mir leid, Mama, aber wirklich ... was für Beweise ...?“
„Beweisef“Die Kirche sagt, daß es wahr ist. Eines Tages wirst du verstehen.“
So endete es jedesmal. Ihr „Glaube“ war unverändert, und ihm tat es leid, daß er so unhöflich gewesen war. Es tat Ari sehr weh, daß ihr seine Skepsis beinahe genauso viel Pein verursachte, wie die Mißhandlungen seines Vaters. Ari war ihr einziges Kind und auch der einzige Mensch, von dem sie Trost erwarten konnte. Den gab er ihr auch auf jede ihm mögliche Weise. Aber er konnte nicht so tun, als glaube er die Märchen, die sie schluckte.
Wie er sich danach sehnte, sich von seiner Mutter zu verabschieden und ihr zu sagen, daß mit ihm alles in Ordnung sein würde. Aber wenn sie nichts wußte und ihn nicht einmal gesehen hatte, würde ihr das vielleicht ein wenig Milde einbringen. Was seinen Vater betraf, so wollte er ihn genausowenig sehen wie den Teufel persönlich.
3. „Du bist ein dreckiger, stinkender Jude!“
Zehn Minuten waren vergangen, seit der Zug den See passiert hatte. Die qualmende Diesellok hatte wieder beschleunigt und war mit Höchstgeschwindigkeit weitergefahren. Jetzt wurde der Zug langsamer und hielt zum ersten Mal. Ari wußte, daß auf diesem Bahnhof - immer sehr viel Betrieb gewesen war. Er hatte sich jetzt auf den Platz gleich am hinteren Ausgang gesetzt, von wo er durch das Fenster den ganzen Bahnsteig überblicken und ein wachsames Auge auf jeden haben konnte, der sein Abteil betrat. Ungefähr ein halbes Dutzend Passagiere bestiegen den Zug, und außer einem verliebten jungen Pärchen nahmen alle in den vorderen Wagen Platz. Arm in Arm taten sie ungeschickt ein paar Schritte durch den schmalen Gang und setzten sich dann vorne in die fünfte Reihe, wo sie so vertraut miteinander schmusten und plapperten, als seien sie vollkommen allein auf der Welt. Von denen war nichts zu befürchten.
Der Zug fuhr mit einem Ruck wieder an und Ari lehnte sich zurück, um sich zu entspannen. Noch achtzehn Minuten Fahrt mit Höchstgeschwindigkeit, und der Zug würde in seinem Dorf halten. Er wollte keine weitere Konfrontation, und somit blieb ihm nur eine einzige Möglichkeit.
Der Schaffner, der jetzt seine eigene Version einer unbeschreiblichen Melodie pfiff, kam wieder durch den Waggon, um die Fahrkarten zu kontrollieren.
„Ich muß in Luckenwalde umsteigen“, sagte Ari beiläufig. „Wie weit ist das noch?“
„Noch drei Stationen ... ungefähr eine Stunde.“
Ari lehnte sich in den Gang hinaus und winkte dem Schaffner, näherzukommen. Der Mann beugte seine riesige Gestalt hinunter und Ari vertraute ihm mit leiser Stimme an: „Ich habe mir da irgendeinen Virus eingefangen. Muß dauernd auf die Toilette. Nur damit Sie wissen, wo ich gerade bin, wenn Sie durchkommen und ich sitze nicht hier.“
„Ich werde bestimmt nicht nach Ihnen suchen“, erwiderte der Schaffner schmunzelnd und mit einem Blinzeln. Er ging langsam den Gang hinauf und verschwand durch die Tür des Abteils.
Das war einfach. Er wird denken, ich sei noch im Zug. Ari lächelte
zufrieden, lehnte seinen Kopf gegen den Sitz und entspannte sich. Aber gleichzeitig versuchte er verzweifelt, nicht einzuschlafen, indem er über verschiedene Situationen nachgrübelte. Es wäre eine Katastrophe, wenn er einschliefe und seine Station verpaßte, aber es war ein schrecklicher Kampf, auch nur die Augen offen zu halten. Falls er sie schließen würde, wäre er sofort eingeschlafen.
Die wenigen Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Schließlich verlangsamte der Zug seine Fahrt. Sofort war Ari auf den Beinen. Er nahm seine schwere Aktentasche, ging in den engen Ausgangsbereich am Ende des Waggons, schloß die Tür zum Abteil hinter sich und zog die Außentür auf. Ais der Zug nur noch knappe 50 Meter vom Bahnhof entfernt war, sprang er von der Plattform ab, landete neben den Gleisen und verschwand im Wald. Dort wartete er einige Minuten und spähte hinter den Bäumen hervor in Richtung Station, um sich zu vergewissern, daß ihn niemand gesehen hatte. Dann drehte er sich um und rannte zum Haus seiner Eltern.
Die spärliche Bewölkung hatte sich aufgelockert und verdeckte den Mond zunächst nur ab und zu für kurze Zeit. Ari folgte einem Pfad, der zwar kaum zu erkennen war, den er jedoch gut kannte, und mied die Straßen. Er überquerte nasse Felder und ging durch tropfende Wälder, roch den vertrauten Duft feuchter Erde und regennasser Blätter, die Kindheitserinnerungen in ihm aufsteigen ließen. Als kleiner Junge hatte er häufig diese Abkürzung genommen, wenn ihn sein Vater auf Botengänge ins Dorf geschickt hatte. Bei Tageslicht brauchte er für die Strecke im Dauerlauf zwanzig Minuten. Aber die Wolken wurden wieder dichter und die schwere Aktentasche behinderte ihn, so daß er beinahe doppelt so lange brauchte — kostbare Minuten, die zu verlieren er sich kaum leisten konnte.
Auf Grund der vergangenen schlaflosen Nächte war es um so ermüdender, die lange Strecke zu laufen. Jedesmal, wenn er stolperte, verfluchte Ari die Dunkelheit. Aber als er sich der LPG näherte und vorsichtig einer baumbestandenen Schlucht folgte, die quer durch die Felder verlief, murmelte er einen von Herzen kommenden Dank für die dichter werdenden Wolken, die den Vollmond verdeckten und seine verstohlenen Bewegungen verbargen.
Schließlich war er nahe genug, um in den kurzen Intervallen, in denen das Mondlicht durchkam, in der Ferne die undeutlichen Umrisse von einem Dutzend kleiner Häuser zu erkennen, aus denen die Produktionsgemeinschaft bestand. Die Häuser drängten sich in einem Halbkreis zusammen, der zur Straße hin offen war und etwa 90 Meter
von ihr entfernt stand. Alles war dunkel. Nur im Haus seiner Eltern brannte in der Küche Licht. Zu so später Stunde waren seine Eltern normalerweise nicht mehr wach. War die Geheimpolizei etwa dort und verhörte sie? Oder versteckte sich die Stasi bereits draußen vor dem Haus?
Wo waren die Hunde, die nachts immer losgelassen wurden, um das Gelände der LPG zu bewachen? Warum kläfften sie nicht einen wilden, schwanzwedelnden Willkommensgruß für ihn? Ein leichter, wechselhafter Wind wehte aus seiner Richtung zu den Häusern hin-- über und trug seinen Geruch dorthin. Die Hunde, die er so sehr liebte, hätten eigentlich schon herbeilaufen müssen, um ihn zu begrüßen. Er hatte sich bereits Gedanken gemacht, wie er sie schnell genug zum Schweigen bringen konnte. Aber alles war ruhig — zu ruhig. Angenommen, die Polizei versteckt sich irgendwo, um auf mich zu warten. Dann hätten sie anordnen müssen, daß man die Hunde einsperrt, weil sie sonst ununterbrochen bellen würden. Ja, so mußte es sein!
Ari kannte jeden Zentimeter des Geländes. Vorsichtig schlug er einen Kreis nach links, wobei er der flachen, von Bäumen gesäumten Schlucht folgte. Sie umgab die Ansammlung von Landwirtschaftsgebäuden und bildete die Grenze zwischen ihnen und den frisch gepflügten und bepflanzten Feldern. Nichts. Schließlich kam er zu dem schmalen Schotterweg, der von seinem Dorf zum etliche Kilometer entfernten nächsten Dorf führte. Einige Minuten lang stand er bewegungslos gegen den Stamm einer hohen Pappel gepreßt und versuchte angestrengt, die Dunkelheit entlang der Straße und durch die Bäume hindurch bis zu den Häusern zu durchdringen. Seine Sinne waren aufs äußerste angespannt, um auch das leiseste Geräusch und den geringsten Geruch zu entdecken. War das der Duft von Tabak gewesen, der von jemandes Atem oder der Kleidung stammte? Es war so rasch gekommen und mit dem sich drehenden Wind auch sehr rasch wieder verschwunden, daß er sich nicht sicher war.
Ein Zweig knackte zu seiner Rechten. Ari drehte rasch den Kopf und versuchte, in der undurchdringlichen Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Geräusch war leise und kurz gewesen. Vielleicht spielte ihm seine Einbildung inzwischen Streiche. Plötzlich war da wieder der leichte, flüchtige Geruch von Tabak. Diesmal war er sich sicher. Da vorne ist jemand! jetzt konnte er ihre Gegenwart spüren. Aber wo waren sie?
Weitere Minuten vergingen. Ari preßte sich still und regungslos gegen den Baumstamm. Seine Augen und Ohren waren angespannt,
um die verborgenen Jäger aufzuspüren. Wußten sie, daß er da war? Einen kurzen Moment lang teilten sich die Wolken, und seine Augen erfaßten das Schimmern des Mondlichtes auf einer Windschutzscheibe! Ein Auto! Es war nur wenige Meter hinter ihm zu seiner Rechten versteckt! Er war daran vorbeigegangen und hatte es nicht gesehen! Hatten sie ihn bereits entdeckt?
Ari kauerte sich nieder und wartete, daß sich die Wolken wieder teilten, aber die Dunkelheit wurde nur noch dichter. Plötzlich wurde ein Streichholz angezündet. Es erleuchtete kurz das Gesicht eines Mannes, der keine 50 Meter von ihm entfernt stand! Ari hörte, wie das Streichholz ausgeblasen wurde, sah das rote Glühen einer Zigarette und roch dann den glimmenden Tabak. Einen Feind hatte er entdeckt. Wo waren die anderen?
Der Raucher versteckte sich am Rande eines schmalen Streifens von Tannen und Birken, der sich aus der Schlucht, der Ari gefolgt war, hinaus auf einen kleinen Felsen erstreckte. Von dort aus hatte man eine gute Sicht auf die Landstraße und jedes der Häuser. Offensichtlich erwarteten sie nicht, daß er durch die Felder von der Bahnstation, sondern mit einem Auto über die Straße kommen würde. Vorsichtig trat Ari wieder zwischen die Büsche und Bäume und begann, sich auf den roten Schimmer zuzubewegen, der jedesmal wieder aufleuchtete, wenn der Raucher einen Zug nahm. Wie oft war er zwischen diesen Bäumen herumgekrochen, wenn er als Junge Verstecken gespielt hatte. Damals hätte er nicht im Traum daran gedacht, daß er eines Tages dieses tödliche Spiel spielen müßte!
Zum Glück hatte es heftig geregnet. Der Boden war so sehr durchnäßt, daß man sich geräuschlos auf dem Laub bewegen konnte. Aber wenn er sich lautlos bewegen konnte, konnten sie es natürlich auch. Bald war er nahe genug heran, um sein Opfer schemenhaft auf der leichten Erhebung sehen zu können. Es hob sich gegen den dunklen Himmel ab und ging ungeduldig auf und ab. Offensichtlich bereitete ihm seine Aufgabe keine große Freude. Wo waren die anderen?
„Hände hoch!“ Die tiefe Stimme klang genauso erstaunt, wie Ari sich jetzt fühlte. Sie erscholl nur wenige Schritte rechts hinter ihm. „Alex! Ich habe ihn! Hier drüben.“
Ari hob die Hände und drehte sich langsam um. Er sah, wie sich eine dunkle Gestalt von dem Baumstamm trennte, mit der sie eine Einheit gebildet hatte, als er nur wenige Augenblicke zuvor daran vorbeigeschlichen war. Vorsichtig näherte sich der Mann. Ari konnte das Un-
terholz knacken hören, als der Raucher, der jetzt eine Taschenlampe angeknipst hatte, herbeieilte.
„Umdrehen!“ Der Klang der Stimme hatte sich geändert. Jetzt signalisierte sie kein Erstaunen mehr, sondern wilde Befriedigung. „Legen Sie die Hände auf den Kopf!“
Während Ari so tat, als befolge er den Befehl, drang der erste Strahl der Taschenlampe durch die Bäume und traf kurz die Augen des Mannes, der ihn gefangennahm. In dem Augenblick holte Ari mit seinem Bein aus. Es war eine gleitende und doch schnelle Bewegung, die fast -so wirkte, als sei sie Teil seines gehorsamen Umdrehens. Gerade als sein Fuß die Waffe berührte, hörte er, wie sie losging und verspürte beinahe gleichzeitig einen scharfen Schmerz seitlich an seinem Kopf. Eine weitere schnelle Bewegung, als er sich zu dem zweiten Mann umdrehte, und Aris anderer Fuß schlug seinem Gegner beinahe den Kopf ab. Er krachte gegen den Baum, hinter dem er sich versteckt hatte, sackte zusammen und blieb still liegen.
Jetzt war Ari am Boden, die Luger in der Hand. Zwei Schüsse von dem Mann mit der Taschenlampe, die er jetzt ausgeknipst hatte, gingen über ihn hinweg. Ari antwortete mit zwei eigenen Schüssen. Er zielte auf die Stelle, wo er kurz zuvor das Mündungsfeuer der Waffe seines Opfers gesehen hatte. Der scharfe Knall der Pistolenschüsse hallte in der Ferne wider. Dann herrschte eine unheimliche Stille. Ein schwerer Nebel hatte sich gesenkt, und die Feuchtigkeit, die sich auf den Blättern angesammelt hatte, begann herabzutropfen. Die planlos fallenden Tropfen waren das einzige, was zu hören war, während Ari im Matsch auf nassen Blättern lag und auf Bewegungen und Geräusche horchte. Waren seine Gegner nur zu zweit gewesen? Dort, wo die Kugel ihn gestreift hatte, schmerzte sein Kopf wie rasend. Seine vorsichtig tastenden Finger waren mit einer warmen Flüssigkeit bedeckt, als er sie zurückzog. Zum Glück blutete die Wunde kaum. Das war knapp gewesen!
Ari sah, wie hinter den Bäumen und der Scheune in verschiedenen Häusern die Lichter angingen. Hunde bellten kurz und wurden dann eilig wieder hineingerufen. Dann herrschte wieder Stille, die nur von dem jetzt gleichmäßigen Tropfen des Regens durchbrochen wurde. Er wartete, bewegte sich ein wenig, lauschte. Eine Minute, zwei, drei... fünf, zehn. Kostbare Zeit. Eines nach dem anderen gingen die Lichter wieder aus. Niemand war nach draußen gekommen, um nachzusehen. Sie wagten es nicht.
Regungslos lauschte Ari weiter angespannt und starrte in die Dun-
kelheit. Aber immer noch konnte er keinerlei Bewegung entdecken, weder von dem Mann, den er offensichtlich getroffen hatte, noch von dem, der direkt hinter ihm lag. Alex! Ich habe ihn! Diese Worte, die ihm immer noch in den Ohren klangen, schienen zu bedeuten, daß die beiden hier allein auf Posten gewesen waren.
Ari blieb am Boden und zog sich mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen zu der regungslosen Gestalt hin. Er konnte weder Puls noch Atmung feststellen. Der Kopf des Mannes lag in einem unnatürlichen Winkel. Offensichtlich war das Genick gebrochen. Immer noch kein Geräusch von „Alex“. Nichts als das leise Fallen des Regens und das gleichmäßige Tropfen. Er hatte schon viel zu viel Zeit vertan.
Ari sprang auf die Füße und bewegte sich leise und schnell von Baum zu Baum. Beinahe hätte er auf die zusammengekauerte Gestalt getreten, die vor ihm lag. Eine rasche Untersuchung bestätigte ihm, daß sie tot war. Warmes, klebriges Blut lief ihr überall über den Kopf, das Gesicht und das Jackett. Mit zitternden Fingern durchsuchte Ari die Taschen des Toten nach den Wagenschlüsseln. Aber er fand sie nicht. Er richtete sich langsam auf, als ihm plötzlich schlecht wurde und er sich an einem Baum festhalten mußte. Er hatte noch nie einen Menschen getötet und war auch selbst dem Tode noch nie so nahe gewesen.
Ari ging benommen zurück zu seinem anderen Opfer und durchsuchte dessen Taschen. Immer noch keine Schlüssel. Sie sind im Auto. Na gut. Er eilte aus dem Wald, lief die wenigen Meter über offenes Gelände bis zur schutzgebenden Scheune, ging dann rasch an der Scheunenwand entlang bis zur anderen Seite und sah dann vorsichtig um die Ecke zu den Häusern. Außer im Haus seiner Eltern war alles ruhig und dunkel. Das Licht in der Küche war immer noch an. Waren weitere Polizisten drinnen? Nein, sie wären herbeigelaufen, als die Schüsse fielen.
Lautlos ging er zum Fenster und sah hinein. Übelkeit stieg in ihm auf. Da saß er, sein grobschlächtiger Vater, beugte sich über den Tisch und trank das Bier, das er viel zu sehr liebte. Fast ein Dutzend leere Flaschen lagen am Boden. Seine Mutter stand bei ihm, verweint und unsicher. Sie strahlte eine Hilflosigkeit aus, die Ari wütend machte, wenn er daran dachte, was sie schon alles erlitten hatte. Er konnte ihre Worte nicht hören, aber sie stritten sich offensichtlich heftig. Hatten sie die Schüsse überhaupt gehört?
Vorsichtig ging er um das Haus herum, in einer Hand die Luger, in
der anderen die Aktentasche, und lauschte angespannt nach irgendeiner Bewegung. Nichts. Die Eingangstür des winzigen, nachlässig gebauten Hauses führte in eine schmale Speisekammer, von der aus man direkt in die Küche kam. Es war unmöglich, hineinzuschlüpfen, die Unterlagen zu holen und wieder zu verschwinden, ohne gesehen zu werden. Aber er konnte auch nicht warten, bis sie zu Bett gingen. Er scharrte mit den Füßen auf der Veranda, hustete und wartete einen Augenblick, bevor er versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er klopfte laut und hörte, wie sich die Schritte seiner Mutter näherten.
„Wer ist da?“ fragte sie mit zitternder Stimme.
„Ich bin’s.“
Er hörte, wie sie schockiert und ungläubig nach Luft schnappte. Sie zögerte einen Augenblick. Dann flog die Tür auf. „Ari!“
Er trat rasch hinein und schloß die Tür hinter sich. Seine Mutter warf ihre Arme um ihn, trat dann zurück und berührte sanft seine Wunde. „Du blutest! Was ist passiert, mein Liebling?“
„Mir geht’s gut. Es ist nichts Schlimmes. Ich habe mich an einem Ast aufgeschrammt, als ich vom Bahnhof durch den Wald gekommen bin.“
„Ist das wahr?“ fragte sie mit Tränen in den Augen. „Es war nicht die Polizei?“
„Polizei?“ fragte er und tat so, als ob ihn die Frage erstaune.
„Sie haben nach dir gesucht!“
„Ach wirklich? Warum?“
„Du weißt nichts davon?“
Ari schüttelte den Kopf. „Sie waren hier?“
„Vor ein paar Stunden“, kam die grollende Stimme seines Vaters, der sich nicht von seinem Platz am Tisch gerührt und schweigend vor sich hingestarrt hatte. „Sie haben uns aus dem Bett geholt. Dein Zimmer durch wühlt. Du bist angeschossen worden, du Lügner! Ich wünschte, sie hätten dich getötet!“ Er sprach mit schleppender Stimme, aber die Wut verlieh den verletzenden Worten eine überzeugende Energie. Offensichtlich war sein Verstand noch vollkommen klar.
„Hat dir das die Polizei angetan, Ari?“ fragte seine Mutter erneut und angstvoll. Sie hatte ein sauberes Tuch aus einer Schublade geholt, es unter den Wasserhahn gehalten und tupfte damit jetzt sanft seine Wunde ab.
„Ich sagte doch, es war ein spitzer Ast.“ Ari schob sie sanft beiseite. „Es geht mir gut. Du, ich habe nicht viel Zeit.“
„Weniger, als du glaubst“, sagte sein Vater hämisch. „Ich werde die Polizei rufen!“
„Willst du, daß sie dich so finden?“ bluffte Ari voller Verachtung. „Sieh dich doch an — mal wieder vollgesabbert und sternhagelvoll!“ Er durfte keine Zeit verlieren, wandte sich ab und ging auf sein altes Zimmer zu.
„Ich bin nicht betrunken. Und ich weiß genau, was ich sage ... du jüdischer Bastard!“
Getroffen von dieser Beleidigung wirbelte Ari herum und ging auf seinen Vater zu. „Was hast du da gesagt, Alter? Du wagst es, mich einen Juden zu nennen?“
Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Worte wurden ihm noch einmal entgegengeschleudert. „Du bist ein dreckiger, stinkender Jude!“ Er ergriff den Hals einer leeren Flasche und hob sie empor, um sich zu verteidigen, als Ari auf ihn zuging.
„Halt! Ari! Franz!“ Aris Mutter warf sich zwischen die beiden Männer, als ihr Mann sich mühsam erhob.
„Nein, er soll es hören — jetzt. Ich habe dir gesagt, daß es ein Fehler war, dieses jüdische Baby zu behalten. Aber du mußtest ja deinen Willen haben. Und sieh dir an, was du davon hast! Sie werden uns ins Gefängnis stecken ... wenn wir ihm nicht anzeigen.“
„Ich hatte es versprochen. Ich hatte mein Wort gegeben. Bitte, Franz!“
„Nein! Ich werde nicht länger so tun, als ob dieser dreckige Jude mein Sohn sei. Ich werde die Polizei rufen!“
4. In die Nacht hinaus
„Oh, mein Gott!“ Aris Mutter fiel vor ihrem Mann auf die Knie. Sie weinte jetzt völlig unkontrolliert und umklammerte seine Beine. „Heiligejungfrau, hilf mir!“ Er schüttelte sie ab und sank zurück auf seinen Stuhl am Küchentisch. Seine Augen funkelten vor Haß, als er Ari anstarrte.
Wie betäubt vor Entsetzen konnte Ari kaum glauben, was hier ^gerade passierte. Die beißenden Worte hatten Erinnerungen an alte Ängste und Unsicherheiten seiner Kindheit geweckt, die ihm jetzt eine nach der anderen wieder in den Sinn kamen. Selbst über seinen Namen hatte er sich gewundert. „Ari“ war kein deutscher Name; er war jüdisch! Sein Vater, der alles Jüdische leidenschaftlich haßte, hätte ihn sicherlich niemals so genannt. Seine Mutter hatte wiederholt behauptet, sie habe den Namen ausgewählt. Aber es gab keinen in ihrer Verwandtschaft, der so hieß.
Ari half seiner Mutter auf die Füße, hielt ihre Hände und zwang sie, ihn anzusehen. „Sieh mich an“, bat er. „Er lügt, nicht wahr? Du hast mir gesagt, ich sei nicht adoptiert ... du hast es sogar geschworen!“
Sie wandte sich ab und entzog ihm eine Hand, um sich die Augen zu wischen. „Es ist wahr“, murmelte sie beinahe unhörbar. „Du bist ein Jude, Ari.“
„Sieh uns an, und dann sieh dich selbst an!“ fuhr die höhnende Stimme seines Vaters fort. „Hast du dich nie darüber gewundert? Wir sind beide sehr groß und blond. Du bist viel kleiner — mit dunkler Haut. Du siehst aus wie ein Jude!“ Er spuckte den letzten Satz verächtlich aus.
Ari taumelte wie ein Boxer, der k.o. zu Boden geht. Ja, er hatte sich gewundert, sogar oft. Er umklammerte den Arm seiner Mutter und sah angstvoll in ihr Gesicht. „Ich habe meine Geburtsurkunde gesehen! Sie gibt Datum und Ort an — und besagt, daß du meine Mutter bist.“
Erneut wandte sie sich ab. Sie war nicht in der Lage, ihn anzusehen. „Ich habe gelogen. Es war leicht. Alle Unterlagen jenes Krankenhauses waren im Krieg verbrannt. Sie erstellten neue ,Geburtsurkunden’. Ich mußte nur ein Dokument unterzeichnen.“
Von der jetzt triumphierenden Gestalt am Küchentisch kam ein leises Lachen. Er redete nur wenig, wenn er nüchtern war. Aber im betrunkenen Zustand wurde er immer redseliger. „Du bist all das, was
du haßt. Ich habe immer gesagt, es sei zu schade, daß Hitler sie nicht alle umgebracht hat — und du hast zugestimmt! Du hast dir gewünscht, sie wären alle tot! Nun, du bist einer von ihnen!“ Sein häßliches Lachen steigerte sich, bis es außer Kontrolle war.
Am Boden zerstört und benommen ergriff Ari seine Mutter am Arm und führte sie in die kleine Nische, die ihm als Schlafzimmer gedient hatte. Sie war gründlich durchwühlt worden. Schubladen waren herausgezogen und ausgeleert, das Bett auseinandergerissen und die Matratze aufgeschlitzt. Aber das Versteck war unberührt. Dieser glückliche Umstand erschien ihm jetzt jedoch bedeutungslos. Ein Jude? Das kann nicht sein!
Völlig verwirrt wandte sich Ari erneut an die Frau an seiner Seite. Sie weinte. „Sag mir die Wahrheit“, verlangte er leise.
„Wir hatten Nachbarn ... wo wir früher lebten ... weit weg von hier“, antwortete sie schluchzend. „Sie waren Juden. Gute Leute. Schullehrer. Intelligent. Sehr freundlich. Ich mochte sie. Wir waren Freunde. Es war 1944. Franz war an der russischen Front. Juden wurden ,umgesiedelt’... aber wir befürchteten das Schlimmste. Sie ließen ihren kleinen Ariel — ich habe den Namen abgekürzt und Ari daraus gemacht — bei mir ... kurz bevor die Gestapo sie holte. Du warst drei Monate alt. Ich versprach, dich zu behalten, bis sie zurückkämen ... nach dem Krieg. Sie kamen niemals zurück. Ich konnte keine Kinder bekommen — und jetzt warst du mein. Das war zwei Jahre, bevor Franz nach Hause kam. Er wollte dich nicht behalten, aber ich habe darauf bestanden. Ich hatte es versprochen — und ich liebte dich, Ari. Ich werde dich immer lieben!“
In stillem Schmerz umklammerten sie einander. Also hatte sie all die Jahre gelogen, um ihn zu schützen. Er war adoptiert worden. Aber er war kein Jude! Das konnte er nicht zugeben. Seine richtigen Eltern konnten keine Juden gewesen sein. Es war ein Fehler gewesen. Hitler hatte nicht nur Juden umgebracht. Er hatte auch viele Deutsche getötet. Das waren seine Eltern in Wirklichkeit gewesen — deutsche Intellektuelle, die sich gegen Hitler gestellt hatten, so wie er, ihr Sohn, jetzt versuchte, das gegenwärtige schlimme System zu stürzen.
Ari warf einen Blick in die Küche. Es beunruhigte ihn zu sehen, daß der erbärmliche Trunkenbold, der, wie er jetzt zu seiner Freude erfahren hatte, nicht sein wirklicher Vater war, zum Telefon geschwankt war und mit jemandem sprach. Ari ging auf ihn zu, aber es war zu spät. Die Unterhaltung endete gerade mit den unheilverkündenden Worten: „Ja, er ist hier!“
Ari fluchte über sich selbst, weil er nicht besser aufgepaßt hatte, und begann rasch mit der Arbeit. Seine Mutter sah ihm verwundert zu, wie er ein Taschenmesser herauszog und vier schnelle Schnitte in die billige Tapete machte, die er im Sommer vor zwei Jahren angebracht und seitdem mehrmals „repariert“ hatte. Ari stemmte ein kurzes Brett von der Wand, zog die Papiere, die dahinter versteckt waren, heraus und warf sie auf die Kohlen im Küchenofen. Dann kniete er sich davor, fachte die Flammen an und sah zu, bis sie jedes belastende Stückchen verzehrt hatten.
„Ich muß gehen, Mama.“ Er richtete sich erschöpft auf und nahm ihre beiden Hände. „Mach dir bitte keine Sorgen. Es wird mir nichts passieren.“
„Wenn du unschuldig bist, Ari ... warum stellst du dich dann nicht?“
Er sah sie liebevoll an. „Das würde es für uns beide nur noch schlimmer machen. Wenn sie einen erst einmal anklagen
„Warum dich, Ari?“
Er ignorierte ihre Frage. „Hör zu! Verteidige mich nicht. Sag die Wahrheit — daß du nichts weißt. Bleib einfach dabei!“ Er hatte schreckliche Angst um sie. Wie konnte er sie allein lassen? Aber er mußte es tun.
„Du wirst immer meine Mutter sein“, sagte er zärtlich. Sie nickte und begann wieder, leise zu weinen. Ari legte einen Arm um ihre Schultern und ignorierte den Mann, den er seinen Vater genannt hatte. Er tat so, als habe er das Telefonat nicht bemerkt.
„Sie glauben, ich würde zum Bahnhof gehen und nach Berlin fahren“, sagte er ihr vertraulich, aber noch gerade laut genug, um andere Ohren zu erreichen. „Ich werde sie irreführen. Ich habe ein Auto, und ich fahre in die entgegengesetzte Richtung, zur tschechischen Grenze.“
„Du wirst nicht durchkommen, Ari!“ beschwor sie ihn. „Wäre es nicht besser ...?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich kenne einen Platz, wo ich mich einige Tage verstecken kann. Dann werde ich in die Tschechoslowakei entkommen, dann nach Jugoslawien — und dann nach Österreich. Ich habe einen westlichen Paß. Ich werde schreiben.“
Die erbärmliche Kreatur, die zusammengesunken am Küchentisch saß, hatte sich ganz leicht aufgerichtet. In die vom Alkohol stumpfen Augen war Leben gekommen und es lag ein Ausdruck versteckter Schläue darin. Er würde der Polizei alles berichten. Sie würden ihn
dafür belohnen. Sicherlich eine Beförderung, vielleicht sogar eine Medaille.
Ari verabschiedete sich mit einem eiligen Kuß von seiner Mutter, ging rasch auf die Küchentür zu, zögerte dann jedoch. „Meine Eltern ... kannst du dich an ihre Namen erinnern?“
Sie war ihm gefolgt und hatte ihn jetzt eingeholt. Sie klammerte sich an seinen Arm. Traurig schüttelte sie den Kopf. „Als sie nicht zurückkamen, versuchte ich, alles aus meinem Gedächtnis zu streichen. Du warst mein, und ich wollte mich an nichts anderes erinnern. Verlaß mich nicht, Ari!“
„Hatten sie noch andere Kinder?“ fragte er, streichelte sanft ihre Hand und ignorierte ihr Flehen.
Sie schüttelte wieder den Kopf. „Sie waren jung — du warst ihr erstes Kind. Das weiß ich noch.“
„Es waren dreckige, stinkende Juden! Genau wie du!“ Die mitleiderregende Kreatur am Küchentisch war taumelnd aufgestanden und lachte Ari jetzt aus. „Du wirst nicht weit kommen, du Jude!“
„Franz kannte sie nicht!“ sagte sie trotzig. „Sie waren gute Leute, genau wie du, Ari. Die Kinder haben sie geliebt. In jenen Tagen hatte jeder Blumen, aber bei niemandem wuchsen sie so wie bei deiner Mutter. Sie hatte ein ganz besonderes Talent ... bei allem, was sie tat.“
Ari löste sich von ihr, schob die Tür auf und lief in die Nacht. Sie waren gute Leute ... die Kinder haben sie geliebt...
Als Ari die Scheune erreichte, hörte er hinter sich jene schadenfrohe Stimme, die ihm durch die offene Tür hinterherrief: „Ich habe die Polizei gerufen!“ Er war so sehr darauf aus, Leid zuzufügen, daß er das Geheimnis nicht länger für sich behalten konnte. „Ich habe die Polizei gerufen!“ schrie er erneut. „Du wirst nicht weit kommen. Sie werden dich kriegen, du ... du ... du Jude! “Die Worte verloren sich in einem erstickten Hustenanfall und Gelächter.
Der Mond war jetzt hinter den Wolken hervorgekommen, wofür Ari dankbar war. Er hoffte, daß ihn jeder in der Siedlung beobachtete, damit sie es alle der Stasi berichten konnten. Er rannte durch den Waldsaum und fand gleich das versteckte Polizeiauto. Zum Glück war es nicht besonders gekennzeichnet und die Schlüssel steckten im Wageninneren. Es sprang sofort an. Er setzte zurück auf die Landstraße und gab Gas. Der Motor heulte auf, die Reifen quietschten und drehten auf dem Schotter durch, als er beschleunigte und an der kleinen Ansammlung von Häusern vorbeifuhr. Er wollte, daß jeder ihn vom Dorf wegfahren sah, und zwar nach Süden, wie er — scheinbar im
Vertrauen — seiner Mutter gesagt hatte. Das Ungeheuer, das er zurückließ, würde es der Polizei erzählen und sie von seiner Spur abbringen, wodurch er vorerst kostbare Zeit gewann.
An der ersten Kreuzung bog Ari nach links ab, dann wieder nach links an der nächsten. Jetzt fuhr er exakt in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem er einige Kilometer auf gewundenen Straßen durch Felder gefahren war, kam er endlich auf eine größere Landstraße in Richtung Norden, die ihn nach Berlin führen würde. Aber er wußte, daß er es nicht wagen konnte, ihr längere Zeit zu folgen.
' Das Radio! Warum hatte er nicht schon eher daran gedacht! Als er das Gerät anschaltete, entdeckte er, daß hektischer Funkverkehr herrschte. Die Polizei war kurz nach seiner Abfahrt auf dem Hof angekommen. Sie hatten die beiden Leichen gefunden, wußten, daß das Auto fehlte und errichteten jetzt so schnell wie möglich Straßensperren in Richtung Süden. Außerdem war eine Suchmeldung herausgegeben worden, so daß man überall nach ihm fahndete. Er mußte das Auto verlassen.
An einer Kreuzung, die er kannte, verließ Ari die Landstraße und fuhr nach Westen. Mit ein wenig Glück würde er den Bahnhof in Jüterbog erreichen, an dem alle Züge nach Berlin hielten. Es war jetzt kurz nach 2.00 Uhr. Es gab einen Postzug, der sein Dorf um 1.54 Uhr verließ. Das bedeutete, daß er diese einsame Station gegen 2.40 Uhr erreichte. Es würde knapp werden, aber vielleicht schaffte er es. Er mußte es schaffen. Das Problem würde sein, einen Platz zu finden, wo er den Wagen lassen konnte und wo man ihn nicht so bald finden würde. Bei seiner Suche nach einem guten Versteck bog Ari auf eine kleinere Straße ab, die sich durch mehrere kleine Dörfer schlängelte und schließlich direkt zum Bahnhof führte.
Knapp acht Kilometer vor seinem Ziel veränderte sich das Gelände. Er fuhr jetzt durch eine Hügellandschaft mit Feldern, die ab und zu von kleinen Waldstücken unterbrochen wurden. Als er noch etwa drei Kilometer zu fahren hatte, begann die Straße, sich an einem Fluß entlangzuwinden. Er dachte daran, das Auto in den Fluß fahren zu lassen, aber das Wasser war nicht tief genug, um es zu bedecken. Er verlor wertvolle Zeit damit, schmutzige Seitenstraßen zu erkunden, die kaum mehr waren als Reifenspuren, die in die Wäldchen führten. Unglücklicherweise endeten die Spuren jedesmal sehr schnell in einem Feld. Vielleicht würde das Auto tagelang unentdeckt bleiben — möglicherweise wurde es aber auch schon am nächsten Tag von einem Waldarbeiter entdeckt. Er durfte kein Risiko eingehen, aber anderer-
seits hatte er immer weniger Zeit, und er mußte diesen Zug erreichen. Der nächste würde erst in einigen Stunden fahren.
Ari kam zu einem verlassenen Bauernhof und war versucht, das Auto einfach hinter der Scheune stehen zu lassen. Aber sobald er auf das Gelände fuhr, wurde ihm klar, daß ihn die Reifenspuren, die er im Matsch und im Unkraut hinterließ, unweigerlich verraten würden. Hastig setzte er zurück und suchte verzweifelt weiter. Kurz bevor die Straße den Wald verließ, folgte er einer letzten Reifenspur, die zwischen den Bäumen hindurchführte. Auch diese Spur mündete in einem großen Feld. Aber im Gegensatz zu den anderen Feldern, an denen er vorbeigefahren war, war dieses noch nicht gepflügt worden, wodurch die Möglichkeit einer baldigen Entdeckung größer wurde.
Er würde zu einem Feld zurückfahren müssen, das er vorher gesehen hatte. Es war gerade neu bepflanzt worden, so daß sich vermutlich eine ganze Weile niemand darum kümmern würde. Er hätte den Wagen gleich dalassen sollen, anstatt auf etwas Besseres zu hoffen! Ein Blick auf seine Uhr sagte Ari, daß er es nie schaffen würde. Mit einem Fluch über sein Pech schnappte er sich die Aktentasche, ließ das Auto stehen und rannte durch den Wald zurück zur asphaltierten Straße, auf der er dann, so schnell er konnte, zur gut einen Kilometer entfernten Stadt lief.
Es konnte mit einiger Sicherheit annehmen, daß die Polizei weder diesen noch irgendeinen anderen Bahnhof bewachen würde, solange sie glaubte, er befände sich in einem Auto. Zumindest der größte Teil seiner Verfolger verließ sich auf die Informationen, die ihnen pflichtschuldigst mitgeteilt worden waren, und konzentrierte seine Bemühungen in die falsche Richtung. Der Verrat des Vaters an seinem eigenen Sohn würde ihm bestimmt das Wohlwollen der Partei einbringen. Dieser Verrat hatte ihn sicherlich mit großer Befriedigung erfüllt und mußte mit einigen weiteren Flaschen Bier begossen werden. Inzwischen schlief er sicher seinen Rausch aus.
Dieser schmerzliche Gedanke erinnerte Ari an seine wirklichen Eltern. Ihre Asche oder ihre Knochen lagen in irgendeinem namenlosen Grab, ohne daß die Welt es wußte, und — was tragischer war — ohne daß ihr einziger Sohn es wußte. Aber ich bin kein Jude ... es ist nicht wahr... es ist nicht wahr .. . Der Refrain seines Leugnens hatte den gleichen Rhythmus wie seine rasch dahineilenden Füße. Er durfte keine Zeit verlieren!
5. Feind des Volkes
Als Ari endlich die Stadt erreichte und etwas langsamer durch die verlassenen Straßen lief, überwältigte ihn noch einmal die Unsicherheit. Er keuchte und seine Beine gaben beinahe unter ihm nach. Was wäre, wenn die Polizei diesen Bahnhof nun doch überwachte? Er hatte gehört, wie über Funk ein landesweiter Alarm ausgegeben worden war und wußte nicht genau, was das bedeutete. Wenn man bei der .Menschenjagd seine Spur nach Süden nicht finden würde, müßten sie doch darauf kommen, daß er umgekehrt und in die andere Richtung gefahren war. Natürlich würden sie nicht damit rechnen, daß er nach Berlin wollte. Durch die unrühmliche Mauer war diese Stadt der letzte Ort, der für eine Flucht in den Westen in Frage kam. Dennoch ließ sich nicht Voraussagen, wo die Polizei sein mochte oder was sie tun könnte, weil sie eben nicht genau wußten, was er vorhatte. Höchstwahrscheinlich überwachten sie alle Strecken.
Eines jedenfalls war sicher: Er durfte nicht einmal daran denken, das Gebiet der DDR zu verlassen. 1956 hatten sich die Ungarn auf mutige Versprechen des Westens verlassen, daß man sie unterstützen würde, nur um dann festzustellen, daß man sie bei ihrem bemitleidenswerten Versuch, den sowjetischen Panzern standzuhalten, allein gelassen hatte. Auch dieses Mal würde es keine Hilfe vom Westen geben. Wenn diese schändliche Mauer — und mit ihr der gesamte Eiserne Vorhang — jemals abgerissen werden sollte, mußte es von innen her geschehen.
Großartige Träume? Vielleicht. Und doch waren scheinbar unmögliche hohe Ziele schon immer die treibende Kraft hinter großen Fortschritten in der menschlichen Geschichte gewesen. Er hatte mit Hunderten von Menschen gesprochen und war zu der Überzeugung gelangt, daß mindestens 95 Prozent der Studenten und Arbeiter in Osteuropa von dem gleichen leidenschaftlichen Verlangen erfüllt waren, ihre Fesseln abzuwerfen. Sie warteten nur auf eine effektive Führung und die richtige Gelegenheit.
Er wollte eine Weile untertauchen. Verschwinden. Irgendwann würden sie glauben, er sei in den Westen entkommen. Dann würde er wieder von vorne anfangen. Er hatte ein echtes Talent dafür, Studenten zu organisieren, und er hatte sehr gewissenhaft ein Netz von Schlüsselkontakten in ganz Osteuropa aufgebaut, das sogar bis in die Sowjetunion reichte. Diese Namen und Adressen waren die geheime Waffe, die er in seiner Aktentasche trug — eine Waffe für die Freiheit,
die sich, davon war er fest überzeugt, am Ende als mächtiger erweisen würde als die modernsten militärischen Kanonen. Es würde sich nicht vermeiden lassen, daß einige Menschen starben. Aber wenn nur genügend Menschen aufständen, müßten die unterdrückerischen Regimes irgendwann zusammenbrechen. Es war ein Traum, für den man leben — oder sterben — konnte.
Seine Beine zitterten vor Schwäche. Ari blieb im Schatten hinter einem Tabakladen stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Gleich um die Ecke sah man den Bahnhof. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, daß er es gerade noch geschafft hatte. Er konnte von dort nicht den gesamten Warteraum überblicken, aber er schien leer zu sein. Zwei Frauen standen auf dem unüberdachten Bahnsteig. Es gab kein Anzeichen von Polizei.
Besorgt sah er wieder auf seine Uhr und wartete. Man konnte den herannahenden Zug schon in der Ferne hören, als ein kleines Auto vorfuhr und auf dem winzigen Bahnhofsparkplatz stehenblieb. Ein gut gekleideter Mann von etwa 40 Jahren sprang heraus. Er trug eine teure Aktentasche. Der Mann rannte zum Warteraum, kaufte eine Fahrkarte und ging eilig auf den Bahnsteig. Allem Anschein nach ein normaler Reisender. Das war um so wahrscheinlicher, als er allein war.
Der Zug lief in den Bahnhof ein. Stahl kreischte auf Stahl, als die Bremsen angezogen wurden. Immer noch kein Anzeichen von Polizei. Eine Minute verging. Die beiden Frauen auf dem Bahnsteig stiegen ein. Eine ältere, schlecht gekleidete Frau, die er nicht gesehen hatte, verließ den Warteraum und kletterte mühsam in den Waggon. Zwei Minuten. Eine andere Frau von etwa 50 Jahren, gebeugt unter einer schweren Last, die in ein großes Tuch gewickelt war, schlurfte an ihm vorbei auf den Bahnsteig, wuchtete ihr Bündel hoch und kletterte in den Zug. Immer noch keine Polizei. Drei Minuten. Jetzt!
Ari hörte sein Herz hämmern, als wäre es ein Vorschlaghammer. Er eilte über die Straße, den Hut heruntergezogen und ein Taschentuch an die Nase gepreßt, und marschierte geradewegs durch den Warte-raum. Der einsame Beamte, der Dienst hatte, döste vor sich hin und öffnete nicht einmal seine Augen. Ari lief den Bahnsteig entlang und sprang in den letzten Waggon, als der Bremser gerade das Signal zum Türenschließen gab und der Zug anrollte.
Ari ging sofort auf die Heine Toilette und verschloß die Tür. Er zog ein Päckchen mit Utensilien aus der Tasche, das für einen Notfall wie diesen bereitlag. Rasch rasierte er sich den Bart und den Schnurrbart
ab — sehr vorsichtig, um sich nicht zu schneiden. Auf der häßlichen Wunde, die genau über seinem rechten Ohr nach oben lief, bildete sich jetzt Schorf, aber sie blutete immer noch ein wenig. Es gab keine Möglichkeit, sie zu verbergen.
Er fand die kleine Tube mit Haarfarbe, die seine schwarzen Haare hellbraun färben sollte, und überflog nervös die Gebrauchsanweisung. Als er den Deckel abschraubte, zögerte er einen Moment und verschloß die Tube dann wieder. Wenn er die Sache nun vermurkste? Nein, das war zu riskant. Er steckte Watte in seine Nase. Das machte 'die Nasenlöcher breiter und veränderte seine Stimme. Jetzt noch eine Brille mit dicken Gläsern. Abgesehen von der Haarfarbe ähnelte er jetzt Heinrich Seibel, dem Mann, der in seinem falschen Paß zu sehen war. Das Dokument hatte ihn 1.000 DM gekostet.
Ari betrat das Abteil und setzte sich auf einen der hinteren Plätze, von wo aus er alles beobachten und notfalls sehr schnell aussteigen konnte. Der Frühzug nach Berlin war leerer als gewöhnlich. In seinem Abteil waren nur noch zwei weitere Fahrgäste.
Ari hatte gerade eine Zeitschrift aus der Tasche genommen und tat so, als sei er in die Lektüre vertieft, als der Schaffner vorbeikam, um die Fahrkarten zu kontrollieren. „Tut mir leid. Ich war zu spät am Bahnhof und hatte keine Zeit mehr, eine Fahrkarte nach Berlin zu kaufen.“ Ari hielt seinen Kopf vom Schaffner abgewandt, so daß seine Wunde nicht zu sehen war.
„Und was ist, wenn ich keine habe? Darauf können Sie sich doch nicht verlassen!“ kam die schlecht gelaunte Antwort. Der Schaffner suchte ärgerlich in seiner Tasche herum und murmelte etwas von Leuten, die seine Arbeit unerträglich machten. Schließlich fand er eine Fahrkarte nach Berlin, knipste sie ab und gab sie Ari widerwillig, nahm sein Geld und beschwerte sich wieder leise darüber, daß er Wechselgeld herausgeben mußte.
Genau das ist es, was der Marxismus tut — er löscht jede Eigeninitiative aus! Ari wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Zeitschrift zu, während der Schaffner verbissen den Gang hinabschritt. Immerhin hatte nichts an dem Griesgram darauf hingedeutet, daß er auf Flüchtlinge achten solle. Alles schien normal zu sein. Natürlich könnte die Polizei bei jedem Bahnhof, an dem sie hielten, in den Zug kommen. Was dann? Sollte er sich aufseine gefälschten Papiere verlassen oder versuchen, zu fliehen? Das würde er entscheiden müssen, wenn es soweit war. Irgendwie würde er schon zu jener Zufluchtsstätte in Berlin kommen.
Gedankenfetzen kamen und gingen, während An versuchte, wach zu bleiben. Es war ein Kampf, den zu gewinnen er nicht mehr die Kraft hatte. Das dumpfe, monotone Brummen der Zugmaschinen und das rhythmische Klicketiklack der Räder auf den Schienen dämpfte schon bald seine Angst vor Gefahr und schaukelte ihn in den Schlaf.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er plötzlich auf seinem Sitz hochfuhr. Sein Herz raste. Er war wach geworden, weil er instinktiv eine Gefahr spürte. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Der Zug kam mit lautem Quietschen zum Stehen, aber das Gefühl und der Klang waren anders, nicht wie die normale Einfahrt in einen der vielen Bahnhöfe auf dem Weg nach Berlin, die er so gut kannte. Er sah sich um und bemerkte, daß er als einziger Fahrgast im Abteil übriggeblie-ben war. Ein schneller Blick aus dem Fenster zeigte nur einsame Felder und Heidelandschaft, die im ersten rosigen Morgenlicht vor ihm lag. Eine Landstraße verlief in nur etwa fünfzehn Metern Entfernung parallel zur Bahnlinie.
Was war da los? Jetzt konnte er weiter vorne den roten Schein von Blinklichtern sehen. Ein einsames Polizeiauto hatte die Landstraße verlassen und parkte direkt neben den Gleisen. Das Blinklicht auf seinem Dach leuchtete grell. Zwei Männer in Zivilkleidung standen bei dem Auto und warteten, während der Zug quietschend hielt. Stasi! Hatten sie das Auto, das er stehengelassen hatte, schon gefunden? Das konnte nicht sein. Instinktiv traf er seine Entscheidung. Sein falscher Ausweis würde wahrscheinlich bei jeder Routinekontrolle durch die normale Polizei genügen. Aber der verhaßte Staatssicherheitsdienst war viel besser ausgebildet. Das Risiko sollte er besser nicht emgehen!
Ari sprang auf und rannte zum hinteren Wagenende. Er öffnete die Außentür, die von der Landstraße abgewandt war und bereitete sich auf den Absprung vor, um zu fliehen. Unglücklicherweise erblickte er nichts als frisch gepflügte Felder, was er auch schon auf der anderen Seite des Zuges durch das Fenster gesehen hatte. Kein Wald weit und breit. Es war hoffnungslos. Sie würden ihn sofort sehen. Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er mußte so schnell wie möglich zu seinem Platz zurückgehen, so tun, als schliefe er, und sich irgendwie rausreden. Er konnte nur hoffen, daß er sich nicht auch dieses Mal den Weg freischießen mußte.
In dem Augenblick entdeckte er rechts von sich eine Leiter, die nach oben führte. Er folgte einem Impuls, stellte sich auf die Leiter und schloß leise die Tür. Wenige Augenblicke später lag er flach auf dem Dach des Zuges, die Brieftasche umklammert, schnappte mit kurzen,
scharfen Zügen nach Luft, fragte sich, ob das ein Fehler gewesen wäre und hoffte. Wenn die Straße und das geparkte Auto auf gleicher Höhe mit dem Zug oder oberhalb des Zuges gewesen wären, hätte man ihn gesehen. Aber zum Glück fiel das Gelände an dieser Stelle zur Straße hin leicht ab. Schritte knirschten auf dem Schotter. Stimmen riefen unverständliche Befehle.
Die Zeitschrift! Er hatte sie auf seinem Platz liegen lassen! Der Schaffner würde sich erinnern. Ari zog die Luger aus dem Gürtel und wartete darauf, daß ein Kopf erscheinen und auf das Zugdach sehen 'würde. Die Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Nichts.
Schließlich setzte sich der Zug mit einem willkommenen Ruck in Bewegung. Ari lag noch einige Augenblicke still, während der Zug beschleunigte. Dann hob er vorsichtig den Kopf und sah sich um. Er konnte das Polizeiauto sehen, das immer noch an derselben Stelle parkte. Die beiden Männer stiegen gerade wieder ein. Atemlos beobachtete er, wie sie wieder auf die Landstraße fuhren und sich in die entgegengesetzte Richtung entfernten. Als das Auto in der Ferne verschwand, glitt er zur Leiter hinüber und begann seinen gefährlichen Abstieg. Der Zug fuhr beinahe schon wieder mit Höchstgeschwindigkeit, als er die Tür erreichte, sie mit großer Mühe gegen den Wind aufzog und hineintrat.
Ari ging rasch wieder zu seinem Sitz zurück und brach dort zusammen. Er versuchte verzweifelt, seinen rasenden Herzschlag und sein Keuchen unter Kontrolle zu bringen. Dann bemerkte er etwas, was sein Herz wieder schneller schlagen ließ: Die Zeitschrift war weg! Was bedeutete das? Warum hatte die Polizei nicht auf dem Dach des Zuges nachgesehen oder wenigstens in den umliegenden Feldern nach Fußspuren gesucht? Die einzigen Schritte, die er gehört hatte, waren auf jener Seite des Zuges gewesen, die der Straße zugewandt war. Irgend etwas mußte sie davon überzeugt haben, daß er überhaupt nicht im Zug gewesen war. Was für ein Glück!
Nachdem der Zug fahrplanmäßig im nächsten Bahnhof gehalten hatte, um einige Fahrgäste aus- und neue einsteigen zu lassen, kam der Schaffner wieder vorbei, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Ari war immer noch der einzige im letzten Wagen.
„Was war denn da los?“ fragte er ganz nebenbei, als er seine Fahrkarte wieder vorzeigte. „Irgendein technisches Problem?“
„Sie haben nach irgendeinem ,Feind des Volkes’ gesucht“, kam die ruhige Antwort. Der Gesichtsausdruck des Schaffners war unbewegt, aber seine Augen, die jetzt direkt in Aris Augen sahen, schienen etwas
zu sagen. „Irgendein Mann von Ihrem Alter und Ihrer Größe — mit einem Bart. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte niemanden gesehen, auf den die Beschreibung auch nur annähernd zuträfe.“
„Wirklich?“ erwiderte Ari vorsichtig. „Sie haben also einen Flüchtling gesucht?“
Der Schaffner sah Ari einen ungemütlichen Augenblick lang in die Augen. „Sie hätten ihn gefunden, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte“, sagte er leise, „aber ich hasse die Stasi.“ Er griff unter seinen Mantel, zog, ohne eine Miene zu verziehen, eine wohlbekannte Zeitschrift aus der Innentasche und hielt sie Ari unter die Nase. „Die haben Sie auf dem Sitz liegenlassen.“
Zu verblüfft, um antworten zu können, nahm Ari die Zeitschrift entgegen. Er spürte, wie ihm die Nackenhaare zu Berge standen. „Vielen ... Dank“, brachte er schließlich stotternd hervor, fielen Dank!“ „Und das nächste Mal“, grollte der Schaffner, „seien Sie nicht so vergeßlich. Mein Job ist so schon schlimm genug, ohne daß ich auch noch die Fehler anderer Leute vertuschen muß!“ Er drehte sich um und schlurfte durch den Gang zurück zum vorderen Teil des Zuges.
6. R. Harrison Dünn IV
Obwohl der Frühling eigentlich schon begonnen hatte, bedeckte ein feiner Pulverschnee den Boden. Als der Zug endlich in Berlin ankam, schneite es immer noch. Zu Fuß brauchte man fast eine Stunde vom Bahnhof bis zu Aris Ziel — der Wohnung eines amerikanischen Freundes. Es fuhren keine Busse in diesen Teil der Stadt, und Ari wagte es nicht, eine Taxe zu nehmen. Der Fahrer könnte befragt werden und .sich an ihn erinnern. Der trockene Pulverschnee knirschte unter Aris Füßen und der schneidende Wind schien direkt durch seine Hose und die leichte Jacke hindurchzuwehen. Aber er bemerkte dieses Ungemach kaum. Das Wissen, daß er entkommen war und schon bald in einem sicheren Versteck sein würde, versetzte ihn in Hochstimmung.
Die Straßen waren erfüllt von Arbeitern, die in die Fabriken eilten. Um sich gegen das unerwartete Wetter zu schützen, hatten sie sich widerwillig noch einmal in ihre Wintersachen gemummelt, die sie eigentlich schon weggepackt hatten. Ari hielt seine Hand auf die Wunde und wandte jedesmal, wenn er auf dem Gehweg jemandem begegnete, den Kopf beiseite. Niemand von den Vorbeieilenden schien ihn zu bemerken. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Nachdem Ari etwa 40 Minuten flott marschiert war, ließ der Strom der Fußgänger nach, bis die Straßen beinahe leer waren. Nur gelegentlich tuckerte ein kleiner Trabbi vorbei. Dafür nahm die Zahl der großen ausländischen Wagen und der Limousinen, die von einem Chauffeur gesteuert wurden, rasant zu.
Ari befand sich jetzt in einem der wenigen einst wohlhabenden Bezirke Ost-Berlins, der seit der Zerstörung der Stadt zum Teil wieder aufgebaut worden war. Viele der massiven alten Ziegel- oder Backsteinvillen waren zu Botschaftsgebäuden umfunktioniert worden. Meistens wurden sie von Diplomaten bewohnt, die ein Land des Ostblocks repräsentierten. Es gab auch renovierte große Wohnungen, die sich nur die privilegierte Oberklasse jener „klassenlosen“ marxistischen Gesellschaft leisten konnte. Jene Wohnungen, die nicht von Spitzenfunktionären der Kommunistischen Partei bewohnt wurden, waren an einige wenige reiche Westler vermietet, die auf irgendeine Weise geschäftlich in Ost-Berlin zu tun hatten. Zu dieser Gruppe gehörte auch Aris amerikanischer Freund, Roger Dünn. Seine Wohnung würde ein ideales Versteck abgeben — vorausgesetzt, daß die häufig ausgesprochene Einladung noch galt.
Roger war ein großer schlaksiger Texaner Ende Zwanzig. Er hatte blonde Haare, trug einen Bürstenschnitt, war stets zum Lachen aufgelegt und nahm die Dinge nicht so schwer. Ari dachte manchmal, daß das eine gute Tarnung für seinen computerähnlichen Verstand war, der sich nur selten durch ein Funkeln in den stahlblauen Augen verriet. Sein Vater war ein sehr reicher Viehzüchter, dessen weitläufige Ländereien sich als Ölfelder erwiesen hatten. Als Resultat dieses zusätzlichen Reichtums mischte R. Harrison Dünn III jetzt, wie ihm Roger ganz nebenbei anvertraut hatte, bei einer erstaunlichen Anzahl von amerikanischen und internationalen Banken mit. Seit seiner Kindheit war der ältere Dünn ein enger Freund von Lyndon B. Johnson gewesen, der ebenfalls Texaner war, und so kam es, daß man ihn, Dünn, auf einen Diplomatenposten in den Vereinten Nationen berufen hatte, als L.B. Johnson nach Kennedys Tod Präsident geworden war. Im Augenblick nahm er in Genf an Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion teil.
Es war Roger, durch den Ari zum ersten Mal erfuhr, daß es auch im Westen Korruption gab, sogar auf höchster Regierungsebene. Was für eine Enttäuschung das gewesen war! Bis zu dieser erschreckenden Offenbarung war er der Meinung gewesen, die westlichen Demokratien seien immun gegen den Virus der Unehrlichkeit, der in den marxistischen Regimen geradezu eine Epidemie darstellte.
„L.B.J.“, hatte Roger Ari eines Tages anvertraut, „hat auf jeder Stufe seines Weges zur Präsidentschaft Gesetze gebrochen. Um in den Senat zu kommen, hat er sogar Stimmen gestohlen. Er ist ein Schurke. Aber er hat auch eine Menge Gutes getan. Versteh’ mich richtig — im Vergleich zu den Ungeheuern, die kommunistische Länder regieren, ist seine Weste weiß wie Schnee. Diese Art von Korruption ist in unserem System nicht möglich. Aber trotzdem gibt es noch sehr viel egoistischen Machtmißbrauch — angefangen beim Weißen Haus bis ganz nach unten.“
„Was ist mit deinem Vater?“ hatte Ari erstaunt gefragt. „Wenn er ein guter Freund von Johnson ist ... was ist dann mit ihm?“
„Geld ist Macht“, hatte Roger leidenschaftslos erklärt. „Mein Pa kontrolliert Milliarden und weiß, wie er diesen Einfluß auf internationaler Ebene wirkungsvoll einsetzen kann ... Osteuropa und sogar die Sowjetunion eingeschlossen.“
„Tatsächlich? Das verstehe ich nicht.“ An war höchst verwundert gewesen. „Vielleicht bin ich ja naiv, aber ich habe mein ganzes Leben unter dem Marxismus verbracht und kann mir nicht vorstellen, wes-
halb Kapitalisten auch nur einen Pfennig in kommunistische Länder investieren sollten!“
„Es geht dabei nicht so sehr um Marxismus contra Kapitalismus“, hatte Roger geduldig erklärt, „sondern um das Überleben der ganzen menschlichen Rasse. Das westliche Kapital hat die marxistischen Regime jahrzehntelang finanziert. Es steht zu viel auf dem Spiel, um über feine ethische Differenzen zu streiten. Beinahe alles ist erlaubt, einschließlich ... na, wir sollten es einfach dabei bewenden lassen.“
An diesem Punkt hatten sie das Thema gewechselt, und Ari hatte es ' nie wieder angeschnitten. Was den jungen Texaner selbst betraf, so war Ari immer zu diskret gewesen, zu fragen, wie er denn ins Bild paßte und warum er in Ost-Berlin lebte. Vielleicht würde es ihm Roger eines Tages von selbst erzählen.
Ari hatte Roger bei einem seiner regelmäßigen Besuche der Ostberliner Universität kennengelernt. Sie hatten sich sofort gemocht. Roger hatte Ari ermuntert, sein Englisch an ihm auszuprobieren, und ihre Bekanntschaft war zu einer festen Freundschaft geworden. Der junge Amerikaner, der deutsch, russisch, französisch und noch einige andere Sprachen fließend beherrschte, war eine etwas geheimnisvolle Figur. Aber Ari hatte nie daran gezweifelt, daß er ihm vertrauen konnte, denn die bloße Tatsache, daß jemand Amerikaner war, reichte jedem Osteuropäer als Empfehlung aus.
Roger hatte einen Diplomatenpaß und reiste ständig in die Bundesrepublik Deutschland, um irgendwelche Aufträge zu erledigen, über die er niemals sprach. Im Grunde genommen verbrachte er den größten Teil seiner Zeit in West-Berlin, hatte es aber dennoch vorgezogen, im Ostteil zu leben, „um den Kommunismus genauer kennenzulernen“, wie er erklärt hatte. Es stand außer Zweifel, daß dieser ungewöhnlich gebildete und kultivierte Amerikaner, von dem Ari vermutete, daß er Verbindungen zum CIA hatte, den Marxismus leidenschaftlich haßte. Bei ihren langen Diskussionen über dieses Thema hatte Roger oft das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch des internationalen Kommunismus vorausgesagt. Aber wenn Ari ihn fragte, warum er dieser Meinung sei, lächelte er immer nur geheimnisvoll und sagte: „Glaube mir, es ist nur eine Sache der Zeit.“
Ari war bei seinen Kontakten mit Roger immer äußerst vorsichtig gewesen. Sie hatten sich nur in der Universität getroffen — jedesmal scheinbar zufällig und nur auf überschaubaren öffentlichen Plätzen, wo sie eine Überwachung sofort bemerkt hätten. Ari war sich ziemlich sicher, daß weder er noch Roger überwacht worden waren. Aber als
zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatte er die Wohnung des Amerikaners nie besucht, trotz wiederholter Einladungen und Versicherungen, daß er herzlich willkommen sei, falls er je ein Bett für die Nacht brauchen sollte. Jetzt war es soweit. Hier würde ihn die Polizei niemals finden!
Als Ari endlich in Rogers Straße einbog, war er sehr erleichtert, sie menschenleer vorzufinden. Als er voll Spannung bei der Adresse ankam, die er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte, erkannte Ari das Haus aufgrund von Rogers Beschreibung sofort. Es war eine ungewöhnlich große Wohnung. Die Fassade war aus weißem Marmor, und die Wohnung hatte einen eigenen imposanten Eingang direkt zur Straße hin.
Es war 8.10 Uhr, und Ari war vollkommen ausgehungert. Ein kurzes Frühstück würde ihm helfen, länger zu schlafen — und das war auch dringend notwendig. Müde stieg er das halbe Dutzend Stufen zu dem breiten Marmorportal empor. Neben der großen Doppeltür aus solidem Mahagoni war ein beleuchteter Schalter in die prächtige Marmorfassade eingelassen. Darüber stand auf einer glänzenden Kupfertafel „R. Harrison Dünn IV, Esquire“. Ari, der sich plötzlich nicht mehr so sicher war, wie man ihn aufnehmen würde, drückte auf den Knopf. Von drinnen erklang ein gedämpftes, melodisches Glockenspiel.
Beinahe sofort waren schwere Schritte zu hören, die näherkamen. Die Tür ging auf und da stand Roger und sah mit einem grimmigen Gesichtsausdruck auf ihn hinunter. Er wirkte nicht im geringsten freundlich. „Wen möchten Sie sprechen?“ wollte er in einwandfreiem Deutsch wissen. Man konnte nicht die Spur eines fremden Akzentes hören, geschweige denn seinen normalen schleppenden texanischen Akzent.
„Nun, du hast gesagt, ich sollte irgendwann einmal vorbeikommen“, sagte Ari, der wegen des frostigen Empfangs völlig perplex war. Dann fiel ihm ein, daß er ohne seinen Bart und mit der schmutzigen, zerknitterten Kleidung und dem getrockneten Blut auf seinem Gesicht auf seinen reichen Freund wahrscheinlich wie ein betrunkener Penner wirkte. „Ich nehme an, du erkemist mich nicht wieder“, fügte er unsicher hinzu.
Roger hatte ihn genau angesehen, und jetzt verwandelte sich sein unnahbarer Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen. „Ari! Du Schlawiner“, rief er auf Englisch aus. „Was für eine Überraschung! Komm herein.“
Ari sah die Straße auf und ab. Niemand war ihm gefolgt. Er trat
rasch ein. „Du hast mir so oft gesagt, ich solle mal vorbeikommen“, begann er.
„Das habe ich in der Tat — und ich habe es auch so gemeint.“ Es gab keinen Zweifel daran, daß Roger von Herzen begeistert war. „Fühl’ dich wie zu Hause, ja?“ Er führte Ari durch eine lange Eingangshalle zu einem großzügig eingerichteten Wohnzimmer, das in einen Eßbe-reich überging. Gleich dahinter befand sich eine große Küche. „Warum hast du deinen Bart abrasiert? Er hat dir doch sehr gut gestanden.“ „Ich konnte ihn einfach nicht mehr sehen“, sagte Ari mit einem ' trockenen Lächeln. „Außerdem fängt er nach einiger Zeit an zu juk-ken.“
„Da magst du recht haben“, erwiderte Roger. Er klang nicht allzu überzeugt. „Ich habe nie einen Bart getragen.“
„Mann, du hast ja eine Prachtwohnung!“ fuhr Ari fort und versuchte, das Thema zu wechseln. „Ich habe von der sprichwörtlichen Gastfreundschaft in den Südstaaten gehört. Macht es dir wirklich nichts aus, daß ich gekommen bin? Ich muß fürchterlich ausse-hen ...“
„Hör mal, du bist genau richtig hier.“ Roger hatte ihn sich etwas genauer angesehen. „Du bist wohl die ganze Nacht aufgewesen und durch Büsche und Matsch gekrochen? Sieht so aus, als hätte es dich beinahe erwischt!“
„Ich bin gegen einen Ast gelaufen. Habe ihn in der Dunkelheit nicht gesehen. Es sieht schlimmer aus, als es ist.“
Roger lächelte skeptisch. „Komm schon, Ari. Wir sind Freunde. Erzähl’ mir keinen Quatsch. Ich habe mein Leben lang mit Waffen zu tun gehabt. Sie hätten dich beinahe beerdigen können!“
Ari, der zu erschöpft war, um noch länger zu stehen, sank in einen der superweichen Sessel. Seine Jacke fiel nach hinten, und man konnte die Luger sehen, die in ihrem Gürtel steckte. Er bedeckte rasch die Waffe, merkte dann aber, daß Roger sie bereits bemerkt hatte. Ari sank mit einem verlegenen Grinsen zurück. „Ja, du hast recht“, gab er zu. „Jemand hätte mich beinahe erwischt.“
Roger stieß einen leisen Pfiff aus. „Du bist also auf der Flucht. Ich glaube, du solltest mir lieber erzählen ...“
„Hör mal, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen“, begann Ari entschuldigend, „aber ich wußte nicht, wo ich sonst hingehen sollte.“
„Mach dir darüber keine Gedanken. Du hast Glück gehabt, daß du es bis hierher geschafft hast. Ich werde dir, soweit ich kann, helfen. Ich
kann dich verstecken ... dich in den Westen schmuggeln ... aber ich muß wissen, worum es hier geht.“
„Vergiß den Westen. Ich werde hierbleiben, um die Mauer zu stürzen. Du hast mir selbst gesagt, daß es eines Tages dazu kommen wird.“
„Du kannst offen mit mir reden“, sagte Roger. Sein Lächeln war warm, aber seine stahlblauen Augen schienen sich in Aris Seele zu bohren.
„Du weißt, wie sehr ich den Marxismus hasse. Wir haben oft und lange darüber gesprochen. Was ich dir nie gesagt habe, ist... nun ... ich bin in ... nun, revolutionäre Aktivitäten verwickelt ..
Rogers Augen hatten sich entspannt und sein Lächeln wurde breiter. „Das habe ich schon lange gewußt.“
Ari blieb der Mund offen stehen. „Wirklich? Woher?“
„Das kann ich dir jetzt nicht erklären.“
„Nun, dann, die Stasi... vielleicht haben sie es auch schon die ganze Zeit gewußt.“
„Die hatten keine Ahnung. Sie müssen es gerade erst herausgefunden haben.“
„Wenn du all das wußtest, warum hast du mich dann noch danach gefragt?“
„Ich wollte nur sicher sein, daß du mir die Wahrheit erzählst. Wenn wir bei dieser Sache Zusammenarbeiten, müssen wir sicher sein, daß wir einander vertrauen können.“ Roger dachte nach. „Ich habe niemanden gesehen. Ist dir niemand gefolgt?“
Ari schüttelte den Kopf. „Da bin ich mir sicher. Aber diese Wohnung wird sicherlich überwacht.“
„Sie überwachen mich nicht.“ Rogers Stimme klang absolut überzeugt. „Laß uns jetzt die praktischen Dinge besprechen. Du brauchst ein Frühstück — und ein Bett. Aber zunächst müssen wir diese Wunde reinigen. Sie sieht ziemlich schlimm aus. Wir können uns keine Infektion leisten.“ Er ging einen Korridor hinunter, der vom Wohnzimmer abzweigte, und verschwand. Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit einer kleinen Flasche und etwas Watte zurück.
„Mundwasser?“ fragte Ari überrascht, als er das Etikett las.
„Etwas Besseres habe nicht da — aber es wird reichen. Es hat 37 Prozent Alkohol.“ Er tränkte die Watte und rieb damit erbarmungslos in der offenen Wunde herum, so daß Ari vor Schmerz mit den Zähnen knirschte. „Tut mir leid, aber ich muß ganz sicher sein, daß sie sauber ist.“
„Ich bin sicher, daß keine einzige Mikrobe mehr übrig ist!“ protestierte Ari.
„Okay. Komm jetzt in die Küche. Setzt dich an den Tisch, da, während ich dir etwas zu essen mache. Und dann ab ins Bett.“
Ari war so erschöpft, daß er nur noch mechanisch gehorchen konnte. Während Roger etwas Toast und Kaffee anrichtete, konnte er kaum noch die Augen offenhalten. Als er gegessen hatte, folgte er seinem Gastgeber. Dabei war ihm, als taste er sich durch einen dichten Nebel. Roger ging voran, über den dicken Teppich, der von einer Wand zur anderen reichte, durch das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer und dann den Gang hinunter in ein geräumiges Schlafzimmer mit eigenem Bad, zwei französischen Betten, zwischen denen eine gefaltete Trennwand stand, einem Schreibtisch und einem Sofa. Eine große gläserne Schiebetür führte zu einem Garten im Innenhof.
„Hier wohnt meine Familie, wenn sie mich besucht.“ Rogers Stimme klang, als käme sie von weit weg. „Ich werde deine Aktentasche hier auf den Tisch legen. Es ist egal, welches Bett du nimmst. Ich habe etwas zu erledigen ... wahrscheinlich werde ich gegen drei Uhr wieder zurück sein. Wenn du vorher aufwachst und irgend etwas möchtest, bediene dich einfach selbst.“
Ari, der zu erschöpft war, um noch irgend etwas anderes zu tun, zog seine schmutzigen Kleider aus und fiel auf das nächste Bett. Eine feste Matratze, saubere Laken und warme Decken — was für ein willkommener Kontrast zu dem, was er möglicherweise sonst in diesem Augenblick gehabt hätte. Endlich in Sicherheit! Hier werden sie mich niemals finden. Roger... Gott segne ihn ... vielleicht kann ich das eines Tages wieder gutmachen ... Er sank in eine herrliche Bewußtlosigkeit.
Als Ari erwachte, konnte er sich nicht einmal daran erinnern, geträumt zu haben. Er hörte, wie der Regen gegen das Fenster trommelte. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, daß es schon nach vier Uhr war. Sieben Stunden. Ich könnte noch ein paar mehr gebrauchen. Aber ich will heute Nacht schlafen können. Er blieb noch ein paar köstliche Augenblicke liegen, halb träumend, halb wachend, und dachte, was für ein Glück es doch gewesen war, daß er vor so vielen Monaten Roger kennengelernt hatte.
Schließlich zwang Ari sich, aufzustehen. Seine Sachen, die ver-
schmutzt und blutig gewesen waren, hingen über der Lehne eines Stuhls. Sie waren jetzt sauber und gebügelt. Was für ein Freund Roger doch war — und was für Wunder möglich waren, wenn man genügend Geld besaß. Er duschte und zog sich an. Er hörte, wie sich am anderen Ende der Wohnung jemand bewegte, und ein verlockender Duft strömte in sein Zimmer.
Ari ging langsam durch den Flur und blieb im Wohnzimmer stehen, von wo aus er Roger beobachten konnte. Der rührte irgend etwas auf dem Herd um und hatte ihn noch nicht gesehen. „Was duftet denn da so gut?“ fragte er.
„Oh, du bist auf!“ erwiderte Roger fröhlich. „Als ich vor über einer Stunde zurückkam, hast du noch tief und fest geschlafen. Ich wette, du hast noch nie etwas Derartiges gerochen. Warte, bis du es gekostet hast! Ich mache Enchiladas. Es ist ein mexikanisches Gericht. Du wirst es mögen. Wenn du bei einem Texaner wohnst, mußt du auch wie ein Texaner essen.“
„Ich bin hungrig genug, um die Teller zu essen. Und vielen Dank, daß du dich um meine Kleidung gekümmert hast. Wie hast du das so schnell geschafft?“
„Kein Problem. Ich hab’ sie nur in die Waschmaschine und dann in den Trockner geworfen. Wie wär’s mit einem Bier?“
„Nein danke. Ich rühre das Zeug nicht an. Erinnert mich an meinen Alten. Er ist Alkoholiker. Wird immer gemeingefährlich, wenn er getrunken hat.“
„Das tut mir leid. Übrigens habe ich dir eine Zeitung mitgebracht. Sie liegt da drüben auf dem Sofa.“
„Danke.“ Ari drehte sich um und ging ein paar Schritte auf die Zeitung zu. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Bild war auf der Titelseite, dreispaltig! Die Titelzeile lautete: „KAPITALISTISCHE VERSCHWÖRUNG AUFGEDECKT!“ Der Leitartikel trug in großer Schrift die fettgedruckte Überschrift: „Großfahndung eingeleitet. Hohe Belohnung ausgesetzt. “
Ari war plötzlich schwindelig. Er nahm die Zeitung auf, ging hinüber zum Küchentisch, zog einen Stuhl vor und setzte sich. Ais er las, schienen die Worte auf dem Papier zu verschwimmen. Roger beschäftigte sich schweigend am Herd, bis Ari den Artikel zu Ende gelesen hatte und die Zeitung mit einem Fluch auf den Tisch warf.
„Es ist eine ziemlich wilde Geschichte“, bemerkte Roger. „Sie stellen dich als so etwas wie eine Ein-Mann-Armee dar. Ist irgend etwas Wahres daran?“
„Zum Teil. Sie haben sehr viel geraten. Und ich kann es gar nicht glauben, daß sie das Polizeiauto noch nicht gefunden haben. Sie haben einen Zug angehalten, in dem ich saß ...“
„Einen anderen als den, aus dem du die beiden Polizisten hinausgeworfen hast?“
„Ja. Und es waren keine Polizisten. Sie waren von der Stasi.“
Roger trat einen Schritt vom Herd zurück und warf ihm einen bewundernden Blick zu. „Du mußt neun Leben haben. Du hast echt Glück gehabt, daß du bis hier durchgekommen bist. Klingt nach einer unglaublichen Strapaze.“
„Das war es auch. Ich bin froh, daß es vorbei ist.“
„Ich würde gern mehr darüber hören ... irgendwann, wenn du dich danach fühlst.“
„Ja. Jetzt mag ich lieber nicht darüber reden. Vielleicht später. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, daß du mich aufnimmst. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.“
„Nicht der Rede wert. Ich habe da so ein paar Ideen. Wir werden beim Essen darüber sprechen.“
Roger ging zu seiner Pfanne zurück. Ari saß tief in Gedanken versunken auf dem Küchenstuhl. Wie lange würde er hierbleiben? Wann würde er sich wieder hinauswagen und seine Arbeit aufnehmen? Inzwischen war er sich sicherer denn je, daß Roger Verbindungen zum CIA hatte. Und wenn es nicht der CIA war, dann zu irgendeinem Zentrum mit internationalem Einfluß. Wie sonst hätte er so vieles wissen können? Würde er mehr tun, als Ari nur zu verstecken — vielleicht diesen Einfluß nutzen, um ihm auf andere Art zu helfen? War es das, was er mit „ein paar Ideen“ gemeint hatte?
Die Stille wurde durch den melodischen Klang des Glockenspiels unterbrochen. Jemand ist an der Tür! Instinktiv sprang Ari auf und sank dann verlegen auf den Stuhl zurück. Du kannst doch nicht bei jedem Schatten aufspringen.
„Entspanne dich“, sagte Roger. „Es ist wahrscheinlich der Postbote mit einem Paket, das ich erwarte.“ Er stellte die Flamme unter der Pfanne kleiner, ging durch die Eingangshalle und öffnete die Tür.
Ari konnte mehrere Stimmen hören, die einen gedämpften Wortwechsel führten. Dann hörte er Roger ärgerlich ausrufen: „Das dürfen Sie nicht tun! Ich bin amerikanischer Bürger. Ich besitze diplomatische Immunität!“
Ari schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und stand unsicher auf.
Was ging da vor? Sollte er ms Schlafzimmer laufen und seine Waffe holen?
Er hörte, wie eilige Schritte näherkamen. Zu spät begann Ari, durch das Wohnzimmer zum inneren Korridor zu gehen. Zwei Männer in Straßenanzügen, die ins Wohnzimmer platzten, schnitten ihm den Weg ab. Der größere der beiden hatte eine häßliche Narbe auf dem Gesicht, die von seinem Kinn schräg nach oben zu seinem Ohr verlief. Sein Gefährte sah aus wie eine Bulldogge, angefangen bei der Knollennase und der gewölbten Brust bis hin zu den krummen Beinen. Sie richteten Maschinenpistolen auf ihn. Von irgendwo hörte Ari die eisigen Worte: „Sie sind verhaftet!“
Roger stand mit offenem Mund hinter den Eindringlingen und sah Ari entschuldigend an. „Es tut mir leid!“ sagte er immer wieder. „Es tut mir leid! Ich weiß nicht, wie sie dich gefunden haben!“
Der Druck der letzten 48 Stunden schien Ari jetzt doch einzuholen. Er stand wie vom Donner gerührt und bewegungslos da,, unfähig zu glauben, daß jetzt, nachdem er endlich dieses perfekte Versteck erreicht hatte, alles auf so eine Weise enden sollte.
„Hände auf den Rücken!“
Ari gehorchte mechanisch. Wozu sollte er noch weiter versuchen, sich zu wehren? All seine Anstrengungen, hierher zu kommen . .. und doch hatten sie ihn gefunden.
Die beiden Männer hielten ihre Waffen auf An gerichtet und behielten auch Roger im Blick. Sie gingen vorsichtig von zwei Seiten um An herum, wobei sie immer außerhalb der Reichweite von Aris Füßen blieben, und standen schließlich hinter ihm. Rasch und gekonnt wurden ihm Handschellen angelegt.
Während Narbengesicht bei ihm blieb, lief die Bulldogge den Flur hinunter und kam sofort wieder zurück. Verzweifelt sah An, daß er die Aktentasche mit ihrem unbezahlbaren Inhalt trug. Dann packten sie mit einem stahlharten Griff seine Arme, an jeder Seite einer. „Beweg dich!“ kam der kühle Befehl.
Ehe er begriff, was hier geschah, hatten sie Ari aus der Eingangstür geschoben, vorbei an Roger, der immer noch starr vor hilflosem Erstaunen dastand.
7. Ein Alptraum
Ari war, als ob all das einem anderen passieren würde. Er spürte, wie er über die glänzenden Marmortreppen hinuntergeschoben wurde. Dann stießen ihn die Männer in ein Auto, das am Bordstein wartete. Ari war fassungslos. Der Stasi war offenbar allwissend und allgegenwärtig. Er schien alles über ihn zu wissen. Und warum auch nicht? Er hatte völlige Kontrolle über das Land, und jeder Vorteil befand sich auf „seiten des Stasi. Es war ein unfairer Kampf, den nur er gewinnen konnte. Aris Traum, den Marxismus zu zerstören, war nicht mehr gewesen als der grandiose Wunschtraum eines Mannes, der zu jung war, um es besser zu wissen.
Sie werden mich unter Drogen setzen und foltern ... mich für einen Scheinprozeß vorbereiten. Sie werden es ausschlachten und für eine mordsmäßige Propagandakampagne nutzen. Eine öffentliche Exekution. Ein „Beispiel“für das „Volk “. Warum habe ich mich gefangennehmen lassen? Besser im Kampf sterben, als sich wie ein Tier einfangen zu lassen. Nein, sie wußten genau, was sie taten. Es war aussichtslos. Ich werde meine Chance bekommen .. . mit ein bißchen Glück irgendwo ... irgendwann . . . bald!
Er wurde grob auf den Rücksitz des wartenden Wagens neben einen schlanken Mann mit schütterem Haar gestoßen. Der Mann wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster auf der anderen Wagenseite. Er hatte etwas beunruhigend Bekanntes an sich, etwas, was eine bruchstückhafte Erinnerung in ihm auslöste. Wann? WofDie Tür wurde hinter Ari zugeworfen, und die beiden Männer, die ihn gefangengenommen hatten, setzten sich rasch nach vorn. Die Bulldogge übernahm das Steuer.
Das Auto fuhr ab. Als Ari zurückblickte, sah er Roger in der offenen Tür stehen. Er hatte immer noch denselben verblüfften Gesichtsausdruck. War das nur Schau? Hatte er dem Stasi gesagt, wo sie ihn finden konnten? Nein, das konnte Ari nicht glauben. Roger war wirklich verblüfft. Der Stasi überwachte seine Wohnung vermutlich Tag und Nacht. Es war töricht von ihm gewesen, hierher zu kommen — aber woher hatte er das wissen sollen?
Ari war überrascht, als der Fahrer einige Häuserblocks weiter unvermittelt nach rechts abbog. Anstatt den Weg zum beigefarbenen Betonhauptquartier des Staatssicherheitsdienstes in der Normannenstraße einzuschlagen, fuhren sie jetzt in die entgegengesetzte Richtung.
„Wohin bringen Sie mich?“ wollte Ari wissen.
„Zum Bahnhof“, sagte das Narbengesicht.
„Wohin? Warum?“
„Sie werden ,auf wundersame Weise’ nach West-Berlin fliehen.“ Ari spürte, wie die Handschellen — offenbar elektronisch gesteuert — von seinen Händen ab- und hinter ihm auf den Sitz fielen. Die rätselhafte Gestalt neben ihm hatte sich noch nicht einmal gerührt. Er sah immer noch schweigend aus dem Fenster und stützte das Kinn auf eine Hand, als sei er völlig darin vertieft, die Gegend zu betrachten, durch die sie fuhren.
„Sie haben einen großartigen Sinn für Humor“, erwiderte Ari beißend. Was hatten sie wirklich vor? Egal. Jetzt, wo seine Hände frei waren — warum hatten sie das getan? — konnte er den Mann vor sich in einen raschen Würgegriff nehmen und drohen, ihm das Genick zu brechen, falls sie ihn nicht dahin fuhren, wo er hinwollte. Aber wohin wäre das?
„Ich weiß genau, was Sie denken“, sagte der Mann neben ihm. „Versuchen Sie es gar nicht erst.“ Diese Stimme — so vertraut, und doch so schwer zu greifen ... und so überzeugend. Er starrte immer noch aus dem Fenster.
Was geht hier vor? Das Narbengesicht hatte angefangen, sich auszuziehen. Er sah sich nach Aid um. „Ziehen Sie sich auch aus“, befahl er, während er sich aus seiner Hose kämpfte. Er hielt die Uniform eines Polizeioberst hoch und begann, sie anzuziehen. „Hier ist eine für Sie“, sagte er, warf eine einfache Uniform ohne Rangabzeichen und ein paar schwarze Schuhe neben Ari auf den Sitz. „Los, anziehen.“
„Eine Polizeiuniform? Was haben Sie vor?“
„Das ist Ihre Fahrkarte in den Westen. Los, machen Sie schon!“ „Halten Sie mich für verrückt? Sie wollen mich reinlegen.“
„Tun Sie, was er sagt!“ befahl der Fahrer ungeduldig.
„Sie wollen mich doch nur in einer Polizeiuniform bei einem ,Fluchtversuch’ erwischen, damit Sie mich auf der Stelle erschießen können“, erwiderte Ari. „Läßt sich besser für die Propaganda nutzen, nicht wahr? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?“
„Sie tragen keine Handschellen mehr“, entgegnete das Narbengesicht, der gerade mit dem Anziehen seiner Uniform fertig war. „Die Waffen und die ,Festnahme’ sollten Ihren Freund schützen. Wir sind hier, um Ihnen zur Flucht in den Westen zu verhelfen.“
„Ich will nicht in den Westen. Ich gehöre hierher. Ich habe nichts Böses getan!“
„Nicht Böses? Hören Sie auf, uns etwas vormachen zu wollen!“ knurrte der Mann neben ihm ungeduldig. Offenbar hatte er die Leitung. „Sie haben geplant, die Regierung zu stürzen ... eine Spur des Chaos hinter sich zurückgelassen ... zwei tote Agenten und zwei weitere, die beinahe ertrunken wären ..."
„Warum helfen Sie mir dann, in den Westen zu entkommen?“
„Sie haben keine andere Wahl, oder?“ Er wandte Ari das Gesicht zu. Es war der Mann aus seinen Alpträumen! Oder doch nicht? Wo hatte er ihn gesehen? Im wirklichen Leben ... oder nur in einem Traum? - „Ich kenne Sie irgendwoher“, sagte Ari. Diese Augen durchdrangen seine Seele, als würden sie seine innersten Gedanken aufdecken. Ihm wurde schwindelig. Rasch wandte er sich ab und versuchte, die Verwirrung abzuschütteln. „Wo habe ich Sie schon einmal gesehen?“ beharrte er. Jetzt war er sich sicher, daß er den Mann kannte. Jene erste Demonstration ... war er derjenige, der ihn am Arm gepackt hatte? Eine zusammenhanglose Erinnerung war Ari zum Greifen nahe, ließ sich aber nicht fassen. „Bei der Demonstration in Leipzig! Das ist es!“
„Ich halte seit Jahren Kontakt mit Ihnen“, kam die rätselhafte Antwort.
Ari zog sein Jackett aus und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Er hatte keine andere Wahl. „Wer sind Sie?“ wollte er wissen.
„Das können Sie jetzt noch nicht verstehen — aber eines Tages werden Sie es verstehen. Ich bin ein Mentor... aus einer höheren Bewußtseinsebene.“
„Und ich bin die Reinkarnation von König Tut!“ erwiderte Ari wütend. „Sie sind vom CIA ... Stimmt’s?“
„Nein. Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen, weil wir genau wie Sie diesen Planeten retten wollen. Das Karma der gesamten Galaxie steht auf dem Spiel.“
Karma ... Galaxie? Was für ein Spiel wurde hier gespielt?
„Und wie wollen Sie das tun ... und was wollen Sie von mir?“ fragte Ari, der im Augenblick so tat, als spiele er mit.
„Wir haben keine Zeit, das jetzt zu erklären. Ziehen Sie sich die Uniform an — schnell!“
Ari gehorchte eilig. Vielleicht würde die Uniform bei der Flucht nützlich sein. „Was meinten Sie, als Sie von einer ,höheren Bewußtseinsebene’ sprachen?“ fragte er und tat so, als nähme er diesen Unsinn ernst.
„Natürlich glauben Sie mir nicht — noch nicht.“
„Nun, ja und nein“, erwiderte Ari rasch. Konnte diese rätselhafte
Gestalt neben ihm tatsächlich seine Gedanken lesen, oder war er einfach nur gut im Raten?
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich weiß, was Sie denken“, kam die ungeduldige Antwort. „Diese physische Ebene ist nur ein kleiner Teil des Universums. Und doch hält sie Sie gefangen und macht Sie blind für die zehn Bewußtseinsebenen, die dahinter liegen. Auf Ihrer Ebene ist das, was ich sage, nicht zu verstehen ... aber eines Tages werden Sie es erkennen.“
Die drei Männer unterhielten sich kurz. Ari kannte die Sprache nicht. Er zog sich weiter um. Als er fertig war, sagte er: „Okay, und was jetzt?“
„Sie gehen mit dem Oberst mit. Sie werden in dem Zug, der aus Moskau kommt, die Pässe kontrollieren. Er soll in zwanzig Minuten im Bahnhof einlaufen. Bleiben Sie in seiner Nähe — und tun Sie genau, was er Ihnen sagt. Ich werde später Kontakt mit Ihnen aufnehmen ...“ „Im Westen?“
„Im Westen.“
„Das sind Sie also — Sie gehören zum Geheimdienst der BRD!“ „Mit denen haben wir nichts zu tun“, kam die knappe Antwort. „Sie werden Anweisungen erhalten ... in Paris. Bauen Sie von dort aus Ihre Basis auf. Dasselbe Projekt, aber weltweit.“
Die ganze Sache war total verrückt. Aber im Augenblick war es das Beste, ihr Spiel mitzumachen. Das Auto hielt vor dem Bahnhof. „Ich brauche meine Aktentasche“, verlangte Ari.
„Nein. Sie paßt nicht zur Uniform. Wir haben eine andere für Sie — mit 50.000 DM. Als Starthilfe für den Anfang.“
Der Fahrer stieg aus und ging zum Kofferraum. Emen Augenblick später öffnete er Aris Tür und schob eine offizielle Polizeiaktentasche auf seinen Schoß. „Stecken Sie alles da rein — und beeilen Sie sich.“ Ari öffnete den Deckel. Er konnte seinen Augen nicht glauben. Das Geld war tatsächlich da, in Hundertmarkscheinen und säuberlich gebündelt. Er bedeckte das Bargeld mit den kostbaren Unterlagen aus seiner eigenen Aktentasche. Darauf legte er die Luger und die Munition, und obenauf kam die Kleidung und die Tennisschuhe, die er gerade ausgezogen hatte.
„Diese Namen und Anschriften — zumindest die meisten davon — werden Sie eines Tages im Westen benutzen“, sagte der Mann mit den hypnotisierenden Augen.
„Vielleicht. Jedenfalls werde ich sie nicht hierlassen.“
„Geh’n wir“, befahl der Oberst. „Aber fix.“
Ari stieg aus dem Auto und beeilte sich, Narbengesicht, der jetzt wie ein Polizeioberst gekleidet war, in den Bahnhof zu folgen. Er hatte keine andere Wahl — aber worauf ließ er sich da ein? Gab es eine Gruppe innerhalb der Polizei, die daran arbeitete, das Regime zu stürzen, und die ihn sicher im Westen haben wollten? Oder war es ein Trick — vielleicht viel ausgefeilter, als er sich überhaupt vorstellen konnte?
„Bleiben Sie neben mir und tun Sie, was ich Ihnen sage“, murmelte der Oberst leise. „Tun Sie so, als wüßten Sie, was Sie tun — nicht, als 'wären Sie mein Gefangener!“
Ari, der immer noch nicht glauben konnte, was geschah, folgte Narbengesicht durch den Zoll und die Paßkontrolle. Jeder Offizier, dem sie begegneten, salutierte vor seinem Begleiter, und mehrere begrüßten ihn mit Namen.
Draußen auf dem Bahnsteig waren ein halbes Dutzend Polizisten, die sich unterhielten, rauchten und lachten, während sie auf den Expreßzug aus Moskau warteten. Ein Hauptmann, der offenbar die Leitung hatte, stand in ihrer Nähe. In etwa neun Metern Entfernung blieb der Oberst mit Ari stehen. „Warten Sie hier“, sagte er leise. „Ich bin gleich wieder da.“
Hier werden sie mich erschießen! Er gibt ihnen Anweisungen. Es ist eine Falle, genau, wie ich gedacht habe! Sie erwarten, daß ich fliehe. Das werde ich nicht tun. Ich müßte ja verrückt sein.
Der Hauptmann salutierte rasch vor dem Oberst und die beiden zogen sich ein paar Schritte zurück, wo sie in gedämpfter Lautstärke miteinander redeten. Ari bemühte sich, etwas zu hören, aber er konnte nur gelegentlich ein Wort verstehen. Ich werde nicht weglaufen, damit sie mir in den Rücken schießen können. Sie werden mich kaltblütig umbringen müssen, Auge in Auge — und ich glaube nicht, daß sie das hier tun werden, wo alle Leute Zusehen.
Als der Oberst zurückkam, lächelte er. „Der Hauptmann hat einen Haufen neuer Leute. Ich habe ihm gesagt, du wärst noch genauso grün, aber du hättest außergewöhnliches Potential und ich wollte dich persönlich einweisen. Wir werden die ersten beiden Wagen nehmen. Es ist eine einfache Aufgabe. Wir gehen zusammen durch den Gang und kontrollieren die Pässe. Der Zug ist voller westlicher Touristen, die entweder aus Moskau oder aus Warschau kommen. Wenn wir fertig sind, sage ich Ihnen, was Sie tun müssen.“
Wenige Minuten später lief der Zug in den Bahnhof ein und Ari folgte dem Oberst in den Wagen. Als er langsam durch den Gang des
ersten Wagens ging und mit dem Oberst an seiner Seite die Pässe kontrollierte, begann Ari, sich zu entspannen. Vielleicht geschah es ja wirklich! Der Oberst würde ihn nicht vor den Augen mehrerer hundert westlicher Touristen erschießen, und sicherlich nicht ohne provoziert zu werden — und Ari war entschlossen, sich nicht zu einer Provokation verleiten zu lassen. Als er sah, wie freundlich sein geheimnisvoller Begleiter jeden der Reisenden abfertigte, begannen Aris Gefühle sogar, sich auf überraschende Weise zu verändern.
Sie beendeten ihre Aufgabe ohne Zwischenfälle. Alle Pässe waren in Ordnung und jeder stand auf der Liste der Fahrgäste, die für diese beiden Wagen ausgedruckt worden war. Als sie zur hinteren Tür des zweiten Wagen gingen, bleib der Oberst bei der Toilette stehen.
„Gehen Sie da rein und schließen Sie die Tür ab“, sagte er. „Ziehen Sie wieder Ihre normale Kleidung an. Stopfen Sie die Uniform unten in den Abfalleimer. Kommen Sie unter keinen Umständen heraus, bevor der Zug in den Westteil Berlins gefahren ist.“
„Wie werden Sie dem Hauptmann erklären, daß ich nicht mit Ihnen zurückkomme?“ fragte Ari und zögerte, sich zu verabschieden. War es wirklich möglich, daß er sich um die Sicherheit dieses Mannes sorgte, der ihn noch vor weniger als einer Stunde mit einer Maschinenpistole bedroht hatte?
„Er ist einer von uns“, erwiderte der Oberst mit einem kurzen Lachen. „Jetzt beeilen Sie sich! Rein da.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich muß das Signal zur Abfahrt des Zuges geben.“
Ari trat hinein, verschloß die Tür und sah aus dem Fenster. Einer von uns? Es gab also doch eine Gruppe von Rebellen innerhalb der Polizei! Wenn ich das doch nur gewußt und mit ihnen zusammengearbeitet hätte. Dann wäre es vielleicht anders gelaufen. Warum haben sie nicht schon eher Kontakt mit mir auf genommen?
Er sah, wie der Oberst das Signal für den Bremser gab und dann zum Bahnhofsgebäude zurückging. Der Hauptmann trieb seine Männer bereits durch die Tür.
Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Es konnte einfach nicht wahr sein — aber es gab keinen Zweifel. In wenigen Augenblicken würde er ein freier Mann sein!
8. Der Professor
Paris
Anfang Mai 1989
Das verwitterte Ziffernblatt der alten Uhr blickte ernst hinunter auf den Place de la Sorbonne. Von ihrem Platz an der Außenwand hoch über dem westlichen Eingang zur Universität von Paris, dessen Steine im Laufe der Jahrhunderte dunkel geworden waren, hatte sie einen guten Überblick. Ihre verrosteten Zeiger standen auf 11.47 Uhr. Die Tische der Brasserien, Teestuben und Grillrestaurants auf den Bürgersteigen rund um den kleinen Platz waren bereits belebt, aber für die meisten Berufstätigen war es noch zu früh. Studenten hockten über ihre Getränke gebeugt und unterhielten sich mit großem Eifer. Sie saßen in kleinen Gruppen, jeweils vier oder fünf von ihnen an einem Tischchen, das für zwei Personen gedacht war — wobei sie nur sehr wenig über ihre Studien sagten. Dafür stritten sie sich um so ernsthafter und manchmal auch hitziger über Politik und Menschenrechte, als hinge das Schicksal der Welt von ihren Äußerungen ab.
An einem Straßentisch vor der Brasserie L’Escholier, einem Restaurant, dessen Spezialität Carlsberger und Dortmunder Bier war, saßen schon seit dem späten Vormittag zwei Männer in Straßenanzügen. Muskulös und braungebrannt wirkten sie eher wie Berufssportler und nicht wie Unternehmer. Sie unterhielten sich kaum. Eine gewisse Ruhelosigkeit und ein gelegentlicher Blick über den Platz, während sie ohne großes Interesse die Morgenausgabe der Le Monde durchblätterten, ließ darauf schließen, daß sie jemanden erwarteten. Als die Zeiger der Uhr die Zwölf überschritten hatten, schienen die beiden Männer zunehmend wachsamer zu werden. Sie blickten immer häufiger über die Ränder ihrer Zeitungen hinüber zur Tür unter dem uralten Chronometer.
Etwa zehn Minuten nach zwölf, als der Strom der Studenten, die aus der Universität kamen, sich gelichtet hatte, trat eine einsame Gestalt aus der Tür und wurde von dem uniformierten Pförtner mit einem herzlichen „Bonjour, Professeur“ gegrüßt. Der Professor reagierte mit einem Kopfnicken und einem kurzen Lächeln, ging ein paar Schritte nach rechts, die enge Rue de La Sorbonne entlang, wandte sich dann plötzlich um und ging schräg über den Platz auf den Boulevard Saint Michel zu. Einer der beiden Männer an dem Tisch stand auf und ging
wie zufällig in einiger Entfernung neben dem Professor in die gleiche Richtung, während der andere noch einige Augenblicke länger in seiner Zeitung las. Schließlich faltete er seine gründlich durchgeblätterte Ausgabe der Le Monde zusammen, sprach leise ein paar Worte in seine Innentasche und schloß sich dann der Prozession an.
Was den Mann betraf, der jetzt beschattet wurde, so hatte er im Laufe der Jahre eine unaufdringliche Ausstrahlung von Reife und Weisheit bekommen, die für einen Professor an Frankreichs angese-hendster Universität sehr passend war. Natürlich hatte die Zeit ihren unvermeidlichen Tribut gefordert. Die tiefsitzenden braunen Augen schienen zwar immer noch alles mit einem raschen Blick in sich aufzunehmen, was sich in Blickweite befand, aber das einst dichte, tiefschwarze, lockige Haar war jetzt leicht ausgedünnt und von grauen Strähnen durchzogen. Dennoch schien sein Gesicht kaum gealtert zu sein — vielleicht, weil es immer noch denselben intensiven Ausdruck eines Mannes hatte, der von einer glühenden Vision vorangetrieben wurde, die ihm kaum Zeit für irgend etwas anderes ließ.
Selbst das locker sitzende Tweed-Jackett konnte nicht die Tatsache verbergen, daß der Mann, der es trug, in bester körperlicher Verfassung war. Er schien eine explosive Energie auszustrahlen, wie sie zwanzig Jahre jüngere Männer besaßen. Obwohl Ari zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Ost-Berlin zwanzig Jahre alt war, hätte ihn auch jetzt, im Alter von 45 Jahren und trotz seiner neuen Identität als Professor Hans Müller — dem hochgeschätzten und respektierten Leiter der Abteilung für politische Wissenschaften an der Sorbonne — jeder ohne Probleme wiedererkannt.
Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit Ari auf geheimnisvolle Weise aus Ost-Berlin verschwunden war. Damals glaubten nur sehr wenige seiner Freunde, daß er das Glück gehabt hatte, zu entkommen. Die meisten, die ihm nahe gestanden hatten, waren sehr bald von der Stasi verschluckt worden, und man hörte me wieder von ihnen. Es wurde wie selbstverständlich angenommen, daß Ari dasselbe Schicksal erlitten hatte. Seine Pflegemutter hatte allerdings die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Unglücklicherweise war sie schon gestorben, als Ari es endlich nicht mehr für gefährlich hielt, ihr zu schreiben. Sie hatte an einem Gehirntumor gelitten, der ihr gnädigerweise einen schnellen Tod brachte. Ihr Ehemann, der von Schuldgefühlen verzehrt wurde, weil er sie regelmäßig mißhandelt und so zu ihrem frühen Tod beigetragen hatte, versuchte immer häufiger, seine Reue im Alkohol zu ertränken. Nicht lange nach ihrem Ableben erlag diese tragische
Gestalt einer Leberzirrhose. Auf die offizielle Anerkennung für die Information, die er geliefert und die doch sicherlich dazu geführt hatte, daß man diesen Judenbastard-Staatsfeind gefaßt hatte, hatte er bis zu seinem Tod gewartet.
Aris Brief an seine Pflegemutter, der sehr vorsichtig und zurückhaltend geschrieben war, wurde irgendwann von den Zensoren zurückgeschickt. Sie hatten ihn geöffnet und gelesen, ohne seine Bedeutung zu erkennen. Ein weiterer Brief, den er voller Hoffnung einige Monate später abschickte, kam ungeöffnet zurück. Auf dem Umschlag standen in der krakeligen Handschrift des Dorfpostbeamten die Worte „Empfänger verstorben“. Er sollte nie erfahren, unter welchen Umständen sie gestorben war. Die letzten Tage der einzigen „Mutter“, die er je gekannt hatte, sollten für immer hinter derselben finsteren Wolke der Bedrückung verborgen bleiben, die auch das Schicksal seiner richtigen Eltern verdunkelte.
Dieser undurchdringliche Schleier, gewebt von demselben Unheil, das Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, erlaubte es Ari, in seinem Inneren weiter unaufrichtig zu bleiben und die Tatsache, daß er Jude war, zu leugnen. Schließlich war diese Anschuldigung nur von zwei ungebildeten Leuten gekommen, und es war unmöglich, sie nachzuprüfen. Und dem schmerzhaften Indizienbeweis, daß seine Eltern in einem Konzentrationslager umgekommen waren, hatte er in all den Jahren kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken gewidmet. Die unbequeme Frage nach seiner wahren Herkunft war schon lange in einer steigenden Flut rasch aufeinanderfolgender Ereignisse, die jeden seiner wachen Gedanken in Anspruch nahmen, untergegangen.
Die unersetzliche Liste von Kontakten, die Ari in jener Polizeiaktentasche aus dem Osten mitgebracht hatte — sowie Tausende von Adressen, die später ergänzt worden waren — wurden von Mitarbeitern, die Ari persönlich rekrutiert und ausgebildet hatte, sehr genau überprüft und ständig aktualisiert. Dieser Vorgang hatte viele Jahre in Anspruch genommen. Aber eine der größten Lektionen, die er aus seinen früheren Fehlern hinter dem Eisernen Vorhang gelernt hatte, war die absolute Notwendigkeit von Geduld — und nochmals Geduld. Revolutionen durfte man nicht überstürzen. Sie mußten reifen. Und mit der Geduld war auch seine Vision gewachsen, so daß es jetzt endlich nur noch wenige Monate waren, bis er wieder dasselbe in Gang setzen würde, was er innerhalb der engen Grenzen der DDR beinahe geschafft hätte — diesmal jedoch weltweit.
Obgleich sie von Robert de Sorbon im Jahre 1253 gegründet worden
war, lag der Ursprung jener Institution, die seinen Namen trug, in der Schule, die Karl der Große im Jahre 780 n.Chr. für seinen Lehrer Alcuin eingerichet hatte. Aus diesem ehrwürdigen Institut entwickelte sich die Universität von Paris, die schließlich unter dem Namen Sorbonne bekannt wurde. Hier entstanden gegen Ende des 13. Jahrhunderts all die Sitten und Gebräuche, die heute in den meisten modernen Universitäten üblich sind, einschließlich dem Schreiben und Verteidigen einer These, der Vergabe von akademischen Graden, sowie die akademischen Insignien und Rituale wie zum Beispiel die Abschlußfeierlichkeiten. Ihre lange Geschichte des Radikalismus und ihr unangefochtener Ruf als wichtigstes Bildungszentrum in ganz Europa, den sie schon seit dem Jahre 1116 n.Chr. unter jenem Erzradikalen Pierre Abelard hatte, machte sie zur idealen Operationsbasis für Aris weltweite Studentenrevolution.
In seinen Vorlesungen konnte Ari, wenn er wollte, offen dafür ein-treten, die bestehenden Regierungen, sowohl im Osten als auch im Westen, zu stürzen, ohne dafür auch nur ein Stirnrunzeln zu ernten. In der Öffentlichkeit vertrat er eine Position, die extrem genug war, um ihn bei Studenten und Fakultät gleichermaßen beliebt zu machen, aber er verriet nicht seine wahren Ambitionen und Pläne. Dieser öffentliche Radikalismus in seiner Position als Leiter der Abteilung für politische Wissenschaften war die ideale Tarnung für die wirkliche Revolution, die er insgeheim vorbereitete. Sein Ruf als brillanter Diskussionsredner und fesselnder Rhetoriker hatte ihm auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Türen zu Europas bedeutendsten Universitäten geöffnet, wodurch An auf Kosten der Universität reisen und ständig neue Kontakte in der akademischen Welt knüpfen konnte.
Ari war ein erklärter Feind der Religion, jenem Opium für das Volk, geblieben. Dies war die einzige These des Marxismus, die er noch vertrat. Es war schiere Ironie, daß die Universität, an der er lehrte, in ihrer Anfangszeit eng mit der theologischen Schule an der nahegelegenen Kathedrale von Notre Dame verbunden gewesen war. Ari genoß es, auf solche Widersprüche hinzuweisen.
Im Jahre 1431 n.Chr. spielten die hoch angesehenen Theologen der Sorbonne, die zu der Zeit bereits Europas wichtigstes Zentrum der Theologie und die Hauptstütze des Papsttums war, eine führende Rolle bei dem Urteil der Kirche, das Jeanne d’Arc zum Scheiterhaufen verurteilte. Heute jedoch ist eine der beliebtesten Statuen in der Kathedrale von Notre Dame, vor der immer viele Kerzen brennen, die Statue der Heiligen Jeanne d’Arc, die inzwischen Frankreichs „National-
heldin“ geworden ist. Und auch die Sorbonne selbst blieb nicht von der Plage der Widersprüche verschont. Die Universität von Paris, die immer ein brodelnder Kessel der Revolution gewesen war, wurde geschlossen, als die Französische Revolution am 15. September 1793 alle französischen Universitäten verbot. Wie Ari häufig in seinen Vorlesungen hervorhob, brachten Revolutionen nur allzu häufig Systeme an die Macht, die schlimmer waren als das vorhergehende, wofür die Sowjetunion ein Paradebeispiel sei. Er war fest entschlossen zu verhindern, daß sich bei dem Aufruhr, den er anführte, solche Irrtümer wie-' derholten. Und das war Grund genug für ihn, die volle Kontrolle über alles sowie eine absolute Geheimhaltung beizubehalten.
Nach Aris Einschätzung hatten die meisten Universitätsstudenten kein Ziel und waren nur wenig motiviert, sich selbst zu verändern, von einer Veränderung der Welt ganz zu schweigen. Das hatte er in den sechzehn Jahren, in denen er gelehrt hatte, bewiesen. Und unglückseligerweise würde die überwiegende Mehrheit, ganz gleich für wie intellektuell sie sich hielt, letztlich jedem Führer folgen, der wußte, wie er den Ring an ihre Nasen legen und sie führen mußte. Es gab eine gefährliche Minderheit von Studenten, die schlicht Rebellen waren und sich jeder Bewegung anschließen würden, die sich gegen die jeweilige Regierung wandte — um sich dann wiederum gegen die neue Regierung zu wenden, der sie gerade geholfen hatten, an die Macht zu kommen. Natürlich gab es immer eine kleine Anzahl von „Aktivisten“, einige von ihnen waren sogar sehr aufrichtig und ernsthaft. Aber ihr Aktivismus beschränkte sich auf schlecht geplante, sporadische und unwirksame Proteste — und darauf, Graffiti zu kritzeln, wovon das meiste unverständlich war und die Bevölkerung nicht gerade für sie einnahm.
Die Statue von Auguste Comte, die den kleinen Platz beherrschte, wurde gerade mit Sandstrahl behandelt, um sie von Initialen zu reinigen, die mit der Spraydose aufgesprüht worden waren und wahrscheinlich von irgendeiner obskuren extremen Studentengruppe stammten — aber wer würde das erfahren? Was für eine Energiever-schwendung auf beiden Seiten. Denn sobald die Schmierereien entfernt worden waren, würden sie aufs neue erscheinen. Und warum arbeitete der Mann in der Mittagspause weiter? Das konnte kein Franzose sein! As Ari einen Bogen um die Statue machte, wurde er von dem nassen, sandigen Sprühnebel im Gesicht getroffen. Ärgerlich wischte er sich das Gesicht ab und eilte weiter.
Auguste Comte — ein weiterer Widerspruch! Dieser Gründer der
Soziologie — ein Terminus, den er erfunden hatte — war in seinem Privatleben, im Beruf und in Beziehungen zu anderen ein totaler Versager gewesen. Comte war ein selbstmordgefährdeter Größenwahnsinniger, der nicht einmal eine Arbeitsstelle halten konnte. Dennoch hatten seine Theorien einen starken Einfluß auf das Denken des 19. Jahrhunderts und wurden immer noch geehrt, studiert und gelehrt — nicht nur an der Sorbonne, sondern in der ganzen Welt. Obwohl er ein atheistischer Humanist war, wurde auch Comte das Opfer religiöser Täuschungen und gründete die Religion der Menschheit mit ihren umfangreichen Ritualen, Hymnen und Heiligen — ja, er sprach sogar seine Lieblingsmätresse, Clothilde de Vaux, heilig.
Die Torheiten der Menschen schienen kein Ende zu nehmen. Gab es eine Hoffnung? Führung! Darauf lief es hinaus. Der Pöbel wird allem und jedem folgen, überallhin. Wir müssen die gegenwärtigen Fühmngs-strukturen zerschlagen — nicht nur im Osten, sondern auch im Westen —, bevor wir eine neue Welt der Freiheit und Gerechtigkeit aufbauen können!
Als er den Bürgersteig erreichte und in den Boulevard Samt Michel zur Seine hin einbog, wurden Aris Gedanken durch eine Stimme und eine Hand auf seinem Arm unterbrochen. „Würden Sie unsere Petition unterschreiben, Herr Professor?“ Er blieb stehen und wandte sich dem Sprecher zu, um ihn anzulächeln. Es war einer seiner ernsthaftesten Studenten, der bald graduieren würde. Der junge Iraner, der hinter ihm hergeeilt war, als er den Platz überquerte, hielt Ari ein großes Photoalbum vor die Nase und begann, die Seiten umzublättern. Sie zeigten Photos von öffentlichen Hinrichtungen, die kürzlich im Iran stattgefunden hatten, und eine scheinbare Dokumentation der grausamsten Folter, die man sich vorstellen konnte.
„Dies sind nur einige Beispiele“, erklärte der junge Mann ernsthaft. „Sehen Sie nur, wie die herrschende moslemische Elite Dissidenten behandelt — und nicht nur Dissidenten, sondern anscheinend jeden, völlig wahllos! Die Leute werden fälschlicherweise beschuldigt, in einem Schauprozeß verurteilt und ohne eine öffentliche Anhörung zu Tode gefoltert.“
Ein anderer junger iranischer Student war mitten auf den Gehweg getreten und hielt ein Plakat hoch, auf dem von Hand in großen Buchstaben geschrieben war: „KHOMEINY EST MORT! MAIS LES CREMES DE SON REGIME CONTINUENT A ETRE COMMIS.“
„Was Sie eigentlich wollen, ist nicht nur meine Unterschrift, sondern
ein finanzieller Beitrag — richtig?“ meinte Ari trocken, nachdem er einen Blick auf das Formular geworfen hatte.
„Ja, natürlich. Wir versuchen, Geld zu sammeln, um diesen armen Menschen zu helfen.“
Ari sah ihm direkt in die Augen. „Ich bezweifle nicht, daß diese Greuel geschehen, aber woher soll ich wissen, ob diese Organisation legitim ist?“
„Sie kennen mich aus den Vorlesungen. Ich würde nicht mitmachen, wenn
„Vielleicht werden Sie ja auch betrogen.“ Ari unterschrieb die Petition und gab dem jungen Mann eine Zehn-Franc-Münze. „Ich möchte die vollständige Dokumentation über diese Organisation haben — schriftlich — und einen mündlichen Bericht vor dem Seminar ,Gerichtsbarkeit in der Regierung’. Wenn die Sache legitim ist, muß diese Information überall veröffentlicht werden und wir sollten alle etwas für diese Sache geben. Wenn sie nicht legitim ist...“ Er Keß diese Frage in der Luft hängen, wandte sich ab und ging eikg den Boulevard Saint Michel hinunter, wobei er immer weiter in das Quartier Latin hineinkam.
Es war ein selten klarer und schöner Tag, ohne eine Spur des erstik-kenden Smogs, der in den letzten Jahren immer schlimmer geworden war. In der Hitze des Sommers legte er sich häufig erbarmungslos mehrere Tage hintereinander auf die Stadt. Die Bürgersteige waren voller Touristen und Pariser, die die Sonne und den überwältigenden Duft der verschiedenen Frühlingsblumen genossen, der in der Luft hing. Ari sah kurz auf die Uhr und beschleunigte seinen Schritt. Er eilte am Museum von Cluny vorbei, in dem man Ruinen römischer Bäder aus dem dritten Jahrhundert sehen konnte. Dann überquerte er den Boulevard Saint Germain, wandte sich nach rechts in die Rue Saint Jacques, dann nach links die schmale Straße zwischen den alten Kirchen Saint Severin und Saint Julien le Pauvre entlang.
Saint dies und Saint das. In Paris war es unmöglich, den „Heiligen“ zu entkommen. Ihre ständige Anwesenheit erinnerte ihn immer an seine Mama in der DDR. Sie hätte sich hier sehr wohlgefühlt, wenn sie nur lange genug gelebt und ihn besucht hätte. Es gab die Mauer ... aber sie hätten sie vielleicht ausreisen lassen, um sich die Rente für eine weitere alte Frau zu sparen. Sie wäre glücklich gewesen, von so vielen „Heiligen“ umgeben zu sein — und in der Kathedrale von Notre Dame de Paris, die „unserer Heiligen Jungfrau von Paris“ gewidmet war, wäre sie geradezu verzückt gewesen.
Eine kurze Welle der Nostalgie überflutete Ari. Trotz der schmerzlichen Erinnerungen liebte er die DDR und jenes Dorf — und sogar jene elende LPG. Ein Zuhause und die Anwesenheit einer Frau waren etwas ganz Besonderes.
In Aris Alltag gab es nichts, was gefühlvoll, vertraut oder zärtlich war — bis vor sechs Jahren Nicole in sein Leben getreten war. Sie hatte das schmerzende Vakuum, dessen Existenz er bis dahin nicht zugeben wollte, bloßgelegt und es dann ausgefüllt. In seinem Fall hatte sich das alte Sprichwort erfüllt: Das Leben hatte tatsächlich mit 40 begonnen. Leben und Liebe, wie er es nie für möglich gehalten hatte.
Niki, deren Hauptfach Medizin war und die einen Einführungskurs für das Medizinstudium besuchte, hatte nur einen seiner Kurse belegt. Die beiden hatten sich vom ersten Tag an unwiderstehlich zueinander hingezogen gefühlt. Sie war eine ausgezeichnete Studentin gewesen: sie war klug, besaß politischen Sachverstand und nahm kein Blatt vor den Mund — und sie war wehrlos gegenüber seiner kraftvollen Männlichkeit. Ihre Jugend und ihre Begeisterung hatten in Ari eine Flamme neu entzündet, die er für längst erloschen gehalten hatte. Trotz ihres Altersunterschiedes von siebzehn Jahren hatte durch ihr Mitgefühl und ihr Verständnis das Wort „Heim“ für Ari endlich wieder einen Inhalt bekommen — ja, es hatte sogar eine neue Bedeutung erhalten. Sobald sie sich ineinander verliebt hatten, war sie in seine Wohnung gezogen, und jetzt arbeitete sie als Assistenzärztin der Neurochirurgie eines nahegelegenen Krankenhauses. Es waren sechs unglaubliche Jahre gewesen. Ari kostete den Gedanken einen kurzen Augenblick lang aus. Dann legte er ihn beiseite. Er mußte sich innerlich auf die wichtige — und gefährliche — Sache vorbereiten, die vor ihm lag.
Als er die Seine erreichte, wandte er sich nach links, kontrollierte noch einmal die genaue Zeit auf seiner Armbanduhr und verlangsamte dann seinen Schritt. Er ging gemächlich am linken Flußufer entlang, vorbei an den winzigen Kiosken, die auf einfallsreiche Weise an die Mauer angebaut waren, die den Fluß säumte. Nachts waren sie verschlossen. Aber jetzt waren sie geöffnet, die Klappen waren auf lange Pfähle gestützt, und unter den wachsamen Augen der Besitzer, die stolz waren auf ihre Unabhängigkeit, wurden erstaunliche Warenmengen im Inneren des Kiosks und auch draußen auf dem Pflaster verteilt ausgestellt. Dies war Kapitalismus in seiner einfachsten, reinsten Form. Auf dem schmalen Gehweg wimmelte es von Touristen, die hier und da stehenblieben, um in einem uralten Buch zu blättern oder einen gewitzten politischen Cartoon oder andere Stücke gedruckten
Treibguts anzusehen, die irgendwie hier gelandet waren und jetzt zum Kauf angeboten wurden.
Ari hielt sich genau an seinen Zeitplan. Er wandte sich nach links, um bei der Pont au Double die Seine zu überqueren, und kam zur Ile de la Cite. Er blieb kurz stehen und fluchte über die endlose Reihe von Reisebussen, die hier zusammenströmten und dunkle Wolken übelriechender, giftiger Abgase ausstießen, wenn sie hielten, um ihre Ladung von Touristen auszuspeien oder aufzunehmen. Dann nahm er sich noch einen Moment Zeit, hob den Kopf, hielt eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und sah mindestens zum tausendsten Male zu der wuchtigen gotischen Fassade von Notre Dame hinauf. Die abstoßenden Wasserspeier mit Vogelschnäbeln, böse blickenden Augen, spitzen Ohren und einem menschlichen Torso und menschlichen Armen, die überall an der Kathedrale hockten, waren ein weiterer Widerspruch, der ihn auf eigenartige Weise faszinierte. Wenn es tatsächlich solch einen Ort wie die Hölle gab, dann repräsentierten diese Monster mit Sicherheit ihre Bewohner.
Dämonen, die auf den Brüstungen einer Kirche angebracht waren, um sie vor Bösem zu schützen? Das war, als ließe man den Fuchs den Hühnerstall bewachen! Und doch wiederholte sich derselbe Widerspruch ohne Ende in den Regierungen rund um die Welt, wo „das Wohl des Volkes“ in den Händen von Führern lag, die nur für sich selbst sorgten. Sein Leben war dem Ziel gewidmet, diejenigen, die er „Regierungs-Wasserspeier“ nannte, irgendwann durch andere Leute zu ersetzen. Es würde in den marxistischen Regimen beginnen, aber er würde auch den Westen, von Paris bis Washington, nicht verschonen.
Ari, der einen kurzen Moment von Empörung erfüllt war, ging etwa 30 Meter weiter, auf die Pont D’Arcole zu. Die ständigen Besucherhorden, die immer um die Kathedrale herumliefen, machten diesen Platz zu einem guten Treffpunkt. Man konnte in der Menge untertauchen.
Natürlich folgten sie ihm überallhin und kannten jede seiner Bewegungen. Als er sich darüber beklagte, wurde ihm gesagt, es sei nur zu seinem eigenen „Schutz“. Manchmal erhaschte er einen flüchtigen Blick auf seine „Wächter“, so wie heute, als er aus der Universität gekommen war und die beiden gesehen hatte. Aber für gewöhnlich sah er nichts. Er wußte einfach, daß selbst jetzt, wo er gegenüber dem Eingang der großen Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert am Straßenrand stand, irgendwo in der Menge, ganz in seiner Nähe, der „Sicherheitsdienst“ war, um den er nicht gebeten hatte, den er nicht wollte,
und dem er absolut nicht vertraute. Er war ein Meister darin, sie abzuhängen, wenn er wollte. Aber das verärgerte nur das Komitee und verursachte weitere Spannungen.
Ari blickte wieder auf die Uhr und wartete. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Taxi langsamer wurde. Das war das Signal. Er hob kurz den Arm und winkte, lief dann rasch zwischen den geparkten Autos hindurch auf die Straße, während das Taxi hielt, und schon saß er im Wagen.
Auf dem Rücksitz saß bereits ein großer, schlanker, gut gekleideter Mann mit intelligenten Gesichtszügen, der sehr beherrscht wirkte. Er hätte Deutscher, Franzose oder Holländer sein können — ein wahrer Weltbürger, der überall hinpassen würde und der acht Sprachen fließend und ohne jeden Akzent sprach. Niemand würde vermuten, daß er ausgerechnet aus Texas kam — bis er englisch sprach.
Abgesehen von einer Spur von Grau in seinem kurzen blonden Haar und ein paar neuen Falten auf der Stirn hatte sich Roger Dünn nur wenig verändert, seit An ihn vor 26 Jahren in Berlin zum ersten Mal getroffen hatte.
Ohne den leisesten Hinweis darauf, daß sie sich kannten, so, als sei er ein völlig Fremder, begrüßte An seinen Mitreisenden auf französisch mit einem herzlichen: „Danke, daß sie das Taxi mit mir teilen.“ Dann sagte er dem Fahrer: „Tour Eiffel. “
„Tour Eiffel“, erwiderte der Taxifahrer.
9. Eine Frage des Prinzips
Nachdem Ari mit vorgehaltener Waffe aus Rogers Wohnung abgeführt worden war, hatte er jahrelang nichts mehr von seinem Freund gehört. Und da er annahm, daß Rogers Telefon und seine Post vom Stasi überwacht wurden, hatte er auch nicht versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Dann, eines Tages, stand der Texaner plötzlich in Aris Büro in der Universität. Was für ein überschwenglich fröhliches Wiedersehen das doch gewesen war!
Roger hatte ihm erzählt, wie er sorgfältig jeden diplomatischen Dienstweg verfolgt hatte, um zu erfahren, was nach der Gefangennahme mit Ari passiert war. Aber es war vergeblich. Schließlich hatte er angenommen, daß man Ari zum Tode verurteilt hatte und das Urteil vollstreckt worden war. Als er ungefähr dreizehn Jahre später ein französisches Nachrichtenprogramm sah, das er ab und zu über Parabolantenne empfing, hatte er Ari in einem Sonderbericht über die Sorbonne erkannt. Kurz darauf war er nach Paris gekommen, um seinem alten Freund aus der DDR ein unwiderstehliches Angebot zu machen.
Bei ihrem ersten Treffen in Paris hatte Roger ihm offenbart, daß er seit Jahren eine mysteriöse Gruppe geheimnisvoller, extrem reicher und mächtiger Männer repräsentierte, die eine milliardenschwere internationale Bankengruppe kontrollierten. Dieses Konsortium hatte Interesse daran, brauchbare Versuche, kommunistische Regimes in aller Welt zu stürzen, zu finanzieren — was Rogers Interesse an Ari erklärte, als sie sich in Ost-Berlin zum ersten Mal getroffen hatten.
Obwohl sie Millionen von Dollar ausgegeben hatten, hatte keine der Bemühungen dieser Finanziers irgendwelchen Erfolg gebracht. Es war mehr als nur Geld nötig. Auf Grund seiner Verbindungen zum CIA bekam das Syndikat den Verdacht, daß es eine gut organisierte, geheime Studentenorganisation gab, die international operierte und dieselben Ziele verfolgte wie sie auch. Aber selbst mit Hilfe ihrer Kontakte zur Interpol waren alle Versuche, Leute in die Gruppe einzuschleusen oder auch nur Kontakt mit den Leitern dieses undurchdringlichen Netzwerkes aufzunehmen, vergeblich geblieben.
Dann kam Rogers zufällige Entdeckung, daß Ari am Leben war und an der Sorbonne unterrichtete. Sofort vermutete er, daß sein alter Freund derjenige sein könnte, der diese faszinierende Studentenbewegung leitete und kam nach Paris, um herauszufinden, ob das der Fall
sei. Ari achtete darauf, daß er keine Informationen preisgab, aber er gab Roger gegenüber bei ihrem ersten Treffen zu, daß er in der Tat der Leiter dieser Operation war, die seine Kollegen so faszinierte und in die der CIA nicht hatte eindringen können.
Das Konglomerat hatte nicht nur Verbindungen zum CIA. Sein Einfluß reichte bis in die höchsten Regierungsebenen in aller Welt, angefangen beim Weißen Haus bis hin zur innersten Führungsriege im Kreml selbst. Roger erklärte Ari, daß in der Sowjetunion Männer dabei waren, an die Spitze zu kommen, die sehr dafür waren, die Mauer abzureißen, Osteuropa zu befreien und den Marxismus zu zerstören. Die Frage war nur, wie — und Aris Gruppe schien die Antwort zu sein, die sie so viele Jahre gesucht hatten.
Die internationalen Bankiers wollten, daß ihre Organisation und auch sie persönlich anonym blieben, selbst Ari gegenüber, weil es sich um sehr bekannte Persönlichkeiten handelte. Ari vermutete, daß Rogers Vater dazugehörte, vielleicht sogar die Gruppe leitete, aber ihre Identitäten waren unwesentlich. Was zählte, waren ihr Reichtum und ihre Bereitschaft, ihn auf die richtige Weise zu nutzen.
Uber Roger hatte ihm diese ungewöhnliche Gruppe nahezu unbegrenzte finanzielle Mittel angeboten, um seine Operation zu unterstützen. Dies war zwar genau das, was Ari brauchte, aber er hatte dennoch so getan, als zögere er, das Angebot anzunehmen. „Ich möchte in niemandes Schuld stehen“, hatte er Roger gesagt. „Finanzielle Partner werden unweigerlich irgendwann Informationen und Mitspracherecht fordern, und dem kann — und will — ich nicht zustimmen.“
„Genauso wollen wir es auch haben“, hatte ihm Roger versichert. „Ich gebe dir mein Wort, daß diese Männer nicht die Absicht haben, dir jemals das Steuer aus der Hand zu nehmen. Du wirst dein Programm vollkommen autonom durchführen, und niemand wird dir je Fragen stellen. Geheimhaltung auf beiden Seiten, und absolutes Vertrauen. Das sind die einzigen Regeln.“
Das Arrangement schien perfekt zu sein, und es hatte beinahe zehn Jahre lang gut funktioniert. Die Mittel, die diese Gruppe lieferte, hatten es Ari ermöglicht, sein Programm stark zu erweitern und rascher voranzutreiben. Leider war diese Vernunftehe in den letzten Monaten immer mehr unter Spannung geraten. Seine Partner stimmten nicht mehr mit den Prinzipien überein, von denen Ari geglaubt hatte, daß sie ihrer gemeinsamen Überzeugung entsprachen. Das einzige, was sie noch zusammenhielt, war Kapital— die riesigen Summen, die sie kontrollierten und ihm immer noch geben wollten, und die er unbedingt
brauchte, um seine große Organisation zusammenzuhalten. Ari hatte allerdings gute Gründe zu vermuten, daß selbst dieses Band schwächer wurde — daß das Konsortium Pläne schmiedete, um ihn zu eliminieren und die Kontrolle zu übernehmen.
Um sich selbst zu schützen, hatte Ari klugerweise vom ersten Tage ihrer Partnerschaft an ein Infiltrationsprogramm begonnen, das erfolgreich in die höchsten Ebenen von Rogers Organisation eingedrungen war. Eine der ersten Entdeckungen, die ihm seine Spione weitergegeben hatten, hatte den Verdacht, den er von Anfang an gehabt hatte, 'bestätigt: Roger arbeitete, was dem Bankenkonsortium und sogar seinem eigenen Vater unbekannt war, in Wirklichkeit für den CIA. Diese alarmierende Entdeckung hatte in ihm ernste Zweifel an der Grundlage ihrer Freundschaft geweckt und jede Hoffnung vernichtet, daß Ari sich auf Rogers Loyalität verlassen konnte.
Ari hatte gespürt, daß sich eine immer stärkere Spannung zwischen Rogers vorgegebener Freundschaft ihm gegenüber und seiner Verpflichtung gegenüber dem Konsortium aufbaute. Während er zunächst vorgegeben hatte, er stünde — natürlich insgeheim — auf Aris Seite, hatte Roger in der letzten Zeit eine starrere Haltung eingenommen. Roger hatte im Namen seiner Vorgesetzten neue Forderungen gestellt, die nicht im Einklang mit ihrer ursprünglichen Vereinbarung standen. Ihr heutiges Treffen war anberaumt worden, um eine Lösung für einige Probleme zu finden, die ihre Beziehung und ihre Ziele zu zerstören drohten.
Ari lehnte sich im Taxi zurück und starrte aus dem Fenster. Roger schob unauffällig einen dicken Umschlag über den Sitz zwischen ihnen. Ohne hinzusehen wußte Ari, was es war: die üblichen etwa 50 Schecks in ungerader Höhe, zwischen 20.000 und 30.000 Dollar, ausgestellt von mehreren fingierten Firmen, deren Namen immer wieder wechselten, und die sich, anders als beim automatischen Zahlungsverkehr, von niemandem zurückverfolgen ließen. Er hatte es versucht. Er würde die Gelder innerhalb der nächsten zehn Tage auf ein Dutzend Bankkonten einzahlen, die er in der ganzen Stadt unterhielt. Ari, der immer noch aus dem Fenster sah und die Gegend betrachtete, steckte den Umschlag mit einer raschen Bewegung in die Innentasche seiner Sportjacke.
„Gute Arbeit!“ murmelte Roger leise auf russisch. „In China wird es überall losgehen — und zwar bald.“
„Und darüber bin ich äußerst ungehalten!“ schoß Ari murmelnd zurück. Russisch, das er in den Schulen der DDR hatte lernen müs-
sen, war eine von mehreren Sprachen, die er fließend sprach. Es war die Sprache, die er und Roger meistens benutzten, wenn sie möglicherweise von jemandem belauscht werden konnten, und sei es nur von einem offenbar zufälligen Taxifahrer. „Deine Gruppe mischt sich ein .. . überstürzt die Dinge. Es wird nicht funktionieren. Es wird ein Massaker geben!“
„Unser Geheimdienst — und wir haben den besten — sagt, der Zeitpunkt ist richtig und es wird erfolgreich sein.“
„Das wird es nicht. Ihr müßt eure Hunde zurückpfeifen ... hört auf, euch einzumischen!“
„Was meinst du mit einmischen f“
„Ich spreche von Chiang Lee und seinen Spießgesellen.“
„Chiang Lee ist ein guter Mann. Er hat das Vertrauen der Studenten und der Arbeiter. Er versucht nur, dir zu helfen.“
„Ich habe nicht um Hilfe gebeten.“
„Wir meinten, du würdest es zu schätzen wissen.“
„Das ist eine Verletzung unserer Vereinbarung. Ich soll die Operation leiten — und Chiang Lees Einmischung ist eine direkte Bedrohung meiner Führungsposition. Es wird zu einer Katastrophe führen.“ „Drück’ dich genauer aus.“
„Du hast da ein paar geldgierige Bankiers, die in China Geld verdienen wollen und nicht warten können. Sie handeln überstürzt. Dieser Kerl, Chiang Lee, ist ihr Mann. Sehr charismatisch. Er hat die Studenten begeistert. Sie gehen zu schnell voran. Ich sage dir, es wird ein Massaker geben!“
„Bist du davon überzeugt?“ Roger schien wirklich überrascht und besorgt zu sein.
„Einhundert Prozent“, sagte Ari. „Ich war letzte Woche da.“
„In Bei-jing? Da warst du also, als ...?“
„Als eure Idioten mich vier Tage lang nicht finden konnten? Ganz recht.“
„Du überraschst mich immer wieder, Ari“, sagte Roger widerwillig. Aber er konnte die Bewunderung in seiner Stimme nicht verbergen. „Unsere besten Männer ... und du hängst sie ab ... und sie wissen nicht, wie du es machst.“
Ari antwortete nicht. Einen Moment lang herrschte eine unbehagliche Stille. Schließlich sagte Roger: „Du solltest das nicht tun. Sie haben die Aufgabe, dich zu schützen „Das hat man mir bereits gesagt.“
„Es bringt mich in ein schlechtes Licht!“
Ari runzelte die Stirn. „Ein ,Schutz’ war nie Teil unserer Vereinbarung. Ich habe dem niemals zugestimmt. Also schüttele ich sie ab, wenn ich sie nicht haben will. Wir beide waren einmal gute Freunde. Ich habe dir vertraut. Jetzt frage ich mich, ob du einfach naiv bist... oder ob du die Meinung deiner Vorgesetzten wiederkaust?“
Roger drehte sich mit einem Ruck auf seinem Sitz und sah Ari in die Augen. „Wenn du in Bei-jing warst, warum hat dann keiner unserer Leute davon gewußt?“
„Weil ich weiß, wer sie sind ... und ich würde sie nicht mal bis auf 'eine texanische Meile an mich herankommen lassen. Sieh mal, ich weiß, wovon ich rede ... und ich will, daß Lee, dieser kleine Cäsar, zurückgepfiffen wird!“
Roger warf in einem hilflosen Protest die Hände in die Luft und fiel in seinen Sitz zurück. „Wie bist du nach Bei-jing und wieder zurück gekommen, ohne daß wir es wußten?“ .
Ari lachte. „Das ist mein Geheimnis. Ich habe mich zwei Tage lang mit meinen besten Leitern getroffen ... etwa mit einem Dutzend von ihnen.“ Seine Stimme wurde wieder ärgerlich. „Sie haben die Kontrolle über diesen Lee verloren, und sie machen sich Sorgen darüber, was geschehen wird.“
„Vielleicht ist Lee weiter gegangen, als wir wollten ... eventuell hat er sogar auf eigene Faust gehandelt. Ich werde es überprüfen.“
„Hör mal, Roger, ich kenne die Situation! Deine Leute haben Lee dort hingesetzt, und sie decken ihn. Das ist eine Verletzung unserer Vereinbarung. Niemand darf sich einmischen! Ihr liefert das Geld — ich leite die Revolution. Ruft ihn jetzt zurück ... bevor es zu spät ist!“
„Ich werde es überprüfen.“
„Eine Überprüfung reicht nicht aus! Wenn er nicht innerhalb von höchstens 48 Stunden aus Bei-jing herausgenommen wird, sind wir erledigt. Ich werde meine besten Leute verlieren — entweder durch ein Gemetzel oder durch das Gefängnis. Sie können sich nicht zurückziehen. Sie würden ihr Gesicht verlieren ... wären erledigt für eine Führungsposition in der Zukunft. Chiang ruft einen Streik aus, von dem sie wissen, daß er in eine Katastrophe führen wird ... aber sie müssen in den vordersten Reihen mitmarschieren. Zehn Jahre meiner vorsichtigen Arbeit, unterstützt mit eurem Geld, wird zunichte gemacht werden!“
Roger sah besorgt aus. „Ich werde mich darum kümmern ... wenn du recht hast. Aber meine Leute haben auch einige Beschwerden. Sie glauben, daß du die Sache schleifen läßt — nicht nur in Bei-jing, son-
dem in Berlin und in ganz Osteuropa. Sie wollen einen Terminplan ... und sie wollen eine Liste ..
„Und ich habe dir gesagt, daß sie keines von beidem bekommen werden. Wenn das unsere Beziehung beenden sollte ...“ Ari wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster.
„Das ist nicht zuviel verlangt, Ari. Wir sollten in der Lage sein, eine Lösung zu finden. Sie wollen keine komplette Liste ..
„Doch, das wollten sie — und da gibt es keine Lösung zu finden.“ „Diese Forderung war ein Fehler. Sie haben sie fallenlassen. Sie wollen nur den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer deines jeweiligen ersten Mannes in jedem wichtigen Zentrum. Für den Notfall. Es dauert zu lange, dich zu benachrichtigen, und dann mußt du noch Kontakt mit deinen Leuten aufnehmen. Sie möchten direkten Kontakt aufnehmen können. Das ist nicht zuviel verlangt. Es ist sehr sinnvoll.“
„Es ist nicht sinnvoll. Ich habe die Leitung, korrekt?“ sagte Ari wütend. „Ich entscheide, ob es sich um einen Notfall handelt, und ich gebe alle Anweisungen ... niemand sonst! Ich muß totale Autonomie und Geheimhaltung haben — und deine Leute haben zugestimmt. Es hat mich 20 Jahre gekostet, diese Organisation aufzubauen, und ich werde niemanden verraten ...“
,}/erraten? Nennst du es Verrat, uns deine wichtigsten Namen zu geben? Verraten? Hältst du uns für den Feind?“
Ari drehte sich zur Seite und sah Roger an. „Sage deinen Bossen, daß sie keinen Namen bekommen. Nicht einen einzigen! Das war unsere Vereinbarung, vom ersten Tage an, und ich habe niemals einer Änderung zugestimmt — ich werde es auch nicht tun!“
Roger holte tief Luft. „Die Situation hat sich geändert. Das ist jetzt zehn Jahre her, und wir haben Milliarden investiert ...“
„Und wir stehen kurz vorm Ziel. Berlin muß vor Bei-jing kommen ... und wenn ihr euch einmischt „Wir haben den besten Geheimdienst der Welt, und wir glauben, daß es anders herum laufen muß.“
Ari zog den dicken Umschlag aus seiner Tasche und legte ihn neben Roger auf den Sitz. „Ich bin die ersten zehn Jahre sehr gut ohne euer Geld ausgekommen
Roger starrte den Umschlag einen Augenblick lang schweigend an und schob ihn dann zu An zurück. „Ich habe geglaubt, du vertraust mir.“ „Ich vertraue dir, aber ich traue deinen Bossen nicht. Sie sind diejenigen, die mir Sorgen machen — das Komitee, dem du Bericht erstattest
... und die Leute an der Spitze, die hinter ihnen stehen. Sie wissen, wer ich bin. Ich weiß nicht, wer sie sind ... und sie beklagen sich darüber, daß sie keine Liste bekommen! Sie wissen, wo sie mich zu jeder Tages- oder Nachtzeit finden können — ihre Schlägertypen lassen mich keinen Moment aus den Augen — und das beunruhigt mich. Ich weiß nicht, wo ich dich finden kann, bis du mir sagst, wo wir uns das nächste Mal treffen.“
Es gab ein weiteres langes, unbehagliches Schweigen. „Na gut“, räumte Roger schließlich ein, „ich verstehe deine Sicht. Ich werde "deine Nachricht weiterleiten und mein Bestes tun, um sie zu überreden ..
„Überreden?“unterbrach Ari. „Ich verhandele nicht.“ Er schob das Geld zurück zu Roger. „Nimm es!“
Roger schob den Umschlag rasch zu Ari zurück. „Beruhige dich. Bei dir brennt zu schnell die Sicherung durch. Ich kenne meine Leute. Sie versuchen nicht, dich unter Druck zu setzen. Sie wollten helfen — meinten, es sei eine Verbesserung. Aber sie wollen nicht die Vereinbarung brechen. Sie werden weiter mitmachen, so wie bisher.“
Es folgte eine weitere lange Stille. Schließlich sagte Ari: „Ich habe neulich ein Buch von einem ehemaligen CIA-Agenten gelesen. In den USA ist es verboten, aber hier kann man es bekommen. Es heißt Blowing the Whistle
„Ich habe es gelesen“, warf Roger ein, „und es ist dummes Zeug.“ „Wirklich? Bist du ein Experte auf diesem Gebiet?“
„Das muß man nicht sein. Es ist offensichtlich Sensationsmache ... Gossenjournalismus. Der Kerl versucht, Geld zu machen.“
Ari lächelte und warf Roger einen skeptischen Blick zu. „Warum verteidigst du den CIA so heftig?“
„Ich verteidige nicht den CIA. Ich sage dir nur, daß der Kerl verrückt ist.“
„Den Eindruck hatte ich nicht, als ich es las“, erwiderte Ari und beobachtete Roger genau. „Meiner Meinung nach klang er intelligent und so, als sei er auf dem Gebiet bewandert. Ich muß sagen, seine Behauptung, der CIA habe das Rennen um psychische Macht gegen den KGB gewonnen und das sei der Grund, warum Gorbatschow mit Glasnostund Perestroika angefangen habe, hat mich überrascht... aber es klingt logisch.“
„Klingt logisch?“ gab Roger verächtlich zurück. „Psychische Macht? Es klingt wie Science fiction. Wie ich schon sagte ... der Kerl ist ein Verrückter.“
„Mag sein. Aber was mich am meisten fasziniert hat, war seine Behauptung, der CIA habe diese psychischen Fähigkeiten durch Kontakt mit Wesen aus einer anderen Dimension entwickelt ..
„Einer anderen Dimension? Was soll das bedeuten?“ Allmählich machte Roger den Eindruck, als sei ihm das Thema unangenehm. War es wirklich so, daß er die Theorie des Buches verachtete, oder versuchte er, etwas zu verbergen?
„Etwas, das über die physische Dimension hinausgeht. Immerhin behauptet euer bester Weltraumwissenschaftler, Robert Jastrow — du weißt schon, der Leiter des Goddard Space Institute, das die Pioneer und die Voyager losgeschickt hat —, daß es dort draußen Wesen geben könnte, die in ihrer Entwicklung so weit gekommen sind, daß sie keine Körper mehr brauchen und aus purer Intelligenz bestehen.“ „Geister, ja?“ schnaubte Roger verächtlich. „Das kannst du doch nicht ernst meinen!“
„Nun, Jastrow meint es ernst. Gibt es nicht ein weltweites Programm, um Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen aufzunehmen?“ „Ja, Carl Sagan treibt es voran — aber ich halte es für Geldverschwendung.“
„Das ist deine Meinung ... aber einige der besten Wissenschaftler meinen, es sei der Mühe wert. Aber zurück zum Buch: Warum sollte der CIA nicht telepathischen Kontakt mit solchen Wesen haben ... wie der Mann sagt?“
„Der Kerl ist ein Spinner!“
„Warum bist du bei diesem Thema so empfindlich?“
„Das bin ich nicht!“ gab Roger bissig zurück. Aber er konnte den Ärger in seiner Stimme nicht verbergen. „Wir verschwenden unsere Zeit. Komm zur Sache ... wenn du überhaupt etwas sagen willst.“ „Ich versuche nur, eine Möglichkeit auszuloten. Diese drei Stasi-Agenten, die mich aus deiner Wohnung geschleppt haben ...“
„Die dich gerettet haben“, unterbrach ihn Roger. „Bemerkenswert.“ Ari nickte. „Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß einer von ihnen, derselbe, der mich in meinen Alpträumen verfolgt, hier in Paris aufgetaucht ist. In Berlin war er ein Deutscher, und hier in Paris ist er ein Franzose. Derselbe Kerl ... und doch ein anderer.“
„Das hast du mir schon gesagt. Warum fängst du jetzt davon an?“ „Weil dieses Buch eine mögliche Erklärung gibt. Er sagte, er sei ein ,Mentor aus einer anderen Dimension’. Zuerst habe ich auch nur darüber gelacht, so, wie du jetzt. Aber jetzt behauptet dieser Autor, daß der CIA Kontakt mit etwas aufgenommen habe, was ähnlich klingt.
Das könnte die Erklärung für etwas sein, was mich seit Jahren beschäftigt.“
„Du bist doch verrückt!“
„Und ich glaube, daß du etwas vor mir verbirgst.“
Roger wirkte gequält, gab jedoch keine Antwort. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zögerte und schloß ihn dann wieder.
„Ich habe sie in deiner Wohnung getroffen.“
„Ich war so überrascht wie du.“
„Sie erscheinen, wenn sie wollen, und sie tun, was sie wollen“, klagte ' Ari. „Sie dringen in meine Träume ein ... verursachen Alpträume. Ich glaube, sie haben es arrangiert, daß ich an der Sorbonne bin. Irgend etwas Seltsames geht da vor.“
„Auf mich haben sie ganz normal gewirkt ... sicherlich nicht, als kämen sie aus einer anderen Dimensionsagte Roger. „Abtrünnige Stasi-Agenten ... die für den Westen arbeiten. Das ist meine Vermutung. Vielleicht benutzen sie Methoden zur Bewußtseinskontrolle ...“
„Warum haben sie ausgerechnet mich befreit? Da muß es etwas geben, was ich nicht weiß. Sie dringen in deine Wohnung ein und schleifen mich hinaus, tun so, als würden sie mich gefangennehmen, und bringen mich dann in den Westen. Dann, Jahre später, taucht ihr Chef hier auf, gibt mir Anweisungen ... und dann kommst du an und finanzierst die ganze Sache. Ich glaube, es gibt eine Verbindung zwischen ihnen und deiner Gruppe!“
Rogers Unbehagen war offensichtlich. Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und erwiderte ärgerlich: „Hör mal, Ari, ich werde nicht auf deine wilden Spekulationen antworten. Also laß uns das Thema wechseln.“
„Okay. Aber ich glaube immer noch, daß du mir etwas verheimlichst.“
Roger öffnete den Mund und wollte etwas sagen, schloß ihn dann aber fest und sah aus dem Fenster. Eine Zeitlang sprach keiner von beiden ein Wort.
Schließlich unterbrach Ari das Schweigen. „Wenigstens eine Sache haben wir geklärt. Du wirst dem Komitee sehr deutlich machen ...“
„Das werde ich, und sie werden damit einverstanden sein“, sagte Roger. „Aber sie werden nicht sehr erfreut sein — nicht, weil sie irgend etwas Böses im Schilde führen, wie du anscheinend vermutest. Sie wollten nur für den Fall, daß dir irgend etwas zustoßen sollte, mehr Informationen haben. Was sollten sie in diesem Fall tun? Du weißt alles,
und außer dir weiß niemand etwas. Das ist nicht gut. Darüber haben sie sich Sorgen gemacht.“
„Das habe ich auch“, gab Ari rasch zurück. „Wenn deine Gruppe wüßte, was ich weiß, könnten sie auf den gefährlichen Gedanken kommen, daß sie mich nicht mehr brauchen. Ihr braucht mich mehr, als ihr euch vorstellen könnt — sag ihnen das.“
Roger stieß einen langen Seufzer aus. „Du bist eine harte Nuß, Ari!“ „Ich bin ein Einzelkämpfer. Und ich habe die Absicht, lange genug am Leben zu bleiben, um diese Sache zu Ende zu führen.“ Ari schob den Umschlag wieder in seine Tasche.
Der Taxifahrer fuhr an den Straßenrand. „Tour Eijfel“, rief der Fahrer. „Vingt-six francs, si’l vous plait. “
„Sag deinen Bossen“, sagte Ari leise, während er eine Handvoll Kleingeld aus seiner Tasche zog und dem Fahrer drei Zehn-Franc-Stücke gab, „daß erst Berlin kommen muß, dann Moskau ... und erst dann Bei-jing! Und ich will, daß Chiang Lee sofort abgerufen wird!“ „Behalten Sie das Wechselgeld“, sagte er zu dem Fahrer und stieg ohne ein weiteres Wort und ohne noch einmal zurückzusehen aus dem Taxi.
10. Das Komitee
Ari sah auf seine Uhr. In genau sieben Minuten und 30 Sekunden würde er von einer bestimmten Telefonzelle in der Nähe des Eiffelturmes eine andere Telefonzelle in Paris anrufen, in der Jean-Andre, einer seiner vielen Kuriere, zu genau diesem Zeitpunkt warten würde. Dann würde er zu einer anderen Telefonzelle gehen, um ein ähnliches Gespräch mit seiner alten Heimatstadt Leipzig zu führen, wo Heinz ' Buhne, seine rechte Hand in dieser Gegend, um genau diese Zeit warten würde.
Rein zufällig würde Leipzig das Zentrum der Bewegung in der DDR sein, wenn es soweit wäre — nicht, weil Ari es aus sentimentalen Gründen so gewollt hätte, sondern weil es einfach so geschehen würde. Er hatte in den kommenden drei Stunden 14 solcher Telefonate zu erledigen. Und anschließend würde sich Ari zu einer genau festgelegten Zeit an wieder einer anderen Telefonzelle postieren, von der seine Agenten wußten, daß sie ihn, falls nötig, dort erreichen konnten. Morgen würde es eine andere Zelle und eine andere Zeit sein, wo sie ihn anrufen konnten, und so weiter, gemäß einem Plan, der jede Woche geändert wurde.
In seiner Aktentasche trug Ari die Nummern und Positionen von etwa 300 Telefonzellen in Paris mit sich herum, zusammen mit einem nicht vorherzusagenden Anrufplan, den er für sich selbst ausgearbeitet hatte und den er ständig völlig planlos änderte. Telefonzellen waren sein heißer Draht für die Kommunikation. In seiner Aktentasche lagen Hunderte von cartes telephoniques, die man in Tabakläden kaufen konnte und die man für die meisten öffentlichen Telefone in Paris brauchte, sowie Münzen oder jetons für diejenigen Apparate, die noch nicht für Telefonkarten ausgerüstet waren, was seine Tasche um einiges schwerer machte.
Die Post war ein schwierigeres Problem. Ari schickte und empfing nur sehr wenig Post, und nie irgend etwas von großer Wichtigkeit. Die Post war langsam und anfällig. Faxapparate übermittelten die Nachricht sofort, und es war unmöglich für die Polizei oder irgendeine andere Agentur, jedes Faxgerät zu überwachen. Ari hatte einen gut ausgearbeiteten und sich ständig ändernden Plan, welches Gerät gerade zu nutzen war, und er hatte Kuriere, die die Nachrichten abholten. Auf diese Weise hatte er die schriftliche Verständigung sicher gehalten. Außerordentliche Sicherheitsvorkehrungen waren absolut
unerläßlich, um am Leben zu bleiben und um seine Schlüsselleute zu schützen. Faxen war sogar eine brauchbare Methode, um Botschaften nach und aus China zu bekommen. An war überrascht gewesen, als er diese willkommene Tatsache entdeckt hatte.
Natürlich gab es eine Telefonzelle, in der ihn seine Operationsleiter in aller Welt zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichen konnten. Sie wurde von drei Kurieren in Schichten überwacht — acht Stunden Dienst, sechszehn Stunden frei. Sie hatten eine Nummer, unter der sie ihn jederzeit erreichen konnten. Sie wußten nicht, wo Ari wohnte oder wer er war. Jede Botschaft, die sie über dieses Telefon empfingen, war mit einem einfachen Code verschlüsselt. Es handelte sich entweder um eine dringende Information oder um die Bitte, Ari möge sofort anrufen, was dann mündlich an ihn weitergeleitet wurde.
Wieviel einfacher wäre es gewesen, all das von seiner eigenen Wohnung aus zu tun. Aber Ari wußte, daß es so etwas wie ein sicheres Telefon nicht gab. Was ein Genie sich ausdenken konnte, konnte ein anderes herausfinden — und die Leute, denen er immer einen Schritt voraus sein mußte, hatten unbegrenzte Möglichkeiten und die beste und modernste Technik, die es überhaupt gab, zu ihrer Verfügung. Was in der Geschäftswelt sicher sein mochte, war in der Welt der internationalen Intrigen nicht gut genug.
Nein, er konnte es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Ein falscher Schritt reichte schon aus. Roger war kein wahrer Freund, sondern ein dreifacher Agent, der bereit war, sowohl mit ihm als auch mit dem Komitee ein doppeltes Spiel zu treiben, um die Anweisungen des CIA auszuführen. Doch im Grunde genommen war das egal. Roger konnte nichts für ihn tun, selbst wenn er es wollte. Die Männer, die über ihm standen, sei es in Washington oder in Paris, waren völlig rücksichtslos. Dessen war sich Ari sicher.
„Irgendein publicity-hungriger jüngerer U.S.-Senator treibt die Untersuchungen voran — und er ist ehrgeizig genug, um weiterzumachen, bis er wirklichen Schaden anrichtet.“ Der Sprecher, ein großer, ernsthafter Mann mit Gesichtszügen, die wie gemeißelt wirkten, und einem aristokratischen Auftreten, saß am Kopfende eines langen, reich geschnitzten Teakholztisches im prunkvollen Sitzungsraum des Pari-
ser Büros von einer der Welt größten und angesehensten Banken. Wenn man aus den riesigen Fenstern auf beiden Seiten des Raumes blickte, der sich im 20. Stock befand, konnte man den Rundblick über die ganze Stadt genießen.
„Ist das alles, was wir heute haben, Jean — schlechte Nachrichten?“ beklagte sich ein kleiner Mann mit vorstehendem Unterkiefer- am anderen Ende des Tisches. Nervös schob er eine kalte Zigarre zwischen seinen Zähnen hin und her. „Willst du sagen, daß in seinem Fall 100.000 Dollar ... oder eine Edelnutte und ein paar Erpresserbriefe nicht ausreichen?“
„Keine Chance“, erwiderte Jean Bourbonnais düster. Offensichtlich hatte er die Leitung, obwohl die offizielle Sitzung noch nicht begonnen hatte. Die fünf Männer, die um den Tisch herum saßen und alle konservative, sehr gut gearbeitete Anzüge trugen, hatten sich locker unterhalten. Anscheinend warteten sie noch auf jemanden. „In unserer Filiale in Panama hat er einen ganzen Schwarm von Buchprüfern von der Weltbank unsere Unterlagen prüfen lassen. Sie ahnen etwas von unserer Verbindung zu Noriega. Als Manuel für den CIA gearbeitet hat, war er ihr Liebling. Aber jetzt, wo er im Gefängnis ist, versuchen sie, alles zu vertuschen und jemand anderem die Schuld zuzuschieben.“
„Ich war der Meinung, unsere Leute in Washington hätten alles unter Kontrolle“, entgegnete ein dunkelhäutiger Direktor von der Hauptniederlassung der Bank in Dakka, der gleich rechts neben Jean saß.
„Theoretisch, Zaid ... theoretisch“, erwiderte Bourbonnais. „Aber Schadensbegrenzung klappt in Nordamerika oder Europa nie so gut wie in Pakistan. Mach dir keine Sorgen“, fügte er in beruhigendem Ton hinzu, „es wird nichts dabei herauskommen. Und wenn doch ... wir haben narrensichere Methoden.“
Jean Bourbonnais hob eine Hand und winkte als Antwort auf die besorgten Gesichter, die aufseine letzte Bemerkung folgten, mit einem langen manikürten Finger. „Ja, ich weiß ... wir haben schon genug Passagierflugzeuge vom Himmel geholt. Das ist immer noch eine Möglichkeit, aber nur in wirklichen Ausnahmefällen. Es gibt Möglichkeiten, die selbst bei einer Autopsie niemals entdeckt würden. Also entspannt euch. Ihr seht aus wie ein Haufen Sargträger.“
„Ich könnte vielleicht ein wenig von dieser speziellen Hilfe gebrauchen.“ Die Worte kamen vom anderen Ende des Tisches. Der Zigarrenkauer wischte sich die Schweißperlen mit einem großen Leinen-
taschentuch von der Stirn, welches mit seinen Initialen versehen war. „Sie schnüffeln herum wie die Bluthunde, wenn sie eine heiße Fährte haben ... sie versuchen, durch meine Niederlassung Drogengelder von New York zurück nach Kolumbien zu verfolgen.“
„Ach, sie sind also endlich nach Miami gekommen, Barry? Ich bin sicher, sie werden sehen, daß deine Arbeitsweise ohne jeden Fehl und Tadel ist!“ witzelte ein kleiner, untersetzter Mann zu seiner Linken mit starkem deutschem Akzent. „Nur tue mir bitte den Gefallen und halte sie von Zürich fern.“
„Das ist kein Witz mehr, Heinz!“
Bourbonnais sah auf seine diamantenbesetzte Rolex. „Wir werden später über diese Probleme reden. Zunächst werden wir uns Dunns Bericht anhören. Er sollte jeden Augenblick eintreffen. Wir können nicht länger ohne jede Kontrolle Millionen hineinpumpen.“
„Das habe ich schon seit Jahren gesagt!“ grollte ein kleiner korpulenter Mann mit kräftiger Gesichtsfarbe und wichtigtuerischem Gehabe, der Zaid gegenüber saß. „Es ist ein Faß ohne Boden!“ „Schon richtig“, stimmte Heinz zu. „Aber niemand hat eine Lösung gefunden. Der Kerl trickst uns immer aus. Wie sollen wir die Kontrolle übernehmen?“
„Ihr müßt zugeben, daß er unglaublich gute Arbeit geleistet hat“, bemerkte Barry.
„Geleistet hat... in den ersten paar Jahren“, klagte der Wichtigtuer, „aber ich will sehen, daß etwas geschieht! Es ist längst überfällig. Geduld, sagt er immer wieder, Geduld. Ich meine, wir sollten diesen arroganten Juden fallenlassen!“
Rund um den Tisch war Zustimmung zu hören.
„In den nächsten paar Tagen werdet ihr Taten zu sehen bekommen“, warf Bourbonnais ein. „Ich habe gerade vor einer Stunde ein Kommunique aus Washington erhalten. Der CIA stimmt mit unserer Beurteilung vollkommen überein. Wir haben grünes Licht, die Aktion in China durchzuführen.“
„Es wird funktionieren!“ jubelte Zaid. „Jeder Asiate könnte euch das sagen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt!“
„Chiang Lee hat eine riesige Gefolgschaft unter den Studenten“, fuhr Jean fort. „Sie werden den Tiananmen-Platz einnehmen. Müllers Spitzenleute, wer auch immer sie sein mögen, werden mitmachen müssen. Jetzt, wo Mao nicht mehr da ist und ein Kampf um die Macht im Gange ist ... und mit Millionen von Arbeitern, die bereit sind, überall in China in den Streik zu treten, sobald die Studenten anfangen
... da wird das Regime auseinanderfallen. Sie streiten sich ja schon jetzt. Im Hintergrund steht schon eine neue Führung bereit, um die Macht zu übernehmen ... es ist nicht ganz das, was wir wollten, aber doch eine große Verbesserung.“
„Ich kenne China“, sagte Zaid. „Ich habe dort gelebt. Und ich kenne die Denkweise der Chinesen. Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück. Selbst wenn der Aufstand niedergeschlagen werden sollte ... und es Märtyrer geben sollte ... wenn wir Tiananmen lange genug halten können, um dem Volk einen starken Geschmack von Freiheit zu vermitteln ... dann werden sie das nicht vergessen. Es wird die Basis dafür sein, später zwei weitere Schritte vorwärts zu gehen.“
„Wir werden mehr als das erreichen“, beharrte Bourbonnais. „Die alte Garde wird weggefegt werden. Diese Sache hat unglaublich viel Schwung. Chiang Lee hat eine besondere Führungsgabe. Vielleicht endet er sogar irgendwo in den höchsten Rängen politischer Macht. Um so besser für uns!“
„Nun, wenn wir das ohne Müllers Leute durchziehen können ... warum brauchen wir ihn dann überhaupt irgendwo?“ Die Frage rief begeistertes, zustimmendes Nicken hervor, und hier und da hieb eine Faust auf den Tisch.
„So einfach ist es nicht“, beharrte Bourbonnais. „Dies ist der Höhepunkt von Müllers Arbeit. Er hat die Grundlagen gelegt. Chiang würde uns gerne glauben machen, daß er alles allein gemacht hat... aber das ist nicht wahr.“
„Ganz recht“, stimmte Heinz zu. „Der Professor ist immer noch unentbehrlich ... im Augenblick, zumindest.“
„Im Augenblick", wiederholte Zaid. „Ich sehe den Tag kommen — und er ist nicht mehr weit —, wo wir diesen Jud nicht mehr brauchen werden ..
Die Tür ging auf, und ein Sekretär führte Roger hinein. Düster setzte er sich auf einen freien Platz Heinz gegenüber.
„Nun?“ fragte Bourbonnais ungeduldig.
„Er wird uns keine Informationen geben. Keine. Punkt.“
„Und das haben Sie akzeptiert?“ hörte man rund um den Tisch mehrere ärgerliche Stimmen, begleitet von Kraftausdrücken, gleichzeitig fragen.
„Sie haben ihm natürlich gedroht, ihm keine Gelder mehr zu geben!“ Jean war deutlich besorgt.
„Natürlich habe ich das. Und er ließ es darauf ankommen. Er gab mir das Geld zurück.“
„Wirklich? Sie haben es doch nicht behalten, oder?“
„Ich konnte ihn schließlich beruhigen und dazu bringen, es anzunehmen. Man kann Ari nicht unter Druck setzen. Das haben wir schon früher herausgefunden. Er ist wie Stahl. Je mehr Hitze man anwendet, umso härter wird er.“
„Oh, ich wünschte, wir könnten diese Schlange loswerden!“ grollte Zaid durch die Zähne. „Seit Jahren hat er uns in der Zange ...“ „Immer mit der Ruhe“, warnte Roger. „Ohne ihn können wir nichts tun ... noch nicht ... und er weiß das. Und es wäre vielleicht doch möglich, daß er ohne uns auskommt. Zumindest hat er damit gedroht.“
„Damit hat er uns auch schon früher gedroht“, grollte Jean. „Und ich habe nie daran gezweifelt, daß er es auch meint. Wir dürfen ihn nicht zu sehr drängen.“
„Aber China ... dort werden wir es tun“, rief Heinz mit einem triumphierenden Unterton aus. „Wenn wir es da können, warum dann nicht auch anderswo?“
„Das stimmt nicht ganz“, entgegnete Roger. „Chiang erntet die Früchte von Aris Arbeit. Natürlich, wenn es funktioniert ... dann haben wir ein Muster, wonach wir auch anderswo Vorgehen können.“ Es folgte ein langes Schweigen. Schließlich redete Heinz. „Wenn die Mauer fällt und Gorbys Perestroika voll greift, dann ist unser Arrangement mit Ari beendet. Er ist fertig ... und ein Glück, daß wir ihn dann los sind!“
Zaid sah Roger über den Tisch hinüber in die Augen. „Haben Sie damit irgendwelche Probleme, Dünn?“
Roger zuckte mit den Schultern. „Nein, überhaupt nicht. Der Kerl ist eine Plage gewesen. Er weiß zuviel... und ich vermute, daß er sehr viel mehr über unsere Operation weiß, als wir meinen.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“ fragte der Wichtigtuer ein wenig besorgt.
„Es ist nichts Konkretes ... nur ein paar Bemerkungen, die er hier und da macht.“
„Damit hat er sich sein eigenes Grab geschaufelt.“ Bourbonnais’ Worte waren kühl und sachlich. „Ich war letzte Woche in Langley im CIA-Hauptquartier. Sie sind sich jetzt sicher, daß er dieselbe Taktik im Westen anwenden will, sobald der Kommunismus zerbröckelt. Er wird nicht lange genug am Leben bleiben, um das noch mitzuerleben. Bis dahin werden wir mit ihm fertig sein.“
„Er hat sein eigenes Programm“, fügte Heinz hinzu. „Da ist keiner-
lei Loyalität uns gegenüber. Das haben wir immer gewußt. Je eher wir ihn loswerden, um so besser!“
„Vorsichtig“, warf Roger ein. „Keine übereilten Schritte. Wir brauchen ihn noch. Wenn ihn irgend jemand zu früh herausnimmt, könnte alles zusammenbrechen.“
„Langley weiß genau, was zu tun ist, aber sie werden nicht handeln, bevor wir es ihnen sagen. Wenn wir alle der Meinung sind, daß es Zeit ist...“ Bourbonnais wies mit dem Daumen der geschlossenen Faust nach unten.
Er wandte sich an Roger. „Bedrückt Sie irgend etwas?“
„Ari sagt, Chiang ginge zu rasch voran und es würde so nicht funktionieren.“
Das Gesicht des Wichtigtuers wurde noch um einige Schattierungen dunkler. „Unsinn! Das ist dieselbe Leier, die wir seit Jahren von ihm gehört haben. Geduld und nochmals Geduld! Er ist eifersüchtig auf Chiang ... er hat Angst, wir könnten ohne ihn auskommen.“
„Der Kerl ist ein Organisationsgenie“, erwiderte Roger. „Er ist unglaublich. Fiat seinen Finger am Puls ... und er hat bisher immer recht gehabt
„Diesmal hat er nicht recht!“ unterbrach ihn Jean scharf. „Fiat er Ihnen eine Gehirnwäsche verpaßt, Dünn?“
„Hören Sie, ich ergreife nicht seine Partei.“ Roger rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Aber ich wäre nachlässig, wenn ich Ihnen nicht mitteilen würde, was er gesagt hat. Er warnte mich, daß es ein Massaker geben würde, wenn wir Chiang nicht sofort abzögen. Er sagte, Berlin und Moskau müßten zuerst kommen ... und dann Beijing.“
„Das ist ein weiterer Nagel in seinem Sarg“, knurrte Bourbonnais und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Er hat immer recht. Niemand sonst weiß irgend etwas. Nun, diesmal liegt er falsch. Wenn wir es in Bei-jing beweisen ... und die Mauer fällt und der Kommunismus überall in Osteuropa zusammenbricht ... dann ,Auf Wiedersehen, Professor Müller’!“
Jean Bourbonnais setzte seine silbergerahmte Brille auf, öffnete die Aktenmappe mit der Aufschrift SCHADENSBEGRENZUNG, die vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte, und begann, sie sorgfältig durchzusehen. Währenddessen warteten die anderen.
„Nun denn“, verkündete er schließlich, „wir müssen uns um ein paar ernsthafte Probleme kümmern
11. Nicole
„Du bist so still, Ari. Kannst du mir nicht sagen, was dich bedrückt? Bitte, Liebling ..
Nicole warf ihre halblangen blonden Haare in den Nacken. Sie reichten bis auf die Schultern des rosefarbenen Seidenkostüms, das ihre schlanke, 172 cm große Gestalt umschmeichelte. Mit hohen Absätzen war sie ein wenig größer als Ari. Sie war aufs sorgfältigste gepflegt, eine Perfektionistin im Hinblick auf ihr Make-up, und trug immer die neueste Pariser Mode. Trotzdem wirkte sie nie zu elegant. Sie sah forschend in Aris dunkle besorgte Augen.
Ari wich ihrem Blick aus und wandte den Kopf, um auf die verschwenderische Fülle roter und gelber Tulpen zu starren, die direkt neben dem kleinen Straßencafe am Le Petit Point, in dem sie saßen, blühten. Gleich hinter dem schmalen Blumenstreifen und dem kurzgeschnittenen Rasen wälzte sich der Nachmittagsverkehr schwerfällig über den Quai Montebello, der an der Seine entlangführte. Im Hintergrund erhoben sich die majestätischen Türme von Notre Dame.
„Es ist nichts, Niki“, sagte Ari nur wenig überzeugend, trank einen Schluck aus seinem Glas und hielt seine Augen fest auf den Verkehr geheftet. „Überhaupt nichts.“
„Erzähl’ mir nicht, es sei nichts. Ich sehe doch, daß dich etwas quält!“ Nicoles tiefblaue Augen erforschten suchend und voll Sorge sein Gesicht, während er weiterhin schweigend an ihr vorbeistarrte. „Bitte, Liebes ...“
Nicole war eine gebürtige Pariserin. Kurz nachdem sie und Ari sich ineinander verliebt hatten und sie bei ihm eingezogen war, hatte sie ihr Studium an der Sorbonne beendet. Jetzt absolvierte sie ihre Assistenzzeit für Neurochirurgie in einem Krankenhaus. Dieser Abend war eine jener besonderen Gelegenheiten, wo jeder von ihnen eine Lücke in seinem vollen Terminplan hatte, so daß sie sich gemeinsam beim Abendessen in einem ihrer Lieblingsstraßencafes entspamien konnten. Ari hatte sehr darauf geachtet, sie nicht in seine revolutionären Aktivitäten hineinzuziehen. Sie wußte nur sehr vage, daß er leidenschaftlich in eine Art internationale Studentenbewegung verwickelt war, die viel zu viel von seiner Zeit beanspruchte. Worum es sich genau handelte und welche Verantwortung er dabei trug, hatte er ihr bewußt verschwiegen. Für ihre eigene Sicherheit war es das Beste, wenn sie nichts wußte.
Ein kaum hörbarer Seufzer war ihre einzige Antwort. Lange Zeit
saßen sie schweigend da. „Es tut mir leid“, sagte Ari schließlich. „Es ist nichts von Bedeutung. Ich bin einfach nur müde.“
Sie streckte ihre Hand zu ihm hinüber und zog seinen offenen Kragen gerade. „Liebling, ich glaube dir nicht. Es muß mehr sein als das. Es muß etwas mit dieser Studentenbewegung zu tun haben, über die du nichts erzählst.“
„Du weißt, warum ... ich möchte einfach nicht, daß es dein Privatleben beeinträchtigt.“
„Das tut es doch schon die ganze Zeit — zum Beispiel jetzt. Es wäre besser, wenn du dich mir anvertrauen würdest, als dich in Schweigen zu hüllen. Und du weißt doch, daß es nicht gesund ist, wenn man alles für sich behält.“
„Du erzählst mir auch nicht alles, was im Krankenhaus passiert.“
„Aber ich täte es, wenn es mich bedrücken würde ... so wie dich jetzt etwas bedrückt. Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Sieh mal, es gibt Dinge, die ich dir nicht erzählen kann. Aber ich schreibe alles nieder ...“
„Warum schriftlich?“ unterbrach ihn Nicole. „Warum willst du es nicht einfach erzählen ... jetzt?“
„Du verstehst mich nicht ganz. Es wird alles in einem versiegelten Paket sein... das nur geöffnet werden soll, falls ich sterbe ... oder verschwinde. Wenn bestimmte Leute wissen, daß das in dem Fall geschehen würde ... nun, es könnte so etwas wie eine, hm ... Lebensversicherung sein.“
Nicole beugte sich vor und sah ihm forschend in die Augen. „Was willst du damit sagen? Daß dich vielleicht jemand umbringen möchte?“
Art zuckte mit den Achseln. „Schockiert dich das?“
„Es jagt mir Angst ein! Du kannst es jetzt nicht einfach dabei belassen. Ich habe ein Recht auf eine Erklärung.“
Er nahm ihre Hand. „Bitte, Niki, hab keine Angst. Niemand wird mich umbringen. Aber es gibt einige Leute, mit denen ich gearbeitet habe und die mich gern loswerden würden, wenn sie könnten. Im Augenblick brauchen sie mich dringend. Deshalb bin ich nicht in Gefahr ... noch nicht. Aber eines Tages ... schon ziemlich bald ..
„Deshalb machst du dir also Sorgen — und ich habe dich gescholten. Es tut mir leid.“
„Eigentlich habe ich mir keine Sorgen um mich selbst gemacht. Ich habe an China gedacht. Etwas Schreckliches wird passieren
„Woher weißt du das?“
„Ich bin ab und zu dort. Zum Beispiel war ich vor zwei Wochen da.“
„Wirklich? Du hast mir doch gesagt, du gingest nach Berlin ... um Vorlesungen zu halten.“
„Natürlich!“ Ari lachte gezwungen. „Je weniger du weißt, um so besser ... es ist zu deiner eigenen Sicherheit.“
„Ari, das klingt nicht gut. Jetzt habe ich wirklich Angst.“
„Jetzt weißt du, warum ich dir nichts gesagt habe. Ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst ...“
„Also, wenn du mir jetzt nicht alles erzählst, werde ich mir sehr große Sorgen machen.“
„Bitte mich nicht darum, Niki! Ich werde dir einige Dinge erzählen ... aber laß es uns weiter so wie bisher halten und das Thema vermeiden. Du mußt mir vertrauen. Ja?“
„Keine Freundin hier und da?“
„Niki! Du weißt, daß das nicht der Fall ist. Du hast mein Flerz so vollständig gefangen genommen, daß es auch nicht den kleinsten Winkel gibt, den noch irgendeine andere einnehmen könnte.“
Nicole lächelte. „Es tut mir leid, Liebling. Ich habe dich doch nur geneckt.“
„Das hoffe ich!“ Ari streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. Sie war nicht nur schön und intelligent, sondern tief in ihrem Inneren gab es noch eine unschätzbare Qualität — Loyalität, Beständigkeit, Vertrauenswürdigkeit — die in den Momenten, wo sie sich ganz nahe waren, deutlich wurde. Sie sahen sich in die Augen, entspannt, lachend, und er wußte wieder, warum er dieser Frau vollkommen vertraute. Ihr scharfer Verstand, der zudem mit einer sensiblen, sanften Art verbunden war, war für ihn sowohl eine Herausforderung als auch ein Trost gewesen.
„Ari“, beharrte sie. „Nach dem, was du gesagt hast, nun ... du mußt mir zumindest etwas erzählen, ein kleines bißchen, jetzt. Bitte, Liebling, ja ...?“
Er starrte wieder auf den Berufsverkehr und zögerte. Schließlich sagte er: „Es ist eine unglaubliche Geschichte.“ Er hielt einen Moment inne, gequält, unentschieden, und fuhr dann fort: „Ich sollte nicht... aber ich werde es trotzdem tun. Es liegt 25 Jahre zurück. Ich war damals noch ein junger Kerl, ein Idealist. Ich haßte die Lügen und die Unterdrückung in der sogenannten Volksrepublik hinter dem Eisernen Vorhang. Ich kann nicht in die Einzelheiten gehen, aber einige Dinge solltest du wissen. Nur für den Fall, daß mir etwas ... sagen wir ... Unangenehmes passiert.“
„Ari, ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich werde alles tun, überall hingehen ... alles ertragen. Du mußt mir vertrauen. Bitte!“
Er trank sein Glas leer. „Zunächst einmal, Ari ist mein richtiger Name, nicht Hans Müller.“
„Es ist also nicht bloß ein Spitzname, mit dem nur ich dich rufen soll?“
„Nein.“
„Wenn du nicht wirklich Hans Müller bist ...?“
„Das ist ein Name, den ich als Tarnung angenommen habe, weißt du. Ich wollte nicht, daß du mich Hans nennst, sondern meinen wirklichen Namen benutzt... also mußte ich dir sagen, es sei ein Spitzname, nur für uns beide. Tatsächlich kenne ich meinen wirklichen Nachnamen gar nicht.“
„Du kennst ihn nicht? Mach weiter ... ich will alles wissen.“ Jetzt stand eine andere Art von Angst in ihrem Gesicht geschrieben.
Ari ließ den Kopf hängen. „Niki... es tut mir leid, aber es war zu deinem Besten.“
„Was ist denn nun in deiner Vergangenheit, das du verbergen mußtest? Du mußt es mir sagen.“
„Ich bin ’64 aus der DDR geflohen ...“
„Das ist aber doch nichts, wofür man sich schämen muß!“ Große Erleichterung war in ihren nun entspannten Gesichtszügen zu lesen.
„Die Art, wie es passiert ist und das 'Warum sind ein Rätsel, mit dem ich all diese Jahre gelebt habe. Wenn ich es erzähle, könnte es jene erstaunlichen drei Gestalten bloßstellen, die mich in den Westen gebracht haben — und das darf ich nicht tun. Es könnte sein, daß sie immer noch in Ost-Berlin arbeiten. Dort habe ich ihn zum ersten Mal getroffen. Er war der Anführer.“
„Ihn?Du meinst den Amerikaner, den du mir als einen ,Geschäfts -partner’aus Ost-Berlin vorgestellt hast?“
„Roger? Nein, das ist ein anderer Teil der Geschichte.“
„Er ist wirklich ein Geschäftspartner?“
„Ja, sozusagen. Er repräsentiert ein internationales Bankenkonsortium, das... nun, offen gesagt, in so ziemlich alles verwickelt ist, vom Waschen von Drogengeldern über Bankbetrug bis hin zu Waffenschmuggel. Bisher haben sie keine Ahnung, daß ich diese Dinge über sie weiß.“
„Und das sind deine Partner? Ari! Sie sind also diejenigen, die dich loswerden wollen?“
„Das würden sie gern. Aber ich bin nicht wirklich ihr Partner. Es geht um Geld, aber es ist kompliziert, und ich kann im Moment nicht darüber reden. Laß uns das einen Moment vergessen, ja? Ich rede nicht von Roger und seiner Gruppe, sondern von den drei geheimnisvollen Gestalten, die mich in den Westen gebracht haben. Sie schienen zu einer anti-marxistischen Splittergruppe innerhalb des DDR-Regi-mes zu gehören — zumindest sollte ich das glauben. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich darüber denken soll, weil vier Jahre später einer von ihnen hier an der Sorbonne aufgetaucht ist... während der Studentenunruhen 1968. Das war vor unserer Zeit ...“
„Ich war sieben Jahre alt“, lachte Nicole. „Eine Tante schickte mir zu meinem Geburtstag eine Barbiepuppe aus Amerika. Wie könnte ich das je vergessen? Aber erzähl’ weiter.“
„Nun, ganz kurz: ich hatte rund um die Welt Studentendemonstrationen organisiert, von Berlin bis Madrid und Berkeley — und dann geriet es außer Kontrolle. Genau hier, an der Sorbonne, besetzten die Studenten die Universität. Die Bereitschaftspolizei kam mit Panzerwagen, Wasserwerfern und Tränengas an. Zehntausend Studenten wehrten sich mit Molotowcocktails. Acht Millionen Arbeiter — damals die Hälfte der gesamten Arbeiterschaft in Frankreich — streikten, besetzten Fabriken. Eine Zeitlang war die Hölle los. Studenten und Arbeiter sind durch die Straßen von Paris marschiert, haben Fenster eingeschlagen, Autos angezündet und in Sprechchören gerufen ,De Gaulle, adieu’“.
„Ich kann mich erinnern, daß ich das im Fernsehen gesehen habe!“ rief Nicole aus. „Es war schrecklich!“
„Nun, die Studenten erreichten die umfassendsten Reformen seit Napoleon. Die Arbeiter erhielten große Lohnerhöhungen, die übrigens das Land damals beinahe in den Bankrott getrieben hätten. Aber es wurde nichts aus dem adieu. De Gaulle gewann die nächste Wahl mit überwältigender Mehrheit. Die Politik ist so korrupt... sie hat nut-wenig Bezug zu den Dingen, wie sie wirklich sind. Aber die Studenten haben das damals nicht verstanden. Ich lernte eine Menge, das kann ich dir versichern!“
„Und du hattest diese ganze Sache rund um die Welt organisiert?“ fragte Nicole bewundernd. „Schon damals, als du noch ein Student warst und an deiner Doktorarbeit gearbeitet hast?“
„Ja ... zunächst einmal. Aber ich hatte die Sache nicht gut genug im Griff, und so geriet sie außer Kontrolle. Die Bewegung verlor ihren Zusammenhalt, begann, sich um örtliche Probleme zu kümmern und
vernichtete sich schließlich selbst. Ich habe aus dieser Erfahrung sehr viel gelernt.“
Ari starrte in die Ferne und durchlebte noch einmal die Erinnerungen. „Nun“, sagte er schließlich, „wie ich bereits sagte, das war die Zeit, als derselbe Typ aus Berlin plötzlich hier in Paris auftauchte. Er kam eines Tages auf der Straße auf mich zu ... sagte, sie seien beeindruckt davon, was ich in nur vier Jahren im Westen geschafft hätte ... und daß sie weitere Pläne für mich hätten. Er machte mir sogar einige ausgezeichnete Vorschläge, die mir halfen, die Organisation zu gründen, mit der ich heute weltweit arbeite.“
„Sie hatten Pläne? Wer sind sie?“
„Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich, ich verliere den Verstand. Ich habe ihn gesehen, denselben Mann, in Alpträumen, die ich jahrelang immer wieder hatte ... selbst, bevor sie mich in Ost-Berlin gefan-gennahmen — oder so taten, als ob.“
„In Alpträumen, Ari? Derselbe Mann? Bist du sicher?“
„Absolut! Sei ehrlich mit mir, Niki. Glaubst du, daß ich verrückt bin?“
„Natürlich nicht! Es ist nichts Ungewöhnliches, von jemandem zu träumen, den man vielleicht irgendwo gesehen hat... möglicherweise in einer Menschenmenge. Man erinnert sich nicht einmal mehr an die Person, aber das Gesicht hat einen Eindruck hinterlassen. Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.“
„Nein, Niki, es ist mehr als das.“
„Warum glaubst du das?“
„Es ist 20 ... 30 mal passiert. In meinen Träumen starrt er mich an. Ich bin vollkommen hilflos, aufgesogen, habe keine Kontrolle darüber. Es ist ein Gefühl, als wollte er mich in Besitz nehmen... für mich denken. Ich kämpfe dagegen an ... versuche, mich zu befreien.“
Er schloß in schmerzvoller Erinnerung kurz die Augen. „Seit kurzem passiert es sogar während des Tages. Plötzlich sehe ich sein Gesicht und seltsame Gedanken fangen an, durch meinen Kopf zu rasen.“
„Was zum Beispiel?“
„,Einweihung’...,folge mir’.,.,höheres Bewußtsein’. Es fühlt sich an, als würde ich irgendwohin gebracht.“
Nicole saß schweigend und nachdenklich da. Schließlich sagte sie zögernd: „Es könnte eine Art von Bewußtseinskontrolle sein. Es gibt so vieles über das Gehirn, was wir nicht wissen. Einige von den Operationen, mit denen ich zu tun habe ... Na gut, lassen wir die techni-
sehen Einzelheiten — aber wir erwägen ernsthaft die Möglichkeit, daß ein Verstand einen anderen beeinflussen und vielleicht sogar die Kontrolle über ihn ergreifen kann ... aus der Ferne. Ist es das, was du befürchtest?“
Ari nickte. „Es klingt bizarr, aber ich bekomme das Gefühl, daß genau das geschieht.“
„Und du meinst, er habe mit Roger und seiner Gruppe von Finanziers zu tun?“
„Ich weiß, daß es so ist — das trifft für alle drei von diesen geheimnisvollen Gestalten zu. Roger streitet es ab, aber ich bin sicher, daß er lügt. Der CIA hat mit diesen ... wer oder was auch immer sie sein mögen, zu tun. Und ich habe entdeckt, daß Roger beim CIA ist, und daß das Bankenkonsortium nicht weiß, daß seine wahre Loyalität dort liegt. Sie — diese Drei — haben mich in Rogers Wohnung in Ost-Berlin gefangengenommen. Aber Roger schwört, daß er genauso überrascht war wie ich ... daß er sie für Stasi-Agenten gehalten hat ...“
„Sagt er die Wahrheit?“
„Es ist möglich, daß er damals nichts wußte, aber ich bin mir sicher, daß es heute anders ist. Eines Tages werde ich alle Beweise haben ... obwohl das eigentlich gar nicht wichtig ist.“
Niki drehte ihr leeres Glas hin und her und starrte es gedankenverloren an. „Ich nehme an“, meinte sie schließlich zögernd, „daß sie versucht haben, die Kontrolle über deinen Verstand zu bekommen. Nicht vollständig — das ist nicht möglich. Ich meine, es wäre für jeden, der dich kennt, offensichtlich, wenn das geschehen würde. Aber sie wollten dein Denken beeinflussen. Einige Gedanken, Schlüsselideen, die dich in eine bestimmte Richtung führen, einpflanzen. So etwas wäre viel schwerer zu entdecken.“
„Du meinst wirklich, daß so etwas möglich ist?“
Niki nickte. „Das, was ich im Krankenhaus tue, hat natürlich nichts mit dem zu tun, worüber wir gerade sprechen, aber ich lese sehr viel, einfach um auf dem laufenden zu bleiben. Es ist schwer, Angaben darüber zu bekommen, weil die meisten Experimente auf diesem Gebiet absolut geheim sind ... der CIA oder der KGB sind daran beteiligt.“ Ari nickte ernst. „Das paßt mit einem Buch über die Beteiligung des CIA an psychischen Experimenten zusammen, das ich neulich gelesen habe ... diese Experimente haben zu Kontakten mit Wesen aus einer anderen ... hm, Dimension geführt. Was hältst du davon?“
Niki setzte sich sehr gerade hin, faltete ihre Hände auf dem Schoß und sagte ernsthaft: „Ich würde das sehr ernst nehmen. Wir geben
Millionen aus für Versuche, Kontakt mit intelligentem Leben irgendwo im All aufzunehmen ..."
„Genau das habe ich Roger neulich gesagt! Er hat sich einfach nur über den Gedanken lächerlich gemacht, was mich vermuten läßt, daß er etwas vor mir verbirgt.“
„Bestimmt“, sagte Nicole nachdenklich. „Allein der gesunde Menschenverstand müßte jedem sagen, daß wir nicht die einzigen intelligenten Wesen im Universum sind. Angenommen, die Drei, die du getroffen hast, sind von irgendwelchen Intelligenzen von wer weiß woher... irgendwo da draußen ... übernommen worden ... und dieselben Wesen ... oder was immer sie sind ... versuchen jetzt, auch deinen Verstand und deinen Körper zu übernehmen?“
„Das ist das Gefühl, das ich habe. Mein Gott, ich darf es nicht zulassen!“
Nicoles Augen drückten unbeschreibliche Sorge aus. „Ari, ich werde einige meiner Kollegen um Rat bitten — gleich morgen.“
„Nein! Das kannst du nicht tun, Niki.“
„Beruhige dich. Ich werde nicht sagen, von wem ich spreche ... es wird irgendein Patient sein. Ich möchte ein paar Meinungen dazu hören.“
12. Die Ost-West-Verbindung
Ein diskretes Hüsteln des Kellners ließ Ari aufblicken. Der Kellner näherte sich ihrem Tisch, Block und Bleistift in der Hand, und stand jetzt neben Ari. Seine Kleidung war charakteristisch für die Kellner in diesem Teil von Paris: schwarze Fliege und weißes Hemd, schwarze Weste und steif gestärkte, fleckenlos weiße Schürze, die beinahe bis zum Boden reichte. „Haben Monsieur und Mademoiselle bereits gewählt?“
„Wir erwarten noch jemanden“, erwiderte Ari und sah auf seine Uhr. „Er müßte gleich eintreffen“, fügte er lächelnd hinzu.
„ Oui, Monsieur. “ Er beugte sich vor, um die Kerze auf ihrem Tisch anzuzünden und zog sich dann zurück.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. In dem nachlassenden sanften Schein des rosaroten Sonnenunterganges, der von den Wolken reflektiert wurde, schien das Kerzenlicht die Umrisse von Nicoles leicht vorstehenden Wangenknochen zu betonen. „Ari, wie konntest du es solange geheimhalten?“ fragte sie ihn schließlich.
„Wovon sprichst du?“
„Von deiner Flucht aus der DDR.“
„Denkst du immer noch darüber nach?“
„Natürlich! Und ich verstehe es nicht. Ohne gültigen Ausweis hätten sie dich nicht aus West-Berlin herausgelassen. Du mußtest dich bei den Behörden melden, um neue Papiere zu bekommen. Sie müssen gewußt haben, daß du geflohen bist. Und die Sorbonne ... du hättest Bescheinigungen über deine Studienzeit in der DDR gebraucht.“ Ari zuckte die Schultern und rollte mit den Augen. „Du hast recht — und ich kann es nicht erklären. Irgend jemand hat unglaubliche Macht ... oder Einfluß ... oder irgend etwas.“
„Was willst du damit sagen?“
„Die drei, die mich damals ,festnahmen’, ließen mich meine wenigen Habseligkeiten — ein paar wichtige Unterlagen und Kleidung — in eine Polizeiaktentasche umpacken. Als ich im Westen ankam, entdeckte ich, daß nicht nur die 50.000 DM, von denen sie mir gesagt hatten, in der Tasche waren. Ich fand auch Unterlagen, die ich nie zuvor gesehen hatte: ein Abschlußzertifikat von der Leipziger Karl-Marx-Universi-tät, die ich besucht, aber nicht ganz abgeschlossen hatte, eine offizielle Abschrift aller meiner Kurse und Noten, einen Reisepaß der Bundes-
republik Deutschland auf den Namen Hans Müller mit meinem Bild, und eine Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich — auch auf den Namen Flans Müller. Ich habe mir also diesen Namen nicht ausgedacht — er ist mir gegeben worden.“
„Das waren offizielle Dokumente?“
„Absolut. Sie waren die Basis für meine neue Identität im Westen, und niemand hat sie je angezweifelt.“
„Hast du sie noch?“
„Oh ja. Ich habe inzwischen einen französischen Paß, aber ich habe alle Unterlagen, die ich erwähnte, aufgehoben — nur um sicher zu sein, daß ich nicht vollkommen verrückt geworden bin.“
„Diese Unterlagen stammten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs? Unglaublich!“
„Von beiden Seiten“, erwiderte Ari leise mit einem kleinen Lächeln. „In der Politik und im Bankwesen hat es seit Jahren auf höchster Ebene eine geheime Zusammenarbeit zwischen Ost und West gegeben ... trotz des Kalten Krieges, der Krise wegen der Interkontinentalraketen, Kriegsdrohungen, Streitereien über den Mittleren Osten und Südostasien ...“ Er schüttelte ungläubig seinen Kopf. „Ich kann es immer noch nicht verstehen, aber so allmählich kann ich mir einen Reim daraus machen.“
Nicole war sprachlos. „Was führen sie im Schilde ... und wer gehört noch zu ihnen?“
Ari zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich kenne ich nur einen Teil des Bildes. Ich weiß, daß es hinter den Kulissen einen Kampf für eine Neue Weltordnung und um globale Kontrolle gibt, und daß Rogers Gruppe dabei ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Ost und West ist. Bei einem derart hohen Preis kannst du dir vorstellen, daß die Hauptbeteiligten mit äußerster Rücksichtslosigkeit Vorgehen. Es macht ihnen auch nicht das Geringste aus, Unschuldige umzubringen!“
Nicole saß einen Moment lang schweigend da. Schließlich wandte sie sich Ari zu und sah ihm suchend und bittend in die Augen. „Ich habe ein schreckliches Gefühl bei der ganzen Sache. Du mußt mir die Wahrheit sagen! Wie paßt diese,Studentenbewegung’, von der du mir erzählt hast, zu der ganzen Sache?“
„Es gibt eine Verbindung.“
„Und, die wäre?“
Ari holte tief Luft. „Meine Organisation wird finanziert, damit sie den Eisernen Vorhang niederreißt und überall auf der Welt den Kommunismus vernichtet ... selbst in China und Albanien.“
„Das ist nicht möglich. Das kannst du nicht wirklich meinen.“
Ari beugte sich vor. Seine Augen sprühten plötzlich voller Energie. „Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Organisation ich mit der Hilfe zwei Dutzend brillanter und engagierter Männer und Frauen aufgebaut habe, denen ich mit meinem Leben vertrauen würde. Sie leiten weltweit die täglichen Operationen für mich. Ich habe die Organisation so aufgebaut, daß niemand sie knacken kann — weder der CIA noch der KGB noch sonst irgend jemand. Ich habe fünfzehn Jahre gebraucht, um zu lernen, wie ich sie Zelle für Zelle aufbauen muß. Ein Anruf würde genügen, und morgen gingen in ganz Osteuropa eine Million Studenten auf die Straßen. Und in China wären es drei Millionen.“
„Aber die Mauer abreißen!“ protestierte Nicole. „Vielleicht in hundert Jahren
„Einer der Schlüssel ist Polen. Nachdem die Solidarität verboten worden war und die Sowjets drohten, in Polen einzumarschieren, haben Reagan und der Papst 1982 eine geheime Abmachung getroffen, daß sie die Solidarität unterstützen und Polen zum Herzen einer Kampagne machen würden, die den Kommunismus zerstören sollte ..
„Davon habe ich niemals gehört“, unterbrach Nicole. „Woher hast du diese Information?“
„Du weißt, daß ich dir das nicht sagen kann. Wir arbeiten in Polen mit der Solidarität zusammen ... und mit einem unglaublichen CIA-Vatikan-Netzwerk, zu dem Hunderte von katholischen Priestern und Kirchengemeinden gehören, die die Solidarität unterstützen. Du kannst dir nicht vorstellen, was alles geschieht!“
„Und was haben sie erreicht?“
„Viel. Lech Walesa ist nicht mehr im Gefängnis. Der Papst hat Polen besucht und Millionen haben ihm zugejubelt. Der Vatikan arbeitet jetzt mit Bush zusammen. Streiks haben bewiesen, daß Polen ohne die Solidarität nicht funktionieren kann — was Gorbatschow selbst zugegeben hat, als er ’88 dort war. Und jetzt... erst vor zwei Monaten hat die Solidarität die volle rechtliche Anerkennung erhalten. Für nächsten Juni sind öffentliche Parlamentswahlen angesetzt worden. Es ist völlig klar, wer gewählt werden wird! Das polnische kommunistische Regime und sein Sponsor, der Kreml, haben den Forderungen des Volkes nachgegeben — mit massiver heimlicher Unterstützung durch die USA und aktiver Hilfe der römisch-katholischen Kirche. Das ist der Anfang vom Ende für den Kommunismus in Osteuropa.“ Ari beugte sich näher zu ihr hinüber und seine Augen wurden schmal.
„Der Papst ist der mächtigste Mann in der ganzen Welt. Das meine ich wirklich so — und ich weiß nicht, wie das zu dem Ganzen paßt.“ „Du kennst die Geschichte. Jeder Herrscher in Europa, der irgendwelche Bedeutung besaß, mußte mit der Kirche Zusammenarbeiten.“ Nicole sah Ari genau an. „Und du meinst, daß die Geschichte jetzt einen großen Sprung nach vorne machen wird ... die Berliner Mauer wird wirklich fallen?“
„Es ist nur eine Frage der Zeit — und es wird nicht mehr lange dauern!“
Nicole schüttelte ihren Kopf. Sie war noch nicht überzeugt. „Was haben diese kriminellen Bankiers davon? Warum sollten sie den Untergang des Kommunismus finanzieren?“
„Machst du Scherze? Freier Handel mit Osteuropa würde für sie Milliarden an Profit bedeuten.“
„Und sowjetische Spitzenpolitiker sind in die Sache verwickelt?“ „Warum nicht? Gorbatschow und sein engster Kreis von Vertrauten wissen seit Jahren, daß der Marxismus nicht funktioniert. Sie wußten nur nicht, wie sie ihn abbauen sollten, ohne ein Chaos zu verursachen. Ich weiß zufällig, daß Gorbatschow und der Papst eine Vereinbarung getroffen haben. Die Sowjets und der Vatikan ... und die Amerikaner ... hatten Pläne für eine Neue Weltordnung, lange bevor Gorby seine Perestroika schrieb. Sie haben seit Jahren gemeinsam daran gearbeitet.“ Nicole sah Ari skeptisch an. „Ari... du kannst doch unmöglich an solche Informationen gekommen sein!“
„Sieh mal“, sagte Ari, beugte sich noch weiter herüber und senkte die Stimme. „Ich weiß, wovon ich rede .... weil die Studenten, die ich kontrolliere, überall im Zentrum der gesamten Operation stecken. Und jetzt vergiß einfach, was ich dir gesagt habe.“
Die Straßenlaternen waren angegangen. Nicole betrachtete die flak-kernde Kerze auf dem Tisch und versuchte zu verstehen, was Ari ihr gesagt hatte. „Ich kann doch nicht alles einfach vergessen“, sagte sie abrupt. „Mal angenommen, die Mauer fällt und der Kommunismus bricht zusammen ... was dann?“
„Ich werde dasselbe im Westen tun ... korrupte Regierungen stürzen.“
Nicole legte ihre Hand auf Aris Arm. „Mein Gott! Das werden sie nicht zulassen. Sie werden dich umbringen!“
„Vielleicht“, sagte Ari ruhig, „aber ich muß es versuchen. Ich denke an das Leiden in der Welt, die Armut und Unterernährung, Kinder, die verhungern ... quält dich das nicht auch? Milliarden von Dollar,
die man für Nahrungsmittel, Medizin und Unterkünfte nutzen könnte, werden ausgegeben, um Waffen aufzustapeln, die so schrecklich sind ... Niki, dieser Planet ist zum Untergang verurteilt — es sei denn, wir beenden diesen Wahnsinn. Der Zusammenbruch des Kommunismus ist nur der Anfang. Ich werde nicht aufhören, bis die Arbeit ganz getan ist.“
„Aber du hast doch gesagt, daß sie dich loswerden wollen — und zwar jetzt.“
„Ja, aber noch kommen sie nicht ohne mich aus. Und wenn es soweit ist ... ich werde überleben.“
„Du bist sehr mutig, Ari... aber deine Chancen sind unglaublich gering. Das erschreckt mich.“
„Wenn ich alle Informationen habe, um das ganze Bild zusammenzusetzen, werde ich die Beweise bei dir... und einigen anderen Freunden, denen ich vertrauen kann, lassen. Das könnte dein Leben retten ... und meines. Falls ich plötzlich verschwinde — oder sterbe, selbst wenn es völlig normal und natürlich zu sein scheint — dann offenbarst du die Beweise der ganzen Welt. Das würde die Anführer etliche Jahre ins Gefängnis bringen. Wenn sie wissen, daß das geschehen wird ... dann werden sie mich nicht umbringen.“
„Sie werden dich mit Sicherheit nicht weitermachen lassen ... nicht im Westen.“
„Darüber werden wir uns Gedanken machen, wenn es soweit ist. Aber dann wird diese Sache einen solchen Schwung haben, daß niemand es mehr aufhalten kann!“
Nicole starrte Ari sprachlos vor Staunen an. „Das ist so ein Schock“, stotterte sie schließlich und suchte angestrengt nach Worten. „Wie konntest du das nur all die Jahre vor mir geheimhalten! Und ich dachte, du wärest weg, um Vorlesungen zu halten, zu diskutieren ... hier und da.“
„Das tue ich sehr häufig“, erwiderte Ari leise. „Es ist die perfekte Tarnung für die meisten meiner Reisen ..."
„Du hast mich angelogen ... immer und immer wieder!“
„Niki... bitte. Ich mußte. Es war zu deinem eigenen Besten ... und wegen deiner Sicherheit.“
Sie zögerte, sah ihm in die Augen, lächelte dann und nickte. „In Ordnung, akzeptiert ... aber daß du mit den Monstern, die du beschrieben hast, eine Partnerschaft eingegangen bist... wie konntest du, Ari?“
„Liebling, ich sagte doch schon ... es ist keine Partnerschaft. Sie stel-
len das Geld, aber ich gebrauche es, wie ich will — ohne irgendwelche Bedingungen.“
„Es ist schmutziges Geld, Ari! Ich würde es nicht anrühren.“
Er starrte eine Zeitlang in die Ferne, bevor er versuchte, zu antworten. „Du hast recht“, sagte er schließlich und sah ihr in die Augen. „Es ist schmutziges Geld — aber nicht alles. Vielleicht ist das, was ich bekomme, legal verdient worden.“
Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das ist schwach, Ajri. Es ist alles beschmutzt ...“
„Sieh mal, Liebling“, sagte er bestimmt, „ich kann nichts daran ändern, wie sie zu ihrem Geld kommen ... aber ich kann darüber bestimmen, wie einiges davon ausgegeben wird. Warum sollte ich nicht schlechtes Geld nehmen und es für einen guten Zweck nutzen? Ich weiß nicht, woher ich sonst die Hunderte von Millionen hätte bekommen sollen, die sie mir gegeben haben. Und ohne dieses Geld ... stünde ich heute nicht kurz vor dem Erfolg.“
„Dann bist du also ein moderner Robin Hood. Aber obendrein hast du diese drogenschmuggelnden, geldwaschenden Mörder ausspioniert.“ Nicole war benommen. „Ari, sie werden es herausfinden!“ „Sie werden es nicht herausfinden müssen“, erwiderte er ernst. „Ich werde es ihnen sagen ... zur rechten Zeit. Es ist meine einzige Rettung. Ich habe Leute in ihrer Organisation, die mir Informationen liefern ... Leute, die ich mit ihrem Geld bezahle ... und sie wissen es nicht.“
„Wenn sie das herausfinden ... werden sie dich und sie umbringen!“ „Liebste, ich habe doch gerade erklärt ... ich bin noch nicht in Gefahr. Sie brauchen mich ... dringendst. Natürlich versuchen sie, sich in eine Position zu manövrieren, wo sie genug wissen, um ohne mich auszukommen. Das muß ich verhindern.“
„Kannst du das?“
„Ich kann, glaube mir. Und mach dir bitte keine Gedanken! Ich habe schon so lange überlebt ..
Beide schwiegen und beobachteten den Menschenstrom, der den Boulevard bevölkerte.
Plötzlich lächelte Ari und winkte einer rasch herbeieilenden Gestalt zu. „Da ist Abdul“, flüsterte er. „Ich wollte ihn eigentlich nach dem Essen anwerben, wenn du ins Krankenhaus gegangen wärst. Aber da ich dir schon so viel erzählt habe ... werde ich jetzt mit ihm darüber reden. Und denke daran — kein Wort über das, was wir gerade besprochen haben!“
13. Abdul
„Niki! Professor Müller! Schön, Sie zu sehen!“ rief Abdul aus, nachdem er sich eilig zwischen den Gästen hindurchgezwängt hatte, die sich um die dicht gestellten Tische drängten und unter regenbogenfarbene Schirme duckten. „Es tut mir leid, daß ich so spät komme. Der Verkehr ist schrecklich, und man bekommt keinen Parkplatz. Ich hätte die Metro nehmen sollen.“
Abdul schüttelte Aris ausgestreckte Hand, beugte sich dann vor und küßte Nicole erst auf eine Wange und dann auf die andere.
„Ich bin so froh, daß du kommen konntest, Abdul“, sagte Niki mit einem glücklichen Lächeln. „Wir haben uns schon so lange nicht gesehen.“
Ari wies auf einen freien Stuhl, den er an den kleinen Tisch gezogen hatte. „Setz’ dich und erhol’ dich erst einmal. Wir haben noch den ganzen Abend — zumindest du und ich. Niki muß in einer Stunde im Krankenhaus sein.“
Abdul, ein 31jähriger palästinensischer Araber, der in Jerusalem geboren war, besaß einen unerschütterlichen Enthusiasmus und war sehr kontaktfreudig. Sein leidenschaftliches Ziel war es, sein Heimatland von den Juden zu befreien. Nachdem seine Eltern nach Paris gezogen waren, hatte er dasselbe Gymnasium besucht wie Nicole, und sie waren beinahe fünfzehn Jahre lang enge Freunde gewesen. Als er sich nicht entscheiden konnte, welches Hauptfach er an der Universität wählen sollte, empfahl sie ihm, es mit Politologie zu versuchen. „Es paßt zu deiner Persönlichkeit und deiner besonderen Begabung“, hatte sie gesagt.
„Professor Müller“ war Abduls Lieblingslehrer an der Sorbonne geworden. Er war so von ihm begeistert, daß er Niki gedrängt hatte, einen Kurs bei „Müller“ zu belegen. Auf diese Weise hatte Abdul entscheidenden Anteil daran gehabt, die beiden zusammenzubringen — ein weiterer Grund, warum An und Niki ihn so gern mochten und in engem Kontakt zu ihm geblieben waren.
Inzwischen war Ari Leiter der Abteilung für politische Wissenschaften geworden. Er hatte in den vergangenen fünf Jahren sehr eng mit Abdul an dessen Abschlußarbeit gearbeitet und in dieser Zeit eine große Zuneigung zu diesem außergewöhnlichen jungen Mann entwickelt. Wegen seines scharfen Verstandes, seiner klaren Logik und semem beinahe photographischen Gedächtnis war Abdul einer von Aris
besten Studenten gewesen. Er hatte gerade seinen Doktor der Politologie gemacht und Ari versuchte, ihm bei der Suche nach einer Stellung, die seiner Ausbildung und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten angemessen war, zu helfen.
„Habt ihr die Nachrichten gehört?“ fragte Abdul völlig außer Atem, als er sich setzte und seinen Stuhl an den Tisch zog. Im sanften Schein des Zwielichtes verliehen einige Schweißperlen seinen etwas pockennarbigen, aber doch gutaussehenden Zügen einen leichten Glanz.
Ari hatte sich zur Seite gedreht, um den Kellner heranzuwinken, konnte aber nicht dessen Aufmerksamkeit erlangen. Jetzt, wo die Sonne untergegangen war und das Licht schwächer wurde, kurbelte der überarbeitete Mann die große orangene Markise, die sich von der Fassade des Restaurants über den Bürgersteig ausbreitete, wieder zurück.
„Meinst du die aus China?“ fragte Nicole.
„Genau!“ erwiderte Abdul. „Ist es nicht unglaublich, was da geschieht?“
„Wir haben es über Kurzwelle gehört, bevor wir herkamen“, bemerkte Ari gleichgültig.
„Bist du nicht aufgeregt?“ wollte Abdul wissen. „Fünftausend Studenten der Universität von Bei-jing marschieren durch die Straßen ... sie kümmern sich nicht um die Polizeiketten und die Drohungen, sie von der Universität auszuschließen. Das letzte, was ich gehörte habe, war, daß sich ihnen 250.000 Menschen angeschlossen haben. Ihre Zahl könnte möglicherweise schon bald eine Million erreichen ... sie marschieren zum Tiananmen-Platz ... und trotzen Dengs Regierung!“
„Das ist für ein Land wie China erstaunlich“, gab Ari zu, „... aber die Zeit ist noch nicht reif dafür — es ist zum Scheitern verurteilt. Es tut mir leid, daß ich deinen Enthusiasmus dämpfen muß.“
„Da bin ich anderer Meinung!“ jubelte Abdul. „Ein China-Experte der französischen Regierung — ich habe seinen Namen vergessen — sagte, Dengs Regierung gäbe nach. Sie haben Gesprächen mit Führern der Studenten zugestimmt. Die alte Garde wird weggefegt werden. Tausende von Arbeitern treten in Streik, um sich den Demonstrationen anzuschließen. Es hat sich sogar in die Gymnasien und bis auf das Land ausgebreitet! Dort vollzieht sich eine Wandlung von historischer Bedeutung.“
„Der Meinung bin ich auch, Abdy. Es ist fast unglaublich — aber es geschieht tatsächlich!“ Nicole wandte sich stirnrunzelnd an Ari. „Wieso denkst du so negativ?“
„Ich bin einfach nur realistisch“, erwiderte Ari ruhig. „Warte zwei — vielleicht sogar drei Wochen ab. Bei-jing ist überrascht worden und sie sind im Augenblick verunsichert. Aber sie werden sich erholen ... es wird ein blutiges Massaker geben.“
„Das würde Deng nicht wagen“, protestierte Nicole. „Die ganze Welt wäre empört.“ Abdul nickte heftig.
„Wir reden von China“, erinnerte sie Ari. „Sie sind bereits isoliert. Die Meinung der Weltöffentlichkeit bedeutet so gut wie nichts für sie.“ „Ich bin optimistisch“, beharrte Abdul. „Bisher sieht es gut aus. Und wenn die Chinesen es schaffen, den Kommunismus abzuschütteln ... was für eine Auswirkung das weltweit hätte!“
Ari schüttelte unbeirrt den Kopf. „Die Sowjets haben die Welt in den Kommunismus geführt — und sie werden ihn auch stürzen müssen. China kann es nicht tun. Und China ist sowieso noch nicht bereit dafür. Die Demonstranten werden einen schrecklichen Preis zahlen müssen.“
Der Ausdruck in Abduls dunklen Augen verriet seine große Enttäuschung. „Wie können Sie da so sicher sein?“ fragte er Ari vorsichtig. Er würde es kaum wagen, dem Professor, der ihn so viel gelehrt hatte und dem er großen Respekt entgegenbrachte, zu widersprechen. „Wissen Sie etwas, was wir nicht wissen?“
Ari zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Erinnerst du dich an die Organisation, von der ich erwähnte, daß sie deine Talente im Mittleren Osten brauchte?“
„Ja. Ich habe darüber nachgedacht, und ich bin interessiert.“
„Sie sind seit zehn Jahren in China aktiv. Das ist meine Informationsquelle.“
Ari hatte jetzt die Aufmerksamkeit des Kellners erregt und winkte ihn an ihren Tisch.
„Nun, Messieurs-Mademoiselle, was darf es sein? Vielleicht die Spezialität des Küchenchefs für heute abend ... eine sehr schmackhafte Canard ä l’orange?“
„Für mich bitte nur die Tagessuppe und einen großen Salat mit Vinaigrettesagte Nicole.
„Und Sie, Monsieur?“
„Die Ente klingt gut“, sagte Ari. „Was meinst du, Abdul?“ „Warum nicht! Notieren Sie zwei Canards d l’orange. “
„Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht“, sagte Abdul, als der Kellner mit den Bestellungen davoneilte. „Erzählen Sie mir mehr von dieser Organisation.“
Ari lehnte sich zurück und lächelte. „Es ist ein weltweiter Zusammenschluß von Studenten mit Hauptsitz in London. Aber glaube nicht, daß ich eine größere Rolle in dieser Organisation spiele. Ich berate sie ein wenig ... das ist alles.“
Nicole warf Ari einen Was-für-ein-Lügner-du-doch-bist-Blick zu und sah zur Seite.
„Was für ein Ziel haben sie?“ fragte Abdul.
„Das Ende des Kommunismus ... eine Veränderung der Welt“, sagte Ari zuversichtlich. „Ist das groß genug für dich?“
„Zu groß. Klingt grandios“, erwiderte Abdul, aber man konnte deutliches Interesse in seiner Stimme hören. „Wie gehen sie vor?“ „Hunderte von Untergrundzeitungen — wir haben allein in Polen mehr als 100 —, die in ganz Osteuropa, in China und überall sonst, einschließlich der Sowjetunion, Millionen von Menschen erreichen. Tausende von vervielfältigten Bekanntmachungen und Plakaten ... die überall angeklebt werden. Sie produzieren Videos und zeigen sie Millionen von Menschen in geheimen Zusammenkünften von fünf, zehn, ein paar Dutzend Leuten gleichzeitig.“
„Und all das tun Studenten?“ fragte Abdul, der offensichtlich beeindruckt war.
„Richtig. Man wirbt sie durch Stipendien, Forschungsstipendien, Darlehen für Studienzwecke... besondere Studienprogramme an den wichtigsten Universitäten. Die Hauptwaffe werden natürlich weltweite massive Studentendemonstrationen gegen tyrannische Regierungen sein. In der Zwischenzeit ist ein wichtiger Teil der Arbeit die Infiltration und Einflußnahme auf die staatlichen Medien — und das kostet viel Geld. Schmiergelder... damit funktioniert der Kommunismus. Glücklicherweise sind sie finanziell gut ausgestattet.“
„Klingt aufregend. Warum habe ich an der Sorbonne nichts von dieser Gruppe gehört ... wenn sie weltweit operiert?“
„Sie halten sich zurück. Bevor sie dich nicht anwerben, wirst du nichts von ihnen wissen.“
„So wie Sie es jetzt tun?“
„Falls du interessiert bist.“
„Das kommt ganz darauf an. Sie sagten, sie brauchten jemanden im Mittleren Osten ...?“
„Richtig. Sie haben sich auf kommunistische Regimes konzentriert und deshalb bisher nicht im Mittleren Osten gearbeitet. Sie brauchen jemanden, um die Arbeit anfangen zu können.“
„Ich war nicht mehr dort, seitdem ich ein Teenager war.“
„Das macht nichts. Wir wollen jemanden, der nicht in eingefahrenen Gleisen denkt. Du hast die nötigen Sprachkenntnisse.“
„Arabisch, natürlich. Das Hebräisch ist ein wenig eingerostet ... aber ich würde mich schnell wieder hineinfinden.“
Durch die Ankunft des Essens wurde ihre Unterhaltung kurz in eine andere Richtung gelenkt, und sie unterhielten sich über Themen von allgemeinem Interesse. „Ich möchte nicht, daß Niki sich ausgeschlossen fühlt“, meinte Abdul zwischen zwei Bissen. „Wir beide können über das Geschäft reden, wenn sie gegangen ist.“
„Du bist ein wahrer Gentleman“, sagte Nicole und beugte sich vor, um Abdul die Wange zu tätscheln. „Genau wie Ari. Er achtet auch sorgfältig darauf, die Arbeit aus unserem Privatleben herauszuhalten. Aber der Mittlere Osten fasziniert mich. Macht also bitte weiter. Ich werde zuhören.“
„Danke, Niki“, erwiderte Ari und begann seinen Rekrutierungsversuch zwischen den einzelnen Bissen. „Um in diesem Teil der Welt mit der Arbeit anfangen zu können ... brauchen wir als erstes eine gründliche Vor-Ort-Untersuchung an den wichtigen Universitäten.“
„Was für eine Untersuchung?“ fragte Abdul.
„Demographische Erhebungen unter den Studenten. Persönliche Interviews. Die Meinungen der Studenten zu einer Vielfalt von Themen — von den Beziehungen zwischen Arabern und Israelis bis zu ihrer ehrlichen Meinung über ihre eigenen Regierungen.“
„Klingt faszinierend. Zu welchem Zweck?“
„Um Führer zu erkennen, anzuwerben und auszubilden. Und um anschließend eine Strategie zu entwickeln, um Studenten im Mittleren Osten anzuwerben ... sie in Zellgruppen zu organisieren ... “
„Ist man anderswo auch so vorgegangen?“
Ari nickte. „In ganz Europa — Ost und West. Millionen von Studenten gehören zu Tausenden von Zellgruppen, jede mit etwa 25 Personen. Zwischen den Zellgruppen gibt es keine Kommunikation, und es gibt auch keine Massenveranstaltungen. Befehle kommen von oben. Wenn also eine Zelle unterwandert wird, hat das keinen Einfluß auf den Rest der Organisation.“
„Wie wird das alles zusammengehalten?“
„Das ist ein Geheimnis, in das sie mich niemals eingeweiht haben ... aber wenn die Zeit reif ist zum Handeln, wird die schiere Masse an Menschen überwältigend ... ja, unwiderstehlich sein.“
Abdul, der jetzt offensichtlich interessiert war, hatte aufgehört zu essen, um zuzuhören. Auch Nicole folgte aufmerksam Aris Worten.
„Sie sagten, ,wenn die Zeit reif ist zum Handeln’“, wiederholte Abdul. „Was für Aktionen werden das sein?“
Ari beugte sich vor und senkte seine Stimme. „Du weißt, daß ich mit einer Organisation, die eine gewaltsame Revolution anstrebt, nichts zu tun haben würde. Das führt nur zu noch mehr Blutvergießen, und für gewöhnlich kommt ein Regime an die Macht, das noch schlimmer ist als das, welches gestürzt worden ist!“
„Natürlich“, stimmte Abdul zu. „So ist also, wie Sie schon sagten, das Endziel eine Veränderung durch friedliche Demonstrationen?“ Ari nickte. „In einem solch gewaltigen Umfang, daß man sie nicht aufhalten kann. Das ist der einzige Weg, um bleibende Veränderungen zu erreichen. Und es wird funktionieren!“
„Das ist es doch, was sie in China versuchen“, warf Nicole ein. „Aber du sagtest, es würde nicht funktionieren.“
„Liebes, ich dachte, das hätte ich schon erklärt. Es ist der falsche Zeitpunkt. Das ist einer der Hauptfaktoren. Und aus diesem Grunde ist auch diese Untersuchung im Mittleren Osten so wichtig.“
Die Unterhaltung erstarb für einen Augenblick, weil sich alle wieder auf ihr Essen konzentrierten. „Wie ist die Ente?“ fragte Nicole. „Phantastisch!“ kam es sofort von beiden Männern.
Während sie aßen, war Abdul tief in Gedanken versunken. „Ich bin ein wenig verwirrt“, gab er schließlich zu. „Massive Demonstrationen in Israel leuchten mir ein. Und es könnte funktionieren, wenn nicht nur Araber, sondern auch Juden dabei mitmachten. Aber in den arabischen Ländern ... was will man dort erreichen?“
„Das solltest du eigentlich wissen“, schalt An ihn. „Was ist heute der Trend in allen Regierungen der Welt?“
„Demokratie, das ist klar. Der 70-Jahre-Zyklus, der den Kommunismus nach oben gebracht hat, ist zu Ende. Das Pendel schwingt zurück in Richtung Demokratie.“
„Genau.“
„Aber der Marxismus hat im Mittleren Osten nicht viel Einfluß gehabt“, protestierte Abdul. „In einigen arabischen Ländern hat die Sowjetunion einen großen Einfluß gehabt ... durch wirtschaftliche und militärische Unterstützung ... aber niemand hat ihr politisches System übernommen.“
„Es gibt keinen Imperialismus und Totalitarismus?“ fragte An. „Ja, den zionistischen Imperialismus. Das ist das Problem. Israel muß das Land zurückgeben, das es sich genommen hat!“ „Natürlich“, stimmte Ari zu. „Aber die arabischen Länder ... fällt
dir auch nur ein einziges ein, das eine demokratische Regierung hat... echte Pressefreiheit und die wichtigsten Menschenrechte?“
Abdul lachte nervös. „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Wir haben schon darüber diskutiert. Sie verstehen einfach die Einzigartigkeit der arabischen Welt nicht. Der Islam regiert. Ganz gleich, welche Form die weltliche Regierung hat, die Mullahs und Imame und Ajatol-lahs sind die wahren Autoritäten. Der Koran ist das Gesetz.“
„Dagegen habe ich nie etwas gesagt“, gab Ari zurück. „Aber ob die Regierung nun religiös ist oder weltlich — ob sie behauptet, dem Koran oder der Bibel oder den Veden der Hindus zu folgen oder sonst irgend etwas —, das hat nichts mit unserem Thema zu tun.“
„Es hat damit zu tun“, beharrte Abdul. „In der arabischen Welt ist der Koran unser Lebensblut, unser Standard. Es ist Gottes Wort. Es gibt keine höhere Autorität.“
„Aber du wirst doch sicher nicht die Art und Weise verteidigen, wie in den arabischen Ländern die Frauen behandelt werden!“ fiel ihm Nicole leidenschaftlich ins Wort.
„Auch in christlichen Ländern mißhandeln Ehemänner ihre Frauen“, gab Abdul mit einem überzeugten Lächeln zurück. „So etwas kann überall geschehen.“
„Aber der Koran duldet Polygamie und das Schlagen von Frauen“, beharrte Niki. „Und der Ehemann kann sich von seiner Frau scheiden, indem er einfach ausspricht, daß er es tut. Die Frau hat keine Rechte. Ist es nicht so?“
Abdul räusperte sich. „Es ist nicht so schwarz und weiß, Niki. Es gibt kulturelle Unterschiede, die du nicht verstehst. Ich glaube nicht, daß du oder irgendein anderer, der kein Moslem ist, fähig und berechtigt ist, ein Urteil darüber abzugeben ... “
„Du weichst mir aus, Abdy“, schalt Nicole gutmütig.
„Wir versuchen nicht, dich zu kritisieren“, versicherte ihm Ari. „Aber die Tatsachen sind ziemlich schrecklich. Der Irak und der Iran haben sich gegenseitig acht Jahre lang gefoltert, vergast, ausgebombt und abgeschlachtet — zu Hunderttausenden! Und all das im Namen Allahs! Saddam Hussein ist ein unbarmherziger Mörder ... ein arabischer Adolf Hitler! Und trotzdem jubelt ihm die Mehrheit der arabischen Führer, die alle behaupten, sie folgten dem Koran, als einem Helden zu. Und Ghadaffi und Arafat — sind das menschliche Wesen?“
„Ich verteidige sie nicht“, erwiderte Abdul. „Sie sind keine guten Moslems.“
„Sie behaupten aber, sie wären es“, gab Ari zurück. „Ich höre nichts
davon, daß die Mullahs und Ajatollahs sie als Ketzer anprangern. Tatsachen, Abdul, Tatsachen. Die arabischen Länder haben ganz allgemein eine entsetzlich hohe Zahl an Menschenrechtsverletzungen vorzuweisen. Richtig?“
„Es gibt Probleme ... sicherlich“, stimmte Abdul zu, „aber sie können nur im Rahmen des islamischen Rechts gelöst werden.“
„Mir scheint, das islamische Recht zrt das Problem!“ unterbrach ihn Ari. „Der Eiserne Vorhang ist schrecklich ... aber was ist mit dem islamischen Vorhang? Er muß ebenfalls fallen! Du kannst noch nicht einmal ein Bürger von Saudi-Arabien werden, wenn du kein Moslem bist. Wenn das keine Mißachtung der Rechte von Minderheiten ist, was ist es dann? Das muß sich ändern.“
„Das ist eine religiöse Angelegenheit und muß von Moslems gelöst werden“, sagte Abdul. Er klang verletzt.
„Eine religiöse Angelegenheit? Du kannst doch nicht die Verweigerung von grundlegenden Menschenrechten mit so einer Entschuldigung vertuschen!“
„Saudi-Arabien ist ein islamisches Land“, gab Abdul zurück. „Aber Frankreich ist kein katholisches Land und die Vereinigten Staaten sind kein christliches Land. Sehen Sie nicht den Unterschied?“
„Es gibt eine weltweite Staatengemeinschaft“, erinnerte ihn Ari. „Wir brauchen weltweiten Frieden... und den können wir nur bei voller moslemischer Beteiligung erreichen. Die arabischen Länder müssen demokratisch werden. So einfach ist das.“
„Dagegen sage ich ja auch gar nichts“, stimmte Abdul zu. „Aber erwarten Sie nicht, daß die Moslems den Koran aufgeben. Die arabische Demokratie muß eine andere Form haben als die westliche. Versuchen Sie nicht, den Arabern eine westliche Lösung aufzudrängen. Es wird nicht funktionieren. Es muß eine arabische Lösung geben für das, was in der arabischen Welt nicht in Ordnung sein mag — was auch immer das sein könnte.“
„Genau“, erwiderte Ari. „Es denkt auch niemand daran, Leute von außen hineinzubringen, um Araber zu leiten. Eines der Hauptziele dieser LIntersuchung ist, qualifizierte arabische Führer unter den Studenten in moslemischen Ländern zu finden.“
„Ich bin froh, das zu hören.“
„Es ist sogar so“, fuhr Ari fort, „daß wir den Islam brauchen. Deshalb bin ich auch so besorgt wegen seiner Mißachtung der Menschenrechte.“
„Wie meinen Sie das — Sie brauchen den Islam?“ wollte Abdul wissen.
„Bevor du kamst, habe ich gerade Niki davon berichtet... wie der Papst damals, 1982, ein Abkommen mit Reagan getroffen hat, und wie sie zusammengearbeitet haben, um den Kommunismus in Osteuropa zu stürzen. Die katholische Kirche spielt dabei sogar die Hauptrolle. Sie erhält die ,Solidarität' am Leben ... und das wird der Niedergang des Kommunismus in Polen sein ... und als Folge davon in ganz Europa .. . und schließlich in der ganzen Welt.“
„Interessant“, sagte Abdul nachdenklich. „Ich erinnere mich, daß Sie in einem Seminar darüber gesprochen haben.“
„Und solch eine Rolle müssen der Islam und die örtlichen Moscheen im Mittleren Osten übernehmen“, fuhr Ari fort, „um die Demokratie einzuführen.“
Abdul nickte, allerdings nicht allzu begeistert. „Solange der Islam die Veränderung bringt ... kann ich nichts dagegen sagen.“
„Gut.“ Ari schwieg kurz und betrachtete Abdul einen Augenblick lang eingehend. „Was ich wissen möchte, ist... könntest du die nächsten sechs Wochen in den Mittleren Osten gehen, deine eigenen Überzeugungen zurückstellen und dort eine Untersuchungsgruppe leiten? Und würdest du das tun wollen?“
Abdul schwieg eine Weile. Als er schließlich antwortete, sprach er voll Überzeugung und mit wohlgewählten Worten. „Es wäre eine Herausforderung, die ich gerne annehmen würde. Ich bin bereit, mir alles ganz neu und ohne vorgefaßte Meinungen anzusehen ... und ich glaube, ich könnte gute Arbeit leisten für ... wer auch immer diese Leute sind.“
„Großartig!“ rief Ari aus und schüttelte Abduls Hand. „Du bist hiermit engagiert. Natürlich zunächst auf Probe .. . und ich weiß nicht, wann du deine wirklichen Vorgesetzten treffen wirst. Aber wenn sie mit dieser ersten Aufgabe zufrieden sind, wird es noch viel mehr zu tun geben ... wahrscheinlich wirst du sogar wieder nach Jerusalem zurückziehen müssen.“
„Das wäre phantastisch! Wann soll ich anfangen? Und, naja ... Sie haben noch nicht über die Bezahlung gesprochen.“
„Du beginnst sofort. Die Bezahlung ist gut... 30.000 Francs für den Sechs-Wochen-Auftrag zuzüglich Reisekosten. Ist das in Ordnung?“ „Ja, natürlich!“
Ari zog eine dicke Mappe aus seiner Aktentasche und gab sie Abdul. „Die Leute, für die du arbeiten wirst, sind sehr gut organisiert. Hier ist ein kompletter Terminplan, in dem steht, wo du sein wirst und wann. Die Hotels sind bereits reserviert und die Bezahlung erfolgt über eine
Bank hier in Paris. Du mußt immer nur unterschreiben. Hier ist ein Scheck über die Hälfte deines Honorars sowie weitere 10.000 Dollar, für die du Traveller Schecks kaufen solltest. Damit kannst du dann an den jeweiligen Orten Mitarbeiter anstellen, die dir bei den Umfragen helfen ... und die Formulare drucken lassen, die du brauchst und alle sonstigen Ausgaben abdecken. Alle Anweisungen einschließlich einiger Telefonnummern, die du anrufen kannst, falls Fragen oder ein Notfall auftauchen, sind hier drin.“
„Das kommt viel zu plötzlich“, stotterte Abdul. „Das haut mich wirklich um ...“
Ari zahlte die Rechnung und die drei standen auf, um zu gehen. Er legte einen Arm um Abduls Schultern und nahm ihn väterlich in den Arm.
„Du hast zwei Tage Zeit“, erklärte Ari, „um die Unterlagen zu studieren, bevor du mit dem Flugzeug von Paris nach Damaskus, deiner ersten Station, fliegst. Die Flugtickets wirst du morgen vormittag erhalten.“
„Ich freue mich für dich, Abdul“, sagte Nicole. „Schicke mir ein paar Postkarten.“
„Und denke daran, ich habe jetzt nichts mehr damit zu tun“, erinnerte ihn Ari. „Aber wenn du wieder in Paris bist, erzähl’ mir doch, wie es gelaufen ist.“
14. Eine erschreckende Möglichkeit
„Ari! Was machst du da?“
Nicole, die fest geschlafen hatte, war aufgewacht und sah, daß Ari neben ihr in Yoga-Position mit ausgestreckten Armen, die Handflächen nach oben gekehrt, im Bett saß. Von seinen Lippen, die sich nur leicht bewegten, kamen unheimliche, unverständliche Laute.
Sie machte die Nachttischlampe an und sah ihn entsetzt an. Obwohl Aris Augen weit geöffnet waren, schien er seine Umgebung nicht wahrzunehmen.
„Ari! Wach auf!“ Nicole nahm seinen Arm und begann, ihn zu schütteln.
„Nein ... nein! Ich werde es nicht tun!“ Er schlug wild um sich und warf Nicole beinahe aus dem Bett. Die Verzweiflung in seiner Stimme zwang sie zum Handeln. Sie klammerte sich fest um seinen Hals und schrie so laut sie konnte.
„Hör auf damit! Wach auf! Ari! Was ist los?“
Plötzlich entspannte er sich, und sie löste ihren Griff. Ari drehte sich zur Seite und sah sie mit leerem Blick an. „Wo kommst du denn her?“
„Wo ich herkomme? Weißt du nicht, wo du bist? Liebling, du hattest einen Alptraum.“
Der Mann neben ihr schien sie nicht zu erkennen. Er starrte sie einen weiteren Augenblick lang an, seine Augen wurden glasig und er begann, auf deutsch zu murmeln: „Dritte Ebene ... auserwählt ... besondere Mission ... nein ... nein!“ Er schauderte heftig, als habe ihn eine unsichtbare Hand geschüttelt, und fiel dann bewußtlos auf sein Kissen.
Die Uhr auf dem Nachtschrank stand auf 3.21 Uhr. Nicole knipste die Lampe aus und zog die Decke über sich und Ari. Was in aller Welt war mit ihm geschehen? Sie konnte jetzt unmöglich schlafen. Sie lag wach und versuchte zu verstehen, was sie gerade erlebt hatte. Dies war das dritte Mal, daß sie aufgewacht und so eine Szene gesehen hatte. Wie oft mochte so etwas schon geschehen sein, ohne daß sie es wußte? Was bedeutete das alles?
Sie hatte bisher solche Episoden nur beiläufig erwähnt. Ari hatte behauptet, er könne sich an nichts erinnern, und die Ereignisse als bedeutungslos abgetan. Versuchte er, etwas zu verheimlichen ... vielleicht irgend etwas aus seiner Vergangenheit? Sie lag bis zum Morgen-
grauen wach, entschlossen, dieses Mal darauf zu bestehen, daß sie der Sache auf den Grund gingen.
„Gestern nacht gab es wieder einen dieser seltsamen Vorfälle.“ Nicole trat Ari in der Küche gegenüber. Er war gerade von seinem allmorgendlichen Lauf zurückgekommen.
„Ich muß unter die Dusche“, antwortete er, wischte sich mit dem Vorderteil seines T-Shirts den Schweiß aus dem Gesicht und wandte sich zum Schlafzimmer.
„Du hast mir nicht geantwortet“, protestierte Nicole und trat ihm rasch in den Weg.
„Ich habe dich schon verstanden — aber ich habe es eilig. Ich habe heute eine frühe Vorlesung, weißt du ...“
„Hör zu, dieses Mal kannst du mich nicht abwimmeln“, sagte Nicole bestimmt. „Vor sechs Wochen habe ich dir erzählt, was einige von den anderen Ärzten in der Klinik gesagt haben. Es gibt etwas in deiner Vergangenheit, das versucht, nach oben zu kommen ...“ „Und ich habe dir gesagt, daß ich keinen Psychiater konsultieren werde wegen meiner ,Vergangenheitsbewältigung’
„Das habe ich auch nicht empfohlen“, unterbrach sie ihn rasch. „Nun, einer der Ärzte sagte, daß ich das brauchte. Ich habe das schon einmal versucht, vor vielen Jahren, und sobald der Psychiater begann, mich in diesen ... diesen ,entspannten Zustand’ zu bringen, habe ich sein Gesicht gesehen. Wenn du nicht aufpaßt, könntest du womöglich noch irgend etwas auslösen!“
„Sein Gesicht? Der Mann aus Ost-Berlin, der dich in deinen Alpträumen verfolgt?“ beharrte sie.
„Richtig. Und damit war die Sache für mich erledigt. Ich werde mich von niemandem hypnotisieren lassen — niemals!“
„Ich meine, daß dich jemand bereits hypnotisiert hat ... seit langem“, sagte Nicole ernst, „und daß du es einfach nicht weißt — oder es dir selbst nicht eingestehen willst.“
Ari entspannte sich mit einem resignierten Seufzer und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Schon gut. Also, was ist letzte Nacht passiert?“
„Es war genauso wie die anderen Male, wenn ich es gesehen habe.
Ich weiß nicht, wie oft es passiert ist, ohne daß ich es bemerkt habe. Du hast in Yoga-Position im Bett gesessen, mit ausgestreckten Armen und nach oben gekehrten Handflächen, und hast etwas in einer fremden Sprache gemurmelt. Du hast immer und immer wieder dieselben Worte gesagt ... wie ein Mantra oder so.“
Ari wischte sich wieder über die Brauen und schüttelte den Kopf. „Ehrlich, Niki, ich erinnere mich an gar nichts. Früher habe ich mich an alles erinnert... klar und deutlich ... ich konnte mich erinnern, ihn gesehen zu haben ... aber das ist in letzter Zeit nicht passiert. Es ist anders. Ich sehe ihn wie eine plötzliche Eingebung, während ich wach bin ... dann verschwindet alles. Es passiert nicht oft... vielleicht einmal im Monat.“
„Diesmal habe ich dich halb wachgerüttelt — und du hast einige Worte in deutsch gemurmelt.“
„Wirklich?“
„Ja. Und das paßt. Jemand, der versucht, deinen Verstand zu kontrollieren, würde in deiner Muttersprache mit dir kommunizieren.“
„Was habe ich gesagt?“
„Ich habe nur einige wenige Worte gehört... aber wenn du über sie nachdenkst, bringt das vielleicht eine Erinnerung zurück. Wollen wir es versuchen?“
„Ich bin bereit, alles zu versuchen ... außer Hypnose. Ich weiß, daß mich das für ihn öffnet.“
„Da würde ich mich auch nicht ranwagen ... es ist absolut gefährlich. Darüber werden wir ein andermal reden. Jetzt laß uns probieren, ob diese Worte eine Erinnerung in dir wachrufen ... wenn ich sie auf deutsch zusammenbekomme. Du hast so etwas wie ,dritte Ebene ... auserwählt ... besondere Mission ... nein ... nein!’ gesagt. Hat das irgendeine Bedeutung für dich?“
Ari schloß die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. „,Dritte Ebene’, vielleicht. In dem Wagen in Ost-Berlin ... nachdem sie mich ,gefangengenommen’ hatten ... sagte er irgend etwas von zehn Bewußtseinsebenen. Ich dachte, er wollte mich verkohlen.“
„Das war vor 25 Jahren. Aber was war danach?“
„Es kommt mir irgendwie bekannt vor ... aber ich weiß nicht, warum.“
„Konzentriere dich. Denk nach.“
„Das versuche ich ja. Wie ich dir schon sagte, wenn ich sein Gesicht sehe ... habe ich für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, daß ich
höher gezogen werde, beinahe so, als ob ich meinen Körper verlasse. Dann kämpfe ich dagegen an, und das Gefühl verschwindet.“
„Du hast einmal etwas über eine ,Initiation’ gesagt.“
„Ja, manchmal habe ich auch solch ein Gefühl.“
„Das paßt zu ,auserwählt’ und ,besondere Mission’. Denk über die Worte nach ...“
„Es löst irgend etwas in mir aus ... aber ich komme nicht darauf“, sagte er nach einer kurzen Stille. „Es ist so, als wenn einem ein Name auf der Zunge liegt. Man weiß ihn, aber man kann ihn nicht sagen. Da ist irgend etwas, aber ich komme nicht ganz heran. Es ist zum Verrücktwerden ... deshalb denke ich einfach nicht darüber nach.“
„Versuche es, Ari. Wir müssen herausfinden, was da vor sich geht. Hat es irgend etwas mit Rogers Gruppe zu tun ... oder der Studentenbewegung ... mit dem Sturz der Mauer, dem Zusammenbruch des Kommunismus ? “
Er starrte befremdet auf den Boden. „Es ist komisch. Manchmal beschleicht mich so ein Gefühl — es kommt von irgendwo tief in meinem Inneren ... dann ist es wieder verschwunden — daß diese ganze Sache, die ich seit 25 Jahren leidenschaftlich verfolge, nicht meine eigene Idee ist, sondern die eines anderen. Es steckt noch mehr dahinter, irgendein anderes Ziel.“
„Das paßt!“ rief Nicole aus. „Du bist für eine besondere Mission auserwählt worden. Aber von wem ... und worum geht es?“
Ari nahm ihre Hand. Seine Augen flehten sie an. „Glaubst du, daß ich meinen Verstand verliere? Es klingt verrückt. Vielleicht bin ich überarbeitet... nicht genug Schlaf... eine fixe Idee, die mich so lange vorangetrieben hat, daß ich ...“
„Du bist vollkommen normal!“ unterbrach ihn Nicole sehr bestimmt. „Du solltest nie wieder so etwas denken. Besonders intelligente Menschen haben seltsame Erlebnisse. Carl Jung hatte Erscheinungen aus der,Geisterwelt’. Er hatte sogar seinen eigenen ,Geistführer’. Philemon hat er ihn genannt. Er sagte, er sei sein Guru, genauso real wie ein Mensch. Er ging mit ihm im Garten auf und ab und unterhielt sich mit ihm ...“
„So schlimm bin ich nicht dran — noch nicht!“ lachte Ari. „Das ist ja direkt erleichternd.“
„In gewisser Weise ähneln sich eure Fälle“, sagte Nicole nachdenklich. „Aber das, was mit dir geschieht, ist subtiler ..
„Vielleicht ist irgend etwas mit meinem Kopf nicht ganz in Ordnung.
Du hast ja selbst zugegeben, daß wir vieles über das Gehirn noch nicht wissen.“
Nicole streckte die Hand aus und schob das wirre, feuchte Haar aus seiner Stirn. „Liebster, niemand macht etwas mit deinem Gehirn — sie sind hinter deinem Verstand her.“
„Gehirn ... Verstand ... ein Spiel mit Worten.“
„Ari, ich habe schon einmal versucht, dir das zu erklären“, behante Nicole. „Das Gehirn ist physisch; der Verstand ist es nicht. Um das Gehirn zu beeinflussen, muß man physische Mittel — wie Drogen oder Elektroschocks — anwenden. Niemand tut so etwas mit dir.“
„Ach ja? Wie wäre es mit einer Art Radiowellen auf niedriger Frequenz ... oder Magnetströmen, die in unsere Wohnung gestrahlt werden ... wie sie der KGB auf ausländische Botschaften in Moskau richtet?“
„Vergiß es. Das würde auch auf mich wirken — und ich habe keine Alpträume ... oder sehe ihn. “
„Aber was geschieht denn dann? Irgend jemand tut irgend etwas mit mir!“
„Genau das versuchen wir herauszufinden. Aber sie bearbeiten nicht dein Gehirn, sondern deinen Verstand. Niemand tut dir heimlich Drogen ins Essen ... oder richtet Mikrowellen auf dich. Und selbst wenn es so wäre, würde dich das nicht programmieren, bestimmte Dinge zu tun.“
„Bestimmte Dinge?“
„Ja. Die Gedanken, die du bekommst, die Worte, die du auf deutsch gemurmelt hast ... Initiation, höhere Bewußtseinsebene, auserwählt, besondere Mission .. . weisen alle auf ein bestimmtes Ziel hin. Um all das in dich hineinzuprogrammieren, ist ein Verstand nötig.“
„Du meinst also, irgend jemand versucht so eine Art Gedankenkontrolle bei mir durchzuführen ... per TelepathieI“
„Das wäre eine Möglichkeit. Wir wissen, daß ein Verstand mit einem anderen kommunizieren kann — ganz gleich, wie weit sie voneinander entfernt sind. Das ist in Versuchen, die um die halbe Welt gingen, demonstriert worden. Einige amerikanische Astronauten haben telepathische Botschaften zurück auf die Erde geschickt, während sie den Mond umkreisten ... mit recht gutem Erfolg.“
„Aber Gedankenkontrolle aus der Ferne — ist das schon gemacht worden?“
„Ohne jede Frage. Es gibt eine Menge experimenteller Daten. Der KGB beschäftigt sich seit Jahren damit und der CIA ebenfalls. Und
hier, bei uns in Frankreich, geschieht dasselbe. Bei der Hypnose übt eine Person mit hörbaren Befehlen Kontrolle über eine andere aus. Aus diesem Grund würde ich dir empfehlen, die Finger von Hypnose zu lassen. Aber es spricht nichts dagegen, warum so etwas nicht auch telepathisch passieren sollte.“
Ari gestikulierte hilflos. „Ich glaube, das ist doch ein bißchen zu verrückt. Irgend etwas geschieht mit meinem Gehirn. Es muß einfach so sein ...“
„Hör mal, Ari.“ Nicole verzweifelte allmählich. „Dein Gehirn ist eine physische Ansammlung von Masse in deinem Schädel. Es kann auf physische Weise beeinflußt werden — durch Trauma, Drogen, elektromagnetische Wellen. Aber das würde nicht dazu führen, daß du bestimmte Gedanken denkst oder bestimmte Dinge tust. Kein physischer Einfluß kann dir ganz bestimmte Gedanken vermitteln — nicht einmal eine Elektrode, die dein Gehirn untersucht, während dein Schädel geöffnet auf einem Operationstisch liegt. Damit das geschieht, muß ein Verstand mitwirken.“ Sie wartete, um ihre Worte wirken zu lassen.
„Ich will nicht störrisch sein“, verteidigte sich Ari, „du bist der Gehirnchirurg. Und trotzdem weichst du dem Offensichtlichen aus — daß es eine Fehlfunktion in meinem Gehirn gibt. Elektrische Ströme, chemische Reaktion ... auf diese Weise denkt doch das Gehirn, oder? Könnte da nicht etwas aus dem Gleichgewicht geraten sein?“
„Das Gehirn denkt nicht, Ari.“
„Einen Moment mal ...!“
„Das Gehirn ist wie ein Computer. Es tut nur, was ihm gesagt wird.“
„Niki ... das ist nun wirklich verrückt!“
„Dann sage mir doch bitte ... wie entscheidet eine Gehirnzelle, worüber sie nachdenken wird?“
„Ich nehme an, auf Grund einer Art von Stimulus. Das setzt den elektrischen Strom in Gang ...“
„Das kannst du doch nicht im Emst meinen! Ein Stimulus kann einfache Reaktionen auslösen ... aber keine komplexen Gedanken. Glaubst du tatsächlich, daß ein ,Stimulus’ einen elektrischen Strom ausgelöst hat, der mir gesagt hat, daß ich diesen Satz sagen soll? Und wenn es so wäre, woher bekäme der elektrische Strom in meinem Gehirn diese Gedanken? Hat er sie sich selbst ausgedacht? Also wirklich, Ari!“
„Aber glaubt nicht jeder, daß das Gehirn denkt?“
„Nur weil es jeder glaubt, muß eine Sache noch nicht wahr sein. Ich bin der Neurochirurg, und ich sage dir, daß das Gehirn nicht denkt. Der Verstand denkt und benutzt dafür das Gehirn wie einen Computer, um den Körper zu kontrollieren.“
Ari konnte nicht anders — er mußte lächeln. „Ich habe mein Grundstudium in Physik gemacht, weißt du. Mir wurde beigebracht, daß es außer Materie nichts gibt... daß man alles mit physikalischen Begriffen erklären kann — elektrischen Strom, Proteinmoleküle, chemische Reaktionen.“
„Noch so ein weitverbreiteter Irrtum“, unterbrach ihn Nicole. „Man kann moralische Konzepte, die Vorstellung von Gerechtigkeit und Wahrheit nicht als chemische Reaktionen im Gehirn erklären!“ Ari schüttelte den Kopf. „Was du mir da sagst, ist faszinierend — daß ein Verstand nicht physisch ist. Es muß also eine nicht-physische Dimension des Universums geben — was auch immer das bedeuten mag!“
„Es muß so sein. Und du hast recht, wir wissen nicht, was das bedeutet.“
„Genau dasselbe hat er mir vor 25 Jahren in Ost-Berlin gesagt — und ich habe ihn für verrückt gehalten.“
„Er hat dir das gesagt?“
„Genau. Er sagte, daß ich ein ,Gefangener der physischen Dimension’ sei und ihn nicht verstünde ... aber daß ich eines Tages verstehen würde.“
„Ich halte uns nicht unbedingt für Gefangene — aber es gibt etwas, was über das Physische hinausgeht, soviel ist sicher.“
„Das ist revolutionär!“
„Vielleicht für einen Physiker, aber nicht für einen Neurochirurgen.“ „Das erinnert mich an das Buch von diesem CIA-Agenten“, sagte Ari nachdenklich. „Er sagt, der CIA habe Kontakt mit nichtmenschlichen Intelligenzen, die nicht einmal einen Körper haben. Robert Jastrow und einige Astronomen sagen dasselbe, aber ich habe sie nie ernst genommen. Jetzt hast du mich dazu gezwungen — und der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht.“
„Ich fühle mich auch nicht wohl dabei“, bekannte Nicole. „Aber ich weiß, daß es den Verstand gibt und daß er nicht materiell ist. Und ich kann es beweisen.“
„Fang an.“
„Also gut. Du kämpfst voller Hingabe für Gleichheit und Gerechtigkeit. Das sind abstrakte ethische Konzepte ohne physische Eigen-
schäften. Also können sie nicht durch eine physische Handlung deines Gehirns entstehen ... oder?“
Ari dachte kurz nach und schüttelte seinen Kopf. „Ein nicht-physisches Konzept wie Wahrheit ... ich sehe keine Möglichkeit, wie es durch physikalische Anreize einer Gehirnzelle entstehen könnte. Es wäre einfach nicht möglich.“
„Genau. Das können wir also schon mal festhalten.“
„Sprich weiter.“
„Du würdest doch sicherlich nicht glauben, daß deine Entschlossenheit, die Welt vom Marxismus und von seiner schrecklichen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu befreien, nur deshalb existiert, weil irgendein elektrischer Strom in deinem Gehirn dich so denken läßt.“
„Das akzeptiere ich inzwischen.“
„Also gibt es eine geistliche Dimension der menschlichen Erfahrung ... ob du das nun magst oder nicht. Du kannst eine Wertschätzung der Kunst oder philosophische Konzepte wie Wahrheit oder Gut und Böse nicht mit elektrischem Strom und chemischen Reaktionen in deinem Gehirn erklären.“
„Das hast du bereits bewiesen. Ich bin überzeugt. Aber telepathische Kontrolle der Gedanken sagte Ari nachdenklich und skeptisch, „wie sollte das gehen?“
„Einfluß — nicht Kontrolle. Völlige Kontrolle würde dich zu einem Zombie machen, und es wäre offensichtlich. Jemand versucht, deinen Willen zu brechen ... bestimmte Gedanken in dich einzupflanzen, damit du bestimmte Dinge tust... um dich für irgendeine,Mission’ zu gebrauchen.“
„Meinst du wirklich?“
Nicole nickte ernst. „Ich denke, daß es keine andere Möglichkeit gibt, um die Tatsachen zu erklären. Ich würde mit Sicherheit nicht auf Grund dessen, was ich letzte Nacht gesehen habe und was du mir erzählt hast, an deinem Gehirn herumoperieren.“
Sie standen sich schweigend gegenüber, sahen einander mitfühlend an und hielten sich bei den Händen. „Da ist doch noch irgend etwas anderes, was dich bedrückt“, sagte Ari endlich.
„Wir können nicht behaupten, daß Menschen die einzigen intelligenten Wesen im Universum sind“, gab Nicole düster zu. „Es muß da draußen noch andere Intelligenzen geben. Und Jastrow könnte recht haben — einige von ihnen haben vielleicht keinen Körper. So wie jene Wesen, die religiöse Menschen als ,Geister’ bezeichnen.“
Nicole schwieg einen Moment lang, dachte über diesen Gedanken
nach und fuhr dann fort: „Und angenommen, eine dieser Intelligenzen ... aus einer nichtphysischen Dimension — einer Dimension, die sich vielleicht direkt neben diesem physischen Universum befindet — angenommen, dieses Wesen, oder wie auch immer man es nennen will, versucht, Gedanken in deinen Verstand einzupflanzen ... damit es dich für irgendeinen Zweck benutzen kann?“
„Genau das sagt das Buch! Und Roger hat es verächtlich abgetan. Der CIA hat mit Sicherheit damit zu tun. Roger lügt mich an. Er weiß, was vor sich geht.“
„Mach dir keine Gedanken wegen des CIA“, sagte Nicole ernst. „Es gibt eine viel schlimmere Möglichkeit als das ... eine andere Dimension ... und das ist erschreckend.“
Aris Augen funkelten wütend. „So, sie haben also einen Auftrag für mich, ja? Nun, ich habe meine eigene Mission zu erfüllen! Liebes, ich ertrinke in Schweiß ... und ich muß zur Vorlesung.“ Er drückte kurz Nicoles Hand und ging zur Dusche.
15. Die Entwicklung eines Terroristen?
Ari schluckte den Rest seines Orangensaftes hinunter und nahm den Hörer des Küchentelefons gleich beim ersten Klingeln ab. Es war noch vor 7.00 Uhr und Nicole durfte nicht gestört werden. Eine Notoperation hatte sie bis 2.00 Uhr morgens im Krankenhaus festgehalten. Sie war erst kurz vor 3.00 Uhr zu Hause gewesen und hatte völlig erschöpft ausgesehen.
„Hallo“, sagte er mit tiefer Stimme.
„Professor Müller? Hier ist Abdul. Es tut mir leid, daß ich so früh anrufe
„Das ist in Ordnung. Ich war schon auf.“
„Ich bin seit einer halben Stunde aus Israel zurück. Ich muß Sie unbedingt sehen.“
„Ist es so dringend?“
„Es ist sehr dringend.“
„Mmmm ... ich wollte gerade raus zum Joggen. Wir können uns bei den Tuilerien treffen — am westlichen Springbrunnen — in etwa einer halben Stunde. Ja?“
„Ich werde da sein.“
Axis elf Kilometer lange Jogging-Route führte direkt auf die schmale Rue de L’Abbe mit ihrem Kopfsteinpflaster hinunter, über den breiten baumgesäumten Boul’Mich und über die vom Tau feuchten Wiesen des Jardin du Luxembourg. Nachdem er den Park wieder verlassen hatte, lief er die Rue de Seine hinunter, vorbei an den geschlossenen Läden und kleinen Restaurants, überquerte den Fluß bei der Pont Royal und betrat den fast völlig menschenleeren Jardin des Tuileries an der südöstlichen Ecke. Als er sich den westlichen Springbrunnen näherte, konnte er Abdul sehen, der bereits dort war und in deutlicher Erregung auf und ab ging.
„Haben Sie die Nachrichten aus China gehört?“ rief Abdul aus, während Ari zu ihm hinüberlief.
Ari nickte und holte keuchend Luft.
„Sie haben Hunderte von Studenten niedergemetzelt. Die Anführer sind untergetaucht und es läuft eine große Suchaktion, um sie aufzuspüren.“
„Ich will ja nicht sagen,... daß ich es dir gesagt habe“, bemerkte Ari zwischen zwei tiefen Atemzügen.
„Vor zwei Tagen sah es noch so gut aus“, jammerte Abdul. „Dreitau-
send Studenten waren im Hungerstreik ... eine Million Menschen gesellten sich auf dem Tiananmen-Platz zu ihnen. Weitere Tausende umringten mehrere Kilometer weiter weg die Panzer und Truppen, so daß sie nicht zu den Demonstranten konnten. Wie könnte eine friedliche Demonstration größer oder besser sein? Aber es hat nicht funktioniert.“
„Okay, hör’ zu, was ich gestern nacht direkt aus China erfahren habe“, erklärte An. „Die Armee wollte nicht gegen die Studenten kämpfen. Beinahe hätte es eine militärische Meuterei gegeben. Deshalb haben sie Einheiten aus der Mongolei hereingebracht. Sie sprachen nicht die Sprache von Bei-jing, wußten nichts von den Tausenden von Arbeitern, die die Studenten mit Streiks unterstützten. Sie haben diesen Truppen gesagt, die Menschen auf dem Tiananmen-Platz hätten eine unheilbare, ansteckende Krankheit.“
„Deshalb also dieses Blutbad. Die Soldaten haben diese Studenten mit Maschinengewehren medergemäht... sie haben sie wie Ungeziefer mit ihren Panzern zerquetscht!“ Abdul erstickte an seinen Worten.
„Es war unbeschreiblich schrecklich. Aber du hast dich nicht mit mir getroffen, um mir das zu erzählen.“
„Nein. Aber das hat mir gezeigt, daß Gewaltlosigkeit nicht funktioniert ... und das hat meine Entscheidung endgültig gemacht.“
„Ich verabscheue das Massaker genauso wie du“, erwiderte Ari leise, „aber das beweist es absolut nicht.“
„Ich denke doch .. . für mich beweist es das!“ Abdul spuckte seine Enttäuschung geradezu aus.
Die rosefarbene Morgensonne setzte gerade die Spitzen der großen Bäume, die die breite Promenade quer durch das Herz der Tuilerien säumten, in Flammen. Hinter Abdul bohrte sich der hochaufragende Obelisk des Place de la Concorde in den sanftblauen Himmel — und weit in der Ferne türmte sich der massive Are de Triomphe wie eine geisterhafte Gestalt in den Dunst des frühen Morgens.
Ari war wie betäubt von dem Schmerz des Augenblicks. Er sah nichts von der Schönheit, die vor ihm lag. Statt dessen sah er Hunderte von toten Leibern und Tausende von schreienden jungen Männern und Frauen, die vor dem Angriff der mongolischen Truppen flohen. Aus dem Grauen starrten ihn die Gesichter chinesischer Leiter an, die an der Sorbonne seine Studenten gewesen waren. Sie waren junge Idealisten, die er angeworben und ausgebildet und mit denen er jahrelang zusammengearbeitet hatte ... und die ihm sehr lieb geworden waren. Klagten sie ihn nun an? Würde er je einen von ihnen Wiedersehen?
„Ich mußte Ihnen meine Entscheidung mitteilen.“ Abduls Worte brachten Ari wieder in die Gegenwart zurück. „Ich bin fertig damit... absolut. Gewaltlosigkeit funktioniert nicht.“
„Einen Moment mal!“ Ari legte eine Hand auf Abduls Schulter. „Der Tiananmen-Platz ist kein Beweis dafür! Ich sagte, daß es ein Massaker werden würde. Der Zeitpunkt war vollkommen falsch.“
„Der richtige Zeitpunkt wird niemals kommen. Eine bewaffnete Revolution ist der einzige Weg.“
„Das kannst du doch nicht ernst meinen.“
„Todernst!“ Abdul ballte eine Hand zur Faust und erhob sie über seinen Kopf. „Wenn die Studenten bewaffnet gewesen wären, hätten sie kämpfen und die Bedingungen des Kampfes selbst bestimmen können ... und dann würde jetzt immer noch in ganz China gekämpft werden.“
„Nein, nein! Das hätte das Gemetzel nur noch schlimmer gemacht. Denk nach, Abdul. Denk nach! Woher sollten Zivilisten die Waffen nehmen, um eine moderne Armee zu bekämpfen? Wie sollte man die Waffen einschmuggeln, Tausende von Guerillas ausbilden? Es würde Milliarden kosten! Es ist unmöglich.“
„Es ist nicht unmöglich.“
„Natürlich ist es das. Die Zeit der bewaffneten Revolutionen ist vorbei. Es gibt einen besseren Weg ... und es wird funktionieren. Wenn ich das nicht glauben würde ... hätte ich dich nicht um deine Mitarbeit gebeten.“
„Ich klage Sie nicht an. Ich wollte nur wissen ...“
„Erzähle mir ... wie war die Reise?“
„Ich bin dem Plan gefolgt. Ich habe in Damaskus angefangen, dann Beirut und andere Teile Syriens, Jordanien und Ägypten — hauptsächlich Kairo und Alexandria. Schließlich ganz Israel. Aber die meiste Zeit über war ich im besetzten Palästina.“
„Wirklich? Warum hast du dort soviel Zeit verbracht? Das ist ein sehr kleiner Teil des Mittleren Ostens.“
Abdul sah zur Seite, um Aris Blick auszuweichen. „Es ist solch ein Krisenherd ... ich dachte, er brauchte besondere Aufmerksamkeit.“ „Vielleicht hast du recht“, stimmte Ari erst einmal zu. Aber er war dennoch enttäuscht. „Irgendwelche größeren Schwierigkeiten?“ „Nein. Ich glaube, ich habe gute Arbeit geleistet — die Hauptziele sind erreicht worden. Ich sollte bis morgen mit dem Schreiben des Berichts fertig sein.“
„Gut. Ich freue mich schon darauf, ihn zu lesen.“
„Ein komischer Verein, für den Sie mich da haben arbeiten lassen.“ „Wieso das?“
„Das waren vielleicht Geheimniskrämer! Ich habe einige der Nummern angerufen, die Sie mir gegeben haben, und niemand hat irgendeine Frage beantwortet. Sie haben mir nicht einmal eine Anschrift anvertraut, wohin ich meinen Bericht schicken sollte. Sie sagten, ich soll Ihnen alles geben — und Sie würden es ihnen schicken.“
„Ich kann nachempfinden, wie du dich fühlst“, sagte Ari verständnisvoll, „aber sie müssen ihre Aktivitäten geheimhalten — und du warst gerade erst dazugekommen. Das ist doch nur vernünftig, oder?“
Abdul nickte widerwillig. „Ja, bis zu einem gewissen Maße ... aber sie gingen etwas zu weit... als ob sie ein internationaler Spionagering wären.“
„Vielleicht ein unnötiger Verfolgungswahn.“ Ari zuckte mit den Schultern. „Um in diesem Geschäft zu arbeiten, braucht man ein gewisses Maß davon — aber ich weiß wirklich nicht, wie sie Vorgehen. Was hat die Untersuchung ergeben?“
Abdul holte tief Luft. „Abgesehen von Israel wird die Organisation im Mittleren Osten nicht gebraucht. Und da würde sie nicht viel aus-richten. Mit Worten kann man die Juden nicht aus besetzten Gebieten vertreiben. Dafür wird Gewalt nötig sein, Hilfe von außen ... totaler Krieg.“
„War das das Ergebnis der Untersuchung ... oder dein persönliches Empfinden?“
„Nun, die Untersuchung hat das ergeben, was Sie erwartet haben. Tausende von Universitätsstudenten in jedem arabischen Land sind mit ihren Regierungen unzufrieden.“
„Sie wollen Demokratie?“
Abdul wich der Frage und auch Aris Blick aus. „Die einfachen Leute wollen eine Rückkehr zum islamischen Fundamentalismus.“
„Woher weißt du das? Ich dachte, du hättest nur Studenten befragt.“ „Die Zeitungen berichten ständig darüber ..: über die Wende zurück zum Fundamentalismus.“
„Aber deine Untersuchung hat diesen Gedanken nicht unterstützt“, erinnerte ihn Ari.
„Meine Untersuchung war auf Universitätsstudenten beschränkt.“ „Sie sind weitaus besser informiert als andere Teile der Gesellschaft. Offensichtlich hängt der Unterschied in der Stimmung vom Grad der Ausbildung ab ... und von der Propaganda, mit der Leute vollgestopft
werden. Ungebildete Araber wissen nicht, daß das islamische Gesetz der Demokratie und wahrer Freiheit im Wege steht.“
„Ich bin anderer Meinung.“ Abdul fühlte sich immer unbehaglicher.
„Du verschließt die Augen von dem Offensichtlichen.“
„Das tue ich nicht. Wir haben etwa 10.000 vollkommen zufällig ausgesuchte Studenten in sieben Ländern interviewt... und ich berichte Ihnen nur die Tatsachen. Sie waren beinahe einstimmig der Meinung, daß die Existenz Israels die wirkliche Bedrohung des Friedens im Mittleren Osten darstellt.“
„Das kannst du doch nicht ernst meinen! Das sollen intelligente Universitätsstudenten glauben?“
„Warum nicht? Es ist wahr.“
„Abdul! Die arabischen Nationen bekämpfen sich gegenseitig ... und sie tun es im Namen Allahs! Du kannst nicht Israel die Schuld dafür in die Schuhe schieben.“
„Ich glaube an Allah. Gepriesen sei sein Name“, erwiderte Abdul. „Israel ist das Problem im Mittleren Osten. Es besetzt Gebiete, die den Palästinensern gehören. Natürlich erzeugt das Spannungen, die die Araber sogar dazu bringen, sich untereinander zu streiten. Bevor diese Situation nicht bereinigt ist, wird dort unten auch nichts anderes funktionieren.“
„Ich verabscheue den Zionismus“ antwortete Ari. „Und ich bin den Palästinensern wohlgesonnen. Aber Israel kann gar nicht so wichtig sein. Es ist eines der kleinsten Länder der Welt — gerade eben ein Fleck auf der Landkarte. Und die Palästinenser stellen nur einen Bruchteil der arabischen Welt dar. Es gibt Probleme von weltweitem Ausmaß, die man anpacken muß. Israel und Palästina können warten ...“
„Bei allem Respekt, den ich für Sie empfinde — und ich habe Sie als meinen Professor und Mentor bewundert —, aber das ist nicht richtig. Dieses Thema ist von zentraler Bedeutung für alles andere. Israel ist ein ... ein Krebsgeschwür im Mittleren Osten. Es muß vernichtet werden. Wer diesen Gedanken ablehnt, kann in der arabischen Welt nichts ausrichten. Die Untersuchung belegt, daß es nur eine Sache gibt, für die sich alle arabischen Studenten einsetzen werden.“
„Die Vernichtung Israels?“
„Gerechtigkeit für die unterdrückten Völker von Palästina!“
„Du weichst meiner Frage aus. Meinen die Araber nicht mit dieser Redewendung die Vernichtung Israels?“
„Es gibt keine andere Lösung.“
„Und das meinen arabische Führer, wenn sie von ,Frieden’ sprechen?“
Abduls Gesicht verfinsterte sich und seine Augen blitzten zornig. „Israel hat Greueltaten an den Palästinensern begangen. Man kann sich nicht vorstellen, wie schlimm es ist, bis man es selbst gesehen hat. Ich habe beinahe den Verstand verloren ... besonders, als ich in Israel mit den Palästinensern selbst sprach. Ich habe ihnen versprochen, daß ich für ihre Sache kämpfen werde. Was konnte ich anders tun?“
„Was meinst du damit, ,für ihre Sache kämpfen’? Mit Waffen? Willst du zivile Ziele angreifen, wie sie es tun? Ein Terrorist werden?“
„Sie können es meinetwegen Terrorismus nennen ... aber es ist Krieg.“
„Ich bin schockiert, Abdul! Hör mal, ich verteidige Israel nicht. Aber unsere Gerechtigkeit muß unvoreingenommen sein. Weltweiter Terrorismus .. . unschuldige Zivilisten, die keinerlei Beziehung zu dem Problem der Palästinenser haben, angreifen oder als Geiseln nehmen .... das nennst du Krieg?“
„Ja. Es ist Krieg —und wir werden ihn gewinnen!“ Abdul gab keinen Deut nach.
„Seit wann sind unschuldige Zivilisten das Hauptangriffsziel in einem Krieg? Der größte Teil des Terrorismus in der Welt wird von Moslems dirigiert ... und im Namen Allahs. Bereitet dir das keine Probleme?“
„Sie sind dazu getrieben worden“, beharrte Abdul, „von israelischen Grausamkeiten . .. mit Bulldozern haben sie ihre Häuser dem Erdboden gleich gemacht, wenn sie mit der Sache der Palästinenser sympathisierten ... sie haben ihre Führer des Landes verwiesen ... alles in bewußter Mißachtung ihrer grundlegenden Rechte.“ Abdul warf die Hände in die Luft. „Sie verstehen mich einfach nicht.“
„Nun, ich versuche es“, murmelte Ari, „und du bist nicht gerade gut im Erklären
„Israel ist der Schlüssel. Wenn man sich um dieses Krebsgeschwür kümmert, wird alles andere gut werden.“
„Das ist zu simpel, Abdul. Ich bin enttäuscht von dir. Wenn dieses deine Dissertation wäre, würde ich mich schämen, dein Doktorvater zu sein.“
„Ich wollte nicht diskutieren“, sagte Abdul defensiv. „Ich wollte Ihnen nur meine Entscheidung mitteilen. Wenn ich den Bericht fertig habe, werde ich Sie anrufen und ihn zu Ihnen bringen ... mit allen
Umfrageformularen und einer kompletten Abrechnung aller Ausgaben. Es sind ungefähr 3.000 Dollar übrig.“
Als Ari wieder zu Hause war und geduscht hatte, war Nicole gerade in der Küche. Sie hörte die Nachrichten, während sie Baguette in Scheiben schnitt, mit Butter bestrich und den Frühstückskaffee kochte. Das harte Durchgreifen des Militärs, das Massaker auf dem Tiananmen-Platz, die Rückkehr zum Polizeistaat, der Rückschlag für die Menschenrechte in China — von jedem Sender plärrte die düstere Aufzählung der Ereignisse.
Die Welt reagierte sofort. Aber es war eine ohnmächtige Reaktion. Auf schockierten Unglauben folgte Wut, und dann wurde von Rache und von Sanktionen gegen dem despotischen Regime gesprochen. Gerede ohne Aktionen. Jeder wußte, daß man nichts tun würde — nicht gegen China.
„Furchtbar“, klagte Ari müde, als er sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen ließ.
Nicole stellte das Radio aus und brachte Ari eine Tasse Kaffee. Sie stellte sich hinter ihn, legte ihre Arme um ihn, beugte sich hinunter und küßte ihn auf die Wange. Ihr langes Haar fiel nach unten und streichelte ihm sanft über Gesicht und Hals. Er zog sie für einen weiteren Kuß hinunter, diesmal auf die Lippen. Wie sehr er diese Frau doch liebte!
„Du hast ein Massaker vorausgesagt“, sagte sie traurig. „Es wird dich also nicht überraschen.“
„Es überrascht mich nicht ... aber es schockiert mich. Es war schlimmer als alles, was ich erwartet hatte ... und es ist noch nicht zu Ende. Sie jagen die Anführer immer noch.“ Ari beugte sich über den Tisch und stützte seinen Kopf auf die Hände. „Du kannst nicht wissen, was das für mich bedeutet, Niki.“ Seine Stimme klang erstickt. „Ich habe so viele von ihnen gekannt — sie selber angeworben. Ihnen ein Bild der Befreiung vor Augen gemalt. Sie haben mir geglaubt. Und jetzt ... Der Zeitpunkt war völlig falsch!“
„Wenn dies nicht der richtige Zeitpunkt war, warum haben sie es dann jetzt getan? Ich dachte, du hättest die Anweisungen gegeben.“
Ari ballte die Fäuste und hieb vor Enttäuschung und Wut auf den
Tisch. „Es war Rogers Gruppe ... sie haben vorschnell gehandelt. Sie haben sich eingemischt ... ein offener Bruch unserer Vereinbarung.“
„Und du konntest sie nicht aufhalten?“
Ari schüttelte langsam den Kopf. „Dieses Mal nicht. Ich hoffe, daß sie ihre Lektion gelernt haben ... aber um welchen Preis!“ Sie saßen schweigend da, während Ari versuchte, einen Schmerz zu bewältigen, der sich nicht in Worten ausdrücken Keß.
„Die gesamte Welt trauert“, sagte Nicole schließlich. „Die Nachrichten bringen nichts anderes. Jede Menge nobler Verurteilungen’ von den Politikern, aber keiner handelt. Was können sie auch tun? Es ist zum Verrücktwerden.“
Nach einer weiteren langen Stille fragte Nicole: „Hat das Laufen Spaß gemacht?“
„Ich habe mich mit Abdul in den Tmlerien getroffen. Er hatte heute früh angerufen.“
„Ich dachte, ich hätte das Telefon gehört. Er ist also wieder da. Wie ist sein erster Auftrag gelaufen?“
„Es war sein erster — und sein letzter. Er will nicht mehr für die Organisation arbeiten.“
„Warum?“
„Er sagt, er sei von der Gewaltlosigkeit enttäuscht. Ich habe das Gefühl, er hat sich irgendeiner Terroristengruppe angeschlossen, schämt sich aber, es mir zu sagen. Er hat es nur angedeutet.“
„Das kann ich nicht glauben! Ich kenne Abdul zu gut. Er ist lieb ... und sanft.“
„Im Augenblick klingt er nicht so.“ Ari schob seinen Stuhl dicht neben Nicole und strich ihr nachdenklich über das Haar. „Ich kann nachempfinden, wie er sich fühlt. Mir ging es genauso. Vielleicht kannst du mit Abdul reden. Er hält sehr viel von dir.“
„Von dir auch, Liebling.“ Sie sah ihn bewundernd an. Ihre Blicke trafen sich, und ohne Worte drückten sie sich gegenseitig die tiefe Liebe aus, die sie füreinander empfanden. Ari beugte sich vor und küßte sie erneut leicht auf die Lippen.
„Ich könnte nicht ohne dich leben!“ flüsterte er.
„Oh, ich glaube, du könntest“, neckte sie ihn. „Aber ich könnte nicht ohne dich leben!“
„Es ist nicht gerade leicht, mit mir auszukommen ... ich weiß das“, bekannte Ari. „Aber ist dir eigentlich klar, daß wir uns in all diesen Jahren noch nie gestritten haben? Eine ganz schöne Leistung, hm?“
Nicole lächelte. „Worüber sollten wir uns streiten?“ Ihre Blicke spra-
chen Bände — Wertschätzung, Bewunderung, Hingabe, Liebe in ihrer reinsten Form. „Zurück zu Abdul“, beharrte sie. „Ich werde ihn anru-fen, sobald ich heute eine freie Minute habe, und einen Termin ausmachen, wo wir beide uns noch mal zusammensetzen können. Ich kenne ihn zu gut, um das ernst zu nehmen. Ich glaube, er ist einfach nur entmutigt ... und das, mein Liebling, bist du auch“, fügte sie sanft hinzu. „Was kami ich tun, um dir zu helfen?“
„Sei einfach ... hier. Immer.“ Ari suchte nach Worten. Er nahm sie in die Arme und klammerte sich an sie. „Wenn du mich jemals verlassen solltest ...“
Nicole hielt ihn fest. „Niemals! Du würdest mich nicht loswerden, selbst wenn du es versuchen solltest.“
16. Anschuldigungen und Verleugnungen
Es war ein glühend heißer Spätnachmittag im Juli, allerdings ohne den üblichen Dunstschleier und Smog. Trotz der anhaltend drückenden Schwüle nach einem kurzen Gewitter, das am Vormittag über Paris hinweggezogen war, hatte man beinahe unbegrenzte Sicht unter einem strahlend blauen Himmel. Ein endloser Strom von Fußgängern — hauptsächlich eifrige Touristen — eilte über die Pont Alexandre III. Sie unterhielten sich lautstark in den verschiedensten Sprachen, riefen bewundernd aus, wie herrlich die Architektur dieser beliebten Verbindung zwischen den beiden Ufern der Seine mit ihren Säulengängen doch sei und blieben hier und dort stehen, um von diesem strategischen Aussichtspunkt aus ihre Kameras auf alle möglichen Ziele zu richten. Die beiden Gestalten, die fast in der Mitte der Brücke etwas abseits standen und zurückhaltend miteinander diskutierten, paßten irgendwie nicht ins Bild.
„Es ist der helle Wahnsinn, sich in aller Öffentlichkeit zu treffen!“ Rogers Stimme krächzte vor unterdrücktem Ärger.
Ari starrte ihn kühl an. „Ich habe dir vertraut ... all diese Jahre.“
„Und ich habe dir vertraut — wo liegt jetzt plötzlich das Problem?“
Ari sah erbittert aus. Er lehnte sich an das niedrige Metallgeländer der Brücke und sah sein Gegenüber genau an. Roger, der sich hinter einer dunklen Brille versteckte, wirkte angespannt. Er sah auf das langsam fließende Wasser hinunter, ohne es wahrzunehmen. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und liefen ihm abwechselnd das Gesicht hinunter oder in den Nacken, wo sie seinen Kragen durchnäßten.
„Es hat mich viel Zeit und sehr viel Mühe gekostet, die Wahrheit herauszufinden“, fuhr Ari gelassen fort und beobachtete dabei Roger sehr genau. Wegen der Sonne mußte er die Augen zusammenkneifen.
Bei dieser Andeutung erschien ein krampfhaftes, nervöses Zucken in einem von Rogers Mundwinkeln. Er tupfte sich das Gesicht und die Brauen mit einem bereits feuchten Taschentuch ab. „Wir haben uns jahrelang in Taxis getroffen“, erwiderte er schließlich und überging bewußt die versteckte Anschuldigung in dieser Bemerkung. „Warum diese plötzliche Abneigung?“
„Ich habe eine schreckliche Phobie gegenüber Taxis entwickelt. Man weiß niemals, wer der Fahrer sein könnte — oder wo er vielleicht plötzlich hinfahren will.“ Ari wählte seine Worte sorgfältig. „Ein Mensch könnte verschwinden
„Diese Andeutung gefällt mir nicht! Und das, nachdem wir so viele Jahre zusammengearbeitet haben! Ich kann es nicht glauben!“
„Es ist nicht so, daß ich dir nicht vertrauen würde. Es geht um die Leute, für die du arbeitest... und ich weiß, daß du Anweisungen zu befolgen hast.“
Einen Moment lang funkelten Rogers Augen vor Wut. Erst wollte er leidenschaftlich leugnen, zügelte sich aber dann und sagte mit gezwungener Ruhe: „Komm, laß uns von dieser Brücke herunter und in den Schatten gehen. Ich sterbe hier oben. Und der Fluß stinkt heute — nach dem Regen.“
Ari rührte sich nicht. „Was wird passieren, wenn das Komitee herausfindet, für wen du wirklich arbeitest? Soll ich es ihnen sagen?“
„Ich weiß nicht, wovon du redest ... und ich mag diese ständigen versteckten Andeutungen nicht!“
„Dann will ich mich deutlicher ausdrücken. Dein wirklicher Boß hat sein Büro in Langley ...“
„Langley?“ unterbrach ihn Roger. „Du beschuldigst mich, für den CIA zu arbeiten?“
Ari nickte und sah ihn kühl an. „Ganz recht.“
Roger lief vor Wut rot an. „Du hast zu viele Spionagegeschichten gelesen“, tobte er. „Du leidest unter Verfolgungswahn!“
Aris Augen zogen sich zusammen, und ein dünnes Lächeln spielte auf seinen Lippen. „Sicherlich. Und wir sind nur ein paar Touristen, die hier draußen sind, um Fotos zu machen. Was hättest du denn gern? Die beiden Türme von Notre Dame hinter dir? Oder wie wäre es mit dem Motiv da drüben, links von dir, der Kuppel des Hotel des Invalides, wo Napoleon bestattet wurde? Paris le magnifique!“
„Schluß jetzt!“ sagte Roger wütend. „Ich hätte nicht erwartet, daß du nach allem, was in China passiert ist, auch noch Scherze machst.“
„Scherze?“ Aris Gesichtsausdruck wurde hart. „Du glaubst, ich scherzeilch habe einige meiner besten Freunde verloren. Wie zum Beispiel Wang Weilin. Er ist einer ganzen Panzerkolonne entgegengetreten und hat sie zum Stillstand gebracht. Diesen unerschrockenen Mut hat ein 19jähriger aufgebracht! Und diese Gangster haben ihn umgebracht.“ Jetzt war Aris Gesicht dicht vor Rogers. „Ich hatte dich gewarnt ...!-“
Roger trat zurück. „Und ich habe dem Komitee genau berichtet, was du gesagt hast.“
„Aber diese sturen Idioten sind bei ihren eigenen Plänen geblieben.“
Roger zuckte mit den Schultern. „Es war eine Meinungsfrage — und wir hatten Unrecht.“
„Ein Massaker!“ gab Ari zurück. „Das gesamte Programm in China ist um mindestens fünf, wenn nicht sogar um zehn Jahre zurückgeworfen worden!“
„Es hätte auch anders laufen können“, argumentierte Roger ohne viel Elan. Er wich Aris bohrendem Blick aus. „Die Studenten haben Tiananmen sechs Wochen lang friedlich gehalten. Niemand hätte wissen können ...“
„Ich habe es gewußt — und ich habe dir genau gesagt, was passieren würde! Wenn das Komitee auch nur noch einmal versuchen sollte, meinen Teil der Arbeit zu tun ...“
„Sie haben versucht, zu helfen“, warf Roger eilig ein. „Sie hatten einen guten Mann.. Die Studenten sind ihm gefolgt ...“
„Ja, in ihre Gräber! Beinahe alle Führer, die ich ausgebildet habe!“
Ari wandte sich ab und starrte schweigend vor sich hin. Seine Augen folgten einem voll besetzten Touristenschiff, das sich näherte und dann unter der Brücke verschwand. Seine Lautsprecher bläkten laut die Beschreibungen aller in Sichtweite befindlichen Gebäude und deren geschichtlichen Hintergrund hinaus. „Osteuropa ist beinahe so weit“, sagte er schließlich und wandte sich wieder zu Roger um. „Sage Lang-ley, daß sie ihre Nasen da raushalten sollen!“
Roger trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Langley hat nichts damit zu tun. Also vergiß das. Woher hast du diese verrückten Ideen?“
„Du weißt, daß ich weiß, wovon ich rede. Also, geh zurück und sage deinen Bossen — in Paris und in Washington —, daß ich beim ersten Anzeichen einer Einmischung die ganze Sache abblasen werde. Und das meine ich ernst!“
Roger antwortete nicht. Er wischte sich wieder über Gesicht und Nacken und starrte hinunter auf die Seine, die langsam unter ihnen dahinfloß.
„Gorbatschow und der Papst ... sie sind der Schlüssel“, fuhr Ari nach einem weiteren langen und unbehaglichen Schweigen fort. „Richtig!“
Rogers einzige Antwort bestand dann, mit den Achseln zu zucken und sich weiter sinnlos den Nacken und die Brauen mit dem feuchten Tuch abzutupfen.
„Ich werde es noch klarer sagen“, beharrte An. „Die Ungarn haben im vergangenen Mai den Stacheldraht an der Grenze zu Österreich
durchgeschnitten. Die Bürger der DDR strömen über Ungarn in den Westen — mit Gorbis Segen. Er hat mit Bush und dem Papst einen Handel gemacht. Er mußte es tun. Johannes Paul II. hat Polen total in der Hand. Wir wissen beide, daß Gorbatschow die Berliner Mauer öffnen wird ... und danach wird er den Kommunismus in der Sowjetunion erledigen. Richtig?“
„Du träumst!“ antwortete Roger nervös. „Woher hast du solche phantastischen Ideen?“
„Phantastische Ideen?“ lachte Ari. „Hör auf, zu bluffen.“
„Du bist derjenige, der blufft.“
„Wirklich? Ich weiß alles — einschließlich der Dinge, die Bush nicht weiß. Ich kenne die ganze miese Korruption. Die Spur beginnt in Pakistan und führt über ein Netzwerk von Banken in mehr als 70 Ländern, wobei die Vatikanbank sorgsam gemieden wird. Bald wird sich die ganze Sache wie ein überlaufender Abwasserkanal in die Straßen von Washington ergießen und in die Keller des Kongresses, des CIA und des Weißen Hauses fließen ...“
„Wovon redest du?“
„Du weißt genau, wovon ich rede — ich spreche von internationalem Betrug in einer Größenordnung, von der man bisher nicht einmal geträumt hat. Bestechung, Korruption, Waffenschiebereien, Drogenschmuggel, Terrorismus ... alles finanziert von einer Kette von Banken, die Gelder in Höhe von mehreren Milliarden wäscht. Ich kenne die Einzelheiten von Drogengeschäften, Noriegas Rolle dabei, die Rolle des CIA ... und was für ein Rolle du dabei spielst ...“
„Du bist verrückt!“
„Jetzt hör mir mal genau zu“, sagte Ari unbewegt und legte seinen Finger auf Rogers Brust. „Falls mir... oder irgendeinem meiner Leute ... rein zufällig etwas zustoßen sollte... nun, sagen wir mal... ein unglücklicher Unfall... würde das eine Flut von peinlichen Informationen auslösen, deren Auswirkungen von Washington bis Moskau reichen würden ...“
Roger war außer sich vor Wut. „Du hast doch nicht etwa Spione im ...?“ Er schloß rasch seinen Mund und versuchte, seine Wut unter Kontrolle zu bringen.
„Wo wir uns nun also endlich verstehen“, sagte Ari, „laß uns fortfahren. Ich war bei einer exklusiven Zusammenkunft von Akademikern, die sich letzte Woche mit Gorbatschow an der Sorbonne getroffen haben. Was er sagte, hat mir gefallen. Offenbar arbeitet er mit Washington und dem Vatikan zusammen. Aber laß dich davon nicht täu-
sehen. Es wird nicht laufen, wenn nicht Millionen auf die Straßen gehen ... und es wird auch nicht ohne mich zustande kommen. Ist das klar?“
„Ich habe keine Zeit“, schnauzte ihn Roger an, „mir wilde Spekulationen anzuhören. Sicher, Gorbatschow und der Papst sind Freunde. Und das ist gut so. Das hat den Kalten Krieg beendet. Aber jeder von ihnen tut das, was für die Menschen, die er repräsentiert, das Beste ist ...“
„Ich dachte, der Papst repräsentiere Gott. Wie paßt das zusam-men?
„Worauf willst du hinaus?“
„Die Neue Weltordnung, von der sie reden ... wer entscheidet über die Einzelheiten?“
„Ich dachte, wir arbeiten alle dafür.“
„Das dachte ich auch. Aber in letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob wir vielleicht unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was das bedeutet.“
„Du solltest dir keine weiteren Gedanken darüber machen“, erwiderte Roger besänftigend.
„Oh, ich werde noch sehr viel darüber nachdenken — und zwar sehr sorgfältig. Darauf kannst du dich verlassen.“
Wieder gab es ein langes, angespanntes Schweigen. Schließlich sprach Ari weiter: „Ich bin bereit, in Osteuropa an allen Fronten loszuschlagen. Die Studenten werden unruhig. Werden uns deine Leute auf den höchsten Ebenen den Rücken decken — oder werden sie uns unserem Schicksal überlassen?“
Roger sah sich verstohlen um, zog einen dicken Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und steckte ihn Axi rasch zu. „Es ist diesmal doppelt soviel wie sonst. Du wirst jede Hilfe erhalten, die du brauchst. Ich werde mich wieder melden.“ Er wandte sich abrupt ab und ging über die Brücke in Richtung Grand Palais.
Ari blieb noch einige Augenblicke stehen und beobachtete Roger, bis er in der Ferne verschwand. Dann richtete er seine Augen auf die aufwendige Steinfassade des Hotels des Invalides auf der anderen Seite der breiten Promenade. Mit einem flüchtigen Lächeln erinnerte er sich daran, daß in jenem riesigen Militärmuseum die Andenken an Napoleons verheerenden Rückzug aus Moskau im Jahre 1812 ruhten. Jener historische Zusammenbruch hatte zum Untergang des imperialistischen Frankreich geführt. Erst vergangene Woche hatte Gorbatschow bei einem Treffen mit Präsident Mitterrand begeistert die Partnerschaft
zwischen der UdSSR und Frankreich gelobt. Die Geschichte wurde auf den Kopf gestellt.
Sein Lächeln wurde breiter. Der Marxismus hatte Rußland zum Schrecken der Welt gemacht. Und jetzt, endlich, hatte sich das Blatt gewendet. Die Solidarität, die sieben Jahre lang verboten, aber dann vom Papst gerettet und unterstützt worden war, hatte erst kürzlich beinahe jeden Sitz in Polens Senat und Unterhaus gewonnen. Und was war die Solidarität? Eine Organisation von Arbeitern — also genau das Proletariat, das Marx und Engels im Kommunistischen Manifest ermutigt hatte, sich zu vereinigen. In der Tat, sie hatten sich vereinigt... um den Marxismus selbst zu stürzen! Was für eine Ironie.
Der Kreis hat sich geschlossen! Überall in Osteuropa werden die kommunistischen Unterdrücker hinweggefegt werden,.. sogar in der Sowjetunion, wo der Alptraum begann. China wird irgendwann folgen müssen.
17. Opium des Volkes
Ari nutzte die Sommerferien — und sein neues Übereinkommen mit Roger — und verbrachte die nächsten zwei Monate mit Reisen. Wie gern wäre er zurück nach China gegangen und hätte die wenigen Führer aufgesucht, von denen er wußte, daß sie die Säuberungsaktion überstanden hatten! Aber damit würde er sie nur in Gefahr bringen. Er ließ ihnen durch noch funktionierende Kanäle Geld zukommen. Im Moment konnte er sonst nichts weiter tun, um ihnen zu helfen. Die dunkle Nacht der Unterdrückung hatte sich wieder auf China gelegt. Das gesamte Land befand sich im Griff einer schrecklichen Angst, die an die schlimmsten Perioden von Maos Schreckensherrschaft erinnerte. Es war noch viel zu früh, um auch nur daran zu denken, die einzelnen Teile der zerschmetterten Organisation aufzulesen und wieder von vorn anzufangen. Obwohl es vor wenigen Monaten so vielversprechend ausgesehen hatte, war die Zähmung des Drachens jetzt zu einem aussichtslosen Unterfangen geworden.
Osteuropa dagegen sah von Tag zu Tag aufregender aus. Als Ari durch den Checkpoint Charlie nach Ost-Berlin ging, konnte er direkt unter der Oberfläche die mächtigen Strömungen der Veränderung spüren. Die DDR war wie ein Damm kurz vor dem Bersten. Das gleiche galt für die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und sogar die Sowjetunion. Die einzigen Ausnahmen waren Albanien, Bulgarien und Rumänien, wo die Hardliner die Menschen immer noch in ihrem eisernen Griff hielten. Albanien war zu winzig und isoliert, und es war zu schwierig, dort zu arbeiten. Es würde folgen, wenn die anderen kommunistischen Regime fielen. Auch Bulgarien würde nachziehen.
Rumänien war Aris große Sorge. Ceausescu schlug eine immer härtere Linie gegen die Reformwoge ein, die überall um ihn herum anschwoll und drohte, aus den Nachbarländern in sein eigenes Land überzuschwappen. Es war abzusehen, daß seine Zeit bald ablaufen würde. Diktatoren, die so viele Jahre lang unangefochten geherrscht hatten, wußten plötzlich, daß ihre Tage gezählt waren und wurden nachgiebiger. Sie hofften, damit die immer lauter werdenden Forderungen nach mehr Freiheit, die von ihren einst unterwürfigen Untertanen kamen, beschwichtigen zu können. Ceausescu dagegen war wie ein wilder Hund. Wenn er schon untergehen sollte, wollte er das ganze Land mit sich in den Abgrund reißen.
„Nicht so hastig“, warnte Ari seine Studentenführer in Bukarest und
Timisoara. „Drängt Ceausescu nicht. Seine Männer werden euch ohne mit der Wimper zu zucken erschießen. Laßt es erst in der DDR, Polen, Ungarn, überall um euch herum geschehen ... und dann wird eure Gelegenheit kommen.“
Es war nicht einfach für sie, diese Weisheit anzunehmen, jetzt, wo die Chance ihres Lebens in Reichweite zu sein schien. Die Studentenführer in Rumänien waren euphorisch, so wie auch die anderen Leiter in der ganzen kommunistischen Welt, mit denen sich Ari heimlich während dieser zwei aufregenden Monate im Sommer 1989 traf. Selbst die Luft, die man einatmete, war mit Freiheit geschwängert, und Ari merkte, wie er trotz seiner Vorsicht, die er nach so vielen Enttäuschungen der vergangenen Jahre entwickelte hatte, von dem unwiderstehlichen Gefühl des Optimismus mitgerissen wurde. Diesmal würde es geschehen. Der Traum, für den er so hart gearbeitet hatte, würde bald Wirklichkeit werden und nichts, absolut nichts konnte es verhindern. Endlich war es soweit!
Als Ari nach Paris zurückkehrte, um während des Wintersemesters zu unterrichten, war es ihm fast unmöglich, seine Erregung zu unterdrücken und seine Gedanken auf seine Vorlesungen zu konzentrieren. „So habe ich mich noch nie gefühlt!“ sagte er Niki beim Frühstück am ersten Morgen nach seiner Rückkehr. „Ich hatte befürchtet, das Fiasko in China würde es überall schwieriger machen und alles verzögern — aber genau das Gegenteil ist der Fall. Osteuropa haben wir in der Tasche. Und zwar komplett.“
„Einschließlich der Sowjetunion?“ fragte sie skeptisch. „Die Rote Armee und der KGB ... und diese Gangster im Kreml... sie werden nicht auf den Rücken fallen und sich tot stellen.“
„Das ist ja gerade so unglaublich.“ Ari schüttelte staunend den Kopf. Er stand auf und begann, auf und ab zu gehen, wobei er wild gestikulierte. „Gorbatschow hat die Kommunistische Partei unterminiert, hat alles vorbereitet, um den Warschauer Pakt aufzulösen, hat geheime Absprachen mit dem Westen getroffen — und die Führung im Kreml trottet wie eine Hammelherde hinter ihm her! Seit zwei Jahren redet er von einem ,Vereinten Europa, vom Atlantik bis zum Ural’. Niemand im Westen hat ihn ernst genommen — niemand, außer Bush und dem Papst. Und jetzt, urplötzlich, reden sie alle so wie er.“
„Ja, und ganz besonders der Papst“, fügte Nicole nachdenklich hinzu. „Genau diese Formulierung hat er erst gestern in einer großen Rede in Deutschland gebraucht. Es ist ganz groß auf der Titelseite der Le Monde erschienen.“
„Ich hoffe, du hast den Artikel aufgehoben.“
„Er liegt dort.“ Sie deutete zu einem Stapel von Papieren am anderen Ende des Tisches hinüber.
„Der Papst! Irgend etwas verstehe ich daran nicht“, grübelte Ari. „Meine Mutter war Katholikin. Ich habe ihre Religion nie ernst genommen. Ein Haufen abergläubischer Quatsch. Sie hatte es ganz besonders mit ,der Jungfrau Maria’ — ,unserer guten Frau’ von hier und dort, besonders von Fatima ...“
„,Unsere gute Frau von Fatima’ hat dem Papst 1981 bei jenem Attentatsversuch angeblich das Leben gerettet“, grübelte Niki. „Sie erschien ihm während seiner Genesungszeit, gab ihm einen Auftrag und versprach ihm ein wundersames Zeichen, aufgrund dessen sich die ganze Welt vor seiner Autorität verneigen würde.“
Ari lehnte sich gegen die Küchenanrichte und lachte. „Dieses Zeug drucken sie in den Zeitungen, und die Leute glauben es?“
„Irgend jemand muß es glauben. Ich habe einen ganzen Stoß Artikel für dich aufgehoben, alle über diese Fatima, und ich habe keinen einzigen Leserbrief gesehen, der sich darüber lustig gemacht hätte. Das versuchte Attentat auf den Papst geschah am Jahrestag der ersten Erscheinung in Fatima, und Johannes Paul ist mehrere Male dorthin zurückgekehrt, um ,unserer guten Frau’ zu danken. Er hat sogar die ganze Welt ihrem ,Unbefleckten Herzen’ geweiht. Sie hat versprochen, Rußland zu bekehren und der Welt den Frieden zu bringen, wenn der Papst das täte.“
„Dies ist das 20. Jahrhundert, nicht das Mittelalter!“ gab Ari zurück. Nicole nickte und lächelte. „Der Meinung bin ich auch. Aber lies die Artikel. Es ist nicht nur Fatima. Die Jungfrau’ ist in der ganzen Welt erschienen, und an einigen Orten erscheint sie täglich. Sie ist direkt hier — in Paris — erschienen. Ferner in Medjugorje, in Jugoslawien, in New York, auf den Philippinen ... beinahe überall. Und 900 Millionen Katholiken nehmen das sehr ernst.“
Ari begann wieder, erregt hin- und herzuwandern. „Erst waren es Reagan und der Papst . .. und jetzt Bush und Gorbatschow und der Papst“, murmelte er mehr für sich selbst als für Nicole. „Ich habe immer gemeint, es sei ein rem politisches Arrangement... aber offensichtlich geht es um mehr. Dieser Aberglaube mit der Jungfrau’ ... das paßt zu dieser ganzen Frauenrechtssache und der Anbetung von Göttinnen. Es spricht sogar Leute an, die nicht religiös sind.“ „Unterschätze die Macht der Religion nicht“, meinte Niki. Sie dachte angestrengt nach. „Nimm zum Beispiel die ,Schwarze Jung-
frau’ von Tschenstochau in Polen. Ich habe als junges Mädchen viel von ihr reden hören. Es gibt einen riesigen Reliquienschrein, der von Millionen von Pilgern besucht wird. Die Polen haben ihr seit 600 Jahren als ihrer ,Schutzheiligen’ vertraut. Der Papst ist ihr ergeben.“ Ari kam zurück und setzte sich wieder Niki gegenüber an den Tisch. Er wirkte beunruhigt. „Wie kämpft man gegen Aberglauben? In Polen sind die Katholiken der Hauptfaktor. Alle meine Führer sind Katholiken. Die Solidarität ist sogar eine katholische Organisation. Ich fange an, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen — und es ist äußerst beunruhigend!“
„Die Anziehungskraft der Religion ist ein weltweites Phänomen“, fügte Niki hinzu. „Laut den Zeitungsartikeln, die ich für dich aufgehoben habe, sind Milliarden von Menschen in aller Welt Dutzenden von Jungfrauen’ ergeben. Fatima ist die bekannteste, aber es gibt auch die Jungfrau von Lourdes’, von Guadalupe, von Medjugorje ... die Liste ist endlos. Es gibt eine ,Schwarze Jungfrau’ in Brasilien, von der ich noch nie gehört hatte, und die von Millionen angebetet wird.“ „Niki, das hier ist ein starker Machtfaktor, den ich übersehen habe!“ Ari ballte seine Fäuste und seine Augen spiegelten ein neues und verzweifeltes Verständnis wieder. „Der Kommunismus hätte die Religion ausrotten sollen — aber die Religion war zu stark. Das ist Macht! Ist es das, was hinter Gorbatschows seltsamen Aktionen steht? Es gibt Gerüchte, daß er den Papst besuchen will... und daß Moskau wieder diplomatische Beziehungen mit Rom aufnehmen wird.“
Er stand auf und begann wieder, auf und ab zu gehen. „Ich weiß nicht, was für ein Abkommen sie getroffen haben ... aber zwischen Bush, Gorbatschow und dem Papst ist irgend etwas im Gange. Der Papst ist einer der Hauptakteure in dieser Sache — und bis heute ist mir das nie klar geworden! Wie konnte ich das so lange übersehen?“ „Ich bin als Katholikin erzogen worden.“ Nicole starrte abwesend aus dem Küchenfenster auf den winzigen Platz hinunter. Längst vergessene Erinnerungen stiegen in ihr auf. „Ich habe es gehaßt. Und meinem Vater ging es genauso. Aber meine Mutter machte weiter mit — aus Angst, nehme ich an. Das sagte mein Pa jedenfalls immer. Kurz bevor er starb, rief er den Priester. Ich werde niemals vergessen, wie er sich am Ende verändert hat. Er wollte den gesamten religiösen Trip — alles. Und das von der Kirche, die er verachtete!“
„Das ist unglaublich!“ rief Ari aus. „Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, den Kommunismus zu vernichten — und die ganze Zeit, direkt vor meiner Nase, gab es etwas, das sogar noch stärker und
genauso autoritär ist! Ich habe Religion nie ernst genommen ... habe sie für einen Aberglauben für Leichtgläubige gehalten. Aber sie ist mächtig! Und ich habe gerade erkannt — wahrscheinlich zu spät —, daß sie noch ernsthafte Probleme verursachen wird.“
„Ich habe da einen Gedanken, der dir wahrscheinlich nützen könnte“, rief Niki aus. „Wenn du die örtlichen Priester und Bischöfe auf deine Seite bekommen könntest — wow! Das wäre eine gute Strategie.“
Ari lächelte zufrieden. „Das haben wir bereits getan, wo immer wir konnten. In Polen ist die katholische Kirche der Hauptfaktor gewesen. Ohne sie wären wir nicht weit gekommen. Aber wenn der Kommunismus fällt, wird die Kirche stärker denn je sein.“ Auf seinem Gesicht erschien wieder der besorgte Ausdruck. „Habe ich all die Jahre gearbeitet, nur, um uns wieder ins Mittelalter zurückzuversetzen?“
„Ich glaube, jetzt übertreibst du“, erwiderte Nicole. „Die Kirche hat es schon immer gegeben ... und sie hat gern mit jedem zusammengearbeitet, der gerade die Macht hatte.“
„Zusammengearbeitet? Nur, wenn sie mußte. Die Römisch-Katholische Kirche hat geherrscht... hat Herrscher gekrönt und abgesetzt.“ Ari lehnte sich gegen die Anrichte und starrte eine Weile schweigend an die Decke, ohne irgend etwas wahrzunehmen. Er war tief in Gedanken versunken. „Religion!“ grübelte er schließlich halblaut. „Wer hätte je gedacht, daß sich das ,Opium des Volkes’ als stärker erweisen würde als der Marxismus! Wird es am Ende die ganze Welt versklaven? Was für eine Vorstellung!“
„Ari, reiß dich zusammen“, schalt Nicole. „Jetzt wirst du wirklich ein wenig melodramatisch, oder?“
„Ich wünschte, du hättest recht, aber ich fürchte, es ist nicht so. Ich habe mein ganzes Leben einer Sache gewidmet, und plötzlich erkenne ich, daß es zu einer Katastrophe führen könnte. Werden wir den Kommunismus vernichten ... nur, um dann zuzusehen, wie der Katholizismus an seine Stelle tritt? Ist es das, worauf wir zusteuern? Ich bin blind gewesen!“
„Da fällt mir ein — wenn du dir Sorgen wegen des Katholizismus machst... was ist mit dem Islam? Das sind auch 900 Millionen. Abdul ist extrem religiös geworden, während du weg warst. Ich habe versucht, mit ihm zu argumentieren, aber es ist, als rede man mit einem programmierten Roboter. Ich konnte nichts erreichen.“
„Das beunruhigt mich. Er war immer ein Moslem ... aber kein ernsthafter. Ich hatte gehofft, er würde seinen Standpunkt abschwä-
chen. Aber es sieht so aus, als habe er sich auf seiner Reise in den Mittleren Osten für den islamischen Fundamentalismus begeistert. Ich brauche ihn, um jenen Teil der Welt zu öffnen.“
„Du sagtest mir, er habe abgelehnt.“
„Er war sehr gefühlsbetont an jenem Morgen. Solche Gefühle vergehen, wenn der Verstand schließlich wieder einsetzt. Abdul ist brillant. Viel zu klug, um zuzulassen, daß seine Gefühle seinen Kopf beherrschen.“
„Wenn du glaubst, er sei vor zwei Monaten gefühlsbetont gewesen, solltest du sehen, was passiert ist, während du weg warst. Er ist ein Fanatiker geworden. Er spricht nur noch von ,Unterordnung unter Allah’. Das ist die Neue Weltordnung, von der er träumt... eine globale Machtübernahme der Moslems.“
Ari versuchte drei Tage lang, Abdul zu erreichen. Als dieser endlich zurückrief, wich er ihm offensichtlich aus. Es war deutlich zu merken, daß irgend etwas nicht stimmte. Als sie sich ein paar Tage später in einem kleinen Cafe trafen, wurde klar, wo das Problem lag. Abdul wollte sich nicht einmal für einen Drink mit Ari zusammensetzen. Seine Gestik und jedes seiner Worte verrieten, daß er sehr nervös war.
„Die Fakultät sagt mir, sie könnten dich nicht mehr erreichen“, schalt Ari. „Ich habe ein paar Beziehungen spielen lassen müssen, um deine neue Geheimnummer zu bekommen. Und dann wolltest du mich nicht sehen. Was ist los?“
Abdul lehnte sich dicht zu Ari hinüber und sagte halb flüsternd: „Ich glaube, mein neues Telefon wird abgehört. Manchmal werde ich beschattet.“
„Wer sollte so etwas tun?“
„Der Mossad. Die Israelis verdächtigen mich.“
„Weshalb?“
„Vergessen Sie es. Normalerweise hätte ich mich nicht einmal einen Augenblick lang mit Ihnen getroffen. Aber Sie sind mein Mentor gewesen. Ich respektiere ... und liebe Sie ... und besonders Niki. Aber wir dürfen keinen Kontakt mehr miteinander haben.“
„Du hast dich doch nicht der PLO angeschlossen?!“
Abdul sah zur Seite und gab keine Antwort.
„Abdul! Das ist nicht der richtige Weg!“
Abdul schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Versuchen Sie nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen ... bitte. Es könnte mich in Gefahr bringen.“ Er wandte sich ab, um zu gehen.
Ari sprang auf und trat neben ihn. „Was ist mit Niki? Sie ist wie deine Schwester gewesen. Wird sie dich jemals Wiedersehen? Das kannst du doch nicht machen, Abdul! Ich ertrage es nicht, das mitansehen zu müssen.“
„Ich ... ich werde versuchen, mit Niki zu sprechen.“ Seine Stimme war jetzt ein rauhes Flüstern. In seinen Augen standen Tränen. „Ich möchte sie gern sehen und es ihr erklären ... und mich von ihr verabschieden.“ Rasch wandte er sich ab und suchte sich einen Weg durch die dicht gestellten Tische draußen auf dem Bürgersteig. Ohne noch einmal zurückzusehen, verschwand er in der Nacht.
18. Euphorie und Verzweiflung
„Das Essen war phantastisch“, rief Ari aus, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und schob seinen Stuhl zurück. Er stand auf und wollte Nicoles Teller nehmen. „Komm, ich helfe dir ein bißchen.“ „Setzt dich sofort wieder hin“, befahl sie, und sagte dann mit einem spitzbübischen Blick: „Ich habe eine Überraschung für dich.“
„Soll ich die Augen schließen?“
„Wenn du willst.“ Sie ging zum Kühlschrank und holte eine Schwarzwälder Kirschtorte heraus — seine Lieblingstorte. Sie schnitt ein großes Stück ab, stellte es vor Ari auf den Tisch und setzte sich mit einem strahlenden Lächeln.
„Willst du keine?“
„Nein. Ich mache Diät.“
„Seit wann?“
„Seit ein paar Wochen. Ich habe mich dazu entschlossen, während du weg warst.“
„Hast du die nur für mich gemacht? Gibt es einen besonderen Anlaß?“
„Nur ein Willkommensgruß — damit du weißt, wie sehr du mir gefehlt hast. Sie kommt eine Woche zu spät, aber bis heute hatte ich keine Zeit, sie zu backen.“
„Das hättest du nicht tun sollen!“ rief Ari aus.
„Na, dann ißt du sie eben nicht.“
„Sehr witzig.“ Er schlug bereits kräftig zu. „Mmm, wunderbar!“ Als auch der letzte Krümel hinuntergeschluckt war, lehnte sich Ari zurück und seufzte zufrieden. „Niki, du bist so aufmerksam. Ständig tust du irgend etwas Besonderes für mich ... trotz deines hektischen Alltags als Arzt. Wo sollte ich je eine andere Frau finden, die so ist wie du?“
„Du solltest besser gar nicht erst suchen gehen!“
Ari streckte seine Hand aus und ergriff Nicoles Hände. „Wie wäre es mit einem Spaziergang? Nach diesem Essen könnte ich es brauchen. Außerdem ist es ein herrlicher Abend.“
„Großartig! Ich ziehe mir nur noch meine Joggingschuhe an.“
Als sie draußen waren — weit ab von der allgegenwärtigen Gefahr von Abhöranlagen in Wänden und Autos — vertraute Ari ihr an: „Für morgen nachmittag habe ich einen besonderen Auftrag für dich. Ich hoffe, du hast nichts in der Klinik zu tun.“
„Ab drei Uhr habe ich frei. Worum geht es?“
„Du hast dir doch gestern in der Galerie Lafayette eine schwarze Handtasche gekauft, die im Sonderangebot war.“
Ja?“
„Falls du schon etwas hineingetan hast, nimm es heute abend bitte wieder heraus. Nimm sie nicht mit zur Arbeit. Wenn du nach Hause kommst, tue bitte nichts hinein. Ich werde einige sehr wichtige Unterlagen hineingesteckt haben. Dieselben, die ich an jenem besonderen Platz verwahrt habe ... du weißt schon, wo — falls mir etwas passieren sollte.“
„Das klingt sehr geheimnisvoll. Was ist los?“
„Du wirst die Unterlagen zu einer Amerikanerin bringen. Vorjahren, als ihr Vater in Paris als Pastor gearbeitet hat, war sie eine meiner Studentinnen. Sie heißt Carla Bertelli. Sie ist jetzt freiberufliche Reporterin für die Washington Post und das Wall Street Journal und hat Verbindungen zur New York Times. “
„Klingt beeindruckend. Wo kann ich sie antreffen?“
„Komm um sieben Uhr ins Cafe du Bois. Ich werde schon dort sein. Bring die Tasche mit. Meine Kontaktperson wird gegen 7.30 Uhr dort vorbeikommen und mich ,ganz zufällig’ erkennen. Sie wird an den Tisch kommen und sich zu uns setzen. Du wirst deine Tasche neben dich auf das Pflaster gestellt haben ... zu deiner Rechten. Ich werde links von dir sitzen. Soweit klar? Sie wird genau so eine schwarze Tasche haben wie du. Sie wird neben dir sitzen und ihre Tasche neben deine stellen. Wenn sie geht, wird sie deine Tasche mit den Unterlagen mitnehmen
„Wie hast du das abgesprochen?“
„Ich habe zufällig einen Bericht in der Le Monde über eine Schriftsteller-Tagung gesehen und gedacht, sie könnte möglicherweise daran teilnehmen. Ich habe einen Boten zu ihr geschickt. Später haben wir miteinander telefoniert. Es ist alles abgesprochen.“
Sie gingen an einem ihrer Lieblingsbistros im Quartier Latin vorbei. „Sieh mal“, sagte Ari. „Dort ist ein freier Tisch. Komm, setzen wir uns schnell.“
„Zwei Espresso“, rief er dem Kellner zu.
Sie saßen schweigend da, schlürften ihren Kaffee und genossen den endlosen Strom faszinierender Menschen, die vorübergingen. „Irgend etwas beschäftigt dich, Niki“, sagte Ari schließlich. „Ich merke es schon, seit ich aus Osteuropa zurückgekommen bin. Worum geht es?
Nicole zögerte. „Ich... oh Schatz ...“ Sie nahm Aris Hand und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. „Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um es dir zu sagen. Ich ... wir ... na, wir bekommen ein Baby!“
Sie war zu aufgeregt, um seinen schockierten Gesichtsausdruck zu bemerken. „Ich weiß, wir haben nichts Derartiges geplant... aber wo es nun einmal passiert ist — ist es nicht absolut wunderbar? Kurz nachdem du weg warst, habe ich es erfahren!“
Ari legte sich schockiert und ungläubig die Hand über die Augen. ^Als er sie endlich wieder ansah, war deutlich zu sehen, daß er alles andere als erfreut war. Aber wie sollte er das auf taktvolle Weise dem Mädchen neben sich mitteilen, das vor Freude außer sich war?
„Aber Liebling ...,“ begann er ernst.
Nikis Lächeln erstarrte und erstarb dann.
„Hör mal, wir müssen darüber reden. Es sind zwei Menschen nötig ... ich meine, es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt... Vielleicht später.“ Wie sollte er ihr klarmachen, daß das nicht sein durfte? „Liebling, ein wenig später wäre es wunderbar ... aber gerade jetzt... es ist unmöglich. Osteuropa steht vor riesigen Umwälzungen!“
Irgendwie war es nicht so herausgekommen, wie er es gemeint hatte. Der Ausdruck auf Nicoles Gesicht sagte ihm, daß er es arg verpfuscht hatte.
„Osteuropa?“ brachte sie schließlich mit Mühe hervor. „Ich sehe keinen Zusammenhang. Diese Entschuldigung ist ziemlich weit hergeholt ...“
„Es ist der, hmm ... Zeitpunkt“ stotterte er. „In den nächsten paar Monaten wird so viel geschehen ... ich werde deine Unterstützung mehr denn je brauchen.“ Oh weh, da hatte er schon wieder ins Fettnäpfchen getreten. Wie sollte er es nur ausdrücken?
„Aber Liebling“, erwiderte Nicole sanft und mit einem Zittern in ihrer Stimme, „was den Zeitpunkt angeht... weißt du, es ist schon beinahe zu spät für dich. Ich wollte das eigentlich nicht sagen ...“
„Dies ist einfach der schlechteste Zeitpunkt, den man sich denken kann.“ Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie entzog ihm ihre Hände. „Ich liebe dich, Schatz ...“
„In anderen Worten, es paßt dir im Moment nicht!“
„Ganz so habe ich es nicht gemeint ...“
„Ich habe auch eine Karriere, weißt du ... Aber ich würde niemals zulassen, daß sie einer so wichtigen Sache im Wege steht ... einer Sache, die uns beiden so viel bedeuten sollte.“
„Es würde sehr viel für mich bedeuten, wenn wir es geplant hätten ..
„Willst du mir sagen, ich solle eine Abtreibung vornehmen lassen? Ist es das, was du willst?“ Nicoles Augen klagten ihn an.
Ari vermied es, sie anzusehen und wählte seine Worte sehr sorgfältig. „In der Tat — ja.“ Er versuchte, ruhig und ausgesprochen logisch zu sein. „Laß uns vernünftig an die Sache herangehen, Niki. Wir dürfen uns nicht von Gefühlen leiten lassen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt ...“ Noch während er sprach, spürte Ari, daß Niki völlig anders dachte. Er wußte, wie sie reagieren würde und zuckte innerlich davor zusammen.
„Ich kann nicht glauben, was ich da höre! Da bist du unterwegs, um die Welt, die Umwelt, die Pflanzen und Tiere und die gesamte Menschheit zu retten — und willst unser Bab\> umbringen!“
„Niki, sei vernünftig. Wir sprechen hier nicht von einem Kind ... zumindest in diesem Stadium noch nicht.“
Nicole stand auf. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Tränen standen in ihren Augen. Verzweifelt sprang Ari auf und ergriff ihren Arm. „Bitte, Niki! Laß uns darüber reden“, bat er.
„Ich glaube, wir haben genug geredet. Ich verstehe sehr gut.“ Sie machte sich von ihm los, rannte über die Straße und verschwand in der Menge. An war verwirrt und müde. Er starrte voll Sehnsucht und Hilflosigkeit auf die Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hatte.
Ari sank auf seinen Stuhl zurück. Er sah verlegen um sich und winkte dem Kellner, die Rechnung zu bringen. Nicole würde sich wieder beruhigen. Es würde eine Weile dauern, aber wenn sie wieder zurück in die Wohnung käme, würden sie alles klären.
Sie war Realistin. Es würde eine schwere Entscheidung werden, aber sie mußte einsehen, daß es jetzt einfach nicht paßte. Ein andermal ja, aber nicht jetzt.
Nach ihrem überstürzten Aufbruch verlangsamte Nicole schon bald ihren Schritt. Sie hatten sich noch nie gestritten. In all den Jahren, die sie zusammengelebt hatten, war nichts Derartiges passiert. Wie konnte er, der Vater, der Mann, den sie so sehr liebte, auch nur einen Moment lang an eine Abtreibung denken! Dies war ihr gemeinsames Kind!
Natürlich würde sie sich wieder beruhigen und zu ihm zurückge-
hen. Aber jetzt noch nicht. Sie brauchte Platz. Und Zeit zum Nachdenken. Ziellos wanderte sie die Straßen entlang auf die Seine zu. Schließlich trat sie aus dem schützenden Gewirr der schmalen Straßen im Quartier Latin hinaus, um zunächst das linke Flußufer und die alte Ile de La Cite entlang dem Boulevard du Palais zu überqueren, und dann ans andere Ufer der Seine zu gelangen.
Sie mußte so viele Erinnerungen sortieren, die bitteren und die schönen. Bis zu diesem Abend hatte sie in Ari ihre einzige Sicherheit, ihre einzige Verbindung zu bedingungsloser Liebe und Annahme gefunden. Jetzt mußte sie sich einer Realität stellen, die ihr keine Wahl ließ. Hatte Aris Liebe einen Preis? Einen Preis, den sie nicht zahlen konnte? Das war ihr bisher unmöglich vorgekommen. Verzweifelt schluchzte sie laut auf.
In dem Augenblick drang eine Stimme in ihr Bewußtsein. „Man kann das Leben, das sich im Schoß einer Frau entwickelt, nicht als eine bloße physische Verbindung von Sperma und Ei erklären.“ Nicoles Gedanken wurden von der Wirkung dieser Worte getroffen. „Nein, die unglaubliche Entwicklung von Knochen und Nerven und dem Gehirn und den Trillionen von Zellen mit ihrem komplizierten Aufbau ist viel zu wunderbar, um sie als Zufall zu erklären.“
Es war, als sei sie aus einem unheilvollen Schlaf erwacht. Als sie ihren Blick vom Pflaster losriß und es wagte, aufzublicken, sah sie vor sich beim Tour St. Jacques eine kleine, aufmerksame Gruppe, die sich um jemanden versammelt hatte, den sie zwar hören, aber nicht sehen konnte. Sie ging behutsam näher, wischte sich über die Augen und strengte sich jetzt an, jedes Wort zu verstehen, während der Sprecher fortfuhr.
„Diese Tatsache allein würde schon genügen, um zu beweisen, daß wir nicht das Produkt wahllos wirkender evolutionärer Kräfte sind, sondern das Ergebnis eines so genialen Bauplanes, daß nur Gott selbst als Designer in Frage kommt. Aber es geht um viel mehr, als nur unglaublichen technischen Genius. Jeder einzelne von uns ist mehr als eine hochorganisierte Zusammenballung von Zellen. Man kann die menschliche Persönlichkeit, die Qualitäten von Liebe und Haß, den ästhetischen Genuß von Musik und Kunst, das Verständnis von Wahrheit und Gerechtigkeit, richtig und falsch nicht mit Proteinmolekülen und chemischen Reaktionen erklären. Das sind geistliche Qualitäten. Sie lassen sich nicht mit Hilfe der materiellen Zusammensetzung unseres Körpers erklären, die in sich so wunderbar ist, daß sie unseren Verstand übersteigt.“
Während sie lauschte, spürte Nicole, daß der Sprecher eine ungewöhnliche Ruhe und Zuversicht verbreitete. Sie war gefesselt von der Logik und sanften Kraft der leidenschaftlichen und doch festen Stimme. Gleichzeitig fühlte sie sich jedoch abgestoßen. Da versuchte jemand, diese Gruppe von Menschen von der Existenz Gottes zu überzeugen! Wie konnte er es wagen — und das ausgerechnet in Paris. Sie wußte, daß die überwiegende Mehrheit der Pariser so, wie sie selbst auch, intellektuell viel zu arrogant war, um an Gott zu glauben. Für einen Menschen des 20. Jahrhunderts war es undenkbar, ja geradezu unerträglich, einem „Schöpfer“ gegenüber verantwortlich zu sein.
Plin und her gerissen zwischen der Macht der Logik von dem, was gesagt wurde, und ihrem Zögern, es zu akzeptieren, begann sie, wegzugehen. „Sie werden niemals erfahren, warum sie hier auf diesem Planeten sind, bis Sie Ihren Schöpfer kennenlernen. Wenn Sie seinen Plan für Ihre Existenz verfehlen, werden Sie immer frustriert und leer sein, ganz gleich, was Sie bei Ihrer Suche nach Erfüllung ausprobieren Die Worte wurden leiser und sie beschleunigte ihren Schritt auf Grund einer seltsamen Angst vor dem, was sie vielleicht noch hören würde.
„Entschuldigen Sie bitte ...“
Überrascht, direkt hinter sich eine Stimme zu hören, wandte Nicole sich um und erblickte eine Frau, die etwa so alt war wie sie selber und sich beeilte, sie einzuholen.
„Ich habe bemerkt, daß sie geweint haben ... Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ Sie hatte eine gewinnende Güte an sich, die Nicole sofort für sie einnahm.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen ...“ Die mitfühlenden Augen ermutigten Nicole, fortzufahren: „Ich hatte gerade einen Streit mit meinem Verlobten.“
„Kann ich irgend etwas für Sie tun?“
Nicole schüttelte den Kopf. Sie schämte sich bereits, etwas gesagt zu haben. „Nein, danke. Es geht schon wieder.“
„Sie sind Dr. Lalonde, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“ fragte Nicole verwundert.
„Ich habe Sie in der Klinik gesehen.“
Nicole sah sie genauer an. „Ich habe Sie ebenfalls dort gesehen! Sind Sie eine Schwester?“
Sie nickte. „Ja, ich bin Frangoise Duclos.“
„Natürlich! Sie sind mit Dr. Pierre Duclos verheiratet... dem Chefarzt. Ist er derjenige, der dort hinten spricht?“
„Ja, wir kommen ziemlich oft hierher.“
„Deswegen kam mir die Stimme so bekannt vor!“
„Wenn Pierre und ich Ihnen irgendwie helfen können ..beharrte Frangoise.
„Was Ihr Mann da gesagt hat ... über, hmm, die Entstehung des Lebens im Mutterleib ..Nicole zögerte. „Das hat mich aufmerksam gemacht.“
„Sie sind schwanger?“
Nicole nickte. „Seit zweieinhalb Monaten. Ich muß mit jemandem reden...“ Sie begann zu weinen, fing sich aber wieder. „Ich habe Ihren Mann bewundert ...“
„Ihr Verlobter ist nicht froh, daß Sie schwanger sind?“ fragte Francoise sanft. „Will er vielleicht eine Abtreibung?“
Nicole versteifte sich. „Ich möchte lieber nicht darüber reden.“ Sie machte einen halbherzigen Schritt, um zu gehen. „Es war nett, Sie kennenzulernen. “
„Können Sie wirklich glauben, es sei Zufall, daß Sie gerade in dem Moment vorbeikamen, als mein Mann über etwas sprach, was Sie gerade so sehr beschäftigt?“ Frangoises Stimme war sanft, aber überzeugend.
Nicole spürte, wie sie plötzlich von Gefühlen übermannt wurde. Sie konnte nichts erwidern. Zufall? Vielleicht... vielleicht auch nicht.
„Wissen Sie noch, was er gesagt hat?“ fuhr Frangoise sanft fort.
„Das werde ich nie vergessen“, bekannte Nicole. Sie hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. „Nein, ich halte es nicht für Zufall. Sie sind genauso überzeugend wie Ihr Mann.“ Sie hatte größte Mühe, sich zu beherrschen. „Ich brauche wirklich jemanden, mit dem ich reden kann“, fuhr sie fort und tupfte sich die Augen.
Frangoise legte mitfühlend ihren Arm um Nicole und führte sie zu einer Bank, die in ihrer Nähe stand. „Warum setzen wir uns dann nicht einfach dort drüben hin und Sie erzählen mir, was Sie auf dem Herzen haben? Ich bin ein guter Zuhörer.“
19. Sein oder Nichtsein
Ari lag lange wach und fuhr bei jedem wirklichen oder eingebildeten Geräusch hoch. Vor seinem inneren Auge lief mit schmerzlicher Klarheit noch einmal die Katastrophe jenes Abends ab. So oft hatte er in den vergangenen Jahren das beruhigende Geräusch eines Schlüssels, der im Schloß knirschte, gehört. Es bedeutete, daß Nicole sicher von einer langen Nacht in der Klinik zurückgekehrt war. Jetzt lauschte er vergeblich. Wenn er nur mitfühlender, einfühlsamer gewesen wäre.
Schließlich schlief er irgendwann nach Mitternacht ein. Gegen 3.00 Uhr morgens wachte er plötzlich auf. Erschrocken bemerkte er, daß ihre Seite des Bettes immer noch leer war. Natürlich, sie schlief auf der Couch. Aber als er sich leise in das Wohnzimmer schlich, war es leer.
Sollte er die Polizei anrufen? Er nahm den Hörer ab, legte dann aber wieder auf. Nein, wahrscheinlich übernachtete sie bei Freunden. Sie wollte, daß er sich schuldig fühlte ... wollte ihm eine Lektion erteilen. Er hätte sich an frühere Unterhaltungen erinnern sollen ... daran, daß sie gerne ein Baby gehabt hätte, und daß er sie immer vertröstet hatte. Obwohl sie ungeplant war, bedeutete diese Schwangerschaft offenbar viel für Nicole. Er gehörte einfach nicht zu der diplomatischen Sorte. Für ihn war alles so schwarz und weiß, so offensichtlich. Aber diese Haltung war jetzt fehl am Platz, das war ihm klar. Trotzdem würde sie irgendwann erkennen, daß es weise wäre, abzutreiben. Es war vollkommen unmöglich, jetzt ein Kind zu bekommen.
Als er gegen 7.30 Uhr erwachte und aufstand, um sich zu rasieren und zu duschen, war von Nicole immer noch nichts zu sehen. Er schluckte gerade hastig schwarzen Kaffee und trockenes Baguette hinunter und überlegte trübsinnig, ob er nicht besser in der Universität Bescheid sagen sollte, daß er heute nicht unterrichten könne, als er hörte, wie sich ein Schlüssel in der Eingangstür drehte. Nicole! Sollte er ihr entgegeneilen, um sie zu begrüßen? Nein, die Qualen dieser Nacht gingen auf ihr Konto. Jetzt war sie an der Reihe, eine Erklärung abzugeben und den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
„Bist du’s, Nicole?“ rief er. Es war ihm unmöglich, seine plötzliche Erleichterung zu unterdrücken.
„Nein, nur einer der Einbrecher, die einen Schlüssel für diese Wohnung besitzen“, kam die rasche Antwort. Diese typische Reaktion war ein gutes Zeichen. Schritte näherten sich, und da stand sie in der
Küchentür. Wie übermüdet sie aussah. Als sie sich ansahen, wußte Ari, daß die Zeit die Wunde nicht geheilt hatte.
„Wo bist du gewesen?“ Aris Stimme schwankte. „Ich hätte beinahe die Polizei angerufen ...“
„Es tut mir leid. Ich hätte anrufen sollen
„Nun, mir tut es auch leid. Ich war zu schroff. Ich hätte dir Zeit zum Nachdenken lassen sollen ...“ Sobald die Worte heraus waren, wußte er, noch bevor er sah, wie sie erstarrte, daß er die Sache noch schlimmer gemacht hatte.
„Es gibt nichts nachzudenken erwiderte sie rasch. „Abtreibung ist absolut undenkbar ...“ Sie setzte sich müde an den Tisch.
„Laß uns bitte nicht gleich wieder anfangen zu streiten“, bat Ari. „Können wir nicht damit warten? Ich denke, du bist immer noch zu erregt, um die Sache logisch durchzudiskutieren.“
„Ich streite nicht“, erwiderte Nicole. Es kostete sie große Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. „Und ich bin sehr logisch. Es wird keine Diskussion geben. Punkt. Ich stelle einfach nur die schlichten Tatsachen fest. In mir wächst ein Kind heran, Ari — unser Kind mit unseren Genen. Es wird so aussehen wie wir ... wird unsere Eigenschaften haben. Ich liebe dieses Kind ... und ich werde es behalten!“
„Du willst also unbedingt deinen Willen durchsetzen ... ohne meine Gründe überhaupt anzuhören. Du bist nicht bereit, darüber zu reden ...“
Nicole stand auf. „Man kann etwas, was eindeutig falsch ist, nicht ausdiskutieren. Du sprichst von Mord!“
„Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein Mord!“ erwiderte er defensiv. „Aher laß uns das Thema erst einmal beiseite tun, ja? Später ...“ „Ah, auf diese Weise wird es also ethisch annehmbar! Selbst die Mafia vermeidet das Wort Mord. Sie reden davon, daß sie jemanden eliminieren. Du willst also nur ,meine Schwangerschaft eliminieren \ Ich habe einen anderen Namen dafür.“
. „Du hättest Rechtsanwalt werden sollen, Niki. Aber bitte, nicht jetzt. Du brauchst etwas Schlaf.“
„Ich habe ein wenig geschlafen. Zumindest soviel, daß es ausreichen wird. In vierzig Minuten muß ich in der Klinik sein. Hat irgend jemand angerufen?“
„Nein. Darf ich fragen, ... wo du die Nacht verbracht hast?“ „Nachdem ich dich verlassen hatte, traf ich ein Ehepaar aus der Klinik. Er ist Chefarzt und sie Krankenschwester. Ich brauchte unbedingt jemanden zum Reden ... und nachdem wir uns eine Weile auf der
Straße unterhalten hatten, ging ich mit ihnen nach Hause und wir setzten unsere Unterhaltung fort. Danach war es zu spät, um hierher zu kommen. Ich glaube, letzte Nacht hat sich eine Menge geklärt.“
„Eine Menge geklärt?“
„Viele Fragen, die ich seit Jahren hatte, sind beantwortet worden. Ich will das unbedingt alles mit dir besprechen, aber jetzt muß ich wirklich unter die Dusche springen und in die Klinik.“
„Nun, ich bin froh, daß du über die Dinge reden willst“, erwiderte Aid, und sein Gesicht hellte sich etwas auf. „Die letzte Nacht war eine Qual ... ich habe mir vorgestellt, wie leer meine Leben ohne dich wäre.“
Nicole stand schweigend in der Küchentür und sah Ari an. Er konnte sehen, daß in ihren Augen Tränen glitzerten. „Ich habe denselben Schmerz verspürt“, sagte sie schließlich. „Den Schmerz, jemanden zu verlieren, den ich bereits sehr liebe.“ Unbewußt hatte Niki ihre Hand auf ihren Bauch gelegt.
„Niki, laß uns sofort darüber reden!“ bat er. Er spürte, wie die Kluft zwischen ihnen breiter wurde, und das änderte seine Meinung.
„Später, Ari, wie du bereits sagtest. Bitte. Im Moment habe ich keine Zeit. Ich bin für eine Operation eingeplant.“ Sie eilte aus dem Raum.
Ari verbrachte den Tag in einem Aufruhr widerstreitender Gefühle. Würde Nicole ihn verlassen? Falls ja, wäre es unter den gegebenen Umständen absolut nicht zu rechtfertigen. Hatte sie angedeutet, daß sie darüber nachdachte? Er konnte sich nicht mehr genau an ihre Worte erinnern. Aber ihre starre Haltung schien eine Trennung anzudeuten. Diese Angst verfolgte ihn.
Mit schmerzhafter Ehrlichkeit nahm er ihre Beziehung unter die Lupe. Wenn er zurückblickte, konnte er sehen, daß er sie viel zu oft als etwas Selbstverständliches gesehen hatte. Aber war das nicht eine ganz natürliche Begleiterscheinung der perfekten Liebe und des Vertrauens, das sie füreinander empfunden hatten? Er spürte, daß die Dinge nicht ganz so einfach lagen und fühlte sich unwohl dabei. Ganz eindeutig hatte er ihr nicht so viel von sich selbst gegeben, wie sie verdient hätte. Er war von einer Leidenschaft getrieben worden, die ihm wenig Zeit
für das liebevolle Miteinander ließ, das sie sich wünschte und das er ihr wirklich geben wollte.
Sie hatte sich niemals beklagt. Mit aufwallenden Gefühlen erinnerte sich Ari an ihre ständige Bereitschaft, Verständnis für ihn zu zeigen und an ihre Ermutigungen, wenn er niedergeschlagen war. War sie jemals niedergeschlagen? Es hatte nie so ausgesehen, aber jetzt fragte er sich, ob es wirklich so war. War ihre ständige gute Laune eher ein Akt der Liebe als ein Ausdruck ihrer wahren Empfindungen? War es vielleicht möglich, daß ihre Schwangerschaft Groll hochgebracht hatte, der schon seit Monaten oder vielleicht sogar Jahren unter der Oberfläche geschmort hatte? Schuldgefühle, Rechtfertigungen und bittersüße Erinnerungen jagten in immer größer werdenden Kreisen durch Aris Gedanken.
Was war mit diesen „Freunden“, mit denen sie „alles durchgesprochen“ hatte? Wie lange kannte sie sie schon? Es kam ihm seltsam vor, daß sie sie bisher noch nie erwähnt hatte. Offenbar waren sie dafür verantwortlich, daß Nicole jetzt so seltsam dachte und handelte. Sie schien sogar irgendwie anders zu sein, aber er konnte nicht sagen, woran das lag. Sie war verwundbar gewesen, und sie hatten ihren emotionalen Zustand ausgenutzt, um ihr eine Gehirnwäsche zu verpassen.
Es tröstete ihn ein wenig zu glauben, Nikis sture Engstirnigkeit wäre durch etwas verursacht worden, das außerhalb ihrer Beziehung zueinander lag. Das war ein wichtiger Punkt, den er heute abend unbedingt erwähnen mußte. Beklommen dachte Ari an die Aufgabe, die an jenem Abend vor ihm lag. Würde Nicole ihn im Stich lassen? Bestimmt nicht. Sie würde nicht zulassen, daß persönliche Empfindungen etwas so Wichtiges verhinderten. Sie würde im Cafe sein. Aber was sollte er tun, wenn nicht?
Als Ari ankam, sah er erleichtert, daß Nicole bereits an einem Straßentisch saß, von dem man einen guten Blick auf die vorübergehenden Passanten hatte. Es war genau der richtige Platz, damit Carla ihn im Vorübergehen „zufällig“ bemerken konnte. Er sah die schwarze Handtasche zu ihrer Rechten auf dem Pflaster stehen und nahm den Stuhl links von ihr. Als er sich setzte, gab er ihr einen leichten Kuß auf die Wange. Sie duldete es, aber die Wärme fehlte. Sie hatte sein Lieb-
lingsparfum gewählt. War das ein gutes Zeichen? Emen kurzen Moment spürte er den alten Zauber, die Woge nostalgischer Erinnerungen, die mit diesem Duft verbunden waren. Aber ihre Kühle ernüchterte ihn rasch.
„Danke, daß du gekommen bist, Niki“, sagte er, als er es sich neben ihr bequem machte. Er versuchte, einen zurückhaltenden Ton anzuschlagen.
„Ich würde dich nicht im Stich lassen, Ari. Ich weiß, wie wichtig diese Sache für dich ist.“
„Es könnte eines Tages mein Leben retten .. Er ließ die geplante kleine Rede ausfallen und wechselte das Thema. „Du siehst wunderbar aus ... wie üblich.“ Wenn er doch nur eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen könnte. Es wäre falsch, sofort eine tiefschürfende Diskussion zu beginnen. Damit hatte er sie letzte Nacht vertrieben. Er würde sich hüten, noch einmal dieselben Fehler zu begehen.
An waltete, daß Niki ihm antworten würde, aber sie saß nur schweigend da, scheinbar vollkommen damit beschäftigt, die Passanten zu beobachten. Er konnte sehen, daß ihre Augen nichts wahrnahmen. Schließlich fragte er: „Bist du pünktlich in der Klinik gewesen?“
Ju a-
Nach einem weiteren ungemütlichen Schweigen nahm er einen neuen Anlauf. „Ist dort alles in Ordnung?“
„Ja ... es ist alles in Ordnung.“
Der Kellner kam und nahm der Situation für einen Moment die Peinlichkeit. Nicole bestellte wie üblich eine Suppe und Salat. „Vielleicht sollte ich dasselbe nehmen“, sagte Ari. Merkte sie nicht, was sie ihm antat?
Ein weiteres langes Schweigen folgte. Schließlich sagte Ari: „Sieh mal, Niki, es wird alles nur noch schlimmer für uns, wenn wir hier nur sitzen und nichts sagen. Und eine oberflächliche Unterhaltung wäre unehrlich
„Ich bin bereit, zu reden.“
„Nun, du sagtest, du hättest letzte Nacht einige wichtige Entscheidungen getroffen und daß du mit mir darüber reden wolltest. Können wir damit anfangen?“
„Deine Bekannte wird bald eintreffen. Sollten wir nicht besser bis nachher warten ...?“
„Ich kann nicht warten. Bitte, was geht in deinem Kopf und in deinem Herzen vor?“
„Ich fürchte, du wirst es nicht mögen, Ari.“ Sie hielt inne und suchte nach Worten.
„Ist es so schlimm?“
„Nein, eigentlich ist es gut. Ich glaube, es ist das Beste für uns beide ... zumindest auf lange Sicht gesehen.“
„Auf lange Sicht? Was ist mit jetzt? Was wirst du tun?“
„Ari... ich bin nicht mehr dieselbe Person wie gestern. Es ist schwer zu erklären. Dinge, die ich immer geglaubt habe, leuchten mir plötzlich nicht mehr ein ... und andere, starke Überzeugungen sind an ihre , Stelle getreten. Zum einen bin ich kein Atheist mehr.“
„Nun, das war ich noch nie“, erwiderte Ari. Er war erleichtert. Zumindest hatte sie nicht gleich gesagt, daß sie ihn verlassen würde. „Das ist kein Problem. Aber ich sehe nicht, was das mit unserer Situation zu tun hat.“
„Es hat etwas damit zu tun. Die Frage, ob es Gott gibt oder nicht, ist das eigentliche Problem.“
„Ich bin bereit zu sagen, daß es irgendwo dort draußen eine ,kreative Kraft’ gibt. Also fahre bitte fort ...“
„Du sagst, du seiest niemals ein Atheist gewesen, Ari. Aber du warst genausowenig bereit, dich Gott gegenüber moralisch zu verantworten, wie ich es war. Eine ,höhere Kraft’, ja. Eine ,schöpferische Kraft’, sicherlich. Aber ein persönlicher Schöpfer, der uns mit einem Ziel geschaffen hat und der die Maßstäbe der Moral und Ethik festlegt. .. hast du je an diesen Gott geglaubt?“
„Wirklich, Niki, ich glaube, das gehört nicht zur Sache „Es gehört sehr wohl zur Sache. Unsere Handlungen werden davon bestimmt, was wir für richtig oder falsch halten ... aber wer entscheidet darüber? Woher kommen Moral und Ethik? Diese Frage hat mich immer beschäftigt. Dann studierte ich Medizin und lernte, wie kompliziert der menschliche Körper gebaut ist ... selbst eine einzige lebende Zelle hat einen komplizierteren Aufbau als ganz Paris. Es ist unmöglich, daß wir ein Produkt des Zufalls sind ...“
„Das bereitet mir absolut keine Probleme“, unterbrach Ari ungeduldig.
„Nun, wären dann nicht auch Gut und Böse etwas, was Gott entworfen hat? Würde er nicht auch moralische Gesetze entwerfen, die das menschliche Verhalten bestimmen, so, wie physikalische Gesetze das materielle Universum bestimmen?“
Ari seufzte resigniert. „Ich sehe nicht, wie uns diese philosophische Diskussion weiterbringen soll.“
„Ari, das ist der Kern des Problems! Gut und Böse hängen nicht davon ab, ob uns etwas paßt oder gefällt ..
„Du willst mir also sagen, daß Gott sagt, Abtreibung sei falsch. Verstehe ich dich richtig?“
Nicole nickte. „Das ist eines der Dinge, die ich dir sagen will.“ „Und jetzt, wo du Gott auf deiner Seite hast ... bin ich wahrscheinlich zwei zu eins überstimmt. Das ist ein ziemlich starker Gegner.“
„Du mußt nicht gegen Gott kämpfen, Ari.“ Ihre Augen flehten ihn an. „Warum kommst du nicht auf seine Seite herüber?“
„Was meinst du mit seine Seite? Gestern früh warst du noch nicht auf seiner Seite! Wie kann man so rasch die Seiten wechseln?“ Aris heftige Reaktion wurde vom Kellner unterbrochen, der mit der Suppe kam.
Eine peinliche und frustrierende Hilflosigkeit überflutete Ari. Es war eine Sache, auf einem unpersönlichen Niveau über die gottähnlichen Neigungen und Fähigkeiten des Menschen zu philosophieren, theore-tisieren und zu diskutieren. Aber schutzlos und verletzlich den sehr persönlichen Fragen dieser Frau ausgesetzt zu sein, die seine Geliebte gewesen und jetzt eine völlig Fremde geworden war, schien unerträglich.
Nicoles Augen flehten Ari an. „Letzte Nacht bin ich... nun, zu dem Punkt gekommen, wo ich bereit war, meinen Stolz hinunterzuschluk-ken und die Wahrheit zuzugeben ... zuerst mir selbst gegenüber, und dann auch vor anderen.“
Ari verlor die Geduld. „Wir hatten ein Mißverständnis“, erwiderte er schroff. „Du warst verletzlich — in einem Zustand der Erregung — und hast nach einfachen Antworten gesucht.“
„Ich war in einem Zustand der Erregung“, sagte Nicole leise. „Das stimmt. Aber der Rest stimmt nicht. Ich habe echte Antworten gesucht, tiefer und ehrlicher, als ich je zuvor in meinem Leben bereit war zu finden. Und ich danke Gott, daß mich meine Sorge um das Kind in mir an diesen Punkt gebracht hat.“
„Du bist ein religiöser Fanatiker geworden, Niki. In einer einzigen Nacht! Ich kann es nicht glauben. Wir haben über die Macht religiösen Aberglaubens gesprochen ... einem Faktor, den ich vergessen und nicht in meine Gleichung eingebaut hatte ... aber ich hätte niemals gedacht, daß du darauf hereinfallen würdest.“
„Es ist nicht alles letzte Nacht geschehen. Ich habe seit Jahren mit diesen Fragen gerungen. Die letzte Nacht war der Höhepunkt... endlich fügte sich alles logisch zusammen.“
„Ich kenne niemanden, der auch nur ein wenig Intelligenz besitzt und das glaubt, was du mir gerade überstülpen willst!“
„Ich glaube nicht, daß ich unwissend oder ungebildet bin — oder dumm.“
„Ich sage auch nicht, daß du das bist. Gerade, weil du es nicht bist, kann ich nicht verstehen, wie du darauf hereinfallen konntest!“ „Nun, Ari, der Mann, der gestern nacht so überaus freundlich war, mir so viel Zeit zu widmen, wie ich brauchte, der mit mir betete und mich anhand der Bibel beriet, ist zufällig einer der besten Chirurgen der Welt. Mit Sicherheit steht er intellektuell niemandem nach, den ich kenne ... weder dir noch sonst irgend jemandem.“
Ari unterbrach sich mitten in einem Fluch. „Schon gut“, murmelte er, „nachher können wir weiterreden. Da kommt sie!“
20. „Falls mir etwas zustoßen sollte“
Ari hatte Carla in der Ferne entdeckt. Ihr langes, naturgelocktes kastanienbraunes Haar schwang bei jedem ihrer Schritte auf und ab. Diese großen Amerikaner! Sie stechen aus jeder Menschenmenge hervor. Und dieser selbstbewußte Schritt, der Blick ... Ari tat so, als sähe er sie nicht, und sie tat so, als ginge sie an ihnen vorüber. Ganz beiläufig wandte sie sich in seine Richtung, blieb scheinbar überrascht stehen und winkte.
Ari sah auf und tat so, als habe er sie vorher nicht gesehen. „Carla!“ rief er aus und sprang auf.
Die große Amerikanerin zwängte sich bis zu seinem Tisch durch, wo Ari sie zur Begrüßung umarmte.
„Ich wollte Sie anrufen, aber ich habe Ihre Nummer verloren“, rief sie aus. „Was für ein glücklicher Zufall!“
„Nicole, das ist Carla Bertelli. Nicole ist meine Verlobte. Ich glaube nicht, daß ihr euch schon kennt.“
„Sie haben sie erwähnt“, sagte Carla, „und ich habe mich schon auf diesen Moment gefreut.“
Nicole lächelte freundlich und wies auf den Stuhl neben sich. „Setzen Sie sich doch zu uns ...“
Carla warf einen Blick auf ihre Uhr und zögerte. Sie spielte ihre Rolle perfekt. „Ich bin gerade unterwegs zu einer Sitzung. Aber diese Gelegenheit ist zu gut, um sie ungenutzt zu lassen. Ich kann ruhig ein paar Minuten zu spät kommen.“ Sie setzte sich und stellte ihre schwarze Handtasche neben Nicoles.
„Möchten Sie etwas trinken?“ fragte Ari.
„Ein wenig Eistee wäre schön.“
Ari winkte den Kellner heran. „Einen Eistee für die Dame“, sagte er. „Mit Zitrone.“
„ Om, Monsieur. “
Ari wandte sich an Nicole. „Carla war meine Studentin, als ich gerade das erste Jahr an der Sorbonne unterrichtete. Das war vor beinahe 17 Jahren. Ihr Französisch war unglaublich gut ... keine Spur von diesem unschönen amerikanischen Näseln.“
„Das habe ich auch schon bemerkt“, sagte Nicole. „Perfektes Pariser Französisch!“
„Naja, ich habe als Teenager hier gelebt“, erwiderte Carla bescheiden. „Professor Müller war der beste Lehrer, den ich je hatte ...“
„Das sagt jeder Student, der jemals einen Kurs bei ihm belegt hat“, sagte Nicole stolz. „So haben wir uns kennengelernt. Ich war auch eine seiner Studentinnen — in einem einzigen Kurs. Ich nehme an, das war nach Ihrer Zeit.“
„Ungefähr zwei Jahre später“, sagte Ari mit einem verlegenen Lachen. „Diese ganzen Komplimente sind ein bißchen zu viel. Ich weiß noch genau, daß ich extrem nervös war in diesem ersten Jahr. Es war eine sehr große Ehre, zur Fakultät von Frankreichs angesehenster Universität zu gehören!“
„Sie haben mich reingelegt“, lachte Carla. „Ich dachte, Sie wären schon immer dort gewesen.“
,yoilä, Mademoiselle “ sagte der Kellner und stellte das Getränk vor ihr auf den Tisch.
„Das ging schnell“, sagte Carla mit einem Lächeln. Sie nahm einen Schluck. „Und obendrein ist es köstlich.“
„Es ist nicht gerade leicht, diese beiden Dinge hier in Paris, wo das Speisen eine zeitraubende Kunst ist, zusammen anzutreffen“, bemerkte Ari.
Nicole wandte sich an Carla. „Was hat Sie nach Paris zurückge-führt?“
„Eine Tagung für Journalisten und Schriftsteller. Heute abend findet die letzte Veranstaltung statt.“
„Wenn ich richtig verstanden habe, arbeiten Sie für mehrere Zeitungen. Haben Sie sich auf irgend etwas spezialisiert?“
„Ja, auf Parapsychologie.“
Wirklich?“Jetzt war Nicoles Interesse geweckt. „Ich nehme an, Ari — Dr. Müller ...“
„Hans Müller“, unterbrach Carla. „Woher kommt der Name Ari? Ich habe ihn nie zuvor gehört.“
„Es ist ein Kosename, den ich als Kind in Deutschland hatte“, erklärte Ari. „Nur Niki ruft mich mit diesem Namen.“
„Jedenfalls“, fuhr Nicole fort, „nehme ich an, Ari hat nicht erwähnt, daß ich meine Assistenzzeit in der Gehirnchirurgie mache ... und daß ich zunehmend an diesem Thema interessiert bin.“
„Nein, das hat er nicht erwähnt. Ich muß sagen, Ihr Spezialgebiet fasziniert mich ebenfalls. Wenn ich Ihnen helfen kann ... ich könnte Ihnen eventuell einige Artikel zuschicken
„Das wäre wunderbar.“
„Wissen Sie, inzwischen nimmt man allgemein an, daß es eine wichtige Beziehung zwischen unseren beiden Spezialgebieten gibt.“
„Ja, das ist mir bewußt. Es ist sehr freundlich von Ihnen, Ihre Hilfe anzubieten. Hat Ari Ihre Adresse?“
„Ich glaube nicht“, erwiderte Carla und griff in ihre Jackentasche. „Hier ist meine Visitenkarte. Ich würde gerne weiter in Verbindung bleiben.“
„Sie überraschen mich immer wieder, Carla! Seit wann interessieren Sie sich für übersinnliche Phänomene?“ fragte Ari erstaunt. „Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, interessierten Sie sich noch nicht dafür.“
„Eigentlich erst seit kurzer Zeit. Ich taste mich immer noch hinein. Mein ... ehern ... Ex-Freund hat mich darauf gebracht. Er ist wahrscheinlich weltweit der beste Parapsychologe. Ein unglaubliches Genie.“
„Sie meinen Ken ... Ken
„Inman.“
„Ja, Ken Inman. Ich erinnere mich, daß ich ihn in Stanford getroffen habe ... das einzige Mal, daß ich dort war. Ihr habt euch getrennt?“
„Nun, so kann man es nicht sagen. Es ist nichts Endgültiges. Wir haben uns quasi auseinandergelebt. Er arbeitet an einem streng geheimen Forschungsprojekt, das 24 Stunden am Tag seine Aufmerksamkeit verlangt. Ich glaube, wir lieben uns immer noch, aber ... nun ja“, sie blinzelte Nicole zu. „Keine Frau möchte, daß man sie für eine Selbstverständlichkeit hält.“
„Diese Klage hört man immer wieder“, pflichtete Nicole mit einem verstehenden Lächeln bei.
„Ich wollte nicht herumsitzen und warten“, fuhr Carla fort, „während Ken seiner Arbeit so leidenschaftlich nachging, daß für mich keine Zeit mehr blieb. Er schien einfach zu glauben, daß ich immer für ihn da sei, wenn er es wünschte. Also ließ ich ihn in Kalifornien und zog nach Washington D.C. um.“
„Hat ihn das zur Vernunft gebracht?“ fragte Nicole.
„Es dauerte zwei Jahre. Aber im letzten Monat ist er zweimal herübergeflogen, um mich zu sehen. Und sobald ich von dieser Reise zurückkomme, wird er mich wieder besuchen.“
Carla sah wieder auf ihre Uhr. „Ich würde wirklich gern noch länger bleiben und mich mit Ihnen unterhalten. Aber ich muß zu dieser Sitzung.“
„Denken Sie daran“, sagte Ari, der sich vorgebeugt und seine Stimme gesenkt hatte. „Deponieren Sie diese Unterlagen, sobald Sie können und so sicher wie möglich. Falls ich sterben sollte ... oder ver-
schwinden ... ganz gleich, unter welchen Umständen ... wissen Sie, was Sie zu tun haben.“
„Sie können sich auf mich verlassen.“
„Was ich Ihnen gebe, ist heiß ... das Zeug hat Weltklasse“, vertraute ihr Ari an. „Glauben Sie mir, es würde etliche Regierungen erschüttern, von Moskau bis Washington.“
„Wenn es so wichtig ist“, sagte Carla, „kann ich es weltweit auf die Titelseite jeder wichtigen Zeitung bringen!“
„Hoffentlich müssen Sie es nie veröffentlichen — weil das bedeuten würde, daß sie mich um die Ecke gebracht haben.“
„Wer sind sie?“
„Sie würden es mir nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte. Aber jetzt halten Sie alle Beweise in den Händen. Sie wären äußerst erstaunt, wenn Sie wüßten, wer alles mit wem zusammenarbeitet, um eine Neue Weltordnung zu errichten... und was sie tun, um dieses Ziel zu erreichen.“
„Darum geht es also bei den Unterlagen?“
„Teilweise. Es ist erstaunlich komplex, aber ich habe alles geordnet und mit nachprüfbaren Beweisen belegt, so daß Sie keine Angst haben müssen, es zu veröffentlichen ... falls es je soweit kommen sollte.“ „Das klingt faszinierend! Ich würde es liebend gern veröffentlichen ... aber nicht über Ihre Leiche.“
„Wenn Sie es jetzt veröffentlichen würden, wäre ich ein toter Mann. Aber wenn Sie es zurückhalten, könnte es mir das Leben retten.“ „Das war wirklich eine schöne Überraschung, Professor!“ rief Carla aus und schob ihren Stuhl zurück. Sie langte hinunter, nahm sich ganz selbstverständlich Nicoles Tasche und stand dann auf. „Ich muß jetzt wirklich gehen. Es war schön, Sie kennenzulernen, Nicole, und Sie wiederzusehen, Dr. Müller. Falls Sie jemals nach Washington kommen sollten ... oder wenn ich das nächste Mal nach Paris komme ... müssen wir uns treffen.“
„Das werden wir tun“, versprach Ari.
„Ja“, sagte Nicole, „wir sollten in Kontakt bleiben. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mir diese Artikel zuschicken könnten.“
Ari beobachtete Carla, bis sie von den Menschenmassen, die die Straßen bevölkerten, verschluckt wurde. Dann wandte er sich an Nicole. „Danke, Niki. Ich bin dir wirklich dankbar, daß du das getan hast. Es lief perfekt. Carla ist eine aalglatte Schauspielerin.“
„Ich bin froh, daß ich helfen konnte. Sie ist eine anziehende Frau ... und ich hoffe, wir können in Kontakt bleiben.“
Es folgte ein langes, verlegenes Schweigen. Schließlich sagte Ari: „Nun denn, zurück zum Thema. Du glaubst also an Gott, Niki. Das bereitet mir, wie ich bereits sagte, keine Probleme.“
„Laß uns ehrlich miteinander sein, Ari. Ein Gott, der die Maßstäbe für das menschliche Verhalten festlegt, bereitet dir sehr wohl Probleme. Du willst es nur nicht zugeben.“
„Darüber haben wir bereits gesprochen — und es führt zu nichts. Was für andere wichtige Entscheidungen hast du letzte Nacht getroffen, unter dem Einfluß dieser ... äh, dieser ..
„Freunde. Bitte, du weißt nichts von ihnen, und deshalb ist es nicht fair, irgendwelche Andeutungen zu machen.“
„Nun, offensichtlich haben sie deinen erregten Zustand ausgenutzt.“
Nicole stand auf, um zu gehen. „Du wolltest, daß ich dir einige Dinge erkläre, aber ich glaube nicht, daß du in der Stimmung bist, mich ernst zu nehmen.“ Bevor er etwas erwidern konnte, war sie gegangen.
Ari winkte dem Kellner hektisch mit einer 100-Franc-Note, ließ sie dann auf den Tisch fallen und rannte so schnell er konnte hinter ihr her.
„Wohin gehst du?“ fragte er besorgt, als er sie eingeholt hatte, und fügte dann mit einer gewissen Ironie hinzu: „ .. .wieder?“ Mit jedem Schritt entfernte sie sich weiter von ihrer gemeinsamen Wohnung.
Nicole blieb stehen und wandte sich ihm zu. „Ich ... ich werde nicht mehr mit dir schlafen. Ich kann es nicht... bevor wir nicht verheiratet sind ... falls es jemals dazu kommen sollte. Und das liegt jetzt in Gottes Hand.“
„Das ist es also! Komm, Niki! Woher hast du diese prüden Einfälle? Diese Freunde haben wirklich gute Arbeit an dir geleistet.“
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Ich liebe dich, An. Sogar sehr. Ich will dir nicht wehtun. Aber ich kann einfach nicht gegen mein Gewissen handeln. Es hat mich schon immer gestört „Mit mir zu schlafen?“ unterbrach er sie erstaunt. „Wirklich? Warum hast du mir das nie gesagt?“
„Ich war verwirrt ... und wollte dich nicht verletzen. Ich habe mir eingeredet, daß meine Schuldgefühle von veralteten Vorstellungen verursacht wurden. Du weißt schon, Dinge, die ich in der Kindheit gelernt habe. Der übliche Verdrängungsmechanismus.“
„Du hast mir nie etwas davon gesagt, daß du dich so fühlst! Warum jetzt?“
„Ich wollte von Anfang an heiraten. Weißt du noch? Du hast mich überredet, ,nur für kurze Zeit’ mit dir zusammenzuwohnen ... um zu sehen, ob wir zusammenpassen. Und dann hast du beschlossen, daß eine Heiratsurkunde ,nur ein bedeutungsloses Stück Papier’ sei ...“
„Und was ist daran so wichtig ... ob wir nun verheiratet sind oder nicht? Würde das irgend etwas ändern?“
„Ja, das würde es.“
„Was — und wieso?“
„Ari, es drückt eine lebenslange Hingabe aus.“
„Ich liebe dich, Niki! Ich würde dich niemals verlassen! Das weißt du. Das habe ich dir so ... viele Male gesagt!“
„Aber du würdest dich nicht vor Zeugen hinstellen und es aussprechen und offiziell machen.“
Nicoles Lippen zitterten, und im schwindenden Licht konnte Ari sehen, daß Tränen in ihre Augen traten. Wie gern hätte er sie in den Arm genommen. „Ich wäre bereit dazu“, stotterte er, „aber es schien nie so wichtig zu sein.“
„Jede Gesellschaft hat die Einrichtung der Ehe ... um sich selbst zu stabilisieren ... und Gesetze, die ein Arrangement, wie wir es hatten, verbieten. Es gibt viele Gründe, warum es nicht gut ist... und es ist besonders schlecht für jedes Kind, das kommt. Sieh dir doch an, was jetzt mit uns los ist.“
„Du hast also Angst, man würde uns einsperren? Mach keine Witze!“
„Es gibt etwas Schlimmeres, als menschliche Gesetze zu brechen, und das ist, die Gesetze Gottes zu brechen. Deshalb muß ich gehen, Ari. Gott weiß, daß ich dich genauso sehr liebe wie immer, und ich hoffe, daß wir heiraten können... aber ich kann dir das nicht aufdrängen.“
„Nun, ich wäre bereit zu heiraten ... wenn wir uns in einem anderen Punkt einig werden könnten
Nicoles Augen blitzten vor Zorn. „Dies ist unser Kind, das ich trage, Ari. Aber wenn du damit nicht belästigt werden willst, werde ich mich allein darum kümmern. Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, daß du mich überredest, es zu beseitigen!“
„Du hast eine Art, mit Worten umzugehen“, murmelte Ari. „Es ist einfach so unglaublich, daß dieser ... Unfall... die perfekte Beziehung, die wir sechs Jahre lang hatten, zerstören sollte!“ Auf seinem Gesicht war ein unerträglicher Schmerz zu erkennen. „Wo schläfst du heute Nacht?“ stotterte er und suchte nach Worten.
„Bei denselben Freunden.“
„Ich würde ihnen gerne sagen, was ich von ihnen halte!“ Der Schmerz hatte sich in Wut verwandelt. „Sie haben dir den Verstand verdreht!“
„Es tut mir leid, daß du das so siehst. Ich werde morgen vorbeikommen und meine Sachen holen. Ich weiß noch nicht genau, wann ...“ Sie wandte sich ab und ging weg.
21. Der langersehnte Erfolg
Die nächsten paar Wochen waren für Ari sehr einsam. Er war nicht da gewesen, als Nicole kam, um ihre Sachen abzuholen. Vielleicht war es so am besten. Aber ach, wie er sie vermißte! Die letzten sechs Jahre — seine glücklichsten — ließen sich nicht so einfach vergessen. Die lebhafte Erinnerung an ihr Gesicht und ihre bezaubernde Stimme, ihr melodisches, ansteckendes Lachen und ihre anmutige, weibliche Art, sich zu bewegen, an den Duft, den sie verströmte, an den Trost ihrer Gegenwart und an die Liebe, die sie füreinander empfunden hatten, machte die gegenwärtige Leere unerträglich. Aber obwohl der Schmerz jedes Gefühl inneren Friedens zerfraß, blieb sein Entschluß fest.
Er konnte, ja, er durfte in der Abtreibungsfrage nicht nachgeben. Es war eine Schwangerschaft, die sie nicht geplant hatten, und deshalb sollte sie sofort abgebrochen werden. Nichts könnte logischer sein. So sehr sich Ari auch nach einer Versöhnung sehnte, war er doch schon aus Prinzip der festen Überzeugung, daß diese nur möglich sei, wenn Nicole sich der Vernunft beugen würde. Aber es gab kein Anzeichen dafür, daß sie dazu bereit wäre, jedenfalls nicht zu seinen Bedingungen.
Ab und an telefonierten sie noch miteinander. Ein paar Tage, nachdem sie ausgezogen war, hatte sie ihn eines Abends zum ersten Mal in seiner Wohnung angerufen. „Ich wollte mich nur vergewissern, ob du die Schlüssel gefunden hast, die ich auf dem Waschbecken liegen gelassen habe“, hatte sie gesagt.
„Ja, danke“, hatte Ari mürrisch erwidert.
„Wenn ich irgend etwas für dich tun kann, Ari, kannst du mir jederzeit Bescheid sagen. Ich würde gerne in Kontakt mit dir bleiben. Meine Telefonnummer ist 28 52 59.“
„Wo wohnst du?“ hatte er gefragt.
„Ich habe eine kleine Wohnung in der Nähe der Klinik. Sie ist gerade richtig und ich kann zu Fuß zu Arbeit gehen.“
„Hast du auch eine Adresse?“
„Ich hoffe, bei dir läuft alles gut. Du bist wahrscheinlich ziemlich glücklich über die Entwicklung in Osteuropa, oder?“
„Ja, es läuft prächtig. Danke für deinen Anruf.“ Ari warf wütend den Hörer auf die Gabel. Sie hatte seine Frage ignoriert, und das tat weh.
Ari starrte aus dem Fenster hinunter auf den kleinen Platz zwei
Stockwerke tiefer. Er war wie eine Bühne, auf der man die Inszenierung eines Mikrokosmos des Pariser Lebens beobachten konnte. Er hatte oft gedacht, daß jedes Gesicht wie eine Maske war, hinter der sich die wirkliche Person versteckte. Jetzt war er auch so jemand geworden. Wer könnte seine wahren Gedanken ahnen? Nach außen hin gab er sich erfolgreich und erfüllt. Die Kampagne, die er so viele Jahre lang geführt hatte, brachte endlich greifbare Resultate. Aber innerlich spürte er eine schmerzliche Leere, so, als sei ein Teil seiner selbst von ihm abgetrennt worden. Sie wird nicht zurückkommen. Gott, ich kann das nicht ertragen!
Im Oktober 1989 schien der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, um in ganz Osteuropa und besonders in der DDR den Druck zu erhöhen. Ari begann, regelmäßig Wochenendausflüge hinter den Eisernen Vorhang zu unternehmen. Er fuhr am Freitag abend gleich nach seiner letzten Vorlesung ab und kehrte früh am Montag morgen rechtzeitig zu seiner ersten Vorlesung zurück. Es war sowohl persönliche Rache als auch Strategie, die Ari dazu veranlaßten, die Endphase des lang geplanten Studentenaufstandes von seiner alten Universität in Leipzig ausgehen zu lassen.
„Freiheitsmärsche“ wurden eingeführt, die die Studenten jeden Montag durchführen sollten. Ihr Beginn war unheilverheißend und erwies sich als der Funke, der die DDR in Flammen setzen sollte. Der 77 Jahre alte Staatsratsvorsitzende, Erich Honecker, reagierte mit Härte. Er gab der Polizei Anweisung, alle nötigen Mittel einzusetzen, um die Straßen zu räumen. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde Leipzig eine blutige Wiederholung des Massakers vom Tiananmen-Platz werden.
Aber Ari, der in ständigem Kontakt mit Roger stand und von ihm wiederholt mutmachende Informationen über das erhalten hatte, was sich auf höchster Ebene hinter den Kulissen abspielte, war zuversichtlich und drängte die Studenten vorwärts. Weil Gorbatschow Druck ausübte und aufgrund des Versprechens, selbst zum Generalsekretär der SED befördert zu werden, überredete — völlig überraschend — Egon Krenz, der Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates, Honecker dazu, keine weitere Gewalt und Brutalität gegen die
demonstrierenden Studenten anzuwenden. Der geheime Plan der sowjetischen Führung war jetzt in vollem Gange und erhielt die besondere Unterstützung des Vatikans.
Gorbatschow schwamm auf einer ständig stärker werdenden Woge der Popularität, und seine Glasnost und Perestroika hatten inzwischen solch unwiderstehlichen Schwung gewonnen, daß sich ihnen nichts in den Weg stellen konnte. Es war kein Zufall, daß der sowjetische Präsident ausgerechnet am 7. Oktober einen Besuch in der DDR machte, angeblich, um den vierzigsten Jahrestag des kommunistischen Staates zu feiern. Und es war auch nicht nur Glück, daß Honecker wenige "Tage später gezwungen wurde, sein Amt abzugeben, und daß Krenz seinen Platz einnahm. Oberflächlich gesehen wirkte es wie ein Rückschlag. Aber aufgrund interner Informationen von Roger drängte Ari vorwärts. Er wußte, daß Krenz, entgegen weitverbreiteter Befürchtungen, er werde wohl kaum der richtige Mann dafür sein, in Zusammenarbeit mit Gorbatschow die Berliner Mauer stürzen würde.
Die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die immer wenige Stunden, nachdem Ari nach Paris abgereist war, stattfanden, nahmen an Größe und Kühnheit zu. Vom Beginn am 23. Oktober bis zum 6. November nahm die Zahl der Teilnehmer immens zu. Am 8. November 1989 sagte Ari plötzlich alle seine Vorlesungen für den Rest der Woche mit der Begründung ab, er hätte dringend geschäftlich in Berlin zu tun. Er wußte, daß sich die Berliner Mauer am folgenden Tage öffnen würde, und es war nur angemessen, daß er dabei war, wenn es geschah. In der kommenden Woche würden ihn die Studenten in seinen Vorlesungen völlig erstaunt fragen, wieso er zufällig genau in jenem historischen Augenblick zur Stelle gewesen sei. Er würde es natürlich als einen „glücklichen Zufall“ erklären. Aber wegen seiner unbezähmbaren Hochstimmung, die mehrere Tage lang unvermindert anhielt, fragten sich etliche Studenten und Mitglieder der Fakultät, welchen persönlichen Nutzen er wohl aus dem Zusammenbruch des Kommunismus ziehen mochte, der solch außerordentlichen Jubel hervorrief.
Ari und Roger vergaßen scheinbar alle Feindschaft und alles Mißtrauen, das zwischen ihnen gestanden hatte und spielten, zumindest für diesen herrlichen Moment, die Rolle von Waffenbrüdern, als sie gemeinsam zusahen, wie die Mauer durchlässig wurde. Während euphorische Berliner auf beiden Seiten auf die verhaßte Barriere einhämmerten, die so lange Freunde und Familien voneinander getrennt hatte, beglückwünschten sich die beiden und schlugen sich begeistert
gegenseitig auf den Rücken, so, als hätten sie bei diesem historischen Ereignis eine Hauptrolle gespielt. Und das hatten sie ja in der Tat, auch wenn es keiner von den Menschen um sie herum wußte. Ein Triumphgefühl, das sich mit Worten nicht ausdrücken ließ, erfüllte Ari und ließ ihn beinahe platzen. Endlich! Ein anderer hätte unmöglich verstehen können, wie sehr er sich als Teil jener berauschenden Szene empfand.
„Sie fällt... sie fällt... reißt sie ein ...“, sagte Ari wieder und wieder zu Roger, als könne der das nicht selbst sehen. Umgeben von Hunderten von Feiernden gestikulierte er mit hoch über den Kopf erhobener Faust und tanzte mit jedem, der in seine Reichweite kam, ganz gleich, ob Mann oder Frau.
,¥ou bet it is, you all!“ rief Roger in seinem breitesten Texanisch. „Es ist soweit! Wir haben es geschafft! Hurra!“
Ari und Roger befanden sich in einem Freudentaumel. Sie mischten sich unter die tobende Menge, um die brodelnden Menschenmassen zu grüßen, die in beide Richtungen durch die Öffnungen in der Mauer strömten. Es herrschte ein Höllenlärm. Raketen, Leuchtkugeln und Schwärmer wurden gezündet, als diese beiden Berlinbesucher von der schweißgebadeten, schreienden Menschenmenge mitgerissen wurden, die tobte und in einen wilden Freudentaumel ausgebrochen war.
Die verhaßte Mauer war offen! Und es war tatsächlich Krenz, der neue Staatsratsvorsitzende, der den Befehl gegeben hatte, jene unrühmliche Barriere zu beseitigen. Er hoffte, mit dieser großartigen Geste die marschierenden Massen zu beruhigen. Doch statt dessen wurde auch er drei Wochen später gezwungen, sein Amt niederzulegen-
Überall in Osteuropa fielen jetzt die kommunistischen Regimes wie die Dominosteine. Es war eine Kettenreaktion. Und überall waren es Aris Studenten, die vorneweg marschierten, gefolgt von den Arbeitern und den Massen. Selbst Bulgariens Regime, das für eines der härtesten gehalten wurde, brach zusammen — einen Tag, nachdem die Mauer zu einem Überbleibsel aus der Vergangenheit geworden und den Hämmern und Meißeln der Andenkenjäger ausgeliefert war. In aller Eile wurde Bulgariens gesamte stalinistische Führungsriege im Rahmen einer Säuberungsaktion abgesetzt. Anfang November 1989 wurden Teilnehmer der ersten Studentendemonstrationen in der Tschechoslowakei von der Bereitschaftspolizei angegriffen, geschlagen und eingesperrt. Auch da drängte Ari die Studenten vorwärts, weil er einen guten Ausgang erwartete. Innerhalb von zehn Tagen war auch das Geschichte.
Am 24. November wurde mit einem triumphalen Auftritt von Alexander Dubcek der Höhepunkt erreicht. Von einem Balkon aus grüßte er Tausende von Demonstranten, die unten auf dem Platz ausgelassen feierten. Der Held des Prager Frühlings von 1968 war endlich rehabilitiert worden. Vor einundzwanzig Jahren hatte Dubcek, der gerade zum neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gewählt worden war, versucht, den Kommunismus etwas menschlicher zu machen. Dieser mutige, aber törichte und verfrühte Schritt hin zu Freiheit und Reformen war von sowjetischen Panzern und 500.000 Soldaten des Warschauer Paktes zerschmettert worden, die einmarschierten, „um eine Invasion durch die Streitkräfte der NATO zu verhindern“. Jetzt war der Warschauer Pakt durcheinander geraten und stand durch Gorbatschows überraschende Anweisungen kurz vor der Auflösung. Die neue Freiheit hatte den vollen Segen der sowjetischen Führungsspitze — aber diese erstaunliche Tatsache schien ihre Bedeutung verloren zu haben. Es war das gewöhnliche Volk gewesen, das triumphiert hatte und nun endlich seinen Willen durchsetzte.
Weitere, bisher undenkbare Entwicklungen folgten eine nach der anderen in schwindelerregendem Tempo. Jetzt war es nicht mehr möglich, die Revolution aufzuhalten. Und in jedem Land hatten Aris Studenten eine führende Rolle dabei gespielt, daß sie losbrach! Am 3. Dezember trat das gesamte Politbüro und das Zentralkomitee der SED in der DDR aufgrund des öffentlichen Drucks zurück. Wenige Wochen später hatten über die Hälfte der 2,3 Millionen Parteimitglieder ihre Mitgliedskarten zurückgegeben. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die man bisher für unmöglich gehalten hatte, war plötzlich und ganz offensichtlich in greifbare Nähe gerückt.
Ironischerweise war es das einfache Volk, das Proletariat, für das die kommunistische Revolution angeblich durchgeführt worden war, das sich am Ende erhob und sie ablehnte. Die Tatsache, daß das „Arbeiterund Bauernparadies“ gescheitert war, ließ sich nicht länger leugnen. Alles, was scheinbar unverrückbar festgestanden hatte, veränderte sich. Selbst der einst starke Warschauer Pakt, der die Armeen der Sowjetunion mit denen ihrer Verbündeten vereinte, um der NATO entgegenzutreten, wurde schließlich von jenem erstaunlichen Mann im Kreml, der jetzt weltweit liebevoll „Gorbi“ genannt wurde, aufgelöst.
Zum Erstaunen der Welt, Ost wie West, begannen die beiden, die nie hätten Zusammenkommen sollen, eine neue Partnerschaft zu bilden. Die Europäische Gemeinschaft würde nicht länger auf den
Westen beschränkt sein. Sie würde ein bisher undenkbares Europa umfassen, ein vereintes Europa, „vom Atlantik bis zum Ural“ — so, wie es Michail Gorbatschow, George Bush und Papst Johannes Paul II. bereits beschlossen hatten.
Später würde man herausfinden, daß der Vatikan, in Zusammenarbeit mit dem CIA, einer der Hauptakteure hinter den Kulissen gewesen war. Aber das wußte im Augenblick noch niemand. Die Rolle, die Rogers Gruppe und Aris geheime und weit ausgedehnte Studentenbewegung gespielt hatten, würde jedoch für immer ein verborgenes Element der Geschichte bleiben und sich selbst den sorgfältigsten Nachforschungen entziehen.
22. Lebt wohl, Freundschaft und Liebe
Wegen seines dicht gedrängten Reiseplanes in Osteuropa hatte Ari während dieser hektischen Monate den Kontakt zu Nicole verloren. Dann, eines Abends Mitte Dezember, rief sie an und fragte, ob sie sich nicht in ihrem Lieblingsrestaurant am Boulevard du Port-Royal treffen könnten. Natürlich hatte er zugestimmt und versucht, nicht zu begeistert zu klingen. Immerhin hatte sie dieses Treffen arrangiert. War 4as ein gutes Omen?
Ari traf als erster ein und wählte einen Tisch im Inneren des Restaurants, der hinter der Bar in einer abgelegenen Ecke stand. Er hatte erst wenige Minuten gewartet, als Nicole leise hinter ihn trat und ihn leicht auf die Wange küßte. Ihr langes, seidiges blondes Eiaar streichelte seinen Nacken und sie duftete, als habe sie gerade gebadet. Ari wurde von liebevollen Erinnerungen überwältigt. Ihr weiter Seidenrock raschelte, als sie sich neben ihn setzte — strahlender und schöner denn
je-
Sie war jetzt im siebten Monat, und man sah es ihr an. Es war offensichtlich, daß er den Abtreibungskampf verloren hatte, und das ärgerte ihn. Und dennoch brachte ihr Anblick die alten zauberhaften Gefühle wieder zurück — dieselbe schwindelerregende Anziehung, die er an jenem unvergeßlichen Tag vor beinahe sieben Jahren verspürte hatte, als er sie zum ersten Mal sah.
Ari spürte, wie sein Herz plötzlich zu rasen begann und die alte Leidenschaft aufs Neue entfacht wurde. „Du hast mir gefehlt!“ platzte er heraus. Das war ganz und gar nicht die Einleitung, die er so sorgfältig einstudiert hatte. Er fühlte sich verwirrt in ihrer Nähe, so wie bei ihrem ersten Rendezvous. Fast war es, als würde ihre Beziehung noch einmal von Neuem beginnen. Wie sehr wünschte er sich, daß das möglich wäre.
„Du hast mir auch gefehlt, Ari“, erwiderte sie schnell. „Sogar sehr.“
„Warum sind wird dann noch getrennt und vergehen vor Sehnsucht?“
„Ich fühle mich genauso“, sagte sie ernst, „und deshalb wollte ich, daß wir uns treffen ... um miteinander zu reden.“
„Nun, du hast doch deinen Willen gehabt“, begann Ari, „und jetzt ist es wohl zu spät, darüber zu reden.“ Er wußte nicht, wie er fortfahren sollte, und so schwieg er und wartete.
„Ich mache mir Sorgen um dich, Ari.“
Diese Bemerkung überraschte ihn und ließ ihn auf der Hut sein. „Sorgen um mich?“
„Du arbeitest so hart, Tag und Nacht... und ich glaube nicht, daß du ohne mich gut genug auf dich aufpaßt.“
„Ich esse ... ich schlafe. Das kann nicht der Grund deiner Sorge sein.“
„Natürlich ist es das. Aber da ist noch mehr. Ich bin besorgt, weil du deine Energie für etwas verwendest, was nicht funktionieren wird.“
„Nicht funktionieren? Ich nehme an, du hast in der letzten Zeit keine Nachrichten gehört. Du machst doch sicherlich einen Scherz.“
Sie warf ihr Haar in den Nacken und beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt, und sah ihn aufmerksam an. „Ich weiß, daß die Mauer gefallen ist und der Kommunismus zusammenbricht — zumindest in Osteuropa. Aber das sind oberflächliche Symptome. Die Krankheit selbst tobt unberührt weiter.“
„Du überraschst mich, Niki. Solche Gedanken hast du früher nie geäußert“, erwiderte Ari wachsam. Inzwischen war er nicht mehr so erfreut über ihr Treffen. „Ist das ein weiteres Ergebnis deiner neuen Denkweise?“
Sie nickte beinahe unmerklich und fuhr fort: „Du hast gute Absichten, Ari. Du hast dein ganzes Leben dafür gearbeitet, eine neue Weltordnung des Friedens und des Überflusses für jedermann zu errichten. Ich bewundere dich wegen dieser Leidenschaft. Aber deine Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt. Trotz der gegenwärtigen Ereignisse, die wie ein erstaunlicher Erfolg aussehen.“
„Ist das nicht ziemlich dogmatisch ... und radikal?“ fragte Ari erstaunt. „Wir haben früher sehr wenig über diese Dinge gesprochen. Natürlich wollte ich nicht, daß meine Arbeit in unser Privatleben eindringt.“
„Oh, ich mache mir keine Sorgen wegen der Einzelheiten deiner Vorgehensweise. Das ist im Augenblick wirklich unwichtig. Ich weiß nur, daß du das, was du dir von ganzem Herzen wünschst, unmöglich erreichen kannst. Das bereitet mir Sorgen, und deshalb wollte ich darüber reden. Irgendwann in naher Zukunft wirst du desillusiomert werden.“
„Und du hast mich gebeten, mich mit dir zu treffen, um mir das zu sagen?“
„Bitte hör mir einfach zu, Ari! Es ist nicht leicht für mich, es richtig zu formulieren ... es ist so neu für mich. Aber ... nun ... du wirst die
Probleme der Welt nicht lösen, indem du die Umgebung säuberst oder die sozialen und politischen Systeme änderst. Die Wurzel des Problems liegt tiefer als das. Wir alle sind Sünder. Die Menschen müssen im Inneren verändert werden ... und das kann nur Gott tun.“
Der Kellner hatte sich in ihrer Nähe aufgehalten, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen, aber An winkte ihn fort. «„Du willst also sagen, nicht die Gesellschaft oder politische Systeme seien das eigentliche Problem, sondern die Menschen? Ich meine, es stimmt beides. Und wenn du dich selbst als Sünder bezeichnen willst, nur zu. Aber bitte schließe mich nicht in diese Sippe der Bösen ein. Ja? In meinem Leben gibt es nichts, dessen ich mich schämen müßte ... Ich kann mit erhobenem Haupt stehen. Ich habe wahrlich mein Leben für das eingesetzt, was ich für richtig hielt!“
„Ari, ich bestreite nicht im geringsten, daß du dich ernstlich bemüht hast. Das ist bewundernswert, und das habe ich auch schon gesagt. Aber, um es einmal medizinisch auszudrücken, deine Diagnose ist falsch gewesen. Du hast das eigentliche Übel, das diesen Planeten plagt, nicht erkannt. Wir alle... du und ich und auch alle anderen ... sind Rebellen, die versuchen, Gott zu spielen ... jeder auf seine Weise. Bis wir dem einen und einzig wahren Gott erlauben, unser Leben zu bestimmen ... wird es auf dieser Erde niemals wahren Frieden geben.“
„Sieh mal, Lieb- ... Nicole“, unterbrach sie Ari in gereiztem Ton, „wenn du diese kindischen Märchen glauben willst, dann tu es. Aber ich habe dir bereits gesagt, daß ich nicht bereit bin, auf dieser Ebene zu kommunizieren! “
„Ich weiß — und das beweist nur, was ich sage. Bis vor fünf Monaten habe ich genauso gedacht, wie du. Das letzte, was ich wollte, war, daß Gott seine Welt — oder mein Leben — regiert. Unsere Bemühungen, eine friedliche Welt zu schaffen, sind nichts anderes als Versuche zu beweisen, daß wir ihn nicht brauchen.“
„Genau! Ich brauche keine eingebildete Gottheit, die mir sagt, was ich zu tun habe. Ich bin auch ohne diese Krücke gut durch’s Leben gekommen.“ Aris Stimme wurde lauter, und andere Gäste warfen den beiden, die wie ein streitendes Liebespaar wirkten, neugierige Blicke zu. „Und ich bin nicht gerade erfreut darüber, daß du mich hierher bestellt hast, um mir deine Religion aufzudrängen!“
„Beruhige dich, Ari“, sagte Nicole sanft. „Wir fallen auf. Es tut mir leid, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe, daß ich dich anpredigen will. Ich wünsche mir einfach nur so sehr, daß du denselben Frie-
den bekommst, den ich gefunden habe ... einen Frieden und eine innere Freude, die ich nie für möglich gehalten habe.“
„Du hast deinen Frieden gefunden, indem du den meinen zerstört hast“, gab er bitter zurück und fuhr dann rasch fort: „Das beweist gar nichts. Jedes Placebo hätte denselben Effekt, wenn du wirklich daran glauben würdest.“
„Nein, Ari, ich stütze mich auf unwiderlegbare Fakten und perfekte Logik. Und auch mein Gewissen hält es für richtig ... jene Instanz in mir, von der ich weiß, daß sie sich nicht irrt.“
„Niki, du verschwendest deine Zeit. Wir könnten über irgend etwas wirklich Wichtiges sprechen, etwas, wo wir eine gemeinsame Basis finden könnten
„Oh, Ari!“ rief sie leidenschaftlich aus. „Lauf doch nicht vor den Tatsachen davon! Da erwartest du von dir selbst, die Studenten davon zu überzeugen, daß die Art, wie die Welt läuft, schlecht ist, und rekrutierst sie, damit sie die Dinge zum Guten verändern. Aber gleichzeitig leugnest du, daß es einen unfehlbaren Maßstab für Gut und Böse gibt! Aus welchem Grund sollte irgendein anderer deine Definition davon, was schlecht in der Gesellschaft ist und wie man es gut macht, übernehmen?“
„Das ist doch nur gesunder Menschenverstand. Jeder weiß, was Tyrannei ist und Ungerechtigkeit und „Richtig“, unterbrach ihn Nicole. „Und woher stammt dieser universelle Maßstab für Gut und Böse? Bestimmt nicht von der Konfiguration der Atome im Gehirn! Du hast gerade etwas zugegeben, was die Bibel sagt — daß Gott sein moralisches Gesetz in das Gewissen eines jeden Menschen hineingeschrieben hat „Die Bibel? Nun mach aber mal halblang. Du glaubst doch nicht an diese Märchen!“
„Du hast die Bibel noch nie gelesen, von ernsthaftem Studieren ganz zu schweigen. Was würdest du von jemandem denken, der ein Buch verurteilt, ohne jemals auch nur ein Wort davon gelesen zu haben und über das er, abgesehen vom Hörensagen, nichts weiß?“
„Ich weiß genug darüber!“
„Ari ... hast du jemals irgend etwas davon gelesen?“
Ein langes Schweigen folgte. „In der Tat, nein“, gab er schließlich zu. „Dein Gewissen hätte dich geplagt, wenn du mich angelogen hättest. Stimmt’s? Und dein Gewissen sagt dir auch, daß du genausowenig ein perfektes Leben geführt hast wie ich. Wir haben Gottes moralische Gesetze gebrochen.“
„Zum Beispiel, indem wir zusammengelebt haben, ohne verheiratet zu sein?“ gab er verächtlich zurück. „Ist es das, wovon du mich zu überzeugen versuchst? Ich kann dir versichern, daß ich nicht darauf hereinfallen werde. Ich werde nicht zulassen, daß du mir Schuldgefühle verpaßt, nur weil du dich gut dabei fühlst, wenn du dich als,Sünderin’ bezeichnest!“
„Daran habe ich gar nicht gedacht, Ari, wirklich. Wir sind in vielen Dingen Sünder. Und wir können für die Übertretungen der Gesetze Gottes, die wir in der Vergangenheit begangen haben, nicht bezahlen, indem wir sie in der Zukunft vollkommen einhalten. Deshalb wurde Gott durch die Jungfrauengeburt ein Mensch ... deshalb starb Jesus für unsere Sünden ... damit wir Vergebung bekommen können ... Ari ... was ist los mit dir?“
Jesus Christus!“ An spuckte die Worte mit nur mühsam unterdrückter Wut regelrecht aus. „Du gehst zu weit. Tue mir einen Gefallen ... erwähne diesen Namen nie wieder!“
Nicole öffnete ihren Mund, um zu antworten, überlegte es sich jedoch anders. Sie sah Ari einen Moment lang in stillem Schmerz an, stand dann auf und verließ langsam das Restaurant. Er unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen.
Ari hatte gehofft, daß der bemerkenswerte Fortschritt der Ereignisse in Osteuropa Abdul überzeugt hätte, daß sich Gewaltlosigkeit nun doch als äußerst wirksam erwiesen hatte. Aber bisher schien er seine Meinung nicht im geringsten geändert zu haben. Es mußte etwas getan werden, um ihn zu überzeugen. Der Mittlere Osten war ein Ort, für den Ari immer noch grünes Licht von Rogers Gruppe hatte, und er war auch immer noch davon überzeugt, daß Abdul der ideale Mann war, um die Arbeit dort zu leiten — wenn er nur wieder Vernunft annehmen würde.
Einige Wochen nach ihrem letzten vergeblichen Treffen in dem Restaurant schluckte Ari seinen Stolz hinunter und rief Nicole an. Er wollte ihre Hilfe für einen letzten Versuch, Abdul wieder zur Vernunft zu bringen. Da Abdul lange Zeit mit Niki befreundet gewesen war, hoffte Ari, daß sie Abdul dazu bringen konnte, ihnen wenigstens zuzuhören. Gemeinsam würden sie es vielleicht schaffen, ihn aus
jenem Strudel des Hasses und der Gewalt zu retten, in den er, wie sie annahmen, hineingeraten war und der drohte, ihn hinunterzuziehen und zu vernichten.
Nicole konnte Abdul überreden, sich wenige Tage vor Weihnachten 1989 an einem Ort seiner Wahl mit ihnen zu treffen. Diese Vereinbarung wurde unter der Bedingung getroffen, daß jeder von ihnen allein und auf Umwegen dorthin kommen und dabei darauf achten würde, daß er nicht verfolgt wurde. Die zweite Bedingung klang nach Verfolgungswahn, aber sie waren bereit, darauf einzugehen, um Abdul noch einmal von Angesicht zu Angesicht sehen zu können.
Und so kam es, daß sich diese ehemals so guten Freunde, zwischen denen jetzt Welten zu liegen schienen, ein letztes Mal auf einem belebten Bahnsteig der Pariser Metro trafen. Niki sollte in wenigen Wochen das Kind zur Welt bringen. Sie wirkte extrem müde, und Aris Herz wurde weich. Er hatte den beinahe überwältigenden Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und ihr Worte des Trostes zu sagen. Aber ihre Entfremdung war inzwischen so weit fortgeschritten, daß es keine Hoffnung auf Versöhnung mehr gab. Die drei fanden am Ende des Bahnsteigs eine leere Bank und setzten sich.
„Ist es nicht phantastisch, was in Osteuropa geschieht?!“ eröffnete Ari das Gespräch, nachdem sie einige Minuten geplaudert hatten. „Der Kommunismus wird gestürzt, Diktatoren hinausgeworfen und an ihrer Stelle Demokratien eingeführt... und all das mit gewaltlosen Mitteln!“
„Ich bin so froh für dich, Ari“, erwiderte Nicole. „Nach all den Jahren harter Arbeit sollte das sehr erfreulich für dich sein.“
„In der Sowjetunion gibt es 60 Millionen Moslems, die immer noch wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden“, war Abduls entmutigende Reaktion.
„Das wird sich ändern“, versicherte ihm Ari. „Es kann nicht alles über Nacht passieren. Aber was ist mit der Unterdrückung grundlegender Menschenrechte in den moslemischen Ländern? Ich hatte gehofft, du würdest in dieser Angelegenheit mitarbeiten. Du könntest eine echte Schlüsselrolle in einer historischen Veränderung übernehmen ...“ Er hatte sich eigentlich nicht in eine Diskussion verwickeln lassen wollen, aber er konnte Abduls herausfordernde Worte nicht einfach so stehen lassen. Und auf welche Weise sollte er sonst überzeugt werden?
„Das ist westliche Propaganda!“ Man konnte Abduls Antworten inzwischen vorhersehen. Sie waren beinahe wie einprogrammiert. „Es
gibt keine Unterdrückung der Menschenrechte in arabischen Ländern.“
„Antworte mir doch einfach ganz ehrlich, Abdul“, beharrte Ari. „Hat sich die Situation im Libanon verbessert oder verschlechtert, seit die Moslems die Kontrolle haben?“
Abduls Gesicht verfinsterte sich. „Sie vergessen ständig, daß Israel die einzige Ursache aller Probleme dort ist!“
„Die Unterdrückung von Menschenrechten innerhalb von arabischen Ländern ist Israels Schuld?“ fragte Niki ungläubig.
Abdul starrte schweigend beiseite. „Ich sollte nicht mit euch sprechen“, sagte er schließlich. „Ich habe es nur getan, weil wir schon so lange Zeit befreundet sind. Aber wir werden uns nicht wieder treffen.“
„Das kannst du doch nicht ernst meinen, Abdul!“ bat Nicole. „Nach all den Jahren, in denen wir wie Bruder und Schwester waren? Ich kann es nicht glauben!“
„Ich liebe dich, Niki. Aber ich bin ein Palästinenser ... und ich habe meinen Teil dazu beizutragen, daß mein Volk befreit wird.“
„Und deshalb hast du dich der PLO angeschlossen. Stimmt’s?“ fragte Ari mit Nachdruck.
Abdul gab keine Antwort.
„Die Charta der PLO verlangt die völlige Eliminierung Israels“, sagte Ari ruhig. Er versuchte vergeblich, Abdul in die Augen zu sehen. „Wie kannst du die Eliminierung von Israelis in Erwägung ziehen? Das ist nicht die Lösung!“
Einen beklommenen Moment lang gingen Nicoles Gedanken zurück zu einem persönlicheren Problem. Eliminierung, Liebling ...? War Eliminierung nicht auch deine,Lösung VSie biß sich auf die Lippen, um nichts zu sagen.
„Wir vertreten nicht die Meinung, daß alle Juden getötet werden sollen“, beharrte Abdul. „Jasir Arafat ist kein Hitler ...“
„Ich habe dich gerade daran erinnert“, unterbrach ihn Ari scharf, „daß die Charta der PLO die Vernichtung Israels verlangt.“
„Das stimmt. Der Staat Israel ist das Problem. Er besetzt unrechtmäßig arabisches Land und hat kein Recht auf seine Existenz. Wir wollen nur unser Land wiederhaben ... und einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt. Einige Juden können weiterhin dort leben, nachdem alle arabischen Gebiete zurückgegeben worden sind ...“
„Und du bist entschlossen, dies durch Terrorismus gegen unschuldige Zivilisten zu erreichen?“ fragte Ari hart.
„Verluste in der Zivilbevölkerung lassen sich in keinem Krieg vermeiden.“
„Abdul, ich bin noch nie jemand gewesen, der Israel unterstützt. Aber je mehr du diese fanatische Einstellung rechtfertigst, um so mehr beginne ich, Sympathie für Israel zu empfinden.“
„Sie haben das Land gestohlen/“
„Wie bitte? Palästina ist von den Vereinten Nationen aufgeteilt worden. Aber darum geht es eigentlich gar nicht. Ich will dir eine noch grundlegendere Frage stellen: Wärst du lieber ein Araber, der in Israel lebt, oder ein Israeli, der im Libanon, Syrien, dem Irak, dem Iran oder sogar in Jordanien oder Saudi-Arabien lebt?“
Abdul stand ärgerlich auf. „Es ist nicht so ... so einfach“, protestierte er. „Es gibt komplexe Probleme, deren Wurzeln in der Vergangenheit liegen. Die Art, wie Sie Ihre Fragen stellen, verrät Ihre Vorurteile und zeigt, daß sie die Geschichte nicht kennen und Ungerechtigkeit tolerieren.“
Ari stand ebenfalls auf, legte einen Moment lang seine Hand liebevoll auf Abduls Schulter. „Ich hatte geglaubt, dich zu kennen“, sagte er traurig. „Ich dachte, wir hätten dieselben Ideale ... und ich weiß, daß es so war, bis du unter den Einfluß von Arafat und seiner Mörderbande geraten bist.“
Abdul küßte Niki leicht aber liebevoll auf die Wangen. „Ich werde dich vermissen — sehr sogar. Und ich werde beten, daß Allah euch beide mit einem guten Kind segnet.“
Er ergriff Aris ausgestreckte Hand. „Ich will mich nicht als Feind von Ihnen trennen. Wir sind zu lange wie Brüder gewesen. Eines Tages werden Sie verstehen ..Spontan fielen sie einander in die Arme. Dann riß Abdul sich los, drehte sich um und ging entschlossen auf den Ausgang zu.
23. Auf Leben und Tod
Am 20. Februar brachte Nicole einen gesunden Jungen zur Welt, der fast acht Pfund wog. Ari erfuhr eine Woche später von dem Ereignis. Er erhielt per Post eine Geburtsanzeige, die die Ankunft von Ari Paul de Benoits ankündigte. Der Karte lag ein Photo von Mutter und Kind bei, das in der Klinik aufgenommen worden war. Nicole sah stolz und beschützend auf das kleine Bündel in ihren Armen hinab.
Außer den üblichen Angaben wie Größe und Gewicht enthielt der Brief noch eine kurze handschriftliche Nachricht: „Er sieht dir so ähnlich, Ari! Und er ist solch ein braves Baby. Du wärst stolz auf ihn. Soll ich ihn dir einmal vorbeibringen? In Liebe, Niki.“
Mit Tränen in den Augen las Ari die Notiz wieder und wieder, wobei seine Augen jedesmal an den Worten „Er sieht dir so ähnlich, Ari!“ hängenblieben. Die Frau, die er leidenschaftlich geliebt hatte, hatte sein Kind geboren — das Baby, das sie, wäre es nach ihm gegangen, hätte abtreiben lassen sollen. Vielleicht war es doch nicht richtig gewesen, daß er auf diesen Eingriff bestanden hatte. Ja, er hatte einen taktischen Fehler begangen. Es war eine riesige Dummheit gewesen, die er jetzt sehr bereute.
Wie sehr sie ihm fehlte! Doch Nicole gegenüber hatte er seine Reue niemals zugegeben. Es war ihm aufgrund von Umständen, über die er keine Kontrolle hatte, unmöglich gewesen, das zu tun — und das war ganz allein ihr Fehler. Nicoles neu entdeckter religiöser Eifer hatte sich zu einem irrationalen Fanatismus entwickelt, der eine Versöhnung unmöglich machte. Aber selbst dafür mußte er einen großen Teil der Schuld auf sich nehmen. Er mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß er sie von sich weg und in die Arme dieser religiösen Fanatiker getrieben hatte.
Seine alles verzehrende Leidenschaft, die Mauer zu Fall zu bringen, hatte seine eigenen natürlichen Empfindungen betäubt und ihn blind gemacht für Nicoles weibliche Gefühle. Wenn er zurückblickte — und das tat er während dieser einsamen Monate häufig —, konnte Ari ganz klar sehen, daß er sie in diese religiöse Besessenheit getrieben hatte. Aber danach hatte er nichts mehr damit zu tun gehabt. Eine fremde Macht, der er nicht gewachsen war, hatte die Situation übernommen.
Nicole befand sich in der Gewalt eines kräftigen Aberglaubens, der von Urinstinkten in der Tiefe des gemeinsamen Unbewußten der menschlichen Rasse angetrieben wurde. Das war die einzige logische
Erklärung für den ansonsten unerklärlichen Wahnsinn, der die Eiferer aller Religionen, seien es die Katholiken und Protestanten in Irland, die Schiiten im Iran oder die Moslems und Hindus in Indien, mit einer blinden Leidenschaft vorantrieb.
Nicoles völlig irrationale und ungerechtfertigte Hingabe an Jesus Christus machte es Ari unmöglich, auch nur halbwegs harmonisch mit ihr zusammenzuleben. Die Religion hatte eine unüberwindliche Barriere zwischen ihnen errichtet. Sie war in dieser Angelegenheit inzwischen sturer, als er es je gewesen war. Diese unnachgiebige Haltung machte seine Qualen noch unerträglicher.
Daß dieser Christus, dieses Produkt der verschrobenen Hirne machthungriger religiöser Führer, der schlimmer als jeder Hochstapler war, als Außenseiter zwischen ihnen stand, machte ihn wütend. Es war unerträglich für Ari, daß ein anderer Mann ihm Nicoles Zuneigung gestohlen hatte — ein Mann, der möglicherweise niemals gelebt hatte, den sie mit Sicherheit noch nie getroffen hatte, aber über den dermaßen phantastische Geschichten erzählt wurden, daß er jetzt eine Kultfigur mit Millionen von Nachfolgern war. Es war einfach verrückt.
Ari hatte nie die hypothetische Existenz einer „höheren Macht“ geleugnet, die hinter dem ganzen Universum stand. Aber wenn dieser „Gott“ von Nicole tatsächlich für die Angelegenheiten der Menschen verantwortlich war, wie sie ja behauptete, dann war er es, der die Geburt dieses unwillkommenen Kindes verfügt hatte. Wenn Nicole die Existenz dieses „Gottes“, den sie mitjesus Christus gleichzusetzen schien („Oh ja“, hatte sie ihm mit kindlicher Zuversicht gesagt, „Gott ist ein Mensch geworden, um uns seine Liebe zu zeigen.“), zweifelsfrei nachweisen könnte, hätte das nur Ans Haß auf ihn gerechtfertigt.
Trotz des quälenden Schmerzes, den diese Entscheidung für ihn bedeutete, war Ari zu dem Schluß gekommen, es sei eindeutig das Beste — ja, sogar das Beste für das Kind —, wenn er diesen kleinen Sohn, der seinen Namen trug, niemals sehen würde. Und was Nicole anging, so war es auch besser, sie niemals wiederzusehen. Die einzige Aussicht, diese Leere in seinem Inneren zu heilen, bestand wahrscheinlich darin, sie völlig aus seinen Gedanken zu verbannen. Und das war auch die einzige Möglichkeit, sie daran zu hindern, ihm ihre religiösen Ideen aufzudrängen. Anscheinend war sie nicht in der Lage, das zu unterlassen, und versuchte es trotz seiner heftigen Einwände jedesmal, wenn sie sich trafen.
Daß Nicole Christin geworden war, versetzte Ari in tiefere Trauer,
als es ihr Tod getan hätte. Er konnte es nicht ertragen, sie in seiner Erinnerung so vor sich zu sehen, wie sie jetzt war. Wie anders waren doch die vergangenen glücklichen Jahre gewesen. Ja, es war, als sei sie bereits gestorben. Und anstatt zu trauern, würde er das Vergangene so behandeln, als sei es nie gewesen.
Nachdem er das beschlossen hatte, steckte Ari die Geburtsanzeige und das Bild zwischen zwei Bücher in der obersten Reihe des Bücherregales über seinem Schreibtisch. Er war entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nie wieder zurückzublicken. Das war nicht leicht, aber mit reiner Willenskraft würde er das fertigbringen, was ihm die Logik diktierte. Es war seine einzige Möglichkeit, emotional zu überleben. Und auch für Nicole würde es so das Beste sein.
Die trostlosen Wintertage vergingen einer wie der andere, grau und unfreundlich, und Ari verwaltete mechanisch seinen immer kleiner werdenden Einflußbereich. Es war jetzt eine freudlose, aber dennoch nicht leidenschaftslose Arbeit geworden. Er war damit beschäftigt, seine Macht in Osteuropa zu festigen und schmiedete Pläne, um die Reformen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, auf die Sowjetunion auszudehnen. Aber es gab beunruhigende Anzeichen dafür, daß die Tage gezählt waren. Bald würde er nicht mehr gebraucht werden. Es gab Anzeichen dafür, daß seine Position schwächer wurde, zunächst nur sehr subtil, aber immer deutlicher werdend. Die Vorboten ernsthafter Schwierigkeiten wurden immer unheilvoller.
Die Studentendemonstrationen, die sich als so wirkungsvoll erwiesen hatten und die seine Vision, der er über 25 Jahre lang gefolgt war, bestätigt hatten, mußten jetzt unbedingt in die Sowjetunion getragen werden. Dieser riesige zusammengewürfelte Haufen von Republiken steuerte eindeutig auf eine wirtschaftliche und politische Katastrophe zu. Die einzige Möglichkeit, ein Chaos zu vermeiden, bestand darin, den Kreml zu zwingen, die richtige Richtung einzuschlagen. Aber ihm waren die Hände gebunden.
Rogers Gruppe hatte sich von Anfang an standhaft geweigert, Ari zu erlauben, daß er seine Bemühungen auf die UdSSR ausdehnte. Offensichtlich schützten sie ihren Partner Gorbatschow, so wie sie auch die Vereinigten Staaten und Westeuropa vor denselben Störungen
beschützten. Andernorts, in den früheren Satellitenstaaten der Sowjetunion, hatten die Proteste der Studenten ihr Werk getan und waren nicht mehr notwendig. Das unbekannte Genie, das einen so großen Teil des Erfolges geplant hatte, fühlte sich allmählich wie ein Arbeitsloser.
Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er mußte mit dem Komitee, das ihn finanziert hatte, brechen, und er mußte es sofort tun. In vollem Bewußtsein der extremen Gefährlichkeit dieses Unterfangens und der geringen Aussichten auf Erfolg begann An, seine Pläne auszuarbeiten.
An einem stürmischen, kalten Nachmittag Anfang März saß Ari dicht an der Metro-Station Chateau de Vincennes zusammengekauert auf einer Bank in der Nähe einer Telefonzelle. In seiner Tasche hatte er die Tickets für einen Flug nach Moskau. Am nächsten Morgen sollte es losgehen. Seit mehr als 30 Minuten hatte er gewartet, ohne daß ein einziger Anruf kam. Dies war einer von mehr als zwei Dutzend Orten, die er jahrelang nach seinem ständig wechselnden Telefonplan aufgesucht hatte. Es waren Telefonzellen, die nur wenig von der übrigen Bevölkerung genutzt wurden, und bisher war er immer sehr damit beschäftigt gewesen, die Telefonate zu beantworten, die zu den festgesetzten Zeiten ankamen. Aber jetzt geschah es nur selten, daß er überhaupt irgendeine Nachricht erhielt.
Ari saß unauffällig auf einer Bank, von der aus man das Telefon hören konnte. Er war in ein Buch vertieft, das über Geheimgesellschaften berichtete, die vom Vatikan aus gesteuert wurden. Es war gut dokumentiert und enthielt einige faszinierende Erkenntnisse, die die Lücken in den Informationen, die er durch seine Spione in Rogers Gruppe gesammelt hatte, zu schließen schienen. Jetzt, nachdem Rom die Schlüsselrolle dabei gespielt hatte, die Solidarität vor dem Untergang zu retten und Polen als zentrale Basis des Widerstandes im kommunistischen Osteuropa zu etablieren, stand es außer Zweifel, daß die Allianz zwischen dem Vatikan und Washington nur noch stärker geworden war. Der beinahe unabsehbare Reichtum und Einfluß des Vatikans und seine gezielten Aktionen, sowohl die offiziellen als auch die geheimen, machten ihn zu einer der Hauptfiguren in dem internationalen Netzwerk, das die Bühne für eine Neue Weltordnung vorbereitete.
Ari war davon überzeugt, daß das Christentum und der Islam in einer Art moderner Version der Kreuzzüge noch einmal gegeneinan-der antreten würden, diesmal, um die Weltherrschaft zu erlangen. Und das Christentum mit all seinen verschiedenen Schattierungen und
Richtungen steuerte, wie seine Nachforschungen ergaben, auf eine weltweite Allianz unter der Oberherrschaft Roms zu, in die außer dem Islam — und natürlich auch außer dem Judentum — alle Religionen eingeschlossen sein würden. Israel würde beiden Seiten ein Dorn im Fleisch und zunehmend isolierter sein.
Vielleicht könnten die Israelis ja von ihrem sturen Zionismus — dieser lächerlichen Anmaßung, sie seien ein besonderes „auserwähltes Volk“ mit einem Vorkaufsrecht auf arabisches Land — kuriert werden. Das war etwas, was er noch nie hatte ausstehen können. Und jetzt, Monate nachdem Abdul ihn im Stich gelassen hatte, suchte er immer noch nach einem Leiter für die strategische Arbeit, die im Mittleren Osten so dringend gebraucht wurde.
Ari steckte das Buch zurück in die Aktentasche, stand auf und reckte sich müde. Es war Zeit zu gehen — und es war kein einziger Anruf gekommen. Er zog seinen langen Ledermantel enger um sich und drehte sich um, um sich gegen den steifen Wind zu lehnen, der seit drei Tagen durch die breiten Alleen und Gassen von Paris fegte. Er begann gerade, wegzugehen, als das Telefon klingelte. Es war eine Minute über die Zeit, die für Anrufe in dieser Zelle geplant war. Wahrscheinlich war es nicht für ihn. Aber nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß es sich um einen verspäteten Anruf handelte, ging Ari beiläufig zurück und nahm den Flörer ab.
„Hallo?“
„Hier ist Paxon“, meldete sich eine Stimme, die vor mühsam unterdrückter Aufregung zitterte. „Es ist spät hier drüben.“
„Später, als Sie meinen“, sagte Ari rasch. Das war das Kennwort für Notfälle, und sein Herz begann, rascher zu schlagen.
„Sie werden Sie beseitigen! Ich sagte beseitigen! Ich. glaube, sie sind auch hinter mir her. Ich muß untertauchen. Ich brauche 300.000 Francs in bar ... am Briefkasten ... heute abend.“
„Ich werde mich darum kümmern. Hören Sie: Jeder soll abhauen! Sagen Sie das weiter!“
Anstatt schockiert zu sein, fühlte sich Ari beinahe erleichtert. Natürlich hatte er gewußt, daß das irgendwann kommen würde. Sie konnten nicht zulassen, daß er mit seinen Plänen weitermachte. Moskau und alles, was durch diese Reise in Gang gesetzt worden wäre, war plötzlich und mit niederschmetternder Endgültigkeit ein unerfüllbarer Traum geworden. Vielleicht später ... eines Tages. Aber jetzt gab es nur ein Ziel: überleben. Das würde all seine Aufmerksamkeit, Energie und Fähigkeiten beanspruchen. Und um dabei den Sieg davonzutra-
gen — falls das überhaupt möglich war — würde er sich auf ein gefährliches Spiel einlassen müssen.
Als erstes mußte er seine „schützenden“ Schatten loswerden, die ihm auf Schritt und Tritt folgten. Seit mindestens sechs Monaten hatte er nicht versucht, sie abzuschütteln. Deshalb würden sie wahrscheinlich nicht erwarten, daß er es jetzt täte. Durch eine überraschende Handlung konnte er zwei oder drei Minuten gewinnen, und diese Zeit könnte entscheidend sein. Er wußte genau, was er zu tun hatte, denn er hatte für jeden Ort, den er häufiger aufsuchte, die nötigen Schritte im voraus geplant.
Ziemlich in der Nähe gab es eine öffentliche Toilette, deren Rückseite einer kleinen Gasse zugewandt war. Ari ging rasch, aber nicht so schnell, daß er Verdacht erregte, darauf zu. Falls die beiden hinter ihm wußten, daß er beseitigt werden sollte, dann hatten sie zumindest nicht den Auftrag, es zu tun, denn sonst wäre er nicht mehr am Leben. Das bedeutete, daß er etwas Zeit hatte. Aber selbst im günstigsten Fall konnte es nicht viel sein.
Ais Ari das Toilettenhäuschen betrat, sah er erleichtert, daß es leer war. Es gab ein kleines Fenster in der Rückwand einer der Toiletten. Er kletterte rasch hindurch, ließ sich auf die Gasse fallen und lief zu einer knapp 50 Meter entfernten Hauptstraße. Als er die Gasse verließ, eilte er auf eine große Kreuzung zu. Bevor er sie erreichte, hielt er ein vorbeifahrendes Taxi an. Sobald er sich gesetzt hatte, sank er in dem Sitz nach unten und sah vorsichtig aus dem Fenster. Von seinen „Beschützern“ war nichts zu sehen. Sie mußten inzwischen in Panik sein.
„Banque Franqaise Internationale“, sagte Ari und gab dem Fahrer den Namen der nächsten Bank, auf der er ein größeres Konto hatte.
Als sie an diesem Ziel ankamen, gab er dem Taxifahrer einen 500 Francs-Schein. „Ich muß noch an verschiedene andere Stellen fahren“, kündigte Ari mit vertrauensvoller Stimme an. „Ich werde nur einige Minuten brauchen. Sie warten auf mich, ja? Es wird nicht Ihr Schade sein.“
„Bien sür, Monsieur“, erwiderte der Fahrer eifrig.
Es war später Nachmittag und die Schlangen vor den Schaltern waren frustrierend lang. Ari wählte nicht die kürzeste Schlange, sondern stellte sich dort an, wo er die Kassiererin am besten kannte. Es war eine freundliche junge Frau, die mit seinem Konto vertraut war und die ihn erkennen würde. Nicht nur Paxon brauchte Bargeld. Er brauchte es auch. Und dies würde seine letzte Gelegenheit sein. Er
hatte hier ein Guthaben von etwa 1,5 Millionen Francs, und er würde genügend Geld auf dem Konto lassen, um nicht unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.
Während er wartete, daß er an die Reihe kam, zog Ari das Scheckbuch für diese Bank aus seiner Aktentasche. Er war hier als Jean-Claude Hebert bekannt und besaß natürlich alle nötigen Ausweispapiere, um das zu belegen. Er schrieb einen Scheck über 1,2 Millionen Francs auf seinen eigenen Namen aus und reichte ihn der Kassiererin, als er endlich an die Reihe kam.
„Bonjour, Monsieur Hebert!“ begrüßte sie ihn freundlich. „Ich habe Sie mehrere Monate nicht gesehen. Sie sind wahrscheinlich wieder auf Reisen gewesen, oder?“
„Ja, mehr als mir lieb war“, erwiderte Ari trocken. „Aber man muß ja Geld verdienen. C’est la vie. “
„Möchten Sie einen Bankscheck?“
„Nein, ich hätte gern Bargeld.“
„Ich werde in die Stahlkammer gehen müssen. Kann ich es Ihnen in 10.000 Francs-Noten geben?“
„In Ordnung ... aber geben Sie mir 200.000 in 5.000 Francs-Noten.“
Die Kassiererin gab seine Kontonummer in den Computer ein. „Lassen Sie mich nur kurz nachsehen, ob Sie auch genug auf dem Konto haben, um dies hier zu decken...“ Sie zog erstaunt ihre Augenbrauen hoch. „Hier steht, daß Ihr Konto aufgelöst wurde.“
„Unmöglich! Auf diesem Konto sollten zur Zeit etwa 1,5 Million Francs sein.“
„Oh, ich verstehe. Hier ist eine Nachricht im Computer, daß Sie sich beim Direktor melden sollen.“
Ari dachte hastig nach. Das kann unmöglich ein Versehen sein. Sie haben alle meine Konten gelöscht! Daß ich mit dem Direktor sprechen soll, ist nur eine List, um mich hier festzuhalten, bis die Polizei eintrifft... oder die Mörder ... „Oh ja, ich möchte in der Tat mit dem Direktor sprechen, darauf können Sie sich verlassen. Und zwar sofort!“ erwiderte Jean-Claude aufgebracht. „Aber draußen wartet ein Taxi auf mich. Ich werde ihm nur sagen, daß es weiterfahren soll. Ich bin sofort zurück.“
Ari eilte aus der Bank und sprang in das Taxi. „Place Denfert-Roche-reau“, sagte er und nannte einfach ein weit entferntes Ziel. Die Fahrt dorthin würde ihm Zeit zum Nachdenken geben. In einer anderen Bank hatte er fünf Millionen Francs in einem Bankschließfach hinter-
legt. Aber unter diesen Bedingungen war es zu riskant, dorthin zu gehen. Er verfluchte sich selbst wegen seiner Nachlässigkeit. Er hätte seine Reserve für den Notfall bei sich tragen sollen.
Aris Gedanken waren jetzt eine wilde Mischung von Angst und Wut. Die Ironie des Ganzen war zum Verrücktwerden. Der Erfolg hat meine Arbeit beendet! Ich habe die Studenten, die ich geleitet habe, verloren. Die meisten Führer, die ich trainiert und mit denen ich gearbeitet habe, kandidieren in der neuen Demokratiewelle in Osteuropa für politische Ämter. Ich habe es nicht geschafft, die arabische Welt zu knacken, und in China ist meine Organisation zerschlagen worden. Sie haben fürchterliche Angst vor dem, was ich in der Sowjetunion tun könnte — und im Westen. Sie wollen nicht, daß ich weiterarbeite. Ich bin eine Bedrohung. Sie müssen mich einfach umbnngen.
24. Staatenlos
„Halten Sie an der nächsten Telefonzelle an“, sagte Ari zu dem Fahrer. „Mir ist gerade eingefallen, daß ich noch einen wichtigen Anruf machen muß. Sehen Sie die da vorne ... auf der rechten Seite. Es wird nicht lange dauern.“
In der Telefonzelle wählte Ari die Nummer von Rogers Büro im Hauptquartier der Bankengruppe — eine Nummer, die Roger ihm nie gegeben hatte. Er würde überrascht sein, daß Ari sie kannte. Der Empfang stellte ihn zu Rogers Sekretärin durch.
„Es tut mir leid, aber Herr Dünn ist gerade in einer Sitzung. Kann ich ihm etwas ausrichten und soll er Sie zurückrufen?“
„Sagen Sie Herrn Dünn, daß der Mann, den er sucht, am Apparat ist“, erwiderte Ari gelassen, „und wenn er nicht in 30 Sekunden am Apparat ist, werde ich wieder auflegen!“
Roger war beinahe sofort am Telefon. „Hallo?“
„Guten Tag.“
„Woher hast du diese Nummer? Wo bist du?“
„Warum habt ihr meine Konten geschlossen?“
„Das wollte ich dir erklären, Ari.“ Die Antwort kam zu rasch, zu glatt. „Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Wir müssen uns zusammensetzen und reden. Wir müssen einige neue Vorgehensweisen ausarbeiten ...“
„Ich will keine weiteren Lügen hören! Jetzt hör mir mal zu. In zehn Minuten werde ich die Stufen zum Haupteingang der Banque du Monde Internationale hinaufgehen. Ich will, daß du aus deinem Büro hinunter auf die Straße kommst und dich dort mit mir triffst, mit Jean Bourbonnais an deiner Seite.“
„Bourbonnais?“
„Ja, Bourbonnais!“
. „Nun, er ist... der Präsident der Bank. Ich werde jemanden wie ihn kaum dazu bewegen können, sich mit dir zu treffen ... schon gar nicht so kurzfristig ... und auf der Straße? Hör mal! Er hat sowieso absolut nichts mit deinen Konten zu tun.“
„Ich sagte, keine weiteren Lügen! Er ist der Präsident des europäischen Zweiges eurer Gruppe. Ich habe seit fünfzehn Jahren Spione in eurer Organisation. Ich weiß alles. Ihr habt Befehl erteilt, mich zu beseitigen — richtig?“
Lange Zeit war es still. „Okay, Ari. Du hast keine Chance zu ent-
kommen, und deshalb gebe ich zu, daß es so ist. Aber ich kann nichts daran ändern. Du weißt zu viel.“
„Falsch, Roger. Ihr braucht mich dringend ... und zwar lebend. Und jetzt hör mir genau zu. Ich weiß alles. Falls ich getötet werde ... oder falls ihr irgend jemandem, von dem ihr annehmt, daß er für mich arbeitet, etwas antut... wird das der schlimmste Fehler sein, den ihr je gemacht habt. Falls ich sterbe ... oder verschwinde... ganz gleich, unter welchen Umständen ... gibt es ein halbes Dutzend Leute in strategisch wichtigen Positionen auf der ganzen Welt, die sofortigen Zugriff zu Unterlagen haben, die euer gesamtes internationales Netzwerk aufdecken — und sie werden das in jeder größeren Zeitung veröffentlichen. Ich rede über alles, angefangen beim Waschen von Geldern aus dem Drogenhandel bis zum Waffenschmuggel ... dem Verkauf von Technologie zur Herstellung von Giftgas an den Irak, der Unterstützung von Pakistans Atomwaffenprogramm ... und so weiter und so fort.“
Am anderen Ende der Leitung war es sehr still.
„Ist dir klar, wovon ich rede?“
„Ich habe schon verstanden“, kam schließlich die gedrückte Antwort.
„Also, gibt es irgendeinen Grund, weshalb sich Bourbonnais nicht in zehn Minuten mit mir treffen kann?“
„Er wird da sein.“
Ari sprang zurück ins Taxi. „Vergessen Sie Place Denfert. Bringen Sie mich zur Hauptgeschäftsstelle der Banque du Monde Internationale.“
Als das Taxi vor der Bank hielt, überflog Ari rasch die Szene. Bourbonnais, ein großer schlanker Mann Anfang sechzig mit gepflegtem grauem Haar und Schnurrbart und einem aristokratischen Auftreten, stand draußen vor der Bank und wartete auf ihn. Roger ging neben ihm auf und ab und beobachtete angespannt den Verkehr. Der Strom der Fußgänger schien normal zu sein. Natürlich würden überall Sicherheitsbeamte verstreut sein, aber dagegen konnte er nichts tun. Sie würden ihn nicht hier vor all diesen Zeugen erschießen.
„Das war’s dann“, sagte Ari. „Ich werde Sie nicht mehr brauchen.“ Er reichte dem Taxifahrer einen 200 Francs-Schein und trat hinaus auf den Bürgersteig.
Bourbonnais war so höflich und kriecherisch wie ein Politiker auf Stimmenfang. Er streckte freundlich seine Hand aus, als Ari zu ihm hinaufstieg und sagte mit gebildeter Stimme: „Professor Müller! Es ist
mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen. Lassen Sie uns in mein Büro gehen, wo wir die Dinge ungestört besprechen können.“
Ari ignorierte die ausgestreckte Hand und gab kurz angebunden zurück: „Nachdem wir die Lage geklärt haben.“ Er zog ein Dutzend Blätter aus einer Innentasche seines Mantels und entfaltete sie. „So viel, damit Sie wissen, daß ich nicht bluffe“, sagte er, als er sie Bourbonnais überreichte. „Die Unterlagen, die ich mehreren Leuten übergeben habe, um sie sicher zu verwahren, umfassen mehr als 250 Seiten, jedes einzelne gedrängt voll mit Informationen und Belegquellen ähnlich dem, was sie gerade lesen.“
Bourbonnais überflog eilig den Inhalt, und Roger sah ihm besorgt über die Schulter. „Woher haben Sie diese Propaganda?“ wollte der Bankier wissen, nachdem er die ersten drei oder vier Seiten überflogen hatte. Sein Gesicht war rot vor Wut. „Sie können nichts davon beweisen!“
„Lesen Sie doch weiter“, schlug Ari ruhig vor, wobei er auch Roger in seinen kühlen Blick entschloß. „Meine Herren, Sie wissen genausogut wie ich, daß sie auf dem größten Banken- und Kriminalskandal aller Zeiten sitzen ... und ich habe es alles bis ins letzte fein säuberlich aufgelistet. Diese Seiten sind nur ein Muster.“
Die beiden Männer fingen wieder an zu lesen, diesmal sorgfältiger. Schon bald zitterten Bourbonnais’ Finger beim Umblättern. Schließlich faltete er die Blätter zusammen und steckte sie in seine Tasche. Er war bleich geworden, und als er Ari ansah, verrieten seine Augen die Tatsache, daß er überzeugt war und bereit, zu verhandeln.
„Nun gut“, sagte Bourbonnais zögernd. „Sie haben ihre Lebensversicherung. Aber wir haben einige ernste Probleme zu lösen. Gehen wir in mein Büro.“
„Ihnen ist klar, was passiert, wenn ich dort nicht lebend wieder herauskomme?“ hakte Ari nach.
„Das ist mir klar — und wir wollen das genausowenig wie Sie.“ Bourbonnais sah Roger fragend an, und der nickte grimmig.
Als sie in seiner geräumigen Suite im 20. Stock waren, wies Jean Bourbonnais auf ein Sofa, wo sich Ari und Roger setzen sollten. Er selbst setzte sich ihnen gegenüber in einen dick gepolsterten Chefsessel hinter seinem gewaltigen Schreibtisch.
„Also, Sie sagten, es gäbe 250 Seiten. Woher weiß ich, daß das stimmt?“ wollte der alte Fuchs wissen. Jetzt, wo er wieder sicher in seinem Bau war, klang er gewitzt und zuversichtlich.
„Sie werden meinem Wort glauben müssen“, sagte Ari fest.
„Das reicht nicht aus. Ich will sie sehen. Ich will Beweise.“
Ari öffnete seine Aktentasche, zog weitere 30 oder 40 Seiten heraus und knallte sie auf den ordentlich aufgeräumten Schreibtisch des Bankiers. „Mehr kriegen Sie nicht. Ich werde Ihnen nicht alles sagen, was ich weiß. Aber falls Sie Ihren Namen suchen sollten, werden Sie entdecken, daß er dort eine bedeutende Rolle spielt.“
Roger sprang auf, um Bourbonnais über die Schulter zu sehen. Der blätterte rasch durch die Papiere, hielt hier und da inne, sah einen Absatz genauer an und fluchte leise vor sich hin. Wieder wechselte seine Gesichtsfarbe von verschiedenen Rosatönen bis zu dunkelrot — und schließlich wurde er kreidebleich. Er ließ die Papiere aus seiner Hand auf den Tisch fallen und starrte Ari verzweifelt an. Roger warf Ari einen Blick zu, der teils voller Haß und teils bewundernd war, kehrte zum Sofa zurück, ließ sich hineinfallen und sah den Mann, der das Sagen hatte, erwartungsvoll an.
„Sie haben ihre Karten auf den Tisch gelegt“, sagte Bourbonnais widerwillig. „Es sieht aus, als hätten Sie ein ausgezeichnetes Blatt. Sie sind ein sehr kluger Mann, Dr. Müller. Und genau deshalb haben wir ja auch all die Jahre mit Ihnen zusammengearbeitet. Aber da gibt es mehrere Dinge, die uns Sorgen bereiten. Am besten sprechen wir sie eines nach dem anderen durch.“
„Ja, das sollten wir tun“, erwiderte Ari kühl.
„Zunächst einmal haben Sie mein Wort, daß wir von diesem Moment an nicht mehr die Absicht haben, Sie zu töten. Wir werden sogar einige unserer besten Männer damit beauftragen, Tag und Nacht in ihrer Nähe zu bleiben, um dafür zu sorgen, daß Sie gut geschützt sind!“ „Auf ihr Wort würde ich keinen Pfennig geben“, sagte Ari sachlich. „Wh besprechen diese Angelegenheit, weil wir beide keine andere Wahl haben. Habe ich recht?“
Bourbonnais nickte ernst.
„Und was Ihren ,Schutz’ angeht“, fügte An gereizt hinzu und fuhr sich rasch mit dem Daumen quer über den Hals, „so steht er mir bis hier. Ich will ihn keine Minute länger haben!“
„Angenommen, jemand anders bringt Sie um ...“
„Ich kann allein auf mich aufpassen!“ unterbrach ihn Ari. „Angenommen, Sie sterben auf natürliche Weise“, argumentierte Bourbonnais. „Ohne jede Schuld unsererseits ... trotzdem werden Ihre Freunde gemäß Ihren Anweisungen diese Informationen veröffentlichen. So hat es mir zumindest Roger gesagt. Das ist doch nicht Ihre Absicht, oder?“
„Wenn ich tot bin, ist mir das vollkommen egal. Sie müssen eben hoffen, daß das nicht passiert.“
„Einen Moment mal!“ warf Roger ein.
„Hören Sie ... ich bin noch relativ jung und meine Gesundheit ist ausgezeichnet. Und ich habe vor, weiterhin gesund zu bleiben. Aber falls das tatsächlich geschehen sollte, wäre es gut, wenn Sie sehr schnell beweisen würden, daß es ein natürlicher Tod war.“
Bourbonnais sah Roger an. Aber der reagierte nur mit einem resignierten Achselzucken.
„Das gefällt mir ganz und gar nicht“, klagte Bourbonnais. „Aber das ist im Moment unwesentlich. Als erstes müssen wir die Frage des Asyls lösen.“
„Was meinen Sie mit Asyl?“ wollte Ari rasch wissen.
„Nun, eben Asyl. Wir müssen ein Land finden, das Sie aufnimmt.“ „Ein Land, daß mich aufnimmt? Was ist so verkehrt an Frankreich? Ich werde hierbleiben!“
„Das ist völlig unmöglich.“
„Was ist das wieder für ein Trick?“
„Ich will es Ihnen erklären“, sagte Bourbonnais mit geduldiger Stimme, so, als spräche er mit einem wichtigen Kunden. „Während der letzten zehn Jahre waren sie ganz oben auf der Fahndungsliste der Interpol. Das war einer der Gründe für den,Schutz’, den Sie nicht haben mochten. Wir haben Sie zurückgehalten, bis Osteuropa hinter uns lag. Es ist für Sie unmöglich, in Frankreich zu bleiben ... oder in irgend einem Land, das an das Fahndungsnetz der Interpol angeschlossen ist.“
„Sie lügen. Ich habe keinerlei Verbrechen begangen!“
„Sie schulden der französischen Regierung Millionen an Steuern und Strafgeldern für Kapital, das Sie auf verschiedenen Konten deponiert und niemals als Einkommen angegeben haben. Die letzten 25 Jahre haben Sie unter falscher Identität gelebt, haben Grenzen mit gefälschten Papieren überquert, auf internationaler Ebene Gelder durch illegale Kanäle weitergereicht... wollen Sie noch mehr hören?“ „Das Geld ist von Ihren Firmen gekommen... und das belastet Sie.“ „Falsch. Sie sind sehr klug ... aber diesmal haben wir Sie überlistet. Diese Firmen, die Ihnen das Geld gegeben haben, waren alle in illegale Aktivitäten veiwickelt ... aber niemand ist in der Lage gewesen, die Hintermänner aufzuspüren. Die annullierten Schecks sind von der Polizei bei einem Feuergefecht mit einem Drogenboß sichergestellt worden. Er wurde getötet, und in seiner Aktentasche fand man die
Schecks. Die Bankkonten, auf denen sie deponiert waren, gehörten Ihnen ... unter falschen Namen.“
„Und falls man mich festnehmen sollte, werde ich sagen, woher ich sie habe ...“
„Und wir werden Sie wegen Verleumdung verklagen! Sie können keinerlei Verbindung zu uns nachweisen. Wir wissen, daß Sie versucht haben, diese Firmen aufzuspüren, und daß es Ihnen nicht möglich war.“
Ari starrte aus dem Fenster hinaus auf die Skyline von Paris, die sich am Horizont erstreckte. „Klingt so, als sei ich staatenlos“, gab er sich schließlich geschlagen.
„Sie können uns glauben, daß wir Sie lieber hier hätten“, sagte Bour-bonnais. „Aber es würde keinen guten Eindruck machen, wenn wir versuchten, unsere Beziehungen für so einen Kriminellen spielen zu lassen, nicht wahr?“
„Natürlich nicht!“ erwiderte Ari sarkastisch. „Ich könnte es wirklich nicht zulassen, daß dieses Verbrechen Ihr blütenreines Gewissen beschmutzt.“
„Ich bin froh, daß Sie einsehen, daß alles gesetzesgemäß laufen muß. Wir arbeiten immer auf diese Weise.“
„Selbstverständlich tun Sie das“, erwiderte Ari bitter. „Wenn Sie sicher gehen wollen, daß ich nicht wieder ins Geschäft komme!“
„Das ist Teil des Handels — und wir möchten, daß Sie uns das schriftlich versprechen ...“
„Vergessen Sie es!“ unterbrach ihn Ari wütend. „Ich gebe keine Versprechen — und Sie könnten mir sowieso keinen Handel aufzwingen. Sie wollen mir drohen, mich umzubringen? Falls ich sterbe ... oder verschwinde ...“
„Wir wollen Sie zu gar nichts zwingen.“ Bourbonnais klang jetzt wieder zuversichtlich. „Sie sind in ganz Europa — Ost wie West —, den Vereinigten Staaten und Südamerika eine Persona non grata. Die Sowjets lassen Sie nicht in ihr Land. Das Visum, daß Sie für morgen für Ihren Flug nach Moskau hatten, ist rückgängig gemacht worden. Sie hätten das Flugzeug nicht besteigen können. Die Chinesen wissen, daß Sie der ausländische Agent sind, der hinter Tiananmen steht ... dafür haben wir gesorgt.“
„Besten Dank“, sagte Ari, der Mühe hatte, sich zu beherrschen. „Fahren Sie fort. Ich höre zu.“
„Die Schweiz wird Sie vielleicht nehmen“, schlug Bourbonnais vor. „Oder irgendeine Insel im Pazifik. Fiji vielleicht, oder Neu-Kaledonien
— oder vielleicht sogar Neuseeland. Irgendein Ort, der weit weg ist und wo Sie sich nicht mehr in irgendwelche Schwierigkeiten bringen können ..
Ari zuckte mit den Schultern. „Okay, ich nehme an, ich werde hier in Ihrem Büro unter Ihrem ,Schutz’ bleiben, bis Sie ein Land finden, das mich aufnimmt. Und was, wenn Sie keines finden?“
„Wir werden eines finden.“ Bourbonnais nahm den Hörer ab und telefonierte mit seiner Sekretärin. „Verbinden Sie mich mit dem Premierminister von Fiji... oder dem Beamten, der für Neu-Kaledonien verantwortlich ist. Und wenn im Augenblick keiner von beiden erreichbar ist, versuchen Sie es beim Premierminister von Neuseeland. Rufen Sie bei ihnen zu Hause an... oder auf dem Golfplatz, oder ihrer Jacht... wo auch immer Sie sie erreichen können. Es handelt sich um einen dringenden Notfall.“
Er legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Hoffen wir, daß das nicht zu lange dauert“, sagte Bourbonnais mit einem hintergründigen Lächeln. „Was würden die Herren gerne trinken?“
25. Ein unglücklicher Kompromiß
Es war die pure Ironie. Nach sechs Stunden schwieriger Verhandlungen mit verschiedenen Regierungen, die durch Bourbonnais’ ausgezeichnete politische Kontakte ermöglicht wurden, war das winzige Israel die einzige Nation, die bereit war, Ari zur Einwanderung zuzulassen. Und dieser Durchbruch kam erst in letzter Minute zustande. Ari erwähnte, daß er möglicherweise ein jüdischer Überlebender der Massenvernichtung der Nazis sei — und war somit endlich bereit zuzugeben, was er sein ganzes Leben lang zu leugnen und zu vergessen versucht hatte. Eigentlich war es Abduls abstoßende Anti-Israel-Rhetorik gewesen, die so sehr an den Nazi-Slogan Deutschland, erwache! Juda, verrecke! erinnerte, welche erst kürzlich langunterdrückte Erinnerungen in ihm geweckt hatte.
Die israelischen Computer konnten innerhalb kurzer Zeit genügend von der Geschichte bestätigen, die Ari Bourbonnais erzählte, um sie davon zu überzeugen, daß sie echt war. Ja, es war ein junges jüdisches Ehepaar registriert — ein gewisser Jakob und eine Elisabeth Thalberg, Lehrer, die in dem kleinen Dorf in der DDR, in dem Ari geboren und bei seinen Pflegeeltern aufgewachsen war, gelebt hatten. Und ja, es war bekannt, daß die Thalbergs irgendwann Anfang 1944 aus dem Dorf geholt worden waren und kurz vor der Befreiung durch die Russen im Januar 1945 umgekommen waren. Es gab keinerlei Aufzeichnungen darüber, daß dem jungen Paar ein Kind geboren war, aber es schien wenig Zweifel daran zu bestehen, daß Ari ihr einziges Kind gewesen war.
Und so kam schließlich die gute Nachricht, als Bourbonnais endlich den Hörer auflegte und verkündete: „Es werden Papiere auf den Namen An Thalberg ausgestellt, die es Ihnen erlauben, nach Israel einzuwandern. Als Überlebenden des Holocausts konnten sie Sie nicht abweisen. Bis zu Ihrer Abreise werden Sie in Schutzhaft bleiben ...“ Bourbonnais drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch.
Die Tür ging auf und vier Offiziere in Zivil traten ein. Sie zogen Revolver mit kurzem Lauf aus ihren Schulterhalftern und gingen vorsichtig auf An zu.
„Steckt die Waffen weg!“ befahl Bourbonnais nervös. „Er wird so mitgehen. Jeder, der auch nur einen Finger an ihn legt, ist erledigt!“
„Was soll das?“ protestierte Ari.
„Sie werden wie ein König behandelt werden“, kam die besänfti-
gende Antwort. „Sie werden ein ,Gast der französischen Regierung’ sein, bis Sie sicher an Bord der El Al und auf dem Weg nach Israel sind. Sie wissen, daß wir Sie nicht einfach so da draußen herumlaufen lassen können.“
„Wann erhalte ich meine persönliche Habe ... aus meinem Büro in der Universität und aus meiner Wohnung?“
„Es wird alles verpackt und nach Israel transportiert werden — auf unsere Kosten. Sie brauchen keinen Finger zu rühren.“
„Sie sollten mich besser ein paar Anrufe machen lassen — sofort“, verlangte Ari.
„Das wird nicht nötig sein.“
„Meine Studenten ... meine Kontakte ... die Universität. Ich kann nicht einfach verschwinden. Irgend jemand wird das erklären müssen.“
„Roger hat das alles unter Kontrolle“, gab Bourbonnais zurück. „Nicht wahr?“
Roger nickte. „Ich habe bereits eine Pressekonferenz angesetzt. Jeder wird benachrichtigt werden.“
Nicole stillte ihr zwei Wochen altes Baby und sah dabei die Abendnachrichten, als sie zu ihrer Überraschung Ari erblickte, der vom israelischen Generalkonsul interviewt wurde. Die kurze Diskussion enthüllte eine Entdeckung, die erst kürzlich gemacht worden war: Dr. Hans Müller, ein beliebter Professor für Politische Wissenschaften an der Sorbonne und seit fünf Jahren Leiter dieser Abteilung, war in Wirklichkeit Dr. Ari Thalberg, ein jüdischer Überlebender des Holocausts der Nazis. Dies war erst an jenem Nachmittag zufällig entdeckt worden. Daraufhin war Dr. Thalberg von der israelischen Regierung eingeladen worden, nach Israel einzuwandern. Er verließ seinen Posten an der Universität und sollte innerhalb weniger Tage nach Israel fliegen.
Die Nachricht, daß Ari ein Jude sei, explodierte in Nicoles Bewußtsein wie eine Bombe. Hatte er deshalb solch eine Aversion gegen Jesus Christus? Wie wenig sie doch eigentlich über diesen rätselhaften Mann wußte! Später an jenem Abend rief sie ihn an, um ihm für seine neue Identität und seine neuen Pläne Glück zu wünschen. Aber
es war nicht möglich. Das Telefon in seiner Wohnung war stillgelegt worden. Am nächsten Tag rief sie seine Sekretärin an der Sorbonne an.
„Michelle, hier ist Nicole. Ich versuche, Dr. Müller zu erreichen. Gestern abend habe ich in seiner Wohnung angerufen, aber die Leitung ist stillgelegt worden
„Wh haben auch versucht, ihn zu erreichen. Er hat sich überhaupt nicht bei uns gemeldet. Das einzige, was wir gehört haben, war die Ankündigung in den Nachrichten gestern abend. Wenn Sie etwas herausfinden, lassen Sie es uns wissen!“
Inzwischen war Nicole besorgt. Sie rief die israehsche Botschaft an. Auch hier biß sie auf Granit. Keiner der verschiedenen Personen, an die sie verwiesen wurde, wollte zugeben, daß er auch nur das geringste über einen Hans Müller oder einen Ari Thalberg wußte. Schließlich erreichte sie jemanden, der zugab, etwas zu wissen, der aber keinerlei Informationen herausgab.
„Es tut mir leid, aber Dr. Thalberg hat sich zurückgezogen. Es war ein Schock für ihn, seinen jüdischen Ursprung und den Namen und das Schicksal seiner Eltern zu entdecken... und er hat darum gebeten, nicht gestört zu werden.“
„Aber ich war seine beste Freundin“, protestierte Nicole.
„Wenn das so ist, bin ich sicher, daß er sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird, wenn er soweit ist.“
„Na gut, wann wird er abreisen? Ich könnte ihn zumindest am Flughafen verabschieden.“
„Das wissen wir leider nicht — und wenn wir es wüßten, dürften wir es niemandem mitteilen. Auf Wiederhören, Mademoiselle. “
Jetzt war Nicole davon überzeugt, daß irgend etwas schrecklich schief gelaufen war. Sie saß am Telefon und fragte sich, was sie tun sollte. Dann fiel ihr die Telefonnummer ein, die ihr Ari vor Monaten für den Notfall gegeben hatte. Sie fand sie in ihrer Handtasche und wählte.
„Herr Dünn hat den ganzen Tag lang Besprechungen mit Klienten“, verkündete seine Sekretärin. „Kann Ihnen vielleicht jemand anders helfen?“
„Richten Sie Herrn Dünn bitte aus“, sagte Nicole verschwörerisch, „daß ich einige Informationen über Ari Thalberg habe, die für ihn von großem Interesse sind ... und daß ich unverzüglich mit ihm sprechen muß.“
Roger kam beinahe sofort ans Telefon. „Sie haben einige Informatio-
nen? Mit wem spreche ich ... und woher haben Sie meinen Namen und diese Nummer?“
„Herr Dünn“, begann Nicole mit fröhlicher, sorglos-zuversichtlicher Stimme, „soweit ich mich erinnere, haben wir uns nur einmal getroffen. Aber Ari hat mir sehr viel von Ihnen erzählt.“
„Ari hat Ihnen diese Nummer gegeben? Wer sind Sie?“
„Ich bin Nicole. Ich habe sechs Jahre lang mit Ari zusammengelebt.“ „Oh ja, ich erinnere mich.“ Roger klang jetzt vorsichtig. „Sie haben einige Informationen über ihn, die Sie mir geben wollten?“
„Bevor wir darüber reden ... Ari ist verschwunden, und Sie wissen wahrscheinlich, wo er sich befindet.“
„Ich habe ihn erst gestern abend im Fernsehen gesehen.“
„Das habe ich auch. Aber er ist nicht in seiner Wohnung, sein Telefon ist stillgelegt ... die Universität weiß nicht, wo sie ihn erreichen kann ...“
„Da wissen Sie mehr als ich.“
„Hören Sie doch auf mit diesen Spielchen, Roger. Ich bin nicht von gestern. Ich bin zufällig eine von jenen Personen — und ich weiß, daß es noch mehrere andere gibt —, denen Ari einen Packen Dokumente gegeben hat. Und ich weiß, daß Sie es nicht gern sähen, wenn sie veröffentlicht würden. Das würde ich natürlich auch nicht tun, es sei denn, Ari würde sterben — oder verschwinden. “
Am anderen Ende der Leitung war es längere Zeit still. „Sie wissen doch, wovon ich spreche?“ beharrte Nicole.
„Ja. Fahren Sie fort.“
„Ich wäre nicht so dumm, Ihnen das mitzuteilen, ohne mich sorgfältig abgesichert zu haben. Die Unterlagen werden an einem sicheren Ort aufgehoben und veröffentlicht — sogar, wenn ich sterben oder verschwinden würde —, falls und wenn die Bedingungen, die Ari festgelegt hat, erfüllt sind.“
„Was wollen Sie von mir?“
„Ich will Ari sehen.“
„Das ist unmöglich.“
„Dann habe ich keine andere Wahl. Ich werde Aris Anweisungen folgen und das Material freigeben.“
„Er ist nicht tot!“ erklärte Roger aufgeregt.
„Aus welchem Grund sollte ich Ihnen glauben? Ob tot oder lebendig, er ist verschwunden. Seine Anweisungen lauten ausdrücklich, daß, falls er verschwinden sollte ...“
„Er ist nicht verschwunden. Es gibt keinerlei Grund ...“
„Falls ich nicht irgendeinen Beweis erhalte“, sagte Nicole eisig, „habe ich keine andere Wahl, als Aris Anweisungen zu folgen und das Material
„Er wird morgen früh abfliegen“, unterbrach Roger. Es folgte eine lange Pause. Schließlich gab er nach. „Okay, wir werden folgendes tun: Wenn Sie morgen um acht Uhr früh am Orly Sud sind, können Sie An sehen.“
„Wo? Am El Ai-Flugsteig?“
„El Al ist nicht ausgeschildert — aus Sicherheitsgründen. Warten Sie einfach draußen vor dem Haupteingang. Ich hole Sie ab.“
„Ich werde dort sein!“
26. „Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein.“
Als Nicole Dr. Duclos und seine Frau anrief, um ihnen die gute Nachricht von ihrem Treffen mit Ari am nächsten Tag mitzuteilen, bestanden die beiden darauf, sie zum Flughafen zu bringen. „Es ist zu viel für dich ... allein mit dem Baby dort rauszufahren.“ Ihre Ein wände wurden beiseite gewischt. „Es bleibt dabei. Wir holen dich um 6.30 Uhr morgen früh ab.“
Es war kurz vor 8.00 Uhr, als sie vor dem Südterminal des internationalen Flughafens Orly hielten. Nicole stieg aus, Klein-Ari in den Armen, und sah sich um. „Wir werden hierbleiben, bis du wiederkommst“, rief Dr. Duclos ihr nach.
Nicole konnte sich nur vage an Roger als einen sehr großen Texaner erinnern. Aber sie war sicher, daß er sie kennen würde. Nervös ging sie beim Auto auf und ab. Zehn Minuten vergingen. Hatte man sie vielleicht betrogen? Plötzlich rannte ein großer Mann von etwa 50 Jahren durch eine der Eingangstüren und kam direkt auf sie zu.
„Nicole?“ fragte er. Seine Stimme klang angespannt, und als sie nickte, fuhr er sie sofort an: „Wo sind Sie gewesen?“
„Sie sagten 8.00 Uhr, und ich war kurz vor 8.00 hier.“
„Sie konnten nicht warten. Sie haben ihn schon durch die Sicherheitskontrolle gebracht.“ Erst jetzt schien er das Bündel zu bemerken, das sie trug. „Sie können das Baby nicht mitnehmen!“
„Warum nicht? Dies ist Ans Sohn! Er hat ihn noch nie gesehen.“
„Unmöglich! Ist noch jemand bei Ihnen?“
„In dem Auto dort drüben“, sagte Nicole. „Bitte! Sind Sie denn kein Mensch?“
Roger hatte bereits ihren Arm gepackt und steuerte mit ihr auf das geparkte Auto zu. Ein Polizist winkte dem Fahrer, weiterzufahren. „Lassen Sie sie dort stehen!“ schrie Roger. Er zog etwas aus der Tasche, was so groß war wie ein Ausweis, öffnete es und wedelte damit vor dem Polizisten herum.
„Oui, Monsieur“, sagte der Polizist und bedeutete Dr. Duclos, er solle bleiben, wo er war.
Nicole öffnete die vordere Wagentür und reichte Francois den kleinen Ari Paul. „Hier. Ari ist schon durch die Sicherheitskontrolle, und sie erlauben mir nicht, das Baby mitzunehmen. Falls mir etwas passie-
ren sollte ... bitte denkt daran, daß ihr euch um ihn kümmern sollt ..
„Mach dir keine Sorgen. Wir werden hierbleiben ... und wir werden weiter beten.“
„Machen Sie schnell!“ befahl Roger. „Die Passagiere seines Fluges werden bald an Bord gehen.“
Nicole folgte ihm hinein. Sie mußte beinahe laufen, um mit seinen großen Schritten mitzukommen. An der Passeport Controle stand eine lange Schlange von Fluggästen. Roger führte sie zu einem dunkelhaarigen Mann in Zivilkleidung, der an der Seite stand und sich das Gesicht jeder einzelnen Person genau ansah, obwohl er so wirkte, als sehe er niemanden an.
„Hier ist sie“, sagte Roger atemlos und wies auf Nicole. Dann drehte er sich um und verschwand.
Der leere Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes veränderte sich kein bißchen, als er sie von oben bis unten ansah und ihre Handtasche verlangte. Er hatte seine sachkundige Durchsuchung schnell beendet und sagte mit starkem israelischem Akzent: „Wir geben Ihnen fünf Minuten mit ihm. Folgen Sie mir.“
Der israelische Agent führte Nicole rasch zurück, die Rolltreppe hinunter und dann eilig durch eine Menschenmenge im unteren Stockwerk. Sie kamen zu einem einsamen Polizisten und einem weiteren israelischen Mann in Zivil, die einen kurzen Gang mit einer Rolltreppe bewachten, zu der die Passagiere keinen Zutritt hatten. Ohne irgendeinen Ausweis vorzuzeigen, wurde ihr Führer mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken durchgewinkt.
„Hiermit umgehen wir die normale Sicherheits- und Paßkontrolle“, erklärte er in einem außergewöhnlichen Anflug von Höflichkeit.
Oben an der Rolltreppe hielt ein stämmiger Polizist Wache. Nicole sah, daß sie sich jetzt in einer weiteren Wartezone befand. Sie war voll von Fluggästen, die die Sicherheits-, Paß- und Gepäckkontrollen bereits hinter sich hatten und jetzt darauf warteten, daß ihr Flug aufge-rufen wurde.
„Dort drüben“, sagte ihr Führer kurz angebunden und wies quer durch den Raum. Dann sah sie ihn. Ari blickte aus einem Fester. Er wandte ihr den Rücken zu. Seine zusammengesunkene Haltung spiegelte Mutlosigkeit und große Müdigkeit wider. Zum ersten Mal nahm sie ihn als einen Mann in seinem siebenundvierzigsten Lebensjahr wahr. Er hatte immer so gehandelt und ausgesehen, als sei er viel jünger. Aber jetzt schien ihn sein Alter doch eingeholt zu haben.
Nicole wandte sich mit einem fragenden Blick zu dem Mann um, der sie hergebracht hatte. Er nickte erneut in Aris Richtung, zündete sich dann eine Zigarette an und lehnte sich mit wachsamer Aufmerksamkeit gegen eine Wand.
Nicole ging zu Ari hinüber und legte von hinten sanft eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich langsam um.
„Niki! Wie bis du hier hereingekommen?“ Anstatt sich nach ihr auszustrecken, um sie zu berühren, schien er zurückzufahren.
„Ich mußte mich einfach von dir verabschieden. Ich hatte deinen Sohn mitgebracht... aber sie haben nicht zugelassen, daß ich ihn hier hereinbringe.“
Einen Augenblick lang schien Ari wirklich enttäuscht zu sein. Dann nahm er sich wieder zusammen.
Irgend etwas war nicht in Ordnung. Seine Wangen waren gerötet, aber seine Augen waren ohne Leben und sein Gesichtsausdruck war hölzern. „Behandeln sie dich gut?“ fragte sie besorgt.
„Oh, sicher, mir geht es gut. Aber sie lassen mich nicht in Frankreich bleiben.“
„Du hast doch nicht erwartet, daß sie das tun würden, oder?“
Ein niedergeschlagener Blick und ein Schulterzucken waren seine einzige Antwort.
Nicole öffnete ihre Handtasche, zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus und hielt es ihm hin. „Hier ist meine Adresse. Wirst du mir schreiben?“
Es gab eine weitere lange Pause, bevor Ari erwiderte: „Ich hatte es nicht vor. Es ist das Beste für uns, wenn wir einander vergessen.“
„Und dein Sohn ... wird er jemals seinen Vater kennenlernen?“ Sie sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er streckte die Hand aus und nahm das Blatt Papier. Dann sah er rasch zur Seite.
„Da ist noch etwas, was ich dir unbedingt erzählen muß, Ari“, fuhr sie fort, sah auf ihre Uhr und redete eilig weiter. „Ich hatte vergangene Nacht einen Traum — und ich wollte eigentlich nicht darüber reden ... aber es war so lebendig, so real!“
Er schien immer noch abwesend und innerlich mit etwas anderem beschäftigt zu sein. „Hörst du mir zu?“ fragte sie. Er nickte.
„Du warst auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht und riefst zu mir herüber. Ich war an einem wunderschönen Ort — friedevoll ... geschützt. Irgendwie dachte ich, es sei Jerusalem und daß ich noch vor dir dort angekommen wäre. Es ist verrückt, aber als ich aufwachte, hörte ich mich sagen: ,Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein.’ Ich
habe es mehrmals wiederholt, und dann bin ich wieder eingeschlafen. Ich habe mich so ... so sicher gefühlt.“
Ari wandte sich ihr zu und sah sie aufmerksam an. Die Teilnahmslosigkeit war weg und er hörte jetzt mit tiefem Interesse zu.
„Das ist noch nicht alles. Ich habe dasselbe noch einmal geträumt. Aber dieses Mal sah ich hinter dir Flammen und Rauch und hörte laute Explosionen wie von Bomben oder Schüssen. Es kam näher. Ich wußte, daß du dich in schrecklicher Gefahr befandest. Du riefst, daß dir jemand helfen solle. Dann geschah etwas sehr Seltsames. Aus dem Nichts erschien ein Mann, der vor mir am Rande des Abgrunds stand. Er beugte sich nach unten und neigte sich weit vor, um die Schlucht zu überbrücken, und du liefst schnell über seinen Rücken und in meine Arme ..
„Niki ... Niki. Nicht noch mehr messianische Verrücktheiten . .. nicht in diesen wenigen Augenblicken ...“
„Es war so real“, beharrte sie atemlos, „so, als würde es wirklich geschehen. Er legte seine Arme um uns beide ... und ich bemerkte seine Wunden ... Oh Ari“, endete Niki hilflos.
Aris Gesicht wurde rot. „Bitte, Liebling. Nicht jetzt. Unser letztes ... vielleicht unser letztes Treffen — und das ist alles, was du mir zu sagen hast? Bitte laß das, Niki.“
„An . .. ich mußte es dir einfach erzählen.“ Sie schluchzte bei diesen Worten. „Ich weiß einfach, daß es irgend etwas Wichtiges bedeutet... für uns beide!“
Die Spannung, die zwischen ihnen lag, wurde von der festen Stimme des israelischen Sicherheitsbeamten unterbrochen, der Nicole ansprach. „Sie müssen jetzt mit mir kommen.“
Aris Ausdruck wurde sanft. Er streckte die Hand aus und berührte Nicoles Arm. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich werde schreiben ... und vielleicht kannst du und unser ... unser ... Sohn eines Tages nach Israel kommen ...“
In dem Moment kam vom unteren Stockwerk das scharfe Stakkato von Maschinengewehrsalven, und aus dem Stimmengewirr in dem großen Raum wurde ein tödliches Schweigen. Aus dem Augenwinkel sah Nicole, wie der Polizist am oberen Ende der Rolltreppe herumwirbelte und seine Waffe nach unten richtete. Im selben Augenblick wurde er von der Gewalt der Kugeln, die mit Macht auf seinem Körper aufprallten, in die Luft gehoben und nach hinten geworfen. Die Szene verwandelte sich in einen schrecklichen Alptraum, der sich in Zeitlupe vor ihren Augen abspielte. Der Gendarm schien kurze Zeit
in der Luft zu hängen. Ein roter Fleck breitete sich auf seiner Uniform aus. Dann schlug er krachend auf dem Boden auf.
„Runter!“ schrie der israelische Sicherheitsbeamte und wies auf den Boden. Wie eine zusammengedrückte Feder, die plötzlich losgelassen wird, sprang er über eine Stuhlreihe und rannte auf die eine Seite der Rolltreppe. Noch im Laufen zog er einen Revolver aus dem Halfter, das unter seiner lose sitzenden Jacke verborgen gewesen war.
„Mein Baby!“ schrie Nicole.
Ari ergriff Nicole, um sie hinunter in Sicherheit zu ziehen, als vier maskierte Männer an den oberen Stufen der Rolltreppe auftauchen und in den Warteraum sprangen. Aus ihren Maschinenpistolen versprühten sie den Tod. Nicole wurde zweimal im Rücken getroffen. Eine Kugel durchtrennte ihre Wirbelsäule, und die andere blieb in ihrem Herzen stecken und tötete sie auf der Stelle. Ihr Körper, der Ari gedeckt hatte, wurde von der Wucht der Kugeln gegen ihn geschleudert und warf ihn zu Boden.
Es herrschte Chaos. Die Schreie schienen beinahe lauter zu sein als das Feuer der Maschinenpistolen. Bevor er hinfiel, sah Ari, wie fünf Zivilisten, die in seiner Nähe standen, kurz nacheinander zu Boden gingen. Da lag er nun, Nicole auf sich, seine Arme um sie geschlungen. „Niki, es tut mir leid ... Niki ...“, flüsterte er.
Die Schüsse hörten genauso plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Ari rollte Nicoles leblose Gestalt sanft neben sich auf den Boden, hob vorsichtig seinen Kopf und sah sich um. Er brauchte einige Augenblicke, um das Unglaubliche zu fassen — daß die Angreifer dermaßen schnell besiegt worden waren. Mit unglaublicher Präzision hatten die drei israelischen Sicherheitsbeamten, die sich im Raum befunden hatten, drei der maskierten Männer erschossen und den anderen schwer verwundeten Angreifer gefangengenommen. Innerhalb von Sekunden war alles vorbei.
Ari, dessen Hemd und Hose von Nicoles Blut befleckt waren, stand unsicher auf und starrte schockiert auf ihren toten Körper und auf das Chaos um ihn herum. Mein Gott, Niki ist tot! Erst jetzt schien ihm bewußt zu werden, was geschehen war. Er taumelte unter der betäubenden Wucht, mit der ihn die Unabänderlichkeit des Todes und seine Hoffnungslosigkeit trafen. Sie war nicht mehr da, und nichts konnte sie wieder zurückbringen. Gleichzeitig mit dem vergeblichen Schmerz, der ihm Brust und Hals zusammenschnürte, stieg Wut in ihm auf. Was für abscheuliche Wesen mußten das sein, die solch einen Angriff auf unschuldige und hilflose Zivilisten durchführten?
Ari, der das Empfinden hatte, auf seltsame Weise von seiner Umgebung distanziert zu sein, nahm nur mit Mühe wahr, daß der einzige überlebende Terrorist an ihm vorbeigeführt wurde. Abgesehen von seinen trotzigen Augen war sein Gesicht immer noch hinter einer schwarzen Skimaske verborgen. Es war nicht nötig gewesen, dieser verachtenswerten Kreatur Handschellen anzulegen. Aus einer schlimmen Wunde an seiner rechten Schulter sickerte Blut auf sein Hemd und seinen Pullover. Sein zerschmetterter linker Arm hing lahm an seiner Seite.
Als der verwundete Angreifer an Ari vorbeigeschubst wurde, riß ihm ein israelischer Sicherheitsbeamter verächtlich die Maske vom Gesicht.
„Abdul!“ Der Name kam unwillkürlich als heiseres Flüstern von Aris Lippen. Es war kein Irrtum darüber möglich, wem dieses schmerzverzerrte und doch trotzige Gesicht gehörte. Für einen kurzen Moment unbeschreiblicher Verzweiflung, der eine Ewigkeit zu dauern schien, trafen sich Abduls und Aris Augen. Im gleichen Moment erblickte Abdul Nicoles Leichnam, der mit dem Gesicht nach oben in einer Blutlache zu Aris Füßen lag.
„Niki!“ Es war ein schriller Schrei aus der tiefsten Hölle. „Niki!“ Er versuchte, sich von den beiden Männern, die ihn abführten, loszureißen, um sich neben ihr auf den Boden zu werfen, aber sie hielten ihn gewaltsam zurück. Ari sah betäubt vor Entsetzen zu, wie sie Abdul aus dem Raum zerrten. Er kämpfte immer noch und schrie: „Niki! Niki!“
„An alle El Al-Passagiere: Bitte gehen Sie sofort durch die Sperre!“ Die Worte kamen wieder und wieder über die Lautsprecher, aber Ari hörte es nicht. Er war neben Nicoles zusammengekrümmtem Körper auf die Knie gefallen und schluchzte unkontrolliert. „Niki“, bat er, „Niki, es tut mir leid, es tut mir leid ... Niki ...“
Ari bemerkte, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er sah auf und erblickte den israelischen Sicherheitsbeamten, der Nicole zu diesem letzten Abschied begleitet hatte. Er hielt noch einen rauchenden 38er Revolver in der Hand. Seine Stimme war sanft, aber bestimmt. „Sie müssen schnell an Bord gehen, um Ihrer eigenen Sicherheit willen.“
Verzweifelt machte sich Ari von ihm los. „Sie war meine Verlobte! Und das Baby ... mein Sohn ... wo ist er?“
Ein anderer Sicherheitsbeamter trat rasch zu ihnen, und die beiden Israelis zogen Ari auf die Füße und schoben ihn auf die Sperre zu. „Es
tut mir leid“, murmelte der erste, „aber das Flugzeug muß mit allen gesunden Passagieren abfliegen. Es könnte einen weiteren Angriff geben.“
„Mein Gott, Mann! Ich kann nicht weg!“ widersprach Ari und stemmte sich gegen sie. „Ich muß meinen Sohn finden! Er hat jetzt niemanden mehr! Ich muß ihn finden ... ich kann nicht weg!“
In dem Moment kam Roger herbeigelaufen. Er war erleichtert, als er sah, daß An unverletzt war. „Bringen Sie ihn an Bord!“ befahl er.
„Du Dreckskerl!“ Ari wandte sich an Roger und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. „Du hast diesen Angriff angeordnet!“
„Du bist verrückt!“ schoß Roger zurück. „Natürlich haben wir das nicht getan!“
„Willst du sagen, es sei bloßer Zufall, daß sie ausgerechnet meinen Flug angegriffen haben?“ Seine Augen blitzten und sein Mund zitterte. „Sie haben Niki umgebracht!“
Roger sah auf die leblose Gestalt hinunter und dann rasch zurück zu .Ari, Sein Gesicht zeigte aufrichtiges Mitgefühl. „Es tut mir leid — aber wir stecken nicht hinter dieser Sache. Du weißt, wir haben selbstsüchtige Gründe, um dich am Leben erhalten zu wollen.“
„Er hat nach einem Baby gefragt“, unterbrach der israelische Sicherheitsbeamte rasch.
„Sie hat es draußen bei Freunden gelassen.“ Roger wandte sich an Ari. „Das Baby ist in Sicherheit. Das gehört nicht zu unserer Abmachung. Jetzt geh an Bord ... wir vermuten, daß es einen weiteren Angriff geben wird.“
„Wir müssen dieses Flugzeug schnellstmöglich in die Luft kriegen!“ Die beiden Israelis packten Ari erneut und zogen ihn auf die Sperre zu. „Hier ist Ihre Tasche. Nun machen Sie schon!“
„Niki... es tut mir so leid. Niki. Nikiiii!“ Mit einem lautlosen Schrei tief in seinem Inneren rief er ihr ein letztes qualvolles Lebewohl zu.
27. Willkommen in Israel
Israel — 1990
Als Ari an Bord ging, wurde ein hysterischer Fluggast Anfang siebzig, dessen maßgeschneiderter Anzug mit Blut bespritzt war, herausgebracht. Er hatte es endlich geschafft, einen Flugbegleiter davon zu überzeugen, daß seine Frau bei dem Angriff getötet worden war. Obwohl Ari von dem Schock und seinem eigenen Schmerz überwältigt war, nahm er instinktiv jede Einzelheit seiner Umgebung und die rasch aufeinanderfolgenden Ereignisse auf und wertete sie aus. Diese Reaktion hatte er sich in vielen Jahren des Trainings und der praktischen Übung angeeignet. Er staunte über die Geschwindigkeit und das Können, mit dem die ausgezeichnet ausgebildete und vorbereitete El Al-Mannschaft die Situation im Griff hatte. Normalerweise hätte in dem Flugzeug ein absolutes Chaos geherrscht. Die Flugbegleiter gingen in den Gängen auf und ab und sprachen mit absoluter Autorität und Sicherheit, kümmerten sich um die besonderen Bedürfnisse Einzelner und vermittelten den Fluggästen, von denen viele kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen, als sie an Bord kamen, ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit.
Der Tower von Orly gab dem Unglücksflug absolute Priorität und sorgte dafür, daß alle anderen Flugzeuge, ob sie nun ankamen oder abflogen, Platz für die Maschine machten. Ari hatte sich kaum in dem ihm zugewiesenen Fensterplatz niedergelassen, als die Maschine die Startbahn hinunterrumpelte, sich in die Luft erhob und in Richtung Israel abflog. Sie hatten vier Tote und sieben schwerverletzte Passagiere zurückgelassen. Sobald das Flugzeug in der Luft war, gab ihnen der Kapitän über die Lautsprecheranlage einige vertrauliche Informationen, die ihren überstürzten Abflug unmittelbar nach dieser unbeschreiblichen Tragödie erklärten.
„Kurz vorher erhielt die französische Polizei einen anonymen Hinweis, daß ein Angriff geschehen würde“, erklärte der Kapitän mit fester, aber mitfühlender Stimme. „Der Informant sagte, es gäbe zwei Gruppen von je vier Terroristen. Wir konnten kein Risiko eingehen ... wir mußten das Flugzeug in die Luft bekommen. Wir befinden uns jetzt in Sicherheit und auf dem Weg nach Israel. Israel wird zwar ständig von Terroristen angegriffen, aber dennoch werden Sie dort sicherer sein als beinahe an jedem anderen Ort auf der Welt. Ein Angriff wie
dieser könnte auf Tel Avivs Flughafen Lod, wo wir landen werden, nicht passieren. Wir werden Sie über unseren Flug auf dem laufenden halten
Ari war tief in seinen Sitz gesunken und versuchte sich abzulenken, indem er, ohne groß nachzudenken, das wechselnde Panorama der französischen Landschaft betrachtete, die tief unten zu sehen war. Er wurde von Verzweiflung gequält. Die Erinnerung an jeden zärtlichen Augenblick dieses kurzen, aber wundervollen Lebens, das er und Nicole als Liebende miteinander geteilt hatten, war geradezu in seine Seele eingehämmert. Während die glücklichen und schönen Seiten ihrer sechs gemeinsamen Jahre an ihm vorüberzogen, wurde er von Schuldgefühlen verzehrt. Dieses tragische Ende war allein seine Schuld. Er war stolz und stur gewesen. Sie war so loyal gewesen, so aufrichtig, so bereit, alles zu sein, was er brauchte.
Natürlich hatte er vorgehabt, sie zu einem passenden Zeitpunkt zu heiraten. Aber dieser Zeitpunkt war einfach nie gekommen. Warum? Warum?NIenn er doch nur schon Vorjahren diese Bindung, die sie sich so sehnlichst gewünscht hatte, eingegangen wäre! Das wäre ehrbarer gewesen und hätte vielleicht alles geändert. Vielleicht hätten sie ihn bleiben lassen, denn Niki war gebürtige Französin. Zumindest hätte das vielleicht den Zeitfaktor geändert. Er wäre wahrscheinlich nicht für diesen Unglücksflug gebucht worden, und Nicole wäre noch am Leben.
Er konnte einfach nicht glauben, daß Niki für immer gegangen war
— und daß auch das Ziel, das er so leidenschaftlich verfolgt und dem er die letzten 25 Jahre seine Lebens gewidmet hatte, gestorben war und er sich auf dem Weg ins Exil befand. Wenn nur dieses oder jenes geschehen oder nicht geschehen wäre, oder wenn er eine andere Haltung gehabt oder weisere Entscheidungen getroffen hätte. Der Aufruhr von Reue und Selbstbeschuldigungen schien kein Ende zu haben. Und Abdul! War es vielleicht seine Waffe gewesen, die Nicole getötet hatte? Wie hatte er nur so enden können!
Szenen aus der Vergangenheit gingen ihm durch den Kopf, eine nach der anderen, wie eine qualvolle Prozession. Und die ganze Zeit hatte er mit ätzender Klarheit den unauslöschlichen Anblick von Nikis lebloser Gestalt in einer Blutlache vor Augen. Und ihre letzten Worte
— sie hatten so etwas Fesselndes an sich und ließen ihn nicht los.
Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein! Sein ursprünglicher Widerwille gegen die geistliche Bedeutung machte jetzt dem brennenden Verlangen Platz, zu wissen, was dieser Traum bedeutete. Ihr messiani-
scher Wahn war ein zentraler Teil der Geschichte gewesen ... es mußte also eine grundlegende religiöse Bedeutung geben. Das war für ihn eigentlich mehr als Grund genug, die ganze Sache beiseite zu schieben. Aber ihr lebhafter Traum war so ungewöhnlich gewesen, so pak-kend. Er kämpfte mit den seltsam zwingenden Worten Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein. Er versuchte, sich einzureden, daß sie nichts bedeuteten, fühlte sich jedoch gleichzeitig unwiderstehlich von dem Gedanken angezogen, das hinter all dem eine geheime Bedeutung lag.
Nicole war ein fanatischer Christ geworden. Das machte alles, was sie sagte, verdächtig. Dennoch war die Überzeugung in ihrer Stimme nicht fanatisch gewesen. Es war etwas ganz anderes gewesen — etwas, das ihn trotz seiner Skepsis gefesselt hatte. Er war es sich selbst schuldig — aber jetzt noch mehr ihrem Andenken —, dieses Geheimnis zu ergründen.
In Aris Augen war der Kult des gekreuzigten Juden eine erniedrigende Religion. Das wenige, was er darüber wußte, stieß ihn ab und war ihm ein Ärgernis. Aber diese Worte — Ich werde in Jerusalem sein — hatten eine seltsame Macht, die er nicht erklären konnte. Irgendwo hatte er einmal gehört, daß die Christen Jerusalem mit dem „Himmel“ gleichsetzten. Hatte Niki eine Vorahnung ihres Todes gehabt? War so etwas möglich? Ließen sich alle Verbindungen dieser Art zwischen Intuition und nachfolgenden Ereignissen in der äußeren Welt als bloßer Zufall erklären? Steckte möglicherweise doch mehr dahinter? Carl Jung, und außer ihm noch viele andere, hatten eine Beziehung gesehen. Der Gedanke fand zur Zeit sogar unter Physikern immer mehr Anerkennung. Aber welcher Art könnte diese Verbindung zwischen dem materiellen Universum und jener nichtphysischen Dimension sein, an die Nicole als medizinischer Wissenschaftler geglaubt hatte, noch bevor sie Christin geworden war? Er mußte es herausbekommen.
Sobald die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte, sprang Ari aus seinem Sitz und eilte zu einem WC. Dort wusch er sich Nikis Blut von Händen und Gesicht und aus seinem Haar und versuchte, wenigstens die schlimmsten Flecken aus seinem Hemd und seiner Hose zu entfernen. Während er schrubbte und tupfte und sich trocken wischte und sah, wie Nikis Blut den Abfluß hinunterlief, erinnerte sich Ari daran, daß die roten Flecken, die ihn bedeckt hatten, sein Leben gerettet hatten. Wäre Niki nicht genau in der Bahn der Kugeln gewesen, die sie töteten, wäre er gestorben. Er wünschte, es wäre umgekehrt gewesen. Sie hatte eine Fülle von Gründen, weiterzuleben — er hatte keinen
mehr. Das winzige Israel würde sein Gefängnis werden. Und der kleine Ari Paul — was würde aus ihm werden?
Als Ari zu seinem Sitz zurückkehrte, mußte er sich an einem Arzt und zwei Krankenschwestern vorbeischlängeln, die den Gang hinun-tergingen, Blutdruck maßen, ängstliche Passagiere beruhigten und Beruhigungsmittel austeilten. Sie fanden nur einige wenige oberflächliche Schnitte und Blutergüsse, die zu behandeln waren, aber sehr viel unterschwellige Hysterie. Ein zweites solches Team arbeitete sich in entgegengesetzter Richtung durch den anderen Gang und kümmerte sich auf gleiche Weise um die Bedürfnisse der Fluggäste. Das beliebteste Heilmittel waren jedoch Wein und Schnaps, die von El Al als kleine Wiedergutmachung für den Schock, den sie alle erlitten hatten, freigiebig und kostenlos verteilt wurden.
Etwa auf der Mitte des Fluges sank Ari, überwältigt von der Größe seiner persönlichen Tragödie und seiner Unfähigkeit, mit den daraus entstandenen komplexen Problemen fertigzuwerden, in einen unruhigen Schlaf. Die Ereignisse und der Druck der vergangenen 48 Stunden hatten ihn aufs äußerste erschöpft, und er erwachte erst wieder aus seinem tiefen Schlaf, als der Lautsprecher geräuschvoll über seinem Kopf krächzte und der Pilot ihren Landeanflug auf Tel Aviv ankündigte. Als das Flugzeug durch die niedrige Wolkendecke stieß, erhaschte Ari kurz vor der Landung einen ersten kurzen Blick auf sein neues Heimatland. Das war also Israel! Ein Gefühl von Abscheu war seine einzige Reaktion, als er Tel Avivs eintönigen Flughafen Lod und die wüstenartige Landschaft, die ihn umgab, erblickte.
Kaum war das Flugzeug in der Nähe des Flugsteigs zum Stehen gekommen, als auch schon ein Dutzend oder mehr Männer und Frauen an Bord kamen. Keiner von ihnen trug Uniform. Sie sagten nicht viel, beobachteten aber jede Bewegung der Passagiere. Einer von ihnen, der offenbar die Leitung hatte, sprach kurz über die Lautsprecheranlage: „Willkommen in Israel, meine Damen und Herren. Wir bedauern zutiefst, was in Paris geschehen ist. Aber da es nun einmal geschehen ist, müssen wir uns mit dieser Tatsache befassen. Sie werden alle in einen Raum zur Berichterstattung gebracht werden. Wir hoffen, daß diese Prozedur nicht allzu lange dauert. Ihr Gepäck wird für sie aufbewahrt werden. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.“
Als Ari aus dem Flugzeug trat, schloß er sich den anderen Passagieren an, die, wie angeordnet, zum Flugsteig gingen. Dabei wurden sie aufmerksam von jungen Soldaten beobachtet, die mit Uzis bewaffnet
waren. An fiel sofort ein muskulöser Mann in Jeans und einem geblümten Hemd, dessen Kragen geöffnet war, auf. Er stand an der Seite und sah jeden einzelnen Passagier prüfend an. Das mußte ein Agent des Mossad sein. Der Mann erblickte Ari.
„Sie da! Thalberg!“ rief er und winkte Ari, die Gruppe zu verlassen und ihm zu folgen. „Willkommen in Erez Israel“, sagte er knapp, als An ihn erreicht hatte. „Ich heiße Ariel“, fügte er hinzu und gab Ari einen warmen Händedruck. „Es tut mir leid, was in Orly passiert ist. Jetzt haben Sie schon ein wenig davon erfahren, was es heißt, ein Jude zu sein.“ Er begann, mit eiligen Schritten fortzugehen und winkte Ari, ihm zu folgen. „Sie bekommen Ihr eigenes, privates Interview“, erklärte er.
Das Innere des Flugsteigs war überschwemmt von Einwanderern, die hauptsächlich aus der Sowjetunion stammten. Auf den Gesichtern dieser Heimkehrer ins „verheißene Land“ ihrer Vorväter standen Verwirrung, überschwengliche Freude, Stoizismus und ein Dutzend anderer Gefühle geschrieben. Hier war die Zuflucht der Auserwählten — zumindest war das die Hoffnung in ihren Herzen, der Glaube, daß sie endlich einen Zufluchtsort finden würden.
Während sich sein Begleiter einen Weg durch die aufgewühlten Menschenmassen bahnte, die sich auf dem kleinen Flugsteig drängten, riefen die fremden hebräischen Klänge und die angespannte freudige Erregung der Neuankömmlinge trotz der schiebenden Menschenmenge, die ihn umgab, in Ari ein Gefühl der Einsamkeit hervor. Seine Deportation in dieses wenig einladende und isolierte Land konnte keinerlei Gefühle der Freude in ihm hervorrufen. Hätte er die Wahl gehabt, er wäre niemals hierher gekommen. Für ihn war dies ein Ort des Exils, nicht der Verheißung. Wie lange würde dies sein Gefängnis sein? Würde er es jemals verlassen können? Um hinein zu dürfen, hatte er vor der ganzen Welt seine jüdische Herkunft bekennen müssen — ein Erbe, dessen er sich immer noch schämte.
Was für eine Ironie, daß er, der die Juden und besonders die Zionisten gehaßt hatte, jetzt gezwungen war, sich mit diesen verachteten Menschen zusammenzutun. Ari war sich deutlich bewußt, daß der Antisemitismus überall zunahm. Gleichzeitig mit dem Fall der Berliner Mauer, der Millionen neue Freiheit und Demokratie brachte, hatte der Neo-Nazismus zugenommen, und in ganz Europa waren jüdische Friedhöfe mit Hakenkreuzen verschandelt worden. Er hatte einige von ihnen gesehen. Auf seiner letzten Reise nach Warschau hatte er auch beobachtet, daß der bösartige Spruch „Juden in die Ofen“ wieder
aus der Vergangenheit auferstanden war. Er war frisch auf das jüdische Staatstheater gesprüht worden. Wie sollte er Teil dieses verfolgten Volkes werden?! Es wäre besser gewesen, er wäre in Orly gestorben und Nicole würde noch leben.
Um alles noch schlimmer zu machen, war er jetzt hierher geschickt worden, um unter ihnen in Zion zu leben. Allein die Behauptung, daß dieses winzige Land eine vorherbestimmte „Zuflucht der Auserwählten“ sei, stieß ihn ab. Ach wirklich? Ein auserwähltes Volk? Auserwählt von wem und wofür? In Wirklichkeit waren sie eine verabscheute Rasse, umgeben von 200 Millionen Arabern, die geschworen hatten, sie (und jetzt auch ihn) zu vernichten.
Selbst als er sich durch den Flughafen drängte, nahm Ari jede Einzelheit der Menschen und Ereignisse um ihn her in sich auf. Er bemerkte und bewunderte die Geschwindigkeit, mit der der ständige Strom jüdischer Einwanderer, die aus der Sowjetunion und anderen Ländern kamen, in kleine Gruppen aufgeteilt und nach draußen zu mehreren Tischen geschleust wurde. Dort wurden die Einwanderer abgefertigt und zu vorläufigen Quartieren gebracht. Im Flughafen Orly, im Flugzeug und jetzt hier hatte er bereits genug gesehen, um — zwar widerwillig, aber doch — zugeben zu müssen, daß die israelische Tüchtigkeit seine Bewunderung verdiente.
Nachdem sie den Flugsteig hinter sich gelassen hatten, führte Aris Begleiter ihn einen kurzen, schmalen Gang hinunter. Dort blieb er an der offenen Tür eines kleinen, spärlich möblierten Büros stehen. Ein deprimierender gelb-grüner Farbton schimmerte von den schmutzigen Wänden und der Decke. Der einzige Benutzer war ein intelligent aussehender junger Mann von etwa 30 Jahren. Er sah von den Papieren, die er bearbeitete, auf und starrte Ari kühl an. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
„Hier ist Ihr Mann“, sagte Ariel. Mit einem flüchtigen „viel Glück“ an Ari verschwand er wieder den Gang hinunter.
„Kommen Sie herein und setzen Sie sich“, sagte der junge Mann. Er winkte den neuen Einwanderer zu einem von drei schäbigen Stühlen mit gerader Rückenlehne, die direkt vor seinem Schreibtisch standen. Er musterte Ari, während er sich setzte, und fuhr fort, ihn schweigend und prüfend zu betrachten, als sei er ein konserviertes Präparat in einem Glas. Wollte er seine Willensstärke testen? Wenn der glaubt, daß ich zuerst rede, kann er lange warten! dachte Ari und entschied sich, daß er Israel noch weniger mögen würde, als er sich vorgestellt hatte.
„Sie haben ja einen ganz schön spektakulären Abschied von Orly
bekommen“, sagte der junge Mann schließlich ganz sachlich und ohne das geringste bißchen Sympathie in seiner Stimme.
„Wollen Sie damit sagen, daß das mir gegolten hat?“ Ari war entschlossen, genauso unnahbar zu sein, wie sein Inquisitor.
„Nein. Soweit wir wissen, war das Zufall. PLO. War Ihnen das bekannt?“
„Ich nahm es an. Als wir etwa eine Stunde von Paris entfernt waren, wurde es dann vom Piloten bestätigt.“
„Und sie kennen denjenigen, der überlebt hat? Abdullah Mustaf?“ Ari hob überrascht seine Augenbrauen. „Woher wußten Sie das?“ „Es war deutlich zu sehen an ihrer beider Reaktionen.“
„Ich nehme an, diese scharfsinnige Beobachtung ist bereits in meiner Akte festgehalten“, bemerkte Ari trocken. „Ja, ich habe Abdul gekannt. Ich habe nichts zu verbergen. Ich habe ihn bei seiner Doktorarbeit unterstützt. Er war ein guter Mensch ... bis er sich mit ein paar islamischen Radikalen einließ.“
Mit einem leichten Nicken fuhr der junge Mann fort. „Er kannte auf jeden Fall Nicole — das Mädchen, mit dem Sie sechs Jahre lang zusammengelebt haben.“
„Versuchen Sie, mich zu beeindrucken? Ich hoffe, Sie haben nicht alles geglaubt, was Interpol über mich gesagt hat. Die wollen mir etwas in die Schuhe schieben.“
„Wir tun unsere Arbeit selbst — und überprüfen alles, was uns von anderen Quellen mitgeteilt wird. Wir haben die letzten zwanzig Jahre eine Akte über Sie geführt, die immer dicker geworden ist. Inzwischen füllt sie einen ganzen Aktenschrank.“
„Dann nehme ich an, daß Sie mir keine Fragen mehr zu stellen brauchen“, bemerkte Ari sarkastisch. „Sie müßten schon alles Wissenswerte in Erfahrung gebracht haben. Vielleicht wissen Sie ja sogar mehr als ich.“
Ein leichtes Lächeln erschien auf den Lippen des jungen Mannes, erfror jedoch sofort wieder. „Vielleicht. Ich heiße übrigens Uzi.“ Ari ergriff steif die ausgestreckte Hand, die die seine fest drückte. Uzi? Der Name ihrer berühmten Maschinenpistole? War das sein wirklicher Name oder machte er einen Scherz?
Uzi streckte die Hand aus und stellte einen kleinen Rekorder an, der auf einem Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch stand. „Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt zu Abdul?“
„Vor etwa sechs Wochen.“
„Wo?“
„Auf einem Bahnsteig der Pariser Metro.“
„In welchem Bahnhof?“
„L’Etoile.“
„Das ist ein ungewöhnlicher Treffpunkt.“
„Abdul hatte ihn ausgesucht. Wir waren froh, daß er überhaupt bereit war, sich mit uns zu treffen. Aber leider haben wir unser Ziel nicht erreicht.“
„Und was war das?“
„Nicole ... nun, sie und Abdul waren wie Bruder und Schwester. Abdul war mein Student, noch bevor ich Niki kennenlernte. Er war es sogar, der uns miteinander bekannt machte.“ Ari wandte sich kurz ab, um seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann fuhr er fort. „Wir haben uns mit Abdul getroffen, weil wir versuchen wollten, ihm etwas auszureden. Obwohl wir es nicht mit Sicherheit wußten, vermuteten wir, daß er sich immer mehr in der PLO engagierte.“ „Und er ließ sich nicht überzeugen.“
„Offensichtlich nicht.“
Uzi stellte den Rekorder aus und machte sich ein paar Notizen auf einem Blatt. Als das erledigt war, sah er auf und lächelte Ari an, dieses Mal eindeutig freundlich. „In Ordnung. Wir sollten über Ihre Situation hier sprechen. Sie sind ein Überlebender des Holocaust. Das macht Sie in Israel zu jemand ganz Besonderem. Sie sind der jüngste, der mir je begegnet ist. Sie sterben allmählich aus, wissen Sie.“
„Das ist klar. Selbst wenn meine Eltern Hitler überlebt hätten, wären sie wahrscheinlich inzwischen tot. Falls nicht, wären sie jetzt Ende siebzig ...“
„Ihre israelische Staatsbürgerschaft und Ihr Paß werden noch auf Grund einer... Formsache zurückgehalten. Natürlich können Sie das Land nicht verlassen. Das ist nicht unsere Schuld ... Sie verstehen.“ Er zuckte mitfühlend mit den Schultern.
„Ich verstehe“, sagte Ari. „Wie sieht es mit den Arbeitsstellen aus? Sie müssen hier knapp sein, bei den vielen Einwanderern.“
„Das kommt darauf an. In Ihrem Fall gibt es zufällig gerade eine freie Stelle in der Abteilung für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Man würde sich freuen, wenn Sie sich dort vorstellen würden.“
Ari saß einen Moment lang schweigend da. „Nein“, sagte er schließlich, „lieber nicht.“
„Es ist eine angesehene Position“, drängte Uzi begeistert. „Wenn Sie natürlich lieber anderswo wohnen würden ...“
„Nein, ich würde gerne injerusalem wohnen. Aber ich habe genug von der akademischen Welt ... und davon, Politik zu unterrichten.“ „So? Was haben Sie sich denn vorgestellt?“
Es gab eine lange Pause. „Ich würde gern schreiben“, sagte Ari zögernd, „politische Trends ... Analysen ... Kommentare — diese Art Sachen.“
„Bücher?“
„Nein. Artikel. Magazine ... Zeitungen ...“
„Und Sie möchten injerusalem wohnen?“
„Ich denke schon. Wie wäre es mit der Jerusalem Post?“
„Sie haben noch me für eine Zeitung geschrieben ..Die Begeisterung war aus Uzis Stimme verschwunden.
„Das ist wahr ... aber ich habe die politische Szene in der Welt seit vielen Jahren für die Kurse, die ich unterrichtet habe, analysiert... und für die Arbeit, in der ich mich früher engagiert habe.“ Ari hielt es für das Beste, den letzten Satz anzuhängen, um mögliche Fragen aus dem Weg zu räumen.
Uzi runzelte die Stirn und strich sich nachdenklich über das Kinn. Schließlich zuckte er nachdrücklich mit den Schultern und meinte: „Nun, warum stellen Sie sich nicht einfach mal vor?“
„Ich soll einfach dorthin gehen?“
„Ich werde sie anrufen ... und ein gutes Wort für Sie einlegen ... und ihnen mitteilen, daß Sie morgen früh anrufen werden.“ Er blätterte durch eine Adreßkartei auf seinem Schreibtisch, schrieb etwas auf ein Stück Papier und reichte es Ari. „Hier ist eine Telefonnummer ... und der Name des Personaldirektors. Sie werden injerusalem wohnen. Rufen Sie ihn gleich als erstes morgen früh an.“
„Vielen Dank“, sagte Ari. Uzi war also doch ein menschliches Wesen.
„Und jetzt zu Ihrer Unterbringung“, fuhr Uzi fort. „Wir haben Ihnen bereits eine Wohnung injerusalem zugewiesen. Sie werden sie teilen müssen mit
„Sie teilen? Mit wem?“ unterbrach Ari scharf.
Der junge Beamte lehnte sich zurück und lachte. „He, wir reden von Jerusalem, nicht Paris. Die Einwanderer strömen schneller herein, als wir Wohnungen bauen können ..."
„Ich hatte gehofft, eine eigene Wohnung zu haben“, sagte Ari tief enttäuscht.
„Unmöglich! Aber machen Sie sich keine Sorgen“, versicherte ihm Uzi mit einem weiteren warmen Lächeln, „Sie werden den Kerl
mögen. Er ist gelassen — und ein ziemlich ausgeprägter Charakter. Er heißt Yakov Kimchy, ist 83 Jahre alt und der letzte überlebende Haga-nah-Kämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1948. Er ist ein Nationalheld. Faszinierend. War ein enger Freund von David Ben Gurion und Golda Meir. Und Sie werden in der Altstadt sein. Dort wohnt es sich phantastisch.“
28. Der alte Kämpfer
Uzi hätte sagen können, was er wollte — es hätte Ari nicht auf den kleinen Gnom von einem Mann vorbereitet, der wenige Stunden später auf sein Klopfen hin öffnete. Ein sehr rundes, runzeliges Gesicht mit strahlend blauen Augen, über denen ein widerspenstiger grauer Schopf saß, spähte aus der Tür und taxierte Ari mit einem Blick.
„Kommen Sie herein, kommen Sie herein“, begrüßte er ihn herzlich in kaum verständlichem Englisch und mit sehr starkem Akzent. „Sie müssen Ari Thalberg sein. Ich habe Sie schon erwartet. Ich bin Yakov Kimchy. Willkommen in Israel!“
Er ergriff Aris Hand und schüttelte sie kräftig durch. Der Mann war ein Energiebündel mit der Begeisterung und Kraft eines 30 Jahre jüngeren Mannes. Und sein Lächeln war ansteckend. Zum ersten Mal seit er an Bord des Flugzeugs gegangen war, spürte Ari, daß sich seine durch den Schmerz aufgebauten inneren Schutzmechanismen lockerten — zwar nur leicht, aber doch wahrnehmbar. Dieser ansteckend fröhliche Mann war von einer Art, wie sie Ari noch nicht begegnet war, ein Mann, den er instinktiv von der ersten Begrüßung an mochte und dem er vertraute.
Empfindsam und rücksichtsvoll gegenüber Aris ernster Stimmung legte Yakov sanft die Hand auf Aris Schulter, als er die Wohnung betrat. „Sie haben eine schreckliche Tortur hinter sich. Es ist überall in den Nachrichten gewesen. Der PLO-Angriff in Orly. Abscheulich! Wenn ich recht verstehe, war das Ihr Flug.“
Ari nickte. „Ja. Meine ... äh ... Freundin — wir hatten gerade einen Sohn bekommen, den ich noch nie gesehen habe — war da, um mich zu verabschieden. Sie wurde getötet.“
„Das tut mir leid.“ Das tiefe Mitgefühl in der Stimme und den Augen des alten Mannes war offensichtlich echt.
„Ich möchte lieber nicht darüber reden“, fügte Ari hinzu. „Sie wissen aus den Nachrichten wahrscheinlich sowieso mehr darüber als ich.“
„Ich habe zu meiner Zeit einige Terroristen getötet ... eine ganze Reihe von ihnen. Es war eine schreckliche Sache, jemanden töten zu müssen ..sagte Yakov nachdenklich. Dann schien er die Vergangenheit in ihre Nische in seiner Erinnerung zurückzuschieben und kehrte unvermittelt mit seinem strahlenden Lächeln in die Gegenwart zurück. „Es wird Ihnen hier gefallen, im wieder aufgebauten Teil des
alten Jerusalem. Auf der ganzen Welt gibt es keinen schöneren Wohnort!“
„Mir fallen da schon ein paar andere ein“, erwiderte Ari verdrießlich. „Aber nun bin ich hier ... und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich aufnehmen.“
„Gut, dann werde ich Ihnen erst einmal die Wohnung zeigen. Ich habe nicht groß aufgeräumt. So sieht es hier immer aus“, plauderte Yakov fröhlich. Er führte Ari einen kurzen Flur hinunter, der von dem winzigen Eingangsbereich abzweigte und der sich zur anderen Seite zum Wohnzimmer hin öffnete. „Es ist keine große Wohnung“, fuhr Yakov fort, „aber sie ist gemütlich ... und die Lage ist unübertrefflich.“
Der kleine Flur führte zu zwei Schlafzimmern. Yakov stieß die erste Tür auf. „Hier ist Ihr Zimmer. Es ist beinahe genauso wie meines ... ein Platz zum Schlafen und Denken. Stellen Sie Ihre Tasche hier ab. Dann gehen wir weiter.“
Ari, der nicht allzuviel erwartete, sah hinein. Gegenüber dem Bett standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl unter einem langen, schmalen Fenster. Man mußte sich auf Zehenspitzen stellen, wenn man hinaussehen wollte. Aber das machte nicht viel, da genau gegenüber, nur etwa 60 cm entfernt, die rissige, nackte Steinmauer eines Hauses zu sehen war. Am Fuß des Bettes befand sich ein alter Kleiderschrank aus Holz und daneben eine kleine Kommode mit vier Schubladen, auf der ein Spiegel stand. Es würde reichen.
„Trautes Heim, Glück allein“, sagte Ari liebenswürdig und ließ seine Tasche auf den Boden fallen. „Nochmals vielen Dank, daß Sie mich aufgenommen haben. Das ist sehr freundlich von Ihnen.“
„Es ist nicht viel Platz für die Kleidung“, sagte Yakov entschuldigend, „aber Sie können gern die Hälfte der Schrankgarderobe im Eingang benutzen.“
„Das hier ist mehr, als ich im Moment brauche. Meine ganze Habe befindet sich in dieser kleinen Tasche. Angeblich schicken sie mir meine anderen Sachen nach ... aber ich habe es nicht so eilig.“
Die kleine Küche prahlte mit einer angrenzenden Eßecke, und gleich neben dem Tisch war ein Fenster, von dem aus man auf eine schmale Kopfsteinpflasterstraße hinuntersehen konnte. „Sie können gerne alles benutzen“, sagte Yakov großzügig. „Wir werden uns die Ausgaben teilen.“
„Einverstanden. Ich hoffe, ich kann eine Arbeit finden.“
„Das werden Sie bestimmt. Es gibt immer einen Platz für einen
guten Mann, der keine Angst vor der Arbeit hat. Möchten Sie jetzt etwas trinken? Ich habe Limonade gemacht... meine Enkelin bringt mir die Zitronen frisch vom Kibbuz am See Genezareth ..
„Klingt großartig.“
Mit dem Glas in der Hand folgte Ari Yakov zurück durch den winzigen Eingangsbereich ins Wohnzimmer. „Setzen Sie sich und entspannen Sie sich einen Moment“, sagte Yakov und wies auf ein Sofa, das vor einem großen Panoramafenster stand. Er selbst setzte sich in einen alten hölzernen Schaukelstuhl neben dem Sofa, der ebenfalls vor dem Fenster stand. „Dies ist mein Lieblingsplatz“, sagte er mit deutlicher Zufriedenheit. „Ist das nicht eine herrliche Aussicht?“
Vor Aris Augen lag der Tempelberg, aber aus einem anderen Winkel, als er ihn jemals auf Bildern gesehen hatte. Tief unten, an der Westmauer, konnte man deutlich die gläubigen Juden sehen, die sich voll Inbrunst in ernsthaftem Gebet immer wieder verneigten. Gleich dahinter, über ihnen, erhob sich der Felsendom. Seine goldene Kuppel beherrschte die Skyline. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verliehen ihr einen sanften, himmlischen Glanz. Das goldene Jerusalem. Irgendwo hatte er diesen Ausdruck gehört.
Ari fühlte sich gedrängt, von dem Sofa aufzustehen, auf das er sich gerade gesetzt hatte. Mit der Limonade in der Hand ging er zum Fenster hinüber und starrte in sprachloser Bewunderung hinaus. Er war überwältigt von seinem ersten Blick auf den Tempelberg mit diesem goldenen Dom auf seiner Spitze. „Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein“, murmelte er leise. Was konnte das nur bedeuten? Ari seufzte und wandte sich zu Yakov um. Teilnahmslos hörte er ihm zu.
„Was Jerusalem so beeindruckend macht, ist die Geschichte, die hier hinter allem steht.“ Mit dieser kurzen Einleitung begann Yakov Aris Unterricht über Jüdisches im allgemeinen und Israelisches im besonderen. Das war eine Aufgabe, der der alte Zionist in den kommenden Monaten mit einem beinahe fanatischen Eifer nachgehen würde.
„Innen, direkt unter der Kuppel, ist ein großer Felsen“, erklärte Yakov. „Die Araber sagen, dort habe Abraham Ismael geopfert. Sie behaupten, dieses Land sei ihm und ihnen als seinen Kindern verheißen worden. In Wirklichkeit war es Isaak, der von Abraham auf jenem Berg geopfert wurde — er heißt Morija —, und deshalb baute Salomo hier den ursprünglichen Tempel. Und Gott versprach dieses Land nicht den Arabern, sondern uns, den Juden, Isaaks Nachkommen.“
Ans Aufmerksamkeit wurde einen Augenblick lang erregt. „Sie glauben wirklich an dieses Zeug vom ,auserwählten Volk’?“
Yakov lächelte. Er hatte schon andere Leute wie Ari getroffen, und viele von ihnen in Israel. „Natürlich. Die Geschichte beweist es. Unser Volk hat mehrere Jahrhunderte lang hier gelebt, bevor sie nach Babylon verschleppt wurden ... wegen ihrer Sünden gegen Gott — genau, wie die Propheten vorhergesagt hatten. Die Propheten sagten auch, daß Gott sein Volk eines Tages in sein Land zurückbringen würde — und hier sind wir!“
„Religion ist kein Thema für mich“, sagte Ari halb entschuldigend und hoffte, ihn damit nicht zu verletzen. Aber er wollte, daß Yakov das wußte.
„Unmöglich!“ erwiderte der alte Mann mit einem Funkeln in den Augen. „Der gesamte Nahostkonflikt ist ein religiöser Konflikt.“
„Tatsächlich?“ Aris Frage kam halbherzig. Wie konnte dieser ermüdende alte Mann nur so unablässig weitermachen? „Sicherlich“, fügte er hinzu und versuchte, etwas Interesse zu zeigen, „da sind die islamischen Fundamentalisten und die Orthodoxen in Israel... aber sie sind Randelemente. Wie kommen Sie darauf, daß der Nahostkonflikt ausschließlich religiöser Natur sein soll?“
„Stört es Sie, daß die Religion so wichtig ist?“ fragte der alte Mann scharfsichtig. Er lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und lachte. „Ich will es Ihnen beweisen. Obwohl der Koran in Sure 5, 21 zugibt, daß dieses Land Israel gehört, lehrt der Islam, daß Allah es den Arabern gegeben hat. Also macht allein die Existenz Israels Allah zu einem falschen Gott und straft den Islam Lügen. Wenn die Araber dem Staate Israel kein Ende setzen, war Mohammed ein falscher Prophet. Das ist es, was auf dem Spiele steht! Und jedes ,Friedensgespräch’, das die Herausforderung ignoriert, die Israels bloße Existenz darstellt, ist unaufrichtig.“
„Vielleicht“, räumte Ari zögernd ein. „Ich leugne nicht, daß die Religion eine Rolle spielt... zeitweise vielleicht sogar eine sehr wichtige. Aber ich meine immer noch, daß Sie sie für weit wichtiger halten, als sie wirklich ist.“
„Sie werden das besser verstehen, wenn Sie eine Weile hier gelebt haben.“
Ari kehrte zu seinem Platz auf dem Sofa zurück. Sie saßen einige Zeit schweigend da und schlürften die eiskalte Limonade. Aris Blick wurde wieder von der gewaltigen und fesselnden Aussicht angezogen.
„Könnten Sie meiner Erinnerung etwas auf die Sprünge helfen? Was macht den Felsendom so wichtig?“ fragte Ari schließlich.
„Die Araber sagen, Mohammed sei von jenem Felsen unter dem
Dom auf einem geflügelten Pferd mit dem Angesicht einer Frau in den siebenten Himmel’ aufgefahren.“
„Ja, jetzt erinnere ich mich. Aber sein Körper liegt doch in Mekka begraben?“
„Nein, in Medina, in Saudi-Arabien. Wenn er also zum Himmel gefahren ist, hat er seinen Leib zurückgelassen.“
„Ich glaube, daß ist für einen Moslem nicht wichtig, oder? Es gibt bei so etwas keine Logik. Deshalb vermeide ich religiöse Streitereien.“ „Sie haben recht. Wenn es eine Frage der Logik wäre, würden die Moslems Mohammed verlassen und an Christus glauben. Er ist auferstanden und leiblich zum Himmel aufgefahren ... er hat ein leeres Grab zurückgelassen.“
Der alte Mann schien Ari durch seine halb geschlossenen Augen aufmerksam zu beobachten. Aber ein israelischer Kriegsheld konnte doch unmöglich ein Nachfolger jenes verachteten Christus sein. Wollte Yakov seine Reaktion testen? Nicoles Tod lag noch nicht weit genug zurück, um diese Diskussion zu ertragen. .Ari hätte Yakov gerne gesagt, er solle den Mund halten. Andererseits war eine gute Diskussion genau das, was er brauchte, um seine Gedanken von der unmittelbaren Vergangenheit abzulenken. Er entschied sich für letzteres. Aber er wollte jede Erwähnung von Jesus vermeiden. Nikis Tod und ihr Glaube waren immer noch zu frisch.
„Ich nehme an, dieser Platz vor uns ist von zentraler Bedeutung für Ihre These eines religiösen Konflikts“, sagte Ari. „Er ist heilig für die Israeliten, denn dort befand sich ihr Tempel. Aber jetzt behaupten die Moslems, er sei wegen des Felsendoms für sie heilig. Ist der Dom genau da gebaut worden, wo früher der Tempel stand?“
„Darüber streitet man sich. Aus unserem Blickwinkel gesehen befand sich der Tempel meiner Meinung nach weiter links.“ An diesem Punkt erhob sich Yakov. „Eigentlich waren es drei Tempel: der ursprüngliche Tempel Salomos, dann der Tempel, der von Esra nach der Rückkehr aus Babylon wiedererbaut wurde, und schließlich der Tempel des Herodes. Das ist derjenige, über den wir am meisten wissen.“ Der alte Mann gestikulierte jetzt begeistert. Offenbar war dies ein Thema, das ihm sehr lag.
„Dort unten, wo Sie die Leute beten sehen“, fuhr Yakov fort, „die Männer auf der linken, die Frauen auf der rechten Seite, das ist die Mauer, die Herodes baute, um die Erdaufschüttung zu stützen, als er den Berg vergrößerte, um für die Erweiterung des Tempels und seiner Anlagen Platz zu schaffen. Dieser Tempel wurde im Jahre 70 nach
Christus von den Römern zerstört. Und im siebten Jahrhundert bauten die Araber den Felsendom, um die Juden daran zu hindern, jemals ihren Tempel wieder aufzubauen.“
„Ich dachte, sie hätten ihn gebaut, weil doch Mohammed, wie Sie schon sagten, dort gewesen sei... es hat irgend etwas mit El-Aksa zu tun ..
Yakov schüttelte heftig den Kopf. „El-Aksa wird nur in einem einzigen Vers im Koran erwähnt, in der Sure 17,1. Das ist der Ort, an den Mohammed auf seinem magischen Pferd angeblich von Mekka aus gereist ist. Aber El-Aksa hatte niemals etwas mit Jerusalem zu tun — und schon gar nicht zu dem Zeitpunkt, als die El-Aksa-Moschee gebaut wurde. Unter den vielen Versen des Koran, die in den Dom eingemeißelt worden sind, fehlt die Sure 17,1. Nehmen Sie sich einen arabischen Führer, gehen Sie hinein und bitten Sie ihn, die Sure 17,1 für Sie zu finden. Er wird Ihnen sagen, daß sie nicht da ist.“
„Das ist seltsam.“ Ari stand von seinem Sofa auf und gesellte sich zu Yakov, der am Fenster stand, um eine bessere Aussicht zu haben.
„Eigentlich ist es gar nicht seltsam. Mohammed hat Jerusalem niemals für heilig gehalten — und nach seinem Tod tat das viele Jahrhunderte lang auch kein einziger Moslem. Niemals hat ein moslemischer Herrscher Jerusalem als seine politische Hauptstadt benutzt oder auch nur als religiöses oder kulturelles Zentrum. Selbst dann nicht, als der Islam diese gesamte Region erobert hatte. Wissen Sie, vor gar nicht allzu langer Zeit hat Jordanien Jerusalem jahrelang kontrolliert... und der saudische Herrscher hat die Stadt nicht ein einziges Mal besucht!“ „Warum halten sie dann die Moslems heutzutage für so heilig?“ „Auf Grund einer gewitzten Lüge.“ In Yakovs Augen glühte eine Spur von Arger auf. „Um 1920 herum verbreitete Jasir Arafats Onkel, Hadschi Amin al Husseini, die Fabel, der Felsendom sei über der sagenhaften El-Aksa-Moschee errichtet worden. Zum Teil verbreitete er diese Lüge, um seine eigene Bedeutung als Großmufti von Jerusalem zu steigern. Aber hauptsächlich tat er es, um die Unterstützung der Araber dafür zu erhalten, jede Präsenz der Juden in der Heiligen Stadt auszumerzen.“
„Ich kann mich vage daran erinnern. Er floh nach Deutschland, nicht wahr?“
Yakov nickte. „Er war für Hitler und sagte den Arabern:,Tötet die Juden, wo auch immer ihr sie findet. Das gefällt Gott und der Religion und es rettet eure Ehre.’“
„Unglaublich. Klingt wie Hitler.“
„Genau. Und vergessen Sie nicht: Arafat — und die meisten arabischen Führer mit ihm — haben sich immer noch demselben Glaubensgrundsatz verschrieben.“
„Das verblüfft mich“, bemerkte Ari, dem seine eigene Zugehörigkeit zu diesem Volk einfiel, bedrückt. „Warum sind die Juden all die Jahrhunderte lang so sehr gehaßt worden? Es ist unbegreiflich.“
„Ich habe viel von diesem Haß persönlich erlebt“, sagte Yakov leise, „und es gibt nur eine einzige Erklärung dafür.“
Aris Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf das runzlige, aber strahlende Gesicht des alten Mannes. Es war von einer Leidenschaft und Überzeugung erfüllt, die jene Antwort, die Ari so dringend brauchte, versprach.
Langsam formulierte Yakov die folgenden Worte: „Wie ich bereits sagte, nennt die Bibel die Juden Gottes ,auserwähltes Volk’. Deshalb werden sie gehaßt.“
„So einfach ist das?“ lächelte Ari nachsichtig. „Sie glauben wirklich daran, nicht wahr?“
„Ich habe es nicht immer geglaubt, weil ich nicht an Gott geglaubt habe. Aber ich habe hier in Israel vier Kriege erlebt, und ich habe Dinge gesehen, die man einfach als ,Wunder’ bezeichnen muß.“
„Wie zum Beispiel?“ fragte Ari scharf.
Yakov sah ihn mitleidig und verständnisvoll an. „Ich weiß, was Sie denken. Ich war auch ein Skeptiker. Ich werde Ihnen nur von dem ersten ,Wunder’ berichten — dem, das mich aufmerksam machte. Eine Kompanie der Haganah, die ich befehligte, wollte gerade eine arabische Position stürmen. Plötzlich blies ein Wind über das Niemandsland direkt vor uns. Er war so stark und wirbelte solch einen Sandsturm auf, daß wir uns nicht rühren konnten. Er dauerte nur eine Minute. Dann hörte er genauso plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Und dort vor uns sahen wir Dutzende von Minen, die freigelegt worden waren. Der Sand, der sie bedeckt hatte, war vollständig weggeweht worden. Wenn der Wind nicht gewesen wäre, wären wir alle von den Minen getötet worden.“
„Ein glücklicher Zufall“, meinte Ari mit einem zynischen Lächeln.
Yakov brach in ein kurzes, freundliches Lachen aus. „Ich kenne Dutzende von ähnlichen Geschichten ... unglaubliche Ereignisse, die jeder normalen Erklärung spotten und die jüdische Leben gerettet haben. In der israelischen Armee spricht man mit Ehrfurcht von solchen Vorfällen, aber nicht in der Öffentlichkeit. Sie haben viele von uns, die in den Kriegen gekämpft haben, davon überzeugt, daß der
Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs seine Verheißungen, die er seinem Volk früher gegeben hat, in der heutigen Zeit auf seltsame Weise erfüllt.“
Ari antwortete nicht. Er starrte weiter aus dem Panoramafenster hinaus auf den Felsendom, der allmählich von der einbrechenden Dämmerung verschluckt wurde. Dort lag ein faszinierendes Geheimnis verborgen, das er eines Tages gerne einmal ergründen würde. Aber es war zuviel, alles auf einmal verarbeiten zu müssen. Es war so schon schwierig genug, damit fertig zu werden, daß er selbst jüdisch war, auch ohne diesen feurigen Zionisten, der so unermüdlich auf den damit verbundenen religiösen Implikationen herumhämmerte.
Schließlich brach Yakov das Schweigen. „Ich habe erlebt, wie die Welt weggesehen hat, als Hitler versuchte, die Juden auszurotten. Und jetzt sehe ich wieder dieselbe Haltung. Es ist nicht nur die PLO-Charta, die die Vernichtung der Juden verlangt — im Namen des ,Friedens’. Der Geist Hitlers lebt in den Schreien der arabischen Führer nach einem Heiligen Krieg, um die Juden zu vernichten. Dieser Ruf zu den Waffen erschallt täglich von den Moscheen und von politischen Foren in der Arabischen Welt. Und trotzdem wächst der Druck auf Israel, es solle Land zurückgeben, das es genommen hat, um sich zu verteidigen ... damit auf diesem Land ein palästinensischer Staat geschaffen wird, von dem die Araber geschworen haben, daß sie ihn als Ausgangsbasis für die Vernichtung Israels benutzen werden.“
„Passen Sie auf, was Sie sagen“, protestierte Ari. „Sie begeben sich in die Politik ... und das ist mein Fachgebiet.“ Die Diskussion hatte eine etwas angenehmere Wendung genommen, und er entschied sich, wieder mitzureden. „Die Juden haben die Araber gezwungen, zu gehen, und dann haben sie ihr Land und ihre Häuser übernommen. Dieses Eigentum muß zurückgegeben werden!“
„Wo haben Sie denn das gehört?“
„Das ist doch allgemein bekannt.“ Der herablassende Ton war nicht zu überhören.
„Ich war dabei“, sagte Yakov, und sein Gesicht wurde plötzlich rot vor Arger. „Vielleicht hat es einige wenige Vorfälle dieser Art gegeben. Aber ich kann als Augenzeuge sagen, daß wir unsere arabischen Nachbarn dringend gebeten haben, zu bleiben.“
Ari hatte Mühe, ein skeptisches Lächeln zu unterdrücken.
Yakov sah ihm jetzt direkt ins Gesicht und seine Augen blitzten. „Was ich Ihnen sage, sind Tatsachen. Sie haben darüber gelesen ... aber ich habe es erlebt. Die Wahrheit wird unterdrückt ... und die Welt
scheint nicht bereit zu sein, sie zu hören. Ich erinnere mich an Notizen, die an den Türen von Geschäften, Wohnhäusern, Moscheen hingen, und darauf stand etwa folgendes: ,Wir baten unsere arabischen Nachbarn zu bleiben. Dies ist nicht unser Eigentum, sondern ihres. Paßt gut darauf auf, bis sie wiederkommen.’“
In Aris Gesicht stand deutliches Unbehagen geschrieben. Was sollte er diesem Mann entgegnen? Er hatte die Geschichte, über die er nur gelesen hatte, erlebt. Zweifellos hatte er Versionen aus zweiter Hand gelehrt, und offensichtlich waren das — wenn Yakov nicht gelogen hatte, was ihm unwahrscheinlich erschien — Per-Versionen mit ziemlich schreienden Fehlern gewesen.
„Es gibt eine ganze Menge Vorurteile da draußen“, fuhr Yakov erregt fort, „und es ist nicht leicht, eine Lüge zu korrigieren, wenn sie erst einmal weit verbreitet und akzeptiert worden ist. Wir wollten nicht, daß die Araber gingen ... aber sie taten es ... etwa 800.000 von ihnen.“
„Ich will Ihnen nicht widersprechen“, erwiderte Ari vorsichtig, „aber was Sie mir erzählen, ergibt keinen Sinn. Warum hätten sie Weggehen sollen?“
„Das Arabische Hohe Komitee warnte sie in Radioansagen ... Tag und Nacht. Sie sollten um ihrer eigenen Sicherheit willen vorübergehend das Land verlassen. Sieben arabische Nationen standen bereit zum Angriff. Die Juden würden in das Mittelmeer getrieben werden. Und den palästinensischen Arabern wurde versprochen, daß sie in wenigen Tagen alle wieder in ihre Häuser und auf ihre Höfe zurückkehren könnten ... nachdem der neue Staat Israel eliminiert worden wäre!“
„Das klingt logisch“, gab Ari zu. „Und statt dessen errang das winzige Israel einen verblüffenden Sieg gegen unglaubliche Widerstände.“
„Unglaublich ist noch untertrieben.“ Yakov grinste wieder. „Ich war dabei — und ich kann Ihnen sagen, daß es nur geschah, weil eine Menge Wunder passierten!“
„Was ist mit all der harten Arbeit, Tapferkeit und jüdischem Geschick?“ wollte Ari wissen. „Sagt das Sprichwort nicht: ,Hilf dir selbst, so hilft dir Gott’?“
„Ich schmälere damit nicht im geringsten die Tapferkeit der Männer und Frauen, mit denen ich gekämpft habe.“ Yakov schwieg einige Augenblicke, anscheinend versunken in Erinnerungen. Ari wartete. Er war so redselig. Und doch mußte man diesen alten Krieger respektieren. Einer der berühmtesten Helden Israels — oder wie hatte es
Uzi ausgedrückt? Aber er vermied es vollkommen, sich selbst zu loben.
„Zurück zum Thema ... dieses ganze Palästina-Problem“, sagte Yakov schließlich. „Sie können sich die Enttäuschung und den Arger der vertriebenen Palästinenser vorstellen, als sich herausstellte, daß die Versprechungen des Arabischen Hohen Komitees nichts als heiße Luft waren. Zunächst waren sie wütend auf ihre eigenen Führer. Aber die Lügen, die man ihnen erzählte, verwandelten ihre Wut — und die Wut der ganzen Welt — in eine Wut auf Israel, als sei es unsere Schuld, daß die Araber uns angegriffen und wir uns verteidigt hatten.“
„Was wurde aus den Notizen, kein arabisches Eigentum zu übernehmen?“ wollte Ari wissen. Er wandte sich von der verblaßten Aussicht aus dem nun dunkel gewordenen Fenster ab und sah Yakov an. „Statt dessen habt ihr es alles an euch genommen! Und ihr habt eine Menge Land genommen, das niemals Teil dessen war, was Israel durch die Aufteilung der UN erhalten hatte. Warum habt ihr das nicht zurückgegeben?“
„Die Araber hätten gerne in ihre Häuser zurückkehren können. Aber nur wenige taten das. Und was die Gebiete angeht, die wir im Zuge der Selbstverteidigung eroberten, so wäre es Selbstmord gewesen, sie zurückzugeben. Wir konnten nicht zu den ursprünglichen Grenzen zurückkehren, die die UN uns gegeben hatte, denn es war unmöglich, sie zu verteidigen. Wir waren aus strategischen Gründen gezwungen, in begrenztem Maße zusätzliche Gebiete zu behalten ... es war pure Selbsterhaltung. Wir wußten, daß die Araber uns wieder angreifen würden — sie selbst drohten es uns an — und daß sie niemals damit aufhören würden, bis wir ausgelöscht wären.“
„Und Sie haben in jenem ersten Krieg mitgekämpft?“ fragte Ari.
Yakov nickte. „Und in den Kriegen 1956,1967 und 1973. Wir mußten jedesmal gewinnen“, sagte er sachlich. „Die Araber können verlieren und wiederkommen, um von neuem zu kämpfen. Israel kann das nicht. Eine Niederlage würde uns für immer erledigen.“
„Sie haben mir sehr viel Stoff zum Nachdenken gegeben“, bekannte Ari ernst. „Ich war Leiter der Abteilung für Politische Wissenschaften an der Sorbonne, aber ich habe niemals diese Seite der Geschichte gehört... zumindest nicht so gut präsentiert, wie Sie es gerade getan haben.“
„Bei jedem neuen Krieg steht das nackte Überleben der Juden in aller Welt auf dem Spiel.“ In Yakovs Stimme lag eine starke Überzeugung, die jeder Aussage einen Klang von Echtheit verlieh, so, als spräche er
für die gesamte jüdische Rasse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Wir haben geschworen, daß es nie wieder einen Holocaust geben wird! Aber ich kann Ihnen sagen, daß wir ohne Gottes Eingreifen nicht überleben könnten.“
„War ,Gott’ auf unserer Seite, als Hitler uns abschlachtete?“ erwiderte Ari. „Auf diese Weise habe ich meine Eltern verloren ... und vermutlich eine ganze Reihe Verwandter — Tanten und Onkel und Großeltern und Cousins und Cousinen — von deren Existenz ich nicht einmal weiß.“
Ein trauriges und sanftes Mitgefühl trat an Stelle des Ärgers in Yakovs Stimme. „Das ist eine schwierige Frage. Ich habe auch viele Verwandte verloren. Die Thora warnt unser Volk, daß wir in alle Welt verstreut würden und daß Gottes Gericht über uns käme, wenn wir ihm gegenüber ungehorsam wären. Unsere Vorfahren waren ungehorsam .. . und es geschah genau das, wovor Gott uns gewarnt hatte. Das steht unausweichlich fest.“
„Aber der Holocaust ...!“ protestierte Ari.
„Er war zu schrecklich! Ich verstehe das nicht. Aber ich weiß, daß es heute wahrscheinlich kein Israel gäbe, keine Zuflucht für das auserwählte Volk, wohin sie sich flüchten können, wenn es die Vernichtungslager nicht gegeben hätte. Vielleicht stellt es sich auf lange Sicht heraus, daß dieses Grauen mehr jüdische Leben gerettet als vernichtet hat.“
Ari lächelte erneut. „Das auserwählte Volk, wahrhaftig!“murmelte er leise. „Nun“, sagte er laut zu Yakov und wollte unbedingt dieses immer wiederkehrende, ungeliebte religiöse Thema wechseln, „da sind wir ja in eine ziemlich tiefgehende Diskussion geraten, bevor wir uns richtig miteinander bekanntgemacht haben. Wir wäre es, wenn wir Übereinkommen, daß wir in religiösen Dingen verschiedener Meinung sind — und dann dieses Thema vergessen. Ich bin einfach nicht daran interessiert.“
Yakov zuckte gutmütig mit den Schultern. „Gern, wenn Sie es so möchten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß uns der ständige Haß auf unser Volk schon längst ausgelöscht hätte, wenn Gott uns nicht beschützen würde. Sie werden das besser verstehen, wenn Sie eine Weile hier gelebt haben und wissen, wie es sich anfühlt, von allen Seiten mit Vernichtung bedroht zu werden. Wenn der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht existiert und uns nicht hilft, dann werden wir ausgelöscht werden. Es gibt einen ständig zunehmenden Antisemitismus, der mich an das Deutschland der 30er Jahre erinnert. Die
Meinung der Welt wendet sich wieder gegen Israel. Sie werden auch anfangen, das zu merken. Sie werden sehen.“
Einen Moment lang starrte Yakov Ari an, als blicke er ihm direkt ins Herz. Dann machte er Licht an und ging zur Küche. „Bitte entschuldigen Sie, daß ich so viel rede. Sie müssen hungrig sein... und müde. Ich werde etwas zu essen machen, und dann können Sie etwas Schlaf nachholen.“
„Vielleicht lege ich mich etwas hin. Sie können mich rufen, wenn das Essen fertig ist.“ Ari begann, durch das Wohnzimmer zum Eingangsbereich zu gehen. In dem Moment klopfte es.
„Einen Augenblick“, rief ihm Yakov nach und eilte zur Tür. „Dieses Klopfen kenne ich. Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“
29. Eine Wandlung
„David!“ rief Yakov aus, als er die Tür öffnete. „Wie schön, dich zu sehen! Ich habe jetzt einen Mitbewohner — direkt aus Paris. Dies ist Ari Thalberg. Ari, ich möchte Ihnen David Kauly vorstellen.“
Ari hatte das Gefühl, als ob der stämmige, mittelgroße Mann in mittleren Jahren mit dem schütteren Haar, der durch die Tür schoß und seine Hand ergriff, ihn augenblicklich eingehend unter die Lupe nahm, analysierte und sich einprägte.
„Sie sind also nach Israel gezogen.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ari war sofort auf der Hut. Wer war dieser Mann mit den flinken Augen und dem unverbindlichen Gesichtsausdruck, und was wußte er? Er entschied sich, diese Frage vorerst zurückzustellen und später darüber nachzudenken.
„Ja, ich bin vor einigen Stunden angekommen. Yakov ist so freundlich, seine Wohnung mit mir zu teilen.“
„Hier sind Sie genau richtig ... in der Altstadt. Aber Sie sollten ein Auge auf den alten Mann haben“, sprach David weiter, neigte den Kopf in Yakovs Richtung und blinzelte Ari zu. „Er wird ein wenig Hilfe brauchen, um die Treppen hinauf und hinunter zu kommen.“
Yakov schnaubte. „David war einer meiner Leutnants in dem Krieg 1967. Damals konnte er nicht mit mir mithalten, und er ist immer noch neidisch deswegen. Er arbeitet im Verteidigungsministerium. Eines Tages werde ich da hineinmarschieren und einigen von diesen Hohlköpfen den Marsch blasen. Es ist nicht mehr so wie in den guten alten Tagen.“
David grinste. „Das ist der Grund, warum ich ab und zu vorbeikomme — um mich daran erinnern zu lassen, wie herrlich doch die ,guten alten Tage’ waren und um einige von Yakovs Weisheiten aufzusammeln. Er hat jede Menge davon. Wir führen großartige Diskussionen miteinander. Sie können sich gerne mal dazusetzen — wenn Sie wollen, gleich jetzt.“
„Danke. Ich versuche immer noch, all die Gelehrsamkeit zu verdauen, mit der er mich überschüttet hat, seit ich hier angekommen bin. Es war nett, Sie kennenzulernen, und ich würde mich freuen, mich ein andermal ausführlicher mit Ihnen zu unterhalten.“ Ari drehte sich um und ging den Gang hinunter zu seinem Zimmer.
Er schloß die Tür hinter sich, streckte sich auf seinem Bett aus und fühlte sich vollständig erschöpft. Holte ihn etwa sein Alter ein? Alter?
Sechsundvierzig war nicht so alt. Er würde wieder anfangen, zu laufen, eine gute Turnhalle suchen und wieder in Topform kommen. Vielleicht gab es ja sogar ein Karatestudio, wo er sich als Teilzeitlehrer ein wenig Taschengeld verdienen könnte. Er würde an Wettkämpfen teilnehmen und einige der hiesigen Konkurrenten besiegen, sich einen Namen machen ... dann würden die Schüler sicher in Scharen kommen.
Es war schwer zu glauben, daß er tatsächlich hier war, in Jerusalem, dem Ort, wo er am wenigsten sein wollte. Im Augenblick hielt ihn die israelische Regierung in Schutzhaft. Er hatte keinen Job und einen anständigen, aber offenbar religiösen alten Langweiler als Mitbewohner. Er war ein Fremder in einem fremden Land, und es gab nichts, worauf er sich freuen konnte oder wofür es sich zu leben lohnte. Sein ganzes Leben war der Revolution gewidmet gewesen, und nun war er ein altes Schlachtroß, das man auf die Weide gebracht hatte. Würde sein Leben jemals wieder einen Sinn bekommen?
Dennoch, die Schärfe der Verzweiflung hatte ein klein wenig nachgelassen. Er fragte sich, ob das in Ordnung war. War er Nicole untreu mit dieser ersten leichten Heilung des Schmerzes? Aber niemand konnte ständig in der Vergangenheit leben. Es half Nicole nicht, wenn er sich weiter wegen ihres Todes anklagte. Sie war tot, und es würde seinen Neuanfang in Israel nur noch schwerer erträglich machen, wenn er weiterhin zurücksah.
Aber was war mit dem kleinen Ari Paul? Wie er sich wünschte, er hätte das Bild, das Niki ihm geschickt hatte, mitgenommen. Würde Bourbonnais Wort halten? Würde er wirklich seine Sachen packen und herschicken lassen? Jenes Bild, nachlässig zwischen zwei Bücher gesteckt — würde es verlorengehen oder mit den Büchern zusammen eingepackt werden und sicher hier eintreffen? Es war alles, was er hatte. Natürlich sah Klein-Ari jetzt nicht mehr so aus. Er war so winzig gewesen damals. Er war jetzt wohl schon einige Wochen alt und wuchs jeden Tag ein wenig mehr. Schon bald würde er lernen, zu gehen und zu sprechen und zu antworten ... alles ohne seinen Vater, der nicht da war, um diese Momente gemeinsam mit ihm zu erleben. Wer würde ihn jetzt aufziehen? Würde er je erfahren, wer sein Vater war? Würden sich Vater und Sohn je treffen? Er schuldete es Nicole, Ari Paul zu finden und im Andenken an sie zu erziehen.
Als Ari einschlief, fragte er sich, wann und wie er es bewerkstelligen würde, seinen Sohn nach Israel zu bringen. Als Vater des Kindes hatte er bestimmt einige Rechte. Sicherlich würde er die Vormundschaft
über seinen eigenen Nachkommen erhalten. Zunächst mußte er eine Stelle finden und sich in seiner eigenen Wohnung einrichten ... oder vielleicht sogar in einem Haus draußen auf dem Lande, wo das Kind an der frischen Luft aufwachsen und reiten lernen könnte ... Es war ein Traum, der es wert war, geträumt zu werden, etwas, was er für Nicole tun konnte.
Als Ari am nächsten Morgen die Jerusalem Post anrief, erfuhr er, daß Uzi für den Nachmittag bereits einen Vorstellungstermin beim Chefredakteur persönlich vereinbart hatte. Die Weise, wie er empfangen wurde, überstieg seine Erwartungen. Immerhin war er ein völliger Neuling auf dem Gebiet des Journalismus.
„Uzi hat mir berichtet, Sie seien der Leiter der Abteilung für Politologie an der Sorbonne gewesen. Ist das richtig?“ Der Chefredakteur schien sehr beeindruckt zu sein.
Ari nickte bescheiden. „Ja, während der letzten fünf Jahre. Ich habe beinahe siebzehn Jahre dort gelehrt. Ich habe ziemlich viele Artikel veröffentlicht ...“
„Sie sind wirklich absolut überqualifiziert für irgend etwas, was ich Ihnen anbieten könnte. Aber wir hätten Sie gerne als Mitarbeiter in unserem Team. Ich habe seit Wochen über ein neues Feature nachgedacht — einen Beitrag mit einer Analyse der Nachrichten, der zweimal wöchentlich erscheinen soll — und habe mich gefragt, wen ich dafür gewinnen könnte. Was meinen Sie, würden Sie das übernehmen?“
„Es wäre eine Ehre ... und eine Herausforderung“, erwiderte Ari begeistert. Vielleicht gab es ja doch etwas, wofür es sich zu leben lohnte.
„Das würde Ihnen immer noch genug Zeit lassen, um einige Stunden an der Hebräischen Universität zu unterrichten, falls Sie daran interessiert wären“, ergänzte der Chefredakteur.
„Das wäre eine Möglichkeit.“ Ari wollte die Begeisterung des Mannes nicht dämpfen. Aber in seinem Herzen stand bereits fest, daß er mit der akademischen Welt abgeschlossen hatte. Er könnte es nicht ertragen, mit Studenten zu arbeiten, ohne sie in jenes Ziel, dem sein ganzes Leben gewidmet war, mit einzubeziehen. Und das stand natür-
lieh überhaupt nicht zur Diskussion. Er mußte ein vollkommen neues Leben beginnen.
Ari wurde sofort eingestellt. Als er seinen Vertrag Unterzeichnete, konnte er Yakovs triumphierendes und vorhersehbares „Es ist ein Wunder!“ schon förmlich hören. Sei’s drum. Er hatte einen Job.
Sicher, das Anfangsgehalt war nichts, womit man hätte angeben können. Aber es würde reichen, um seine Hälfte der Miete und sonstigen Ausgaben zu zahlen, und es würde noch ein wenig übrigbleiben für geringfügige persönliche Ausgaben und er würde sogar noch etwas zurücklegen können. Ein Mann, der in seinem Alter noch einmal ganz von vorn anfing, konnte nicht viel mehr erwarten. Es war zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung, die ihm, so hoffte er, irgendwann das Sorgerecht für seinen Sohn bringen würde. Vielleicht lächelte ihm das Schicksal endlich doch noch zu.
In den folgenden Tagen wuchs Ari in seine neue Aufgabe hinein. Er war selbständig. Niemand sah ihm über die Schulter. Er konnte seinen eigenen persönlichen Überzeugungen Ausdruck verleihen und erhielt nur minimale Vorschläge von oben. Schließlich war es eine ganz neue Erfahrung für ihn, und er war dankbar für konstruktive Kritik und Ratschläge. Die anderen Mitarbeiter waren ihm im großen und ganzen sympathisch, und einige von ihnen, besonders eine attraktive junge Reporterin, die ihn ein wenig an Nicole erinnerte, machte eindeutig freundliche Annäherungsversuche. Was Ari betraf, so war eine kameradschaftliche Freundschaft im Büro okay, aber mehr wollte er nicht — noch nicht.
Vielleicht ließ sich die Leere, die Nicoles Tod in seinem Leben hinterlassen hatte, doch ausfüllen ... aber das durfte man nicht übereilen. Er würde vorsichtig sein, nicht zu schnell persönliche Freundschaften beginnen. Er wußte, daß sie zu einem gefährlichen Tretminenfeld werden konnten. Diese zurückhaltende Einstellung trug er noch von den vielen Jahren der Untergrundarbeit mit sich. Es war schwer, Gewohnheiten abzuschütteln, die sich so tief eingeprägt hatten.
Ari war gar nicht glücklich darüber, wie sich die Dinge in Europa entwickelten. Sollten sich doch Bush und Gorbatschow — und der Papst — den Verdienst dafür zurechnen. Es war ihre Neue Weltordnung, ganz und gar nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Er wollte mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben und war entschlossen, jede Spur der Vergangenheit aus seiner Aktentasche und seinen Gedanken auszuräumen. Sorgfältig verbrannte er Seite um Seite seiner Listen mit Namen, Anschriften und Telefonnummern. Seine Ober-
leutnants in Osteuropa und Asien würden sich fragen, was geschehen war. Er war nicht einmal in der Lage gewesen, ihnen eine kurze Nachricht zukommen zu lassen. Sie waren jetzt auf sich selbst gestellt.
Einer der Vorteile seiner neuen Arbeit war, daß sich Ari in seiner Kolumne mit aktuellen Themen beschäftigen konnte. Sein drittes Feature war eine gründliche dreiteilige Analyse des Stasi und seiner zerstörerischen Auswirkungen auf die DDR-Gesellschaft. Überall hatte es bezahlte Spitzel gegeben. Kein Ort war sicher gewesen. Selbst der Beichtstuhl in der Römisch-Katholischen Kirche war vom Stasi mit Hilfe von versteckten Mikrophonen und korrupten Priestern für seine üble Arbeit benutzt worden. Und jetzt, wo endlich die Wahrheit ans Tageslicht kam, wurden Freunde und Familien auseinandergerissen, wenn sie erfuhren, daß einige ihrer besten und vertrautesten Gefährten jahrelang vom Stasi bezahlt worden waren, um Informationen über sie weiterzugeben und sie zu verraten. Die Folge von jahrzehntelangem Verrat in der Vergangenheit waren Scheidungen, Selbstmord und sogar Mord, wenn sich solche, die Jahre im Gefängnis verbracht hatten, in blinder Wut an ihren Verrätern rächten.
Es gab noch eine andere Seite der Geschichte, und auch diese machte Ari seinen Lesern als eines der Ergebnisse der deutschen Wiedervereinigung deutlich. Im wiedervereinigten Deutschland wurden ehemalige Stasi-Agenten, die den Anklagen ihrer Opfer entkommen waren, Privatdetektive. Dieser Beruf war unter dem Marxismus vollkommen unbekannt gewesen. Aber unter dem Kapitalismus bestand plötzlich eine große Nachfrage danach. Einige der Aufträge, die diese Menschen bekamen, bestanden darin, Nachteiliges über ihre alten Kameraden in Erfahrung zu bringen. Die Freiheit forderte einen hohen Preis.
Unter den Lesern bestand allgemein eine große Nachfrage nach Kommentaren über neue Trends in Europa, und das besondere Interesse galt natürlich allem, was einen Bezug zu Israel und den Juden in aller Welt hatte. Mit der Wiedervereinigung wurde die ehemalige DDR zu einer Brutstätte für haßerfüllte Gruppen, die immer stärker und gewalttätiger wurden. Ari schrieb einen zweiteiligen Artikel, in dem er das Aufkommen der Neo-Nazis mit besonderer Berücksichtigung des Antisemitismus analysierte. Der Chefredakteur war äußerst zufrieden mit seinem neuen Mitarbeiter, und das galt auch für die Leser.
„Mir gefällt das, was Sie jetzt schreiben, besser als vor einem
Monat“, sagte Yakov eines Abends zu Ari, als sie an dem kleinen Tisch neben der Küche gemeinsam aßen. „In Ihrem Denken läßt sich eine leichte, aber ständige Wandlung erkennen.“
„Ich muß zugeben“, bekannte Ari, „daß das Leben in Israel mir eine vollkommen andere Perspektive gegeben hat. Ich beginne, Dinge in einem neuen Licht zu sehen. Allerdings habe ich immer noch meine Probleme mit dem Zionismus — und dieser Vorstellung von einem ,auserwählten Volk’.“
Yakovs rundes Gesicht wurde von einem noch strahlenderen Lächeln als sonst erhellt. „Sie sind ein fairer Mann, Ari. Sie respektieren Tatsachen. Das gefällt mir. Sie werden allmählich verstehen und Ihre Meinung ändern.“
„Ich sehe die Nachrichten, die jeden Tag über Kabel und Satellit hereinkommen. Nicht nur von Nachrichtenagenturen ... Wir erhalten durch unsere eigenen Leute da draußen auch unaufbereitete Informationen. Es war äußerst lehrreich. Einfach unglaublich... der Haß, der sich von den umgebenden arabischen Staaten über uns ergießt, und die Drohungen, Israel zu vernichten!“
„Und doch wird es von der Welt ignoriert. Wir sind die Bösen, weil wir uns verteidigen wollen
„Ich glaube, daß ein Großteil der Welt die Wahrheit nicht kennt... und sie auch gar nicht kennen will. Das meiste von diesem Zeug, das über die Kabel hereinkommt, wird niemals so verarbeitet, daß es die breite Masse erreicht. Sie werden in Unwissenheit gehalten.“
„Das sind keine leeren Drohungen“, erinnerte ihn Yakov. „Es sieht zwar so aus, wenn nichts daraus wird ... aber das ist nur deshalb der Fall, weil die Araber in jedem Krieg besiegt worden sind und die Sowjets zögern, sie in einem weiteren Krieg zu unterstützen. Sie hoffen, daß sie einen Propagandakrieg gewinnen, um einen unabhängigen palästinensischen Staat als Basis in Israel zu errichten. Und in der Zwischenzeit schreien sie zwar laut,Friede’, setzen dabei aber von außen jede mögliche Form des Terrorismus gegen uns ein.“
Ari nickte zustimmend. „Am Anfang war ich kritisch gegenüber der militärischen Präsenz. Die Armee ist überall. Flugzeuge über einem, Überschallknalle, Hubschrauber, die fast ständig mit irgendeinem Auftrag unterwegs sind, Soldaten auf den Straßen ... Man muß wirklich eine Weile hier gewesen sein, um es zu verstehen.“
„Sie werden bald ein richtiger Israeli sein!“ frohlockte Yakov zustimmend.
„Nicht so schnell, Sie altes Schlachtroß“, lachte Ari. „Ich bin immer
noch besorgt über die Belagerungsmentalität unter euch Israelis. Daraus könnte sich ein unheilvoller Verfolgungswahn entwickeln ... ein Extremismus. Ab und zu sehe ich einige Anzeichen dafür in der Knesset... und auch bei einigen politischen Parteien, die sich um die Macht rangeln. Das macht mir Sorgen.“
„Mir ebenfalls!“ stimmte Yakov zu.
„Wirklich?“ Impulsiv streckte Ari die Hand über den Tisch aus und schüttelte dem alten Krieger heftig die Hand.
David kam etwa einmal die Woche zu einem Besuch vorbei. Ihn und Yakov schien eine echte Freundschaft zu verbinden, die tatsächlich schon jahrzehntelang bestand. Dennoch war irgend etwas an den Besuchen seltsam und brachte Ari ins Grübeln. Der Mann war intelligent und gebildet, bei fast jedem Thema ein guter Gesprächspartner, aber sehr vage, wenn es um Persönliches ging. Ari hatte ihm mehrere Möglichkeiten gegeben, etwas ausführlicher über seine Arbeit im Verteidigungsministerium zu sprechen, aber David hatte jede dieser Möglichkeiten gewandt umschifft.
Ari vermutete, daß David etwas mit dem israelischen Geheimdienst zu tun hatte und daß Yakov deshalb seine Wohnung mit ihm teilte, weil das Teil ihres Planes war, ein Auge auf ihn zu haben. Er könnte verstehen, warum die Israelis das möglicherweise tun wollten, wenn man seine Vergangenheit bedachte, die Umstände, unter denen er zu ihnen geschickt worden war und die Tatsache, daß er seit Jahren die Fahndungsliste der Interpol angeführt hatte. Aber was machte das schon? Sollten sie ihn doch beobachten — falls sie das tatsächlich taten —, bis sie das Spiel leid waren. Sie würden schon bald überzeugt sein, daß er nichts zu verbergen hatte. Jetzt nicht mehr.
„Ari, mein Sohn! Mein Sohn!“ Als Ari sich eines frühen Morgens, nachdem er schon etwa sechs Wochen in Israel war, langsam aus dem Schlaf kämpfte, hörte er sich selbst gequält diese Worte sagen. Der kleine Ari Paul lag ihm Tag und Nacht auf Herz und Gewissen. Wie
sehr er sich doch wünschte, ihn nach Israel bringen zu können! Aber es standen so viele praktische Probleme im Wege. Er hatte kein Geld für einen Kampf um die Vormundschaft vor einem französischen Gericht, der sich sicherlich als sehr kostspielig erweisen würde. Im Augenblick konnte er sich nicht einmal einen Anwalt nehmen, um sich in der Sache kundig zu machen. Zudem würde er mit seiner gegenwärtigen Wohnsituation, seinem geringen Einkommen und seiner ,kriminellen Vergangenheit’ in den Augen des Gerichts für eine Vormundschaft kaum geeignet erscheinen.
Aber sein gesunder Menschenverstand wurde übertönt von der Leidenschaft. Wie er sich sehnte, seinen Sohn zu sehen, ihn in seinen Armen zu halten, ihn zu beschützen und für ihn zu sorgen! Sein natürliches Verlangen wurde noch verstärkt durch ein überwältigendes Schuldgefühl, das ihn beständig quälte. Die Tatsache, daß er auf einer Abtreibung bestanden und sich geweigert hatte, die Verantwortung für Nikis Schwangerschaft zu übernehmen, verfolgte ihn. Das war sein Kind — nur sein Kind, seit sie gestorben war. Er war es ihr, Niki, schuldig, ihr gemeinsames Kind zu finden und es in ihrem Andenken zu erziehen.
Es gab noch eine weitere Überlegung, die ihn beunruhigte. Je länger das Kind von ihm getrennt war, umso größer wurde das Risiko. Was wäre, wenn Rogers Gruppe versuchen sollte, das Baby als Druckmittel zu benutzen? Sie könnten ihm drohen, das Kind zu töten, falls irgendeine Information über sie durchsickern sollte. Es wäre glatter Wahnsinn, Kontakt zu diesen früheren Gefährten aufzunehmen, die jetzt seine Feinde waren, um zu versuchen, seinen Sohn zu finden.
Ari erinnerte sich, daß Niki unter den Einfluß eines Arztes und seiner Frau, einer Krankenschwester, geraten wrar. Sie kannte die beiden aus dem Pariser Krankenhaus, in dem sie ihre Assistenzzeit machte. Als sie ihn verließ und sich eine eigene Wohnung suchen mußte, hatte sie zeitweilig bei ihnen gewohnt. Es erschien von daher wahrscheinlich, daß sie diejenigen waren, die Niki nach Orly gefahren hatten, um sich von ihm zu verabschieden. Wenn das so war, hatte sie das Baby bei ihnen gelassen, als sie zum Abschied in den Flughafen gekommen war. Das war zumindest ein Anfang. Sie würden etwas wissen. Die Frage war: Würden sie es ihm sagen?
„Natürlich kannst du gern in Paris oder sonst irgendwo anrufen“, sagte ihm Yakov bereitwillig, als Ari fragte, ob er das Telefon benutzen dürfe. „Wir werden uns die Rechnung ansehen, wenn sie kommt, und dann abrechnen.“
Es war leicht, von der Auslandsauskunft die Nummer zu bekommen. Ari wählte rasch die Klinik an und fragte nach. Es gab mehrere verheiratete Paare, von denen beide Partner dort arbeiteten, aber nur ein Arzt-Krankenschwester-Team. Sie hießen Duclos. Der Name kam ihm sofort bekannt vor.
„Dr. Duclos“, sagte Ari, als er ihn endlich erreichte, „ich heiße Ari Thalberg und war früher unter dem Namen Professor Hans Müller von der Sorbonne bekannt. Ich war mit Nicole verlobt. Sie hat mich wahrscheinlich erwähnt. Sie wissen sicherlich von ihrem tragischen Tod ...“
„Ja. Wir waren damals bei ihr. Wir haben sie nach Orly gefahren, damit sie sich von Ihnen verabschieden konnte.“
„Das dachte ich mir!“ fuhr Ari voll Hoffnung fort. „Dann muß sie unseren Sohn bei ihnen gelassen haben. Wie geht es ihm?“
Es gab ein kurzes Zögern. „Ja, das hat sie“, sagte Duclos vorsichtig. „Er ist ein prächtiges, glückliches Baby. Es geht ihm sehr gut bei uns.“
„Er ist mein Sohn!“ platzte Ari heraus. Er konnte sich nicht länger zügeln. „Könnten Sie mir ein Bild von ihm schicken?“
„Sicher. Wie lautet Ihre Adresse?“
Ari gab ihm die Nummer und buchstabierte den Namen der Straße. „Eines Tages, wenn es mir möglich sein wird, hätte ich ihn gern hier bei mir.“
Diesmal war das Schweigen am anderen Ende der Leitung länger. Schließlich antwortete der Auzt: „Ich möchte Sie nicht täuschen, indem ich Ihnen in dieser Hinsicht irgendwelche Hoffnungen mache. Wenn ich richtig verstanden habe, wollten Sie, daß sie das Baby abtreibt.“
„Es ist jetzt nicht mehr wichtig, was wir möglicherweise besprochen haben, als sie das erste Mal bemerkte, daß sie schwanger war. Niki hat das Baby geboren. Ich bin der Vater, und ich habe ein elterliches Interesse an meinem Sohn.“
„Natürlich, ich bin sicher, daß Sie das haben“, lautete die besänftigende Antwort, „aber da gibt es gesetzliche Verfahren. Sie waren nicht verheiratet ...“
„Wir reden hier nicht über moralische Fragen“, unterbrach ihn An.
„Nein, natürlich nicht. Ich teile Ihnen nur die Fakten mit. Da Sie nicht mit Nicole verheiratet waren, müssen Sie irgendwelche Beweise liefern.“
„Sie wissen, daß ich der Vater bin. Niki muß es Ihnen gesagt haben.“
„Ich bin nicht der Richter. Es ist Sache des Gerichts, darüber zu ent-
scheiden. Und um es einmal ganz klar zu sagen: Der Wunsch der Mutter wird vorrangig berücksichtigt werden. Sie hat dafür gesorgt, daß wir das Baby behalten und es großziehen.“
„Können Sie das vor Gericht beweisen?“
„Das haben wir bereits getan. Nicole muß eine Vorahnung ihres Todes gehabt haben. Sie sagte etwas von einem Traum. Er war so real für sie .... nun, sie wollte nicht zum Flughafen fahren, bevor sie nicht eine einfache Erklärung verfaßt und unterschrieben hatte, in der sie uns bat, das Kind zu erziehen ... im christlichen Glauben ...“
„Das ist eine Verletzung seiner ethnischen Herkunft!“ stieß Ari hervor. Dann schwieg er enttäuscht. Es war also tatsächlich eine Vorahnung ihres Todes gewesen. „Jerusalem“ ... der Name wurde zu bitterer Galle. Yakov würde es ein weiteres „Wunder“ nennen, ein „Zeichen“, daß Gott an der Arbeit war. Aber was für ein Gott sollte das sein, der ihm den liebsten Menschen auf Erden raubte und ihn nun von seinem Sohn fernhielt?
Die ruhige und unerbittliche Logik des Arztes blieb beinahe unge-hört: „Die Gerichte werden über irgendwelche späteren Veränderungen in der Vormundschaft entscheiden. So lange haben wir die gesetzliche Vormundschaft. Was den Glauben des Jungen angeht, so wird er selbst entscheiden, wenn er alt genug ist. Sie sollten es besser dabei belassen, Professor Thalberg. Oh ja, ich werde Ihnen die Bilder sofort schicken.“
Eine Zeitlang saß Ari da und starrte das stumme Telefon an. Nein, er würde nicht gegen die Duclos kämpfen. Noch nicht. Zumindest wußte er, wer seinen Sohn hatte. Sollten sie ihn erst einmal behalten. Irgendwann würde er das Sorgerecht bekommen. Und sollten sie ihn in diesen Jahren, in denen er so stark zu beeinflussen war, als Christen erziehen, dürfte es wohl kein Problem sein, ihm etwas anderes beizubringen, wenn er älter wäre und selbst denken könnte.
30. Elor von den Neun
Das Leben in Israel wurde immer mehr zu einer Routine, die schon an Langeweile grenzte. Ach, Israel war von Feinden umgeben, die jeden Moment angreifen könnten? Interessant. Gab es sonst noch etwas Neues? Ja, Terrorismus. Aber einen größeren Angriff? Nein, nicht, ohne daß die Sowjetunion die Invasoren deckte, und das war inzwischen nicht mehr zu erwarten. Gorbatschows Glasnostund Perestroika hatten der sowjetischen Führung so viele innere Probleme eingebracht — was, wie An wußte, schon immer so geplant war —, daß nicht daran zu denken war, den Arabern in einem Krieg gegen Israel zu helfen, zumindest nicht in absehbarer Zukunft.
Ari gingen die heißen Themen aus, über die er schreiben könnte. Dann kam im August 1990 Saddam Husseins brutale Invasion in Kuwait, und Aris Aufgabe als politischer Kolumnist wurde wieder spannend. Die Post hatte Verbindungen bis in die höchsten Ebenen des Mossad. Dadurch hatte Ari Zugang zu bestimmten Informationen des Geheimdienstes, durch die die Informanten nicht bloßgestellt wurden und die in regelmäßigen Abständen zur Veröffentlichung in seiner Kolumne vorgesehen waren.
Es war allgemein bekannt, daß Kuwait ein Zufluchtsort für Terroristen jeder Couleur und der Hauptgeldgeber der PLO gewesen war. Aber es waren Informationen der Mossad, die Ari benutzte (ohne seine Quelle preiszugeben), als er berichtete, wie die PLO die Gunsterweisungen des Emirs, die sie so lange genossen hatte, erwiderte: Sie gab Saddam Hussein detaillierte Informationen für seinen Einmarsch in Kuwait. Es gab keine Ehre unter Mördern und Dieben, und dieses jüngste Doppelspiel würde nachhaltige Auswirkungen haben.
Ari sagte in seiner Kolumne voraus, daß Arafat sich selbst einen Strick gedreht hatte, indem er sich auf die Seite Saddams schlug. Saddam war ein unmenschliches Monstrum, dessen Verbrechen, nicht nur gegen die gesamte Menschheit, sondern auch gegen sein eigenes Volk und Kuwait, so ungeheuer waren, daß ihn die gesamte zivilisierte Welt verachten würde, wenn die Wahrheit bekannt werden würde. Weder Kuwait noch Saudi-Arabien würden die PLO weiter unterstützen, wenn die Alliierten Saddams prahlerische Armee zurück in den Irak jagen würden. Und das würden sie mit Sicherheit tun. Diese beiden islamischen Diktaturen würden zu Demokratien werden müssen, langsam, aber unaufhaltsam. Und wenn das geschähe, würde es die ge-
samte arabische Welt erschüttern, was wiederum zu mehr Freiheit führen würde. Und nach und nach würde auch der Islamische Vorhang fallen, so wie schon der Eiserne Vorhang vor ihm.
Es war an einem Spätnachmittag, als Ari zu einem seiner ziellosen, geruhsamen Spaziergänge durch die engen Straßen im arabischen Viertel der Altstadt aufbrach. Er genoß die exotischen Eindrücke und Geräusche und ging hier und da in einen Laden, um in den faszinierenden Waren herumzustöbern. Gerade hatte er ein Glas frischgepreßten Orangensaft geleert, das er von einem Straßenhändler gekauft hatte, und ging weiter, als er merkte, daß ihn jemand eingeholt hatte und jetzt neben ihm herschlenderte.
Ari wandte sich zur Seite und warf dem Mann einen fragenden Blick zu. Er schien jüdisch zu sein, Anfang dreißig, von durchschnittlicher Größe und Körperbau, mit einem sorgfältig gestutzten Bart, und trug einen gut geschnittenen beigen Leinenanzug.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht...“, begann der Fremde entschuldigend. „Ich bin einer Ihrer Bewunderer ... und lese Ihre Kolumne mit beinahe religiösen Eifer. Ihre Ansichten sind sehr anregend.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Ari blieb stehen und reichte dem Mann die Hand. „Und wie heißen Sie?“
„Elor. Ich bin so froh, Sie zu treffen. Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gerne eine Frage stellen.“
„Ich habe nichts dagegen. Worum geht es?“
„Ihre Artikel über den Stasi waren exzellent. Ich habe mich allerdings gefragt, warum Sie nicht etwas Persönliches eingebracht haben. Es wäre dadurch noch interessanter geworden... und authentischer.“ „Etwas Persönliches? Was meinen Sie damit?“
„Oh, vielleicht, wie Sie geflohen sind, als der Stasi in jener Nacht in Leipzig in Ihre Wohnung kam, oder vielleicht, wie Sie die beiden aus dem Zug warfen ...“
„Wer sind Sie?“ fragte Ari energisch. „Woher wissen Sie das?“ „Ich bin nur ein Freund ... ein Bewunderer.“
„Hören Sie, wenn Sie vom CIA sind ... oder von dem Bankenkonsortium kommen ... das war nicht Teil unserer Abmachung. Die Vergangenheit ist vorbei. Ich werde nicht wieder einsteigen ...“ Ari hielt
mitten im Satz inne. Die Augen. Irgend etwas war mit ihnen. Wo hatte er diesen Mann schon einmal gesehen?
„Sie waren auf dem Rücksitz jenes Wagens, als ich,gefangengenommen wurde’“, begann Ari unsicher. Konnte dies derselbe Mann sein? Es war unmöglich — und doch war es so. „Und später waren Sie in Paris ... und Sie haben mich in meinen Träumen verfolgt!“
Der Mann erwiderte nichts. Er starrte Ari einfach an. Sein Gesichtsausdruck war durchaus angenehm, freundlich ... aber diese hypnotischen Augen waren unverwechselbar. Mit großer Anstrengung riß sich Ari von dem Blick los, der ihn unversehens gefangengenommen und ihrer beider Augen aneinander gekettet hatte.
„Was tun Sie hier in Israel?“ zischte Ari. „Wer sind Sie?“
„Ein Mentor... von einer höheren Ebene“, kam die rätselhafte Antwort. „Das sagte ich Ihnen bereits in Berlin.“
„Was wollen Sie? Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?“ „Haben Sie nicht das Muster erkannt? Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß ich Ihnen in Krisenzeiten erschienen bin, oder wenn es wichtige Veränderungen in Ihrem Leben gab, um Ihnen zu helfen und Sie zu beraten?“
„Hilfe, ja ... einmal. Aber Beratung? Nein.“
„Niemals?“ Die Augenbrauen des Mannes hoben sich kaum merklich mit einem leichten Tadel.
„Ja“, gab Ari widerwillig zu, „Sie haben mir Anweisungen gegeben, um aus Ost-Berlin herauszukommen ... und Sie machten einige scharfsinnige Bemerkungen in Paris ... aber darüber hinaus gab es, soweit ich mich erinnere, keine ,Beratung’.“
„Es gab noch mehr, aber dessen waren Sie sich nicht bewußt .. „Sie meinen, Sie haben mit meinem Verstand herumgespielt!“ unterbrach ihn Ari wütend. „Das wollen Sie doch sagen, oder? Ich war nicht gerade erfreut darüber!“
„Wir haben Sie vorbereitet.“
„Mich vorbereitet? Wofür?“
„Es ist von größter Bedeutung, daß Sie ein Jude sind — und zwar ein ganz besonderer. Rein intuitiv wissen Sie das, obwohl Sie sich geweigert haben, es vor sich selbst zuzugeben. Was Sie jedoch nicht wissen, ist, daß Sie von Geburt an für einen besonderen Auftrag auserwählt sind, der mit Israel zu tun hat.“
„Sicherlich. Und der Mond besteht aus grünem Käse. Was wollen Sie damit eigentlich erreichen?“
„Wenn Sie nicht so skeptisch wären und auf Schmeicheleien herein-
fielen, wären wir nicht an Ihnen interessiert. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen zu schmeicheln, sondern um Ihnen Ihren Auftrag zu erklären. Die festgesetzte Zeit für die Erfüllung dieses Auftrags rückt rasch näher. Deshalb haben wir Sie hierher gebracht.“
„Lächerlich! Ich bin aufgrund eines glücklichen Zufalls hier.“
Obwohl Ari dem Blick des Mannes auswich, schaffte der es, Ari direkt in die Augen zu sehen. Sein Lächeln war anders als jeder menschliche Gesichtsausdruck, den Ari je gesehen hatte. Er vermittelte einen Frieden und eine Macht und Zuversicht, die übermenschlich erschienen. „Wir haben Ihr gesamtes Leben geführt, Schritt für Schritt. Es war schon immer geplant, daß Sie nach Israel kommen sollten. Das war für Ihren Auftrag notwendig. Als nächstes werden Sie in die Vereinigten Staaten gehen, um dort einen Mann zu treffen, dessen Geschick eng mit dem Ihren verbunden ist.“
„Das ist unmöglich. Ich kann Israel nicht verlassen. Die Zeiten, wo ich durch die ganze Welt gereist bin, um großartige Ziele zu erreichen, sind vorbei. Mein gesamtes Lebenswerk ist in die Hände anderer gefallen, die jene Macht, die sie aufgrund meiner harten Arbeit erhalten haben, mißbrauchen.“
„Sie sind entmutigt — und Sie sind im Unrecht. Sie haben gute Arbeit geleistet. Trauern Sie nicht um Nicole. Es war ihr Karma. Sie werden Sie in einem anderen und besseren Leben Wiedersehen. Aber Ihr persönlicher Auftrag für dieses Leben ist bis zum heutigen Tage nach Plan verlaufen ... und schon bald wird er sich seinem erfolgreichen Abschluß nähern.“
„Entweder bin ich verrückt, oder Sie sind es“, murmelte Ari. „Und offen gesagt weiß ich nicht, wer von uns beiden es ist. Vielleicht sind wir ja beide verrückt.“
Wieder kam dieses friedevolle Lächeln vollkommener Zuversicht. „Sie werden verstehen, wenn Sie nach Amerika gehen ... nach Kalifornien. Dann werden Sie uns vertrauen. Für die weitere Erfüllung des Planes ist Vertrauen eine absolute Notwendigkeit. Wir sind an der Grenze dessen angelangt, was wir durch Telepathie und Träume tun können. Damit Sie Ihren Auftrag erfüllen können, müssen Sie dem glauben, was wir sagen und bereitwillig unsere Anweisungen befolgen.“
Er ist verrückt! dachte Ari, starrte ihn schweigend an und wich seinen Augen aus. Die Situation war unglaublich grotesk, aber diesen ... wer oder was auch immer er war ... konnte er nicht einfach so abtun. Es gab eine Frage, die er seit jenem Abschiebungstreffen in Bourbon-
nais’ Büro hatte. Er war ihr ausgewichen, und sie hatte ihn seitdem verfolgt.
„Welcher Art ist Ihre Verbindung zu Rogers Gruppe?“ wollte Ari wissen. Die Reaktion war eine Überraschung. Sie zeigte ein Wissen und einen Einblick in geheime Dinge, die dieser geheimnisvollen Gestalt zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh.
„Wie Sie bereits selbst herausgefunden haben, arbeitet Roger für den CIA, zu dem wir auf einer anderen Ebene Kontakte unterhalten. Sie werden schon bald in diese Ebene eingeweiht werden. Sie hatten Unrecht, als Sie ihm nicht vertrauten, aber Sie hatten keine andere Wahl. Die Gruppe in Paris besteht aus anmaßenden Narren. Roger benutzt sie einfach für die Zwecke von Langley. Sie haben einen wichtigen Test bestanden, als Sie mit diesem ehrgeizigen Kartell richtig umgegangen sind. Sie leben in der Illusion, eines Tages würden sie die Welt beherrschen, was eine Katastrophe wäre. Sie würden sich gegenseitig bekämpfen. Wir dulden sie nur so lange, wie sie nützlich sind. Und das wird nicht mehr sehr lange der Fall sein.“
„Ihre Analyse der Pariser Gruppe ist korrekt“, gab Ari vorsichtig zu. Die selbstverständliche Autorität, mit der sein Gegenüber sprach, verblüffte Ari. „Und ganz offensichtlich kennen Sie Rogers wahre Mission und wem gegenüber er loyal ist.“ Der Mann gewann seinen Respekt, aber er blieb ein undurchdringliches Geheimnis. „Meinen Sie nicht, es sei an der Zeit, mir zu sagen, wer Sie wirklich sind?“
„Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Mein Name ist Elor. Ich bin einer von den Neun — den Archonten. Wir haben vor 20.000 Jahren die Menschheit auf diese Erde gesetzt. Das Experiment wird in einer Katastrophe enden, wenn Ihre Rasse nicht eine neue Richtung einschlägt.“ Wieder war da dieses Lächeln äußerster Zuversicht und Macht.
„Sie wollen 20.000 Jahre alt sein? Aber natürlich, und ich bin Napoleon! Eine Zeitlang klingen Sie vernünftig ... und dann reden Sie wieder vollkommen verrücktes Zeug.“
„Wie alt, meinen Sie, war ich, als wir uns damals in Ost-Berlin das erste Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet sind?“
„Etwa 40, vielleicht auch 45.“
„Das war vor beinahe 30 Jahren. Wie alt sehe ich jetzt aus?“ „Anfang 30“, gab Ari verwundert zu.
„Bin ich dieselbe Person?“
„Ihre Gesichtszüge haben sich geändert ... aber Ihre Augen sind dieselben. Ich würde sie überall erkennen.“
„Warum halten Sie es für so grotesk, wenn ich sage, daß wir die
Menschheit vor 20.000 Jahren auf diesen Planeten gesetzt haben? Haben Sie nicht in einer Diskussion mit Nicole selbst zugegeben, daß die Menschen nicht die einzigen intelligenten Wesen im Universum seien? Und haben Sie nicht Robert Jastrow zitiert, der glaubt, daß es höher entwickelte Wesen geben müsse ... die auf der Evolutionsskala vielleicht so viel weiter sind als der Mensch, wie der Mensch im Vergleich zum Wurm? Und hat nicht auch Nicole diese Möglichkeit eingeräumt?“
Ari nickte langsam. „Die Möglichkeit besteht... aber jemandem auf der Straße zu begegnen, der das von sich behauptet — das ist zu bizarr, um wahr zu sein! Es ist so, als begegne man jemandem, der behauptet, Gott zu sein.“
„Es gibt keinen ,Gott’“, war die rasche, beinahe verächtliche Antwort. „Wh sind alle Götter. Sehen Sie rasch nach oben!“
Ari sah auf und erblickte eine wunderschöne weiße Taube, die herunterflatterte. Sie landete auf Elors Kopf, blieb dort eine Weile und verschwand dann.
„Und jetzt sehen Sie auf die Mauer über und hinter mir!“ befahl Elor.
Zu seinem größten Erstaunen sah Ari, wie sich einer der Steine in der Wand des Gebäudes hinter Elor aus dem Mauerwerk löste, in der Luft schwebte und dann wieder an seinen Platz in der Wand zurückkehrte. Der Mörtel, der den Stein gehalten hatte, war anscheinend unversehrt und intakt wie zuvor.
Elor streckte seine rechte Hand aus, und in seiner Handfläche begann eine etwa fünfzehn Zentimeter hohe Flamme zu brennen. Ari spürte die Hitze sofort. Elor ergriff Aris Hand und hielt sie in die Flamme. Jetzt empfand er eine angenehme und lindernde Kühle. Die Flamme verschwand, und Ari sah seine Hand an. Sie war nicht verbrannt.
„Sie dürfen das nicht falsch verstehen“, belehrte ihn Elor. „Dies sind keine Wunder, wie einige irregeleitete Seelen meinen. Es gibt keine Wunder — nur natürliche Phänomene, hervorgerufen durch universelle Gesetzmäßigkeiten, die den Bewohnern dieses Planeten beinahe vollkommen unbekannt sind. Sie können dasselbe tun, wie ich gerade getan habe — und noch mehr —, wenn Sie erst einmal in die Geheimnisse eingeweiht sind, die wir besitzen. Aber der Zeitpunkt dafür ist noch nicht gekommen.“
Ari stand mit offenem Mund da. Er konnte nicht verstehen, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte. Hatte er einen Alptraum,
von dem er gleich wieder erwachen würde? War er hypnotisiert worden? Übte Elor irgendeine Art der Gedankenkontrolle aus, um ihn zu täuschen? Er trat vor und untersuchte die Mauer sorgfältig. Dann drehte er sich um, um sich mit Hilfe seiner Umgebung wieder zu orientieren. Er stand an einer wohlbekannten Ecke. Die Straßen sahen nach allen Richtungen hin genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Menschen kamen und gingen und kümmerten sich nicht um ihn und Elor. Knappe zehn Meter weiter hockte ein älterer Araber vor einem Laden und paffte eine Zigarette. Als er in die andere Richtung blickte, konnte er etliche spielende Kinder sehen und ihre schrillen Schreie hören. Alles erschien ganz normal.
„Wir haben uns schon früher getroffen — in meinen Träumen. Ich hatte jedesmal schreckliche Angst“, bekannte Ari und wandte sich an Elor. „Warum ist es diesmal anders?“
„Das ist der Grund, warum ich Sie seit vielen Monaten nicht mehr in Ihren Träumen besucht habe. Sie haben Ihre eigene Unreife und Ihre Ängste auf mich projiziert. Ich habe mich nicht verändert, aber Sie sind anders geworden. Bald werden Sie bereit sein.“
Elor legte seine Hand auf Aris Schulter und hielt ihn mit seinem Blick fest. „Sie werden der Führer eines neuen Israel sein, eines Israel, das von seinen zionistischen Ambitionen und seinem Irrglauben, es sei ,Gottes’ auserwähltes Volk, gereinigt sein wird. Nur dann wird Israel seinen Platz in der Neuen Weltordnung der Nationen einnehmen und in Frieden leben ... in einem Frieden, wie ihn die Welt noch nie erlebt hat.“
Ari war wie betäubt ... sprachlos. Der Mann klang wieder völlig verrückt. Er wollte Elor sagen, daß ihn solch unglaubliche Schmeicheleien abstießen. Aber statt dessen hörte er sich stottern: „Warum ich?“
Elor klopfte Ari freundschaftlich auf die Schulter. „Sie haben die richtige Haltung. Sie haben bewiesen, daß Sie bereit sind, sich ganz für das Wohl der Menschheit einzusetzen, ohne dabei etwas für sich selbst erreichen zu wollen. Es war Teil unseres Planes, Ihnen zu erlauben, daß Sie das tun, obwohl wir wußten, daß es nicht funktionieren würde.“
„Was meinen Sie damit?“
„Die Regierung zu verändern, ja, sogar einem Volk die Freiheit zu bringen ... ist nicht die Lösung. Das können sie jetzt in Osteuropa sehen. Es muß eine Veränderung des Geistes geben. Wir sind gekommen, um echte Liebe in der Menschheit zu erwecken. Erst dann kön-
nen wir Ihrer Rasse jene Macht anvertrauen, die nötig ist, um diesen Planeten vor dem ökologischen Kollaps zu bewahren ... und vor einem totalen psychotischen Zusammenbruch der Gesellschaft.“
„Ich kann sehen, daß Sie mit dem, was Sie sagen, recht haben“, stimmte Ari zu. „Aber wie kann man das tun ... es scheint so unmöglich zu sein.“
„Wir haben einen Plan, und Sie sind sehr wichtig für den Erfolg dieses Planes.“
„Das kann ich nicht glauben.“
„Sie müssen. Die Computer dieser Erde und das Wissen, das die Menschen über den Kosmos haben, ist nicht hoch genug entwickelt, um die Tatsache zu bestätigen, daß es in dieser Galaxie einen Zyklus von 1.997 Erdenjahren gibt. Ich kann das jetzt nicht weiter erklären, aber wir können nur während eines sehr schmalen Zeitfensters auf dem Höhepunkt des Zyklus handeln. Der Plan wird zu keinem anderen Zeitpunkt funktionieren. Wenn wir dieses Mal versagen ... Ihre Welt wird keine weiteren 2.000 Jahre überstehen, dessen sind wir uns sicher.“
„Sie legen mir da eine sehr hohe Verantwortung auf. Was erwarten Sie von mir? Was soll ich tun?“
„Im Augenblick nichts. Sie werden mehr erfahren, wenn Sie in Kalifornien den anderen Mann treffen, der gemeinsam mit Ihnen den Schlüssel in der Hand hält. Aber wir brauchen Ihre Bereitschaft.“
„Wie kann ich Ihnen meine Bereitschaft zusichern, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll?“
„Sind Sie bereit, Ihre Rasse zu retten?“
Ari sah Elor prüfend an. „Das meinen Sie anscheinend tatsächlich ernst, oder?“
„Das tun wir. Vergessen Sie für einen Moment die Einzelheiten ... Wenn Sie derjenige sein könnten, der die Menschheit rettet, wären Sie dann bereit dazu?“
„Natürlich könnte ich nicht nein sagen ... Aber ich halte es immer noch für zu phantastisch, um es glauben zu können.“
„Sie verstehen nicht die Bedeutung Ihrer jüdischen Geburt... und auch nicht, wie wichtig es ist, daß Sie jetzt in Jerusalem sind. Diese Stadt ist der Schlüssel. Im Augenblick ist sie der Zankapfel zweier verfeindeter Religionen. Diese Situation ist dadurch entstanden, daß wir das letzte Mal versagt haben.“
„Das letzte Mal?“
„Ja. Als sich der Zyklus vor beinahe 2.000 Jahren seinem Höhe-
punkt näherte, habe ich hier, in Jerusalem, einem jungen Zimmermann dasselbe Angebot gemacht. Aber er entschied sich statt dessen, der Gründer einer neuen Religion zu werden, die die Dinge nur noch schlimmer machte — die Welt hatte bereits zu viele Religionen. Ihre Abneigung gegen Religion ist eine Ihrer Stärken.“
Elor schwieg einen Moment, um Ari Gelegenheit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten. Dann fuhr er fort: „Sind Sie bereit?“
Ari zögerte nicht. „Sie mögen verrückt sein, und wahrscheinlich sind Sie es tatsächlich. Vielleicht haben wir auch beide den Bezug zur Realität verloren. Ich weiß es nicht. Aber wenn ich irgend etwas tun kann, um diesen Planeten vor der Zerstörung zu bewahren ... dann bin ich selbstverständlich dazu bereit. Wie könnte ich da nein sa-gen?“
Elor sah erfreut aus. „Ich muß Sie warnen“, sprach er mit beruhigender Stimme weiter. „Erwähnen Sie dies niemandem gegenüber, ganz besonders nicht gegenüber dem alten Mann, mit dem Sie zusammenwohnen — jenem Narren, der von Gott und Wundern redet. Wir haben nichts damit zu tun, daß Sie ihn getroffen haben.“
Nichts damit zu tun? Wer sollte dann dafür gesorgt haben, wenn sie das Universum kontrollieren? Ari versuchte verzweifelt, klar zu denken und das, was gesagt worden war, auszuwerten. Mit großer Anstrengung wandte er seine Augen von Elors durchdringendem Blick ab. Sofort wurde ihm schwindelig und er mußte die Hand ausstrecken und sich an dem Gebäude neben sich abstützen, um die Balance zu behalten.
„Haben Sie Geduld.“ Elors Stimme hatte einen überzeugenden, hypnotischen Klang. „Sie werden die Wahrheit erkennen, nachdem Sie den einen getroffen haben, der die Remkarnation des Christus-Geistes für das Zeitalter des Wassermanns ist — den, der die Neue Weltordnung regieren wird. Er ist unsere Elauptkontaktperson zum CIA. Sie werden bald seine Einrichtung in der Nähe der Stanford-Universität besuchen, um seine rechte Hand zu werden. Danach werden Sie ihn in Israel einführen. Aber bevor das geschehen kann, wird ein großes Zeichen geschehen. Aufgrund dieses Zeichens wird Israel Sie als seinen neuen Führer annehmen. Man wird drei Tage lang über Ihren Tod trauern. Aber am dritten Tag werden Sie zum Leben erweckt werden.“
Ari starrte Elor verwirrt an. Die ganze Sache war hirnverbrannt. Und doch hatte dieser Mann solch eine Kraft. Nein, er war mehr als ein Mensch!
„Ich bin bereit zu tun, was richtig ist“, verkündete Ari. „Aber angenommen, ich erfahre mehr und mag Ihren Plan nicht? Was ist, wenn ich an diesem Punkt nicht weiter mitmache?“
„Mose hat dasselbe gesagt, nicht wahr?“ Elors Lächeln war zuversichtlich und fesselnd. „Und dennoch hat ihn Jahwe — er ist einer von uns — dazu gebracht, es zu tun. Die Bibel ist verdreht worden, so daß sie nicht mehr die wahre Geschichte berichtet. Genau wie Mose haben Sie in dieser Sache keine Wahl. Wir haben entschieden, daß Sie der Richtige sind — und Sie werden schon bald den Wunsch haben, unseren Willen zu erfüllen.“
„Soll das heißen, daß Ihre Neue Weltordnung auf Nötigung gegründet ist... ?“ begann Ari zu protestieren. Aber dann merkte er, daß Elor verschwunden war. Er stand mitten auf einer schmalen Straße, redete mit sich selbst und zog die neugierigen Blicke der Vorübergehenden auf sich.
31. Miriam
Die Wochen gingen ins Land und wurden zu Monaten, doch Aris seltsame Begegnung verblaßte nicht mit der Zeit, sondern wurde immer lebendiger und beunruhigender. Er konnte unmöglich leugnen, daß sie real gewesen war, wenn er sich auch nicht sicher war, was das in bezug auf eine „Intelligenz“ bedeutete, die verschiedene Gestalten annehmen, Unmögliches tun und erscheinen und verschwinden konnte, ganz wie sie wollte. Seine physikalischen Arbeiten zu Beginn seines Studiums hatten ihn in gewisser Weise für etwas derart Ungewöhnliches vorbereitet. In der Welt der subatomaren Teilchen geschah andauernd das Unmögliche. Aber es im ganz profanen Alltagsleben zu erleben, machte ihn sprachlos.
Und es war auch sehr verwirrend. Elor hatte sehr viel gesagt, was sinnvoll und richtig war. Ohne Zweifel war die neue Freiheit in Osteuropa nicht das Allheilmittel. Die westlichen Demokratien waren zwar Bastionen der Freiheit, aber gleichzeitig brodelten dort auch Rassismus und Fanatismus. Die Kriminalität nahm zu, die Verschuldung breitete sich rasch aus, und es herrschte eine gewaltige Selbstsucht, die nur wenig Hoffnung auf jene Art der mitfühlenden Sorge um andere ließ, die so offensichtlich gebraucht wurde. Eine Verwandlung der Herzen, von der Elor voller Überzeugung gesprochen hatte, war unbedingt nötig. Aber er war nicht bereit gewesen zu erklären, wie das geschehen sollte.
Ari fühlte sich bei dem Gedanken an die Rolle, die ihm offenbar zugewiesen worden war, äußerst unwohl. Ja, sie entsprach einigen Gedanken, die er bereits geäußert hatte — daß Israel seine Illusion, ein „auserwähltes Volk“ zu sein, und seinen zionistischen Wahnsinn aufgeben mußte. Diese Bestätigung gab ihm eine gute Meinung von Elor. Aber es war kaum ausreichend, um seine nagenden Sorgen aufzuwiegen. Diese Sache mit der „höheren“ Bewußtseinsebene, die Reise nach Kalifornien, um dort dem Mann zu begegnen, der die Leitung dieser neuen Welt der Liebe und Brüderlichkeit haben würde, und selbst eine Art „Messias“ zu werden ... all das beunruhigte ihn. In der Zwischenzeit ging das Leben weiter und er fuhr fort, seine Arbeit zu genießen und eine treue Gefolgschaft bewundernder Leser aufzubauen.
Der geheimnisvolle David Kauly kam abends häufig auf eine Diskussion mit Yakov vorbei, was beide sehr zu genießen schienen. Trotz
seines anfänglichen Zögerns wurde Ari immer mehr in diese Diskussionen einbezogen. In den letzten Tagen war es ziemlich gleichgültig, mit welchem Thema sie begannen — sie kamen doch immer wieder auf dieselbe Streitfrage zu sprechen: Sollte Israel die Wünsche und Zusicherungen der USA ignorieren und einen Präventivschlag gegen die irakischen Skud-Raketen machen, bevor Saddam sie gegen Jerusalem und Tel Aviv einsetzte, die mit Sicherheit seine Hauptangriffsziele wären? David und Yakov waren beide der Meinung, daß Israel irgendwann handeln müsse, aber sie konnten sich nicht über den Zeitpunkt einigen.
„Ein Präventivschlag wäre eine Katastrophe für Israels Ansehen in der Öffentlichkeit“, meinte Ari eines abends. Die drei Männer saßen gemütlich vor dem Panoramafenster und sahen zu, wie in der Stadt ein Licht nach dem anderen anging, während sich die Dämmerung herabsenkte. Ari war mit seinen Argumenten gegen einen Präventivschlag immer dogmatischer geworden. Er hatte gerade erst einen eindringlichen Artikel geschrieben, in dem er diesen Standpunkt vertrat. Er hatte der Post mehr kritische Briefe eingebracht, als sie in mehreren Jahren bekommen hatte. „Es steht fest“, fuhr Ari fort, „daß solch eine einseitige Aktion die alliierte Koalition gegen den Irak spalten und damit diese Bemühungen gefährden würde. Und es würde mit Sicherheit die Feindseligkeiten der arabischen Koalitionspartner gegenüber Israel rechtfertigen. Saddam würde wieder ein Held werden. In jeder arabischen Stadt, ganz gleich, wie groß oder klein, würden wütende Menschenmengen demonstrieren!“
„Damit magst du recht haben“, gab David zu. „Aber die Sicherheit unserer Zivilbevölkerung ist unsere oberste Priorität.“
Die drei saßen einige Momente schweigend und nachdenklich da. Schließlich fragte Ari: „Wie ist es möglich, in Israel zu leben, ohne einen Verfolgungswahn zu bekommen? Diese Frage hat mich in letzter Zeit beschäftigt.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Yakov leicht gereizt. „Willst du andeuten, es sei paranoid, etwas zu unternehmen, um zu verhindern, daß Saddam seine Raketen gegen Israel einsetzt? Er hat wiederholt damit gedroht, das zu tun!“
„Im Verteidigungsministerium“, warf David ein, „nehmen wir diese Drohungen sehr ernst.“
„Ich habe das nicht auf diese Situation bezogen“, sagte Ari. „Ich meine das ganz allgemein. Ich bin nun seit beinahe acht Monaten hier, und ich merke, wie ich jeden Tag mehr eine Belagerungsmentalität ent-
wickle. Bei den Leuten auf der Straße spüre ich dieselbe Einstellung... als sei die ganze Welt gegen uns.“
„Vielleicht ist sie das ja“, erwiderte Yakov ernst.
„Siehst du, genau das meine ich!“ sagte Ari rasch. „Es ist ein Verfolgungswahn, der entsteht, wenn man hier ist. Und ich möchte da nicht hineingezogen werden.“
„Und meinst du nicht, daß man durchaus guten Grund für eine Belagerungsmentalität hat, wenn man von Feinden umgeben ist, die nur auf eine Gelegenheit warten, um einen zu vernichten? Ich dachte, du hättest schon vor einigen Monaten begonnen, das einzusehen.“ Yakovs Stimme war die Enttäuschung anzuhören.
„Ich streite ja nicht ab, daß es einige Rechtfertigungen dafür gibt“, räumte Ari ein. „Aber es ist durchaus möglich, daß man mit dem Komplex, alle seien gegen einen, herumläuft und allen anderen die Schuld für dieses unausweichliche Gefühl von Feindschaft gibt. Es liegt in der Luft hier in Israel. Und wehe, jemand wagt, daran zu rütteln!“
„Zum Teil stimmt das, was du sagst“, gab David zu. „Wir sprechen seit Jahren darüber. Wahrscheinlich haben wir bei dem, was wir im Libanon getan haben, einige Fehler gemacht. Solche Aktionen, bei denen anderen die Haare zu Berge stehen, sind gefährlich.“
Im Laufe der Zeit war Ari zu dem Schluß gekommen, daß David doch kein Agent des Mossad war. Er war gesellig, weltmännisch, gut informiert und weitgereist und auf anziehende Weise einfach „normal“. Außerdem war er eine Quelle äußerst interessanter Informationen, sowohl über die israelische als auch die arabische Politik. Dieses Wissen hatte Ari sehr geholfen, den Mittleren Osten besser zu verstehen. Ari hatte sogar einige von Davids Gedanken in seiner Kolumne verwandt. David war tatsächlich ein guter Freund geworden.
Yakov ignorierte Davids Versuch, eine Übereinstimmung zu erreichen. Man mußte aufpassen, daß man mit neuen Einwanderern nicht zu sanft umging. „Bist du jemals in Yad Vashem gewesen?“ fragte er Ari.
„Yad Vashem?“
„Das Holocaust-Museum.“
„Ich habe es bisher gemieden“, gab Ari zu.
„Wie kannst du für die Post schreiben, wenn du den Holocaust nicht vollständig verstehst? Im Grunde genommen kannst du es nicht!“ Yakov klang zornig.
„Du selbst hast mich gelobt“, erwiderte Ari verteidigend. „Ich
bekomme jede Menge Briefe von Lesern, die das, was ich schreibe, mögen.“
„Ja“, sagte Yakov in einem versöhnlicheren Ton, „du hast gute Arbeit geleistet... bis zu einem gewissen Punkt. Und ich weiß, daß du eine treue Anhängerschaft gewinnst. Aber in einigem, was du schreibst, fehlt eine bestimmte Dimension tiefer Überzeugung. Du mußt nach Yad Vashem gehen!“
„Ich weiß, ich weiß. Ich sollte hin ... und ich werde gehen“, gab Ari abweisend nach. „Aber man hat sich wieder und wieder mit dem Holocaust beschäftigt. Es ist ungesund, die Vergangenheit ewig erneut ans Licht zu zerren. Das verstärkt den Verfolgungswahn. Ich schreibe über aktuelle Ereignisse.“
„Die Welt darf niemals vergessen!“ gab Yakov erregt zurück. „Die Opfer sind umsonst gestorben, wenn man ihr Andenken nicht lebendig erhalten kann. Das ist der einzige Weg, um einen weiteren Horror desselben Ausmaßes zu verhindern. Nie wieder! Das ist unser Motto, und dazu sind wir entschlossen. Das ist die Botschaft von Yad Vashem. Du mußt es sehen, und zwar bald!“
Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Dringlichkeit in Yakovs Stimme. Der alte Mann sprang mit einem Freudenschrei auf und eilte zur Tür. Er schien jeden Besucher an seinem individuellen Klopfen zu erkennen. Vor der Tür stand eine schick gekleidete Frau Ende Dreißig mit langem, gelocktem, tiefschwarzem Haar und dunklen funkelnden Augen, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Yakovs Augen aufwiesen. Ihr Gesicht schien zu strahlen, wenn sie lächelte. „Überraschung!“ rief sie aus.
„Miriam!“ schrie Yakov, als wolle er ganz Jerusalem ihre Ankunft verkünden. Sie fielen sich in die Arme und umarmten sich leidenschaftlich. Obwohl sie etliche Zentimeter größer war als er, hob Yakovs feurige Umarmung sie vom Boden.
„Komm herein, komm herein!“ rief er, nahm ihre Hand und führte sie in das Wohnzimmer. „Dies ist meine Enkelin, Miriam Zeira, aus Tiberias“, verkündete er stolz. „David kennst du ja schon ... und dies ist Ari Thalberg aus Paris, ein Überlebender des Holocaust und mein neuer Mitbewohner. Erinnerst du dich? Ich habe dir von ihm erzählt.“
Miriam, lächelte und nickte zum Gruß. Dann schüttelte sie David und Ari die Hand.
„Unterbreche ich etwa eine wichtige Sitzung?“ fragte sie entschuldigend und trat zurück, als wolle sie wieder gehen. „Ich werde später wiederkommen ...“
Yakov nahm ihren Arm und wirbelte sie in einen freien, bequem gepolsterten Sessel gleich neben seinem alten Schaukelstuhl. „Wage es nicht, zu flüchten! Wann sehe ich dich denn noch? Man könnte meinen, Tiberias hege am anderen Ende der Welt!“
„Aber Großpapa“, protestierte sie. „Ich komme ziemlich oft hierher.“
„Ach wirklich? Nun, Ari hat dich noch nie gesehen, und er wohnt seit acht Monaten hier.“
„Ich hatte doch gerade meinen großen Urlaub und war sechs Monate lang in Europa, weißt du das nicht mehr?“
„Ja, und du bist schon seit über einem Monat wieder da und kommst erst jetzt hier vorbei. Wohnst du bei Deborah?“
Miriam nickte. „Ja. Die Schulen haben diesmal ein langes Wochenende.“ Sie wandte sich David und Ari zu, die immer noch standen und etwas verlegen wirkten. „Ich muß eine wichtige Diskussion unterbrochen haben, so wie ich Großvater kenne ..."
„Ja, wir haben es mal wieder versucht“, sagte Yakov rasch. „Und wir werden weitermachen. Setzt euch, ihr beiden.“ Er wandte sich an Ari. „Miriam unterrichtet im Gymnasium. Sie könnte dir ein paar Lektionen über die Geschichte Israels geben, die sehr hilfreich wären
„Komm, Großpapa, fang nicht an, über mich herumzuprahlen. Ich bin sicher, er weiß sehr viel mehr über Geschichte als ich. Ich lese seine Kolumnen in der Post, und er scheint sehr große Kenntnisse zu haben ...“
„Große Kenntnisse?“ unterbrach sie Yakov. „Er ist abgrundtief unwissend in fast allem, was in bezug auf Israel von Bedeutung ist!“
Miriam wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Ari. „Sie müssen sich inzwischen an die Schelte dieses alten Mannes gewöhnt haben. Er macht es mit jedem so. Sie haben mein tiefes Mitgefühl.“ Der liebevolle Blick, den Miriam und Yakov austauschten, strafte ihre Worte Lügen.
„Laß mich dir sagen, wo wir gerade sind, Miriam“, fuhr Yakov fort. „Wir haben darüber diskutiert, ob Israel einen Präventivschlag gegen Saddams Skuds ausführen sollte. Ari meinte, wir wären paranoid, sonst könnten wir so etwas nicht vorschlagen ... und als du geklopft hast, hat er uns gerade erzählt, daß der Holocaust uralte Geschichte sei und daß man ihn besser vergessen sollte.“
Miriam war zu gut erzogen, um ihre Mißbilligung zu zeigen, doch
sie sah sehr verwundert aus. Diese Beobachtung beschämte Ari einen Augenblick.
„So habe ich das nicht gesagt“, protestierte Ari, der sich zu einer Erklärung gedrängt fühlte. „Ihr Großvater verdreht meine Worte ... was er übrigens recht häufig tut. Sie wissen wahrscheinlich, daß er ein Meister darin ist.“ Zu seiner Überraschung war er plötzlich sehr daran interessiert, daß diese gut aussehende Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte, keinen schlechten Eindruck von ihm bekam.
„Ich bin schockiert über diese Anklage!“ unterbrach Yakov und tat so, als sei er höchst beleidigt.
„Ich hatte nur gerade bemerkt“, fuhr Ari, der sich jetzt vor allen dreien verteidigte, fort, „daß... nun, ich würde natürlich nicht wagen, das in der Zeitung zu formulieren, aber es scheint mir, daß die Juden — zumindest sehr viele von ihnen — einen Verfolgungskomplex haben. Ich selbst habe einen entwickelt, seit ich hergezogen bin. Ich weiß, daß eine neue Woge des Antisemitismus durch die Welt rollt. Aber ich komme immer wieder auf die Frage zurück: Warum sollten sich die Juden so viel stärker bedroht fühlen als jede andere Minderheit? Trägt unser Verfolgungswahn zumindest teilweise dazu bei, daß wir solche Probleme haben?“
„Ja, warum die Juden?“ gab Yakov bitter zurück. „Das ist die Frage, die wir lösen müssen. Sind wir so widerlich? Sind wir deshalb von jeher gehaßt und in den Tod gejagt worden? Das war das erste, worüber wir uns unterhalten haben, Ari. Kannst du dich noch erinnern?“
Ari nickte. Er bedauerte, daß er dieses Thema angeschnitten hatte, denn er ahnte, daß er jetzt eine weitere religiöse Lektion erteilt bekommen würde.
„Du kannst nicht die weltweite Feindschaft uns gegenüber leugnen“, fuhr Yakov ernst fort. „Und ich fordere jedermann heraus, eine andere Erklärung für solch einen Haß vorzubringen, als die, die uns sowohl in der Thora als auch in vielen anderen Teilen der Bibel einschließlich dem Neuen Testament gegeben wird. Wir werden gehaßt, weil wir Gottes auserwähltes Volk sind ... und ihm nicht gehorcht haben. Und dies ist sein Gericht über uns.“
„Ein ziemlich hartes Gericht!“ murrte Ari. „Ist das der einzige Vorteil, den man davon hat, ,auserwählt’ zu sein ... daß man gestraft wird?“
,„Wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel verlangt werden’“, sagte Miriam sanft. „Das hat Jesus von Nazareth, der größte aller Rabbiner, gesagt.“
Jesus von Nazareth? Bei dem Namen fuhr Ari unwillkürlich zurück. Er warf einen kurzen Blick zu David hinüber und bemerkte mit Befriedigung, daß auch er so aussah, als sei ihm dabei nicht wohl.
Yakov fuhr fort, ganz so, als hätten er und Miriam das Ganze im voraus geübt. „Mose sagte, daß der Messias aus Israel stammen und daß alle Nationen auf Erden durch Israel gesegnet werden würden. Das ist eine schwere Verantwortung. Und wenn man versagt und diesen Anforderungen nicht gerecht wird — und Israel hat versagt —, muß das einfach ernste Konsequenzen nach sich ziehen.“
„Und ich bin heute genauso wenig bereit, dieses Märchen zu akzeptieren, wie ich es war, als wir uns kennengelernt haben“, konterte Ari gereizt. Er sah unterstützungsheischend zu David hinüber, aber der warf nur seine Hände in die Luft und zuckte mit den Schultern.
„Ein Journalist sollte die Wahrheit respektieren“, erwiderte Yakov ruhig.
„Sie nennen es ein Märchen, daß Gott Abraham, Isaak und Jakob erwählte und ihnen und ihren Nachkommen dieses Land gab?“ fragte Miriam ehrlich überrascht.
„Wir lernen die jüdische Geschichte direkt aus der Schrift. Das israelische Schulsystem sieht sie als exakt und zutreffend an. Sonst würden wir sie nicht benutzen. Das ist sogar der genaueste Bericht, den wir haben.“
„Ich bin kein Atheist“, murmelte Ari mit wenig Überzeugung.
„Aber er ist nahe daran“, konterte Yakov schnell. „Er reagiert sehr empfindlich auf den Gedanken, daß ein persönlicher Gott genaue Pläne für die Menschheit haben könnte ... und besonders darauf, daß wir Juden in diesem Plan eine besondere Rolle spielen könnten.“
„Vielleicht bin ich ja hypersensibel“, gab Ari zu, „aber es regt mich nun mal auf, wenn ich sehe, daß in unserer wissenschaftlichen Welt jemand auf Aberglauben hereinfällt.“
„Ich werde nicht weiter darüber reden“, versprach Yakov, „weil ich weiß, daß du dich dabei nicht wohlfühlst. Aber es ist unfair, das, was ich glaube, Aberglauben zu nennen, ohne zu beweisen, daß es tatsächlich so ist — und das kannst du nicht. Aber ich kann beweisen, daß es kein Aberglaube ist, falls du eines Tages geneigt sein solltest, mir zuzuhören. Ich mache einfach nur die simple Feststellung, daß die Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob schon immer verfolgt und in den Tod gejagt worden sind, wie kein anderes Volk. Das läßt sich nicht abstreiten. Es ist Geschichte — und obendrein die gegenwärtige Reali-
tat.“ An diesem Punkt wandte Yakov sich an David: „Damit würdest du doch übereinstimmen, oder?“
David nickte. „Soweit stimme ich dir zu. Keine ethnische Gruppe der Welt ist so unablässig und über einen solch langen Zeitraum hinweg verfolgt worden wie das jüdische Volk.“
„Gut“, sagte Yakov mit triumphierender Miene. „Zumindest in diesem Punkt sind wir alle einer Meinung. Es steht unwiderlegbar fest, daß die Juden einzigartig sind, was die Verfolgung angeht, die sie jahrhundertelang erlitten haben. Das Phänomen ist zu beständig, um es als puren Zufall zu erklären. Es muß also einen Grund geben. Und bis ihr mir eine bessere Erklärung liefert, werde ich bei meiner bleiben.“ „Aber seit Hitler hat sich die Welt sehr verändert. Es könnte heute keinen neuen Holocaust geben!“ beharrte Ari.
„Es wird keinen geben“, unterbrach ihn David, „aber nur, weil wir es nicht zulassen werden. Nie wieder! Wir sind jetzt in der Lage, uns zu verteidigen. In den 30er Jahren oder Anfang der 40er hätten wir es nicht gekonnt. Und wir werden nicht zulassen, daß die Welt die unvorstellbaren Greuel vergißt, die damals geschahen. Deshalb wurde Yad Vashem geschaffen. Yakov hat recht. Du solltest es sehen.“ „Schon gut, schon gut“, erwiderte Ari abwehrend. „Ich werde gehen — und euch über meine Eindrücke berichten. Zufrieden?“ „Du solltest es nur nicht aufschieben“, schaltete sich Yakov ein. „Sieh zu, daß du es bald tust!“
Ari sah Miriam in gespielter Qual an. „Sehen Sie, wie sie mich fertig machen? Wer weiß, was sie mir noch antun werden, falls ich nicht sofort in dieses Holocaust-Museum gehe.“
„Dann sollten Sie mir erlauben, Sie zu retten“, bot Miriam an. „Ich könnte Sie doch hinbringen, oder? Können Sie morgen vormittag?“ „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen“, wandte Ari, der sich verlegen fühlte, als sich ihre Blicke trafen, ein.
„Oh, das macht mir keine Umstände“, beharrte Miriam. „Es wäre mir ein Vergnügen. Es ist eine große Anlage ... mehr als nur das Hauptgebäude. Die meisten Ausstellungsstücke haben nur einen Titel, um sie zu identifizieren, und es wird nur wenig oder gar nichts erklärt. Sie brauchen wirklich einen Führer ... es sei denn, Sie möchten lieber allein sein.“
„Nein, ich wäre lieber mit Ihnen zusammen als allein ... Ich meine, es ist schön, wenn man jemanden hat, der einem die Dinge erklärt. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“
„Geht in Ordnung“, sagte Miriam mit einem liebenswürdigen
Lächeln. „Ich halte es für ein Vorrecht, einen Überlebenden des Holocaust durch Yad Vashem zu führen. Es wird ein wunderbares Erlebnis sein — für uns beide. Wie wäre es mit zehn Uhr morgen früh?“
„Das ist mir sehr recht“, stimmte Ari dankbar zu. Es würde das erste Mal sein, daß er mit einer Frau allein war, seit Nicole ihn verlassen hatte.
Noch eine rasche Umarmung für Yakov und das Versprechen, ihn noch einmal zu besuchen, bevor sie nach Tiberias zurückfuhr, und Miriam war verschwunden.
32. Barmitzwah — endlich
Am nächsten Morgen lenkte Miriam mit Ari an ihrer Seite ihren kleinen Fiat meisterhaft durch das Straßengewirr der Altstadt und hinaus zu dem Hügel, auf dem das Holocaust-Museum lag. Es war nicht weit von der Knesset entfernt. Während der Fahrt erfuhr er, daß sie Witwe war. Sie hatte ihren Mann 1973 im Jom-Kippur-Krieg verloren, als sie gerade sechs Wochen verheiratet waren. Sie hatten keine Kinder, und sie hatte nie wieder geheiratet. Ais er neben ihr saß, hatte er das Gefühl, als verbände sie eine unbeschwerte und schöne Kameradschaft, so, als hätte er diese bewundernswerte Frau schon sein ganzes Leben lang gekannt und geachtet. Und er spürte, daß sie ihm gegenüber dieselben Empfindungen hegte.
„Es wird schrecklich sein“, warnte Miriam, als sie das Auto auf dem Parkplatz abstellten und auf den weit ausgedehnten Komplex zugingen. „Sie sollten sich innerlich darauf vorbereiten. Es ist schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann. Ich habe noch nie so sehr geweint ... ich meine, richtig geweint ... wie damals, als ich das erste Mal durch das Museum ging.“
„Wirklich?“ fragte er. Er wußte nicht, was er sonst erwidern sollte.
„Ich habe natürlich auch viele Verwandte verloren, von denen ich einige gekannt habe ... und außerdem, nun, Sie sind ein Mann ... und das ist etwas anderes.“
„Ich hoffe, es ist nicht zu reißerisch aufgemacht.“
„Absolut nicht. Ich denke, wenn Sie es sehen, werden Sie mir zustimmen, daß das Grauen und der Ekel des Holocaust mit Würde und ohne racheerfüllte Rhetorik oder auch nur das kleinste Bißchen Sensationsmache dargestellt werden.“
Ari war skeptisch. Natürlich konnte Miriam nicht objektiv sein. Sie war hier in Israel geboren und groß geworden. Als sie die Anlage betraten, konnte er in den Gesichtem vieler, die das Museum verließen, sehen, daß sie durch die Ungeheuerlichkeit des Bösen, das in diesen Hallen dokumentiert wurde, traumatisiert worden waren. Es war mit Sicherheit unsachlich aufgemacht. Er würde es ihr sanft sagen ... sie darauf hinweisen, während sie es sich ansahen.
„Wir werden zuerst zum Denkmal der Kinder gehen“, sagte Miriam, nahm Aris Hand und führte ihn in diese Richtung. Es erschien so natürlich, das Grauen, das sie sehen würden, auf diese Weise miteinander zu erleben, wie es nur ein Sohn und eine Tochter Judas konnten.
„Es wurde im Gedenken an die 1,5 Millionen Kinder errichtet, die im Holocaust starben“, sagte Miriam mit leiser, bewegter Stimme, als sie sich dem Eingang näherten.
Als erstes fielen Ari Photos und Namen auf, die nur einige wenige Opfer zeigten. Als nächstes sah er die in großen verzierten Buchstaben geschriebenen Worte König Salomos aus den Sprüchen: „Der Geist des Menschen ist eine Leuchte des Herrn, durchforscht alle Kammern des Leibes.“
„Was soll das bedeuten?“ fragte Ari Miriam, als sie davor stehenblieben, bevor sie eintraten.
„Ich kann es nicht erklären. Sie werden es schon verstehen“, war alles, was sie darauf sagte.
„Und Gott— warum wird er hier erwähnt?“ beharrte Ari. „Wenn es ihn gibt und dies sein ,auserwähltes Volk’ ist, wie konnte dann so etwas mit ihnen geschehen? Der Holocaust sollte doch wirklich für jeden Beweis genug sein, daß es keinen Gott gibt, der sich um die Menschheit kümmert. Und Yad Vashem sollte als ein Erinnerungsmal an diese Tatsache betrachtet werden!“
„Es gibt vieles, was ich nicht verstehe, aber ich weiß, daß Gott mich liebt“, kam die ruhige Antwort. „Und er liebt Sie auch.“ Sie drückte leicht seine Hand und zog ihn sanft vorwärts.
Als sie das verdunkelte Gebäude betraten, war Ari froh, daß ihn jemand an der Hand hielt. Er blieb dicht bei Miriam, während sie ihn durch ein völlig dunkles Labyrinth führte, das nur von einer einzigen Kerze erhellt wurde. Dieser winzige Lichtpunkt wurde von Spiegeln, die man nicht sah, reflektiert, schien an tausend Stellen gleichzeitig zu sein, flackerte unheimlich dicht neben einem und verschwand irgendwo in der Ferne. Ari wurde auf eine Stimme aufmerksam, die leise um ihn herum hallte und klagend in bedächtigem Takt die Namen und das Alter der jungen Holocaust-Opfer nannte. Jedes war einst jemandes geliebtes Kind gewesen, dessen vorher glückliches junges Leben, voller Hoffnung und Verheißungen, von herzlosen Ungeheuern zertreten und aus dem Gedächtnis der Menschheit ausradiert worden war. Und diese Ungeheuer waren Vertreter der zu jener Zeit gebildetsten und wissenschaftlich fortschrittlichsten Nation der Erde.
Während die Stimme unermüdlich weiterklagte, verspürte Ari die Wirkung jedes Namens so stark, als schlage jemand mit einem schweren Hammer auf seine Seele ein. Unschuldig, zart, vertrauensvoll ... verraten. Jedes einzelne war ein einmaliges Kind gewesen. Eineinhalb Millionen von ihnen! Was für Schrecken hatten diese jungen Seelen
erduldet, welche Qual und Pein. Was für Freuden waren ihnen entgangen. Und wie viele Erfindungen und Heilmethoden für Krankheiten, wieviele Kunstwerke und was für unvorstellbares Potential jeder Art hatte die Welt verloren, als diese jungen Leben ausgelöscht worden waren!
Als Ari unsicher in das helle Sonnenlicht hinaustrat, klang seine Stimme gebrochen. „Ich hätte einer jener Namen sein können“, flüsterte er.
Miriam legte einen Arm um ihn. „Durch Gottes Gnade bliebst du verschont.“ Sie duzte ihn jetzt, und ihre Worte kamen leise, zuversichtlich und ganz selbstverständlich.
Warum war er nicht ärgerlich? Er sollte es sein. War es letztendlich nicht Gottes Gnade, die zuließ, daß Millionen anderer gefoltert wurden und starben?
Miriam schien seine unausgesprochene Klage zu erwarten. „Niemand von uns verdient es, zu leben. Gott muß etwas Besonderes mit dir Vorhaben.“
Elor behauptet, die Neun hätten mich gerettet, und sie hätten etwas Besonderes mit mir vor. Wie soll ich wissen, was nun stimmtf Ist das Leben selbst ein Traum .. . oder ein Alptraum? Werde ich jemals aufwa-chen?
Miriam nahm Axis Hand und zog ihn weiter. „Dieses Wäldchen, das sich durch die gesamte Anlage zieht“, sagte sie und winkte mit ihrem freien Arm, „hat eine besondere Bedeutung. Jeder Baum ist zur Erinnerung an einen der ,Gerechten’ gepflanzt worden, eines Menschen, der jüdische Leben gerettet hat. Einige der Geschichten sind unglaublich — aber sie sind dennoch wahr. Du würdest weinen, wenn du sie hörtest!“ Bei einem der Bäume blieb sie stehen. „Wir können sie uns nicht alle ansehen, aber dieser hier ist ein ganz besonderer.“
Ari sah auf den Namen hinunter und las, in wessen Andenken dieser Baum gepflanzt worden war. Es war Raoul Wallenberg.
„Ich bin sicher, du kennst die Geschichte besser als ich. Könntest du meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?“ fragte er ehrfürchtig.
„Ich lehre diese erstaunliche Geschichte in der Schule“, erwiderte Miriam. „Alle israelischen Kinder kennen Wallenberg! Er war ein junger Mann aus einer bedeutenden schwedischen Familie. Brillant, talentiert, gut aussehend, mit einem erfüllten Leben vor sich. Er benutzte seine Position als Diplomat in Budapest, um falsche Dokumente auszustellen und beinahe 50.000 Juden vor den Vernichtungslagern zu retten. Als die Russen Ungarn im Januar 1945 ,befreiten’,
wurde Wallenberg gefangengenommen, und zwei Tage später wurde bekanntgegeben, er sei tot. In Wirklichkeit war er in ein sowjetisches Arbeitslager gebracht worden, wo er etwa zwanzig Jahre verbrachte. Zwei Monate nach seinem Tod gaben die Sowjets zu, daß sie ihn die ganze Zeit dort gefangengehalten hatten. Es ist solch eine Tragödie ...“
„Und wie lautete die Anklage?“ fragte Ari. Aber es war eine rein rhetorische Frage. Er kannte die Antwort bereits.
„Das kannst du dir sicher vorstellen“, antwortete Miriam. „Die Kommunisten konnten sich keine Helden auf der falschen Seite leisten.“
„Es ist pure Ironie ... In Stalins Arbeitslagern sind weit mehr Menschen umgekommen als in Hitlers Ofen“, stellte Ari benommen fest. „In beiden Fällen stand die Welt daneben und tat nichts. Der Kommunismus wuchs, wurde der Liebling der westlichen Liberalen und wurde von Universitätsprofessoren und Studenten in aller Welt gerühmt, obwohl er weiter Menschen abschlachtete, mindestens 50 Millionen, nachdem er China und Südostasien übernommen hatte. Es ist widerlich, unglaublich widerlich!“
Ari wandte sich Miriam zu. Er konnte die Wut, die in ihm kochte, nicht länger unterdrücken. Es war eine Wut über die Täter, die solch eine absolute Niedertracht begingen, und auch gegen diejenigen, die niemals ihre Stimme oder ihre Hand erhoben hatten, um dem Einhalt zu gebieten. „Wirklich, gibt es in dieser Welt Gerechtigkeit? Gibt es irgendeine Hoffnung?“ Es war eine Frage, die er sich selbst immer wieder gestellt hatte — vergeblich.
„Nicht auf dieser Welt“, antwortete Miriam schlicht. Er wußte, was sie meinte, ohne daß sie es weiter ausführen mußte. Glaubte sie nicht nur an Gott, sondern auch an Jesus, so wie Nicole? Sie erinnerte ihn an Nicole. Sie strahlte dieselbe friedevolle Gewißheit aus, die er bei Nicole nach ihrer Bekehrung gespürt hatte.
Die beiden blieben vor einem verwitterten Bronzedenkmal stehen, das voller kleiner Gesichter war. Sie spiegelten Erschütterung, panische Angst und Qual wieder. „Es ist dem Andenken an Janusz Korczak gewidmet, dem Leiter eines jüdischen Waisenhauses in Polen“, erklärte Miriam. „Er erhielt die Möglichkeit, sein eigenes Leben zu retten, aber er entschied sich, bei seinen Kindern zu bleiben. Dafür wurde er nach Auschwitz geschickt, wo er starb. Jetzt steht er hier, unsterblich in Bronze gegossen, und umarmt seine geliebten Waisen.“
Gemeinsam wanderten sie weiter, um dann fasziniert vor dem
„Stummen Schrei“ stehenzubleiben, der geschwärzten Bronzefigur eines Mannes, der weinte und dessen Schmerz so groß war, daß er sich nicht ausdrücken ließ. Überrascht fühlte Ari, wie ein warmes Rinnsal aus seinen Augen trat und über seine Wangen lief. Auch Miriam weinte leise. Ari legte sanft einen Arm um sie. Er wußte nicht, wie lange sie dort in gemeinsamem Schmerz standen.
Das ungeheuere Ausmaß von Bosheit, das hier dargestellt wurde, war weit mehr, als der Verstand und die Gefühle ertragen konnten. Am abstoßendsten war die Tatsache, daß der Holocaust systematisch als offizielles Regierungsprogramm und mit der Macht der staatlichen Bürokratie, seiner Ideologie und Technologie durchgeführt worden war. Ari wurde von Verzweiflung im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit überwältigt. Die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung war Lug und Trug, ein einziger Hohn. Wenn es überhaupt eine Hoffnung gab, dann lag sie in der Tatsache, daß es für jeden Nazi-Mörder einen Menschen gab, der sein oder ihr Leben riskiert hatte, um unschuldige Opfer vor dem schändlichsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu retten.
In der großen Gedenkstätte, die die ewige Flamme beherbergte, stand Ari mit gesenktem Kopf und las die Namen der berüchtigten Vernichtungslager und Totenfelder der Nazis, die in großen Buchstaben vor ihm auf den Boden geschrieben waren: Belzec, Lwow, Janowska, Drancy, Bergen-Belsen, Treblinka, Buchenwald, Babij Jar ... In letzterem waren in einer großen Grube 150.000 Juden aus Kiew erschossen und so, wie sie fielen, begraben worden.
Im Hauptmuseum, das Miriam schon viele Male besucht hatte, wartete sie geduldig an seiner Seite, während Ari sorgfältig jedes Dokument und jede Beschreibung las. Der Anblick und die Geräusche und die Ungeheuerlichkeiten, die mit minutiöser Genauigkeit aufgeführt wurden, erschienen ihm unglaublich. Die Ausstellungsstücke dokumentierten, wie die Nazis in ihrem Versuch, eine „Endlösung der Judenfrage“ herbeizuführen, immer weitergehende Schritte unternommen hatten.
Zuerst kam der wirtschaftliche Boykott gegen die jüdische Bevölkerung. Dann folgte die „Arisierung“ Deutschlands, die den Juden Eigentum, Arbeitsplätze und sozialen Status nahm. Wie effizient und sorgfältig die Deutschen doch die verhaßte Rasse entmenschlicht hatten! Technologie, Psychologie und glänzend und teuflisch durchdachte Pogrome — alles wurde zu einer perfekten Massenvernichtungsmaschinerie zusammengefaßt.
Ari waren in Europa Menschen begegnet, die steif und fest behaupteten, es habe nie einen Holocaust gegeben. Und es hatte eine Zeit gegeben, wo er diese üble Theorie teilweise geglaubt hatte, weil er es glauben wollte. Aber hier in Jerusalem ließ sich die Wahrheit nicht leugnen. Eines der aufriittelndsten Ausstellungsstücke waren 129 Bilder, die ein gewisser Heinz Jost, ein deutscher Soldat, am 19. September 1941 aufgenommen hatte. In sachlichem Schwarz-Weiß dokumentierten seine Bilder die grauenvolle Realität von Hunger und Tod in einem jüdischen Ghetto. Leichen lagen auf den Straßen und blieben dort liegen, wie sie gefallen waren, bis sie auf Wagen gehäuft und zu einem Massengrab weggefahren wurden. Die hilflosen, hoffnungslosen Gesichter der Kinder berichteten die Geschichte schonungsloser, als Worte es hätten tun können.
Das Pathos dieses schweigend erduldeten Schreckens und Todes, bei dem die Welt die Augen schloß, schienen aus Ari den letzten Rest von Gefühlen herauszuwringen, deren er noch fähig war. Dies waren Juden, sein Volk. Er staunte selbst, als er bemerkte, daß er sich jetzt endlich mit ihnen identifizierte.
Ein unbändiger Stolz stieg in ihm auf, als An die Beschreibung des schrecklichen Massakers an jüdischen Männern, Frauen und Kindern las, das im Oktober 1942 in Dubno stattgefunden hatte. Der Bericht war von Hermann Friedrich Gräbe verfaßt worden, der das Geschehen von Anfang bis Ende gesehen hatte. Gräbe berichtete, daß nicht einer von ihnen vor Angst aufschrie, nicht ein einziger um Gnade bettelte, als sie getötet werden sollten. Schweigend umarmten und küßten sie sich und verabschiedeten sich voneinander. Dann standen sie schweigend da und warteten auf ihren Tod. Beim Lesen dieses Berichtes war Ari stolz, ein Jude zu sein. Sicherlich hatten seine Eltern ihr Schicksal mit derselben unbeugsamen Geisteshaltung ertragen. Dies war sein Volk! Durch seine Adern floß dasselbe Blut!
Und zusammen mit diesem längst überfälligen Bekenntnis zu seiner wirklichen Herkunft und Rasse kam eine neue Empörung darüber, daß die Welt nur dabeigestanden und nichts getan hatte. Ja, Großbritannien, die USA und sogar die neutrale Schweiz hatten sich geweigert, die vielen Juden, die schon entkommen waren, aufzunehmen, und hatten sie in die Ofen der Nazis zuiiickgeschickt! Erst als die Alliierten ihre eigenen Interessen schützen und sich an Hitler wegen seiner Aggressionen rächen wollten, erhielten die Juden als Nebenprodukt dieser Aktionen Hilfe. Die Arzte der Nazis führten unmenschliche Experimente durch, die dem Westen wohlbekannt waren. Die scham-
losen, obszönen Reden von Führern der Nazis, in denen sie über das, was sie taten, sprachen, waren kein Geheimnis. Er stand starr da, als er die offensichtlichen mörderischen Absichten las, die Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 in Posen in einer Rede vor der Partei zum Ausdruck gebracht hatte:
Die jüdische Rasse befindet sich im Prozeß der Ausrottung. Nun, das ist in Ordnung so, das ist unser Programm — die Ausrottung der Juden — und genau das tun wir, wir rotten sie aus ... Dies ist ein herrliches Kapitel in unserer Geschichte, das wir niemals schreiben werden und das niemals geschrieben werden wird.
Yad Vashem hatte diese schreckliche Geschichte geschrieben, in großen Buchstaben, damit es die Welt endlich sah. Würde sie die Botschaft beachten? Ari, der jahrelang schwer dafür gearbeitet hatte, eine idealistische Erneuerung der Zivilisation zu erreichen, verspürte jetzt einen hoffnungslosen Pessimismus, was ihre Zukunft betraf.
Kurz vor dem Ende der Ausstellung wies ihn Miriam auf einen Bericht über die üble Rolle von Hadschi Amin al Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, hin. „Ich wollte unbedingt, daß du dies hier siehst“, flüsterte sie. „Er war Jasir Arafats Onkel. Und die PLO verkörpert immer noch seine zerstörerische Leidenschaft.“
„Dein Großvater hat ihn erwähnt“, erwiderte Ari leise und wandte seine Aufmerksamkeit dem Ausstellungsstück unter dem Glas zu. Dort konnte er den Brief lesen, den Hadschi Amin am 15. Mai 1943 an den deutschen Außenminister von Ribbentrop geschrieben hatte und in dem er darum bat, daß Deutschland im Balkan (besonders in Bulgarien) intervenieren möge, um zu verhindern, daß die Juden von dort nach Erez Israel reisten. Der Mufti versicherte Ribbentrop, daß die Araber die Achsenmächte bei ihrer „Endlösung“ des Judenproblems unterstützten. Die Juden seien der gemeinsame Feind der europäischen Völker und der arabischen Nationen.
In derselben Auslage befand sich die Kopie eines Telegramms von Himmler an den Großmufti, das er ihm am 2. November 1943, dem Jahrestag der Balfour-Deklaration, schickte: „Die Nationalsozialistische Partei hat die ,Vernichtung des Weltjudentums’ auf ihre Fahne geschrieben. Unsere Partei sympathisiert mit dem Kampf der Araber, besonders der Araber Palästinas, gegen den fremdenjuden. Heute, am Jahrestag der Balfour-Deklaration, sende ich Ihnen meine Grüße und
wünsche Ihnen Erfolg in Ihrem Kampf.“ (gezeichnet) „Führer der SS“.
Hadschi Amin, der Hitler besonders wegen seiner Judenpolitik bewunderte, hatte es geschafft, nach Deutschland zu fliehen. Am 1. März 1944 sandte der Mufti über Radio Berlin seinen flammenden Aufruf hinaus: „Araber, erhebt euch wie ein Mann und kämpft um eure heiligen Rechte. Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott und der Religion. Das rettet eure Ehre. Gott ist mit euch.“ Da war sie, die schreckliche Realität, alles unter Glas dokumentiert.
Nachdem An diese widerlichen Worte gelesen hatte, zog er Miriam nahe zu sich und flüsterte: „Fast bin ich überzeugt, daß dein Großvater recht hat. Ein derart unglaublicher Haß kann keine gewöhnliche Erklärung haben.“
Miriam nickte. „Wir sind Gottes auserwähltes Volk ... und wir haben gegen ihn rebelliert... und er wird uns nicht einfach gehen lassen!“
„Ich weiß nur“, erwiderte Ari, „daß sich nichts geändert hat. Aus den Lautsprechern der Moscheen und den Radios auf den Straßen und in arabischen Häusern erschallen immer noch laut dieselben mörderischen Obszönitäten, die zur Vernichtung Israels aufrufen. Und die Welt ist genauso taub und blind gegenüber diesen Drohungen, wie sie es Hitlers Drohungen gegenüber war.“
Miriam hielt Ari schweigend fest. Kaum hörbar vernahm sie die Worte: „Nie wieder! Nie wieder!“ Sanft wiederholte sie denselben herzzerreißenden Refrain.
Als die beiden noch reglos dastanden aufgrund dessen, was sie gelesen hatten, kam ein älterer orthodoxer Jude mit langem Bart und wehendem schwarzen Mantel und stellte sich neben sie. Er begann, Hadschi Amins Radiobotschaft ruhig und mit ernster Stimme vorzulesen. Dann bemerkte Ari, daß zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen von etwa 10 und 12 Jahren, direkt hinter ihm standen und mit schreckensgeweiteten Augen zuhörten. Offenbar waren sie seine Enkelkinder.
Als der alte Herr mit Lesen fertig war, wandte er sich halb an Ari und Miriam, als meine er auch sie, als er den Kindern sagte: „Der Neffe dieses Mannes, Jasir Arafat, ist Führer der PLO. Ihre Charta ruft auch heute noch dazu auf, Israel zu vernichten. Es hat sich nichts geändert, seit Hitler der Welt seine Absichten mitgeteilt hat — und es wird heute genauso wenig beachtet, wie damals. Eines Tages wird Israel gegen die ganze Welt kämpfen müssen!“
Ist das nun Verfolgungswahn oder Realismus? Diese Frage beschäftigte Ari, während er und Miriam schweigend zusahen, wie der alte Herr und seine beiden Enkel langsam weitergingen.
„Ich weiß nicht, ob er aufgrund seiner eigenen Überzeugungen zu diesem Schluß gekommen ist, oder ob er es aus der Bibel hat“, flüsterte Miriam. „Aber er hat recht. Die hebräischen Propheten im Alten Testament warnen, daß ,in den letzten Tagen’ alle Nationen der Erde Israel angreifen werden, in der Hoffnung, es zu zerstören ... und daß der Messias eingreifen und sein Volk retten wird.“
„Und das glaubst du?“
Sie nickte. „Natürlich. Es ist wahr, Ari. Es ist wahr.“
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Ari einen verächtlichen Kommentar abgegeben. Aber nicht hier in Yad Vashem. Das Grauen war so überwältigend und die Kräfte, die gegen das jüdische Volk antraten, so mächtig und ihre Beziehung zu dem, was unter Hitler geschah, so offensichtlich ... daß nur ein Messias sie vor der völligen Auslöschung bewahren könnte.
Und ich dachte, es sei Verfolgungswahn! dachte Ari, als sie das Museum verließen und schweigend, Hand in Hand, zurück zu Miriams Auto gingen. Wenn es Verfolgungswahn ist, dann bin ich jetzt auch verrückt geworden. Nie wieder!
Worte schienen bei ihrer kurzen Fahrt zurück in die Altstadt beinahe ein Frevel zu sein. Was sollte man nach solch einer Erfahrung sagen?
„Sensationsmache?“ fragte Miriam schließlich.
„Verzeih’ mir bitte“, war die leise Antwort.
Yakovs Wohnung lag in einer für Autos gesperrten Zone, so daß Ari zwei Blocks davor aussteigen mußte, und es gab keine Möglichkeit, in der verkehrsreichen, schmalen Straße zu parken. Miriam hielt an, um Ari aussteigen zu lassen. „Warum parkst du nicht irgendwo und kommst noch für ein paar Minuten mit nach oben?“ schlug er hoffnungsvoll vor.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe meine Cousine noch so gut wie gar nicht gesehen. Ich muß etwas Zeit mit ihr verbringen.“ Jetzt vermied sie es, ihm in die Augen zu sehen.
Zögernd stieg Ari aus und schloß die Tür. Er beugte sich durch das Fenster hinein und fragte gespannt: „Wann werden wir uns Wiedersehen?“
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. „Wann würdest du denn gern?“
Ihre Blicke trafen sich. „So bald wie möglich“, sagte er und erwiderte ihr Lächeln.
„Nun, Großvater hat meine Adresse ...“
„Ich bin noch nie in Tiberias gewesen“, stotterte er, „und ich habe kein Auto.“
Sie lachte. „Es gibt einen Bus. Wenn man etwas wirklich will, ist es die Mühe wert, oder?“
Hinter ihnen ertönte ein Hupkonzert. Miriam streckte die Hand aus dem Auto und berührte Aris Arm. „Ich habe ein Auto. Wie wäre es am nächsten Wochenende?“
„Freitag abend?“
„Freitag abend. Ich werde nicht vor acht Uhr kommen können. Ich hole dich bei Großvater ab, und wir gehen zusammen essen. Ja?“
„Du solltest nicht die ganze Strecke bis hierher fahren müssen ...“ Ein Taxifahrer war aus dem Wagen gesprungen und lief auf sie zu. Er fluchte laut und fuchtelte beim Laufen mit den Armen.
„Ich habe Verwandte in Jerusalem, die ich einmal besuchen sollte“, erwiderte Miriam. Sie mußte lauter sprechen, um das Chaos zu übertönen. „Und du hast ja gehört, wie mich mein Großvater gescholten hat, ich käme nicht oft genug vorbei.“
„Da bin ich ganz seiner Meinung!“ rief Ari, während sie abfuhr. Er blieb stehen und sah sehnsüchtig hinter ihrem Wagen her, bis er verschwand und verspürte deutlich, wie ihre Abfahrt eine schmerzliche Leere in seiner Seele hinterließ.
Als Ari wenige Minuten später in der Wohnung ankam, genügte ein Blick, und Yakov wußte, daß eine tiefgreifende Wandlung in Ari geschehen war. „Nun weißt du es“, sagte er schlicht, „so wie wir anderen auch.“
„Ja ... ja, nun weiß ich es“, erwiderte Ari ernst. „Es ist zum Verrücktwerden. Daß die Welt das zulassen konnte! Wirft nicht gerade ein gutes Licht auf den ach so hoch entwickelten Menschen“, setzte er mit bitterer Ironie nach.
„Und die Welt ist nicht besser geworden“, bemerkte Yakov traurig. „Israel kann sich nicht darauf verlassen, daß irgendeiner seiner
Freunde es retten wird — nicht einmal die USA. Es muß stark sein, bereit, sich selbst zu verteidigen.“
„Ich glaube, jetzt bin ich auch paranoid“, sprach Ari weiter. „Nie wieder!“
„Jetzt sprichst du wie ein echter Israeli!“ rief Yakov aus. Jenes ansteckende Lächeln erhellte sein Gesicht, und er klopfte Ari freundschaftlich auf die Schulter.
„Ich fühle mich, als hätte ich heute endlich mein Barmitzwah gehabt!“ verkündete Ari voll Enthusiasmus. „Ich bin stolz, ein Jude zu sein“, setzte er beinahe grimmig nach.
Yakov wollte Ari die Hand schütteln, aber er kam nicht dazu. Statt dessen fand er sich in einer herzlichen Umarmung wieder.
33. Entführt!
Das Luftbombardement des Irak begann am 15. Januar 1991. Die kompromißlose Haltung des amerikanischen Präsidenten und seiner Koalitionspartner bei ihren Bemühungen, Kuwait zu befreien, überraschte Ari nicht. Was ihn jedoch überraschte, war die überwältigende Überlegenheit der amerikanischen Technologie, die für die überraschend niedrigen Verluste der Alliierten sorgte. Die vermeintlich unbesiegbare Republikanische Garde war zur Untätigkeit verdammt und wurde aufgerieben. Die alliierten Luftstreitkräfte sorgten dafür, daß der Bodenkampf, als er endlich begann, mit einem schnellen, verblüffenden Sieg endete.
Aufgrund der Insider-Informationen, die Ari Dank der Verbindungen der Post zum Mossad erhielt, hatte er in seiner Kolumne vorhergesagt, daß Israel nicht Zurückschlagen würde, nachdem Saddam begonnen hatte, seine primitiven Skud-Missiles auf israelische Zivilisten fallen zu lassen. Der Schlachter von Bagdad hatte zum Tanz gebeten, aber Israel gefiel die Melodie nicht. Israels Regierende waren zu schlau, um Saddam in die Hände zu spielen. Das war genau die Haltung, die Ari bereits vor Monaten eingenommen hatte und für die er von etlichen Lesern, einschließlich einiger Abgeordneter der Knesset, ordentlich ins Gebet genommen worden war. Jetzt war er rehabilitiert.
Iraks kaltblütiger Führer hatte gedroht, „Israel mit Chemikalien zu verbrennen“. Deshalb bestand bei jedem Skud-Angriff die Möglichkeit, daß Giftgas oder biologische Kampfstoffe gegen schutzlose Zivilisten freigesetzt wurden. Es war eine Zeit schwerer Prüfung für die belagerte Nation, besonders, da seine hoch gerühmte Armee, die bisher immer sehr schnell zurückgeschlagen hatte, diesmal keine Vergeltung üben durfte. Diese Tatenlosigkeit rief in der ganzen Nation ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Ari lernte aus erster Hand eine weitere Lektion darin, was es hieß, mit der ständigen Drohung eines Vernichtungskrieges gegen diese winzige Nation zu leben, die jetzt endlich seine Nation geworden war.
Miriam kam jetzt jedes Wochenende von Tiberias nach Jerusalem. Sie und Ari verbrachten so viel Zeit miteinander, wie nur eben möglich. Für Yakov und die anderen Verwandten in Jerusalem, die bei diesen regelmäßigen Besuchen nur sehr wenig von Miriam sahen, war es recht offensichtlich, daß sich zwischen den beiden etwas Ernstes anbahnte. Was Ari und Miriam betraf, so war keiner von beiden bereit,
ihre Beziehung als eine „Romanze“ zu betrachten. Zumindest jetzt noch nicht.
„Wir haben zufällig viele gemeinsame Interessen“, erklärte Ari Yakov, „und wir empfinden einander als intellektuell stimulierend.“
„Mehr ist nicht dabei“, nickte der alte Mann heftig und tat so, als habe ihn das überzeugt.
„Richtig. Wir sind einfach nur gern zusammen.“
Yakov lächelte. „So gern, daß euch ein Wochenende noch nicht reicht? Wie wird es erst werden, wenn die Schulferien anfangen!“
An den Wochentagen begann Ari, jeden Abend durch jenen Teil des 'arabischen Viertels zu spazieren, wo er vor einigen Wochen Elor begegnet war. Manchmal kaufte er sogar einen Becher Orangensaft von demselben Straßenhändler, blieb in der Nähe stehen und trank ihn langsam aus. Dabei sah er sich aufmerksam um. Er hoffte, daß diese erstaunliche Person oder dieses Wesen oder was immer er sonst sein mochte, ihm wieder erscheinen würde. Es wäre höchst interessant, Elors Meinung zur Golfkrise zu erfahren, vielleicht sogar neue Einblicke zu erhalten, die er möglicherweise in seiner Kolumne bringen könnte — natürlich ohne die Quelle zu nennen.
Dann, eines Abends, etwa drei Wochen nachdem der Luftkrieg begonnen hatte, geschah es. Aber nicht so, wie Ari erwartet hatte. Er hatte gerade den frischgepreßten Orangensaft bis zum letzten Tropfen genossen, den leeren Becher in den Mülleimer geworfen und seinen Spaziergang durch die engen Straßen wieder aufgenommen, als ein Mann im Straßenanzug kam und begann, neben ihm herzugehen. Ari wandte sich aufgeregt zur Seite. Er erwartete, Elor zu sehen. Aber zu seiner Enttäuschung bemerkte Ari, daß der Mann, der neben ihm herging, ein Araber war, einen kafiyeh trug und eindeutig unfreundlich aussah. Im selben Augenblick bemerkte er, daß gleichzeitig ein zweiter Araber begonnen hatte, dicht hinter ihm zu gehen.
„Gehen Sie weiter geradeaus“, sagte der Mann neben ihm mit tiefer, drohender Stimme. „Mein Freund hält eine Pistole direkt auf ihr Herz gerichtet.“
Ari gehorchte, ging jedoch langsamer, um Zeit zu gewinnen. Er hoffte, daß eine israelische Patrouille auftauchen würde. Aber er war erst wenige Schritte gegangen, als der Mann hinter ihm zischte: „Nach links in den Laden, schnell.“
Genau in dem Moment ging die Tür des kleinen Souvenirladens, die geschlossen gewesen war, auf. Besser, ich leiste hier draußen auf der Straße Widerstand als drinnen. Ari wandte ein wenig den Kopf, um zu
sehen, wo er seinen gefährlichen Fußtritt plazieren könnte. Aber der Mann mit der Pistole hinter ihm war schlauerweise zurückgetreten, außer Reichweite für Aris Fuß. Das sind Profis.. . die wissen genau, was sie tun!
Zögernd gehorchte Ari und trat ein. Kaum waren er und seine beiden Entführer hinter ihm eingetreten, als die Tür wieder geschlossen und verriegelt wurde.
„Gehen Sie weiter. Geradeaus.“ Der erste Mann gab die Anweisungen.
Im Halbdunkel des schwach erleuchteten Ladeninneren bemerkte Ari, daß mehrere andere Araber drinnen gewartet hatten. Sie folgten Ari und den beiden Männern, die ihn gefangengenommen hatten, zwischen zwei Reihen von Waren zum hinteren Ende des langen, schmalen Ladens. Sie traten durch eine weitere Tür und kamen in einen Raum mit niedriger Decke. Ari erhielt die Anweisung, sich auf einen Holzstuhl mitten im Raum zu setzen, während sich die Männer um ihn herumstellten. Man verband ihm die Augen, und seine Hände wurden mit einem Ruck sicher auf seinem Rücken zusammengebunden. Seine Fesseln bestanden aus einer Art hartem Plastik, das schmerzhaft in seine Handgelenke einschnitt.
Ich habe meine einzige Chance vertan ... jetzt gibt es keinen Ausweg mehr. Wer sind diese Kerle? Was wollen sie?
„Wir haben deine Kolumne in der Zeitung gelesen.“ Jemand, der direkt vor ihm stand, sprach diese Worte mit deutlichem Sarkasmus. Die Stimme gehörte wieder jenem Araber, der ihn als erster auf der Straße angesprochen hatte und der anscheinend der Anführer war.
„Das höre ich gern“, sagte Ari. „Ich arbeite hart, wenn ich schreibe, und so ist es schön zu wissen, daß ich einige Leser habe.“
Die Anwort war ein heftiger Schlag gegen seinen Kopf, von dem Ari kurz bewußtlos wurde. Er wäre vom Stuhl gefallen, wenn ihn nicht kräftige Hände gestützt hätten. „Wir reden hier“, grollte die Stimme vor ihm. „Du antwortest nur, wenn man es dir sagt, verstanden?“
Ein bedrohliches Schweigen folgte. Dann fuhr dieselbe Stimme fort: „Uns gefällt nicht, was du schreibst. Es ist israelische Propaganda. Voller Vorurteile. Keine Sympathie gegenüber den Arabern ... schon gar nicht gegenüber den Palästinensern.“
„Ich versuche, ob]ektiv zu sein“, beharrte Ari.
Ein weiterer Schlag folgte, diesmal von vorne. Ari drehte sich der Kopf, seine Ohren klingelten und in seinem Mund schmeckte er warmes Blut.
„Kommt, wir machen ihn gleich fertig, und die Sache ist erledigt“, sagte jemand zu seiner Rechten. „Warum sollten wir unsere Zeit mit diesem Dreckskerl verschwenden?“
Es entspann sich eine leise, aber heftige Diskussion. Selbst mit seinen begrenzten Kenntnissen der arabischen Sprache verstand Ari genug, um zu erkennen, daß mehr als einer dieser Männer drängten, ihn auf der Stelle umzubringen.
„Beruhigt euch, Brüder“, befahl der Mann vor ihm, der wieder hebräisch sprach. „Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er uns eine große Hilfe sein. Er wird für uns schreiben, seinen Lesern eine neue Perspektive des Palästinenserproblems vermitteln.“
„Meint ihr etwa, die Zeitung wird meine Kolumne drucken, wenn sie ein Sprachrohr der PLO wird?“ fragte Ari ungehalten.
„Du bist intelligent... gebildet... clever“, kam die rasche Antwort. „Am Anfang kannst du es ganz subtil machen, okay? Ein bißchen hier ... ein bißchen da ... nichts zu Offensichtliches.“
„Als Journalist schreibe ich, was ich für wahr halte“, unterbrach Ari herausfordernd.
„Halt’s Maul! Du schreibst, was wir dir sagen. Du hast keine Wahl. Du bist auf der Abschußliste der PLO — und du hast nur eine Möglichkeit, hier lebend wieder rauszukommen. Wir haben Mittel und Wege, die dich garantiert überzeugen werden. Es wäre besser, wenn du den leichteren Weg wählen würdest. Es wäre nicht so blutig. Okay?“ „Angenommen, ich sage ,okay’. Ihr laßt mich gehen — und dann schreibe ich nicht, was ihr wollt. Was dann?“
„Die ganze israelische Armee könnte dich nicht schützen. Wir werden dich kriegen, und dann wirst du dir wünschen, du wärst nie geboren!“
So war es also, wenn man den Tod vor Augen hatte. Erst Niki ... und jetzt war er an der Reihe. Sie war wenigstens schnell gestorben. Diese Ungeheuer wußten genau, wie sie ihre Opfer bis zum Äußersten quälen konnten. Und Miriam ... wo sie doch gerade ... Egal. Er würde bis zur letzten Minute zu seinen Prinzipien stehen. Er wünschte, er hätte das in der Vergangenheit besser geschafft. Aber jetzt ... wenigstens jetzt ...
Mit großer Mühe richtete sich Ari auf dem Stuhl auf. „Dann los“, sagte er. „Bringt mich um. Ich werde nicht euer Sprachrohr sein!“ „Oh, wir würden dich nicht umbringen.“ Die Stimme klang jetzt sanft wie ein Lämmchen. „Das wäre zu einfach. Wir haben andere Methoden.“
Ari schloß fest den Mund. Er würde kein Wort mehr sagen. Es hatte keinen Sinn. Das gehörte doch nur zu ihrem Plan. Sie wollten ihn dazu bringen, zu verhandeln, und dann Stück für Stück seinen Willen brechen. Niemals!
„Du hast doch einen Sohn in Paris. Ari Paul. Er wird bald ein Jahr alt sein ...“
Verzweiflung schlug über Ari zusammen. Mein Gott, sie meinen das ernst! Wenn ich auch nur eine Minute lang meine Hände frei hätte — ich würde einige von ihnen mitnehmen!
„Wir könnten ihn schon morgen hier haben. Es gibt da ein kleines Spielchen. Du siehst zu, und wir foltern. Wir haben einen schalldichten Raum — Babys schreien ziemlich viel. Was hältst du davon?“
Eine lange, schreckliche Stille folgte. Ari dachte angestrengt nach. Es gab nur einen Weg, seinen Sohn zu retten. Er würde diese Männer so wütend machen, daß sie ihn sofort töteten ... dann würde sein Sohn für sie keinen Zweck mehr erfüllen können.
„Ich werde euch sagen, was ich davon halte.“ Ari stählte sich innerlich. Seine Hände waren verbunden, aber er hatte zwei freie Füße. „Wißt ihr, was ich von Ungeheuern halte, die ein Baby foltern würden?“ Er sprang von dem Stuhl auf, und sein Knie traf augenblicklich den Unterleib des Mannes, der vor ihm stand. Schnell trat er mit seinem anderen Fuß in die Richtung, wo er einen weiteren Mann direkt hinter sich vermutete, aber er trat nur in die Luft. Ein Schlag von der Seite warf ihn zu Boden.
Ein gewaltiges Krachen und ein lautes Stimmengewirr schienen Ari einige Sekunden lang in die ewigen Hallen des Ruhmes zu geleiten. Aber wie er gleich darauf bemerkte, war es nicht seine eigene Heldentat, die diesen plötzlichen Aufruhr verursachte. Stiefel stampften über den Boden, Befehle wurden gebrüllt, Flüche, ein kurzes Handgemenge, und alles war vorbei. Vier starke Hände hoben ihn auf die Füße und zogen ihm die Binde von den Augen.
Ari sah sich erstaunt um. Zu seiner großen Erleichterung sah er ein Dutzend Israelis in Zivilkleidung und mit Uzis, die offensichtlich Herr der Lage waren. Die Araber waren auf dem Boden, mit Gewehren an ihren Köpfen, und erhielten Handschellen angelegt. Ihre Gesichter waren in ungläubigem Staunen erstarrt.
„Sie haben großes Glück, Thalberg.“ Der Mann, der das sagte, steckte eine 22er Beretta in den Gürtel unter seiner Jacke. Wie Ari wußte, war das die bevorzugte Waffe des israelischen Geheimdienstes Mossad.
„Wie ... wie haben Sie mich gefunden?“ keuchte Ari. Sein Kopf dröhnte und er fühlte sich, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Wir haben diesen Ort seit Wochen beobachtet. Es handelt sich um eine konspirative Wohnung der PLO. Wir haben sie verwanzt. Zufällig haben wir sie gerade abgehört, als Sie hereingebracht wurden. Sonst wären Sie jetzt ein toter Mann. Mit verbundenen Augen und gefesselten Händen hätten sie es nicht mit allen aufnehmen können.“ „Lieber wäre ich gestorben, als auf solch einen Handel einzugehen.“ „Die hätten Sie erst gefoltert. Sie sind eine harte Nuß ... aber sie hätten Sie zum Schreien gebracht.“
„Ich wollte, daß sie mich umbringen. Dann wäre mein Sohn nutzlos für sie gewesen.“
Der Anführer hielt bereits sein Funksprechgerät in der Hand. „Wir haben sechs von ihnen. Thalberg ist in Ordnung, aber er ist verletzt. Ich will sofort einen Krankenwagen vor dem Damaskustor. Ende.“ Es war offensichtlich, daß es der Kommandant sehr eilig hatte. „Okay, bringt diese Kerle hier raus — durch die Hintertür. Schwanz und Lemke ... nehmt euch zwei weitere Männer und bleibt hier. Die nächste Schicht wird um 4.00 Uhr früh durch die Hintertür kommen. Sie werden den Laden am Morgen öffnen. Ich will, daß ihr jeden festnehmt, der hier hereinkommt — Kunden, jeden — keine Ausnahme, unter keinen Umständen.“
Ari wurde von beiden Seiten gestützt, als sie dem Kommandanten der Einheit eilig durch den Hinterausgang hinausfolgten. Sie gingen einen engen Durchgang zwischen zwei Gebäuden entlang und kamen zur nächsten Straße. Dort warteten sechs Autos ohne Kennzeichen.
„Kein Wort über diesen Vorfall, niemandem gegenüber“, warnte ihn der Kommandant, als er Ari auf den Rücksitz eines der Wagen half und sich dann neben ihn setzte. „Es ist nichts geschehen, ja? Wir arbeiten immer noch an dem Fall. Das waren nicht alle, und wir wollen nicht, daß irgend etwas durchsickert.“
„In Ordnung“, sagte Ari. „Aber ich würde Ihnen wirklich gerne in aller Öffentlichkeit danken. Sie und Ihre Männer haben es verdient. Ich verdanke Ihnen mein Leben.“
„Wir machen diesen Job nicht, um Dank zu bekommen. Wir wollen einfach nur überleben.“
34. Der Mossad
Es war also tatsächlich möglich, mitten im Herzen von Jerusalem von PLO-Terroristen entführt zu werden! Dieses erschreckende Erlebnis war eine ernste Warnung für Ari. Er hatte in der Tat sehr großes Glück gehabt. Und er befand sich also wegen der Artikel in seiner Kolumne in der Post auf der Abschußliste der PLO! Jetzt war er zweifellos auf ihrer Prioritätenliste ein wenig weiter nach oben gerückt. Das war kein sehr angenehmer Gedanke. Wie er sich doch nach seiner alten, treuen Luger sehnte, die er in Frankreich zurückgelassen hatte. Irgendeine andere Pistole würde auch schon genügen. Aber die israelische Regierung würde ihm keinesfalls die Lizenz für eine Waffe geben.
Er brauchte also eigentlich einen Leibwächter. Die Mossad-Agen-ten, die ihn gerettet hatten, mußten das wissen. Dennoch hatte ihm der Mossad keinerlei Schutz angeboten. Und er konnte kaum darum bitten, denn die Überwachung der PLO-Gruppe, die ihn entführt hatte, war eine streng geheime Operation mit höchster Geheimhaltungsstufe. Also durfte er sie der Polizei oder selbst einer anderen Einheit des Mossad gegenüber nicht erwähnen. Er wollte mit Yakov und David darüber sprechen, daß er einen Schutz brauchte. Aber wenn sie nichts von seiner Entführung wußten, würden sie ihn sicher für paranoid halten — eine Anschuldigung, die er selbst häufig anderen gegenüber gemacht hatte.
Ari entschied sich, das arabische Viertel zu meiden, zumindest, wenn er allein war. Und er entschloß sich, zu seiner eigenen Sicherheit bestimmte Selbstverteidigungsstrategien anzuwenden. In den Jahren, in denen er die studentische Untergrundbewegung geleitet hatte, hatte Ari alles gelesen, was über den CIA, KGB, Mossad und andere Geheimdienste veröffentlicht worden war. Er hatte sich ihre jeweilige Taktik eingeprägt, kannte jede einzelne der besten Überwachungstechniken im Detail — und er wußte, wie man sich einer Beschattung entziehen konnte. Wann immer es ihm gerade paßte, hatte er Rogers Gruppe zur Verzweiflung gebracht, indem er ihre Leute abhängte, die ihn beschatteten. Diese Erfahrungen würde sich jetzt als unschätzbare Hilfe erweisen.
Am ersten Tag, an dem er mit seinem neuen Modus operandi begann, entdeckte er, daß er verfolgt wurde! Und nicht nur das. Wer auch immer ihn beschattete, benutzte höchst ausgeklügelte Methoden. Er hatte jede ihm bekannte Taktik anwenden müssen, um sie zu ent-
decken, und selbst dann hätte er sie beinahe nicht bemerkt. Er schloß die PLO aus seinen Überlegungen aus. Ihm war intuitiv klar, daß das nicht ihr Stil war. Und es war auch nicht der Mossad, denn sie hatten von seiner Entführung nur durch eine Wanze erfahren, die sie in dem Souvenirladen angebracht hatten. Wenn sie diejenigen wären, die ihm folgten, wäre er sogar noch eher gerettet worden. Es mußte Rogers Gruppe sein. Wer sonst sollte es sein? Aber warum sollten sie ihn beobachten? Jedenfalls war das kein gutes Vorzeichen, ganz gleich, wer es nun war.
In den kommenden Wochen brachte Ari mit großer Sorgfalt so viel wie möglich über seine Schatten in Erfahrung, um dadurch möglicherweise die Organisation zu identifizieren, die ihm auf den Fersen war. Sie holten ihn jeden Morgen gleich als erstes ab, und sie waren jeden Nachmittag zur Stelle, wenn er sein Büro verließ, um mit dem Bus nach Hause zu fahren. Sie beobachteten ihn, wenn er aus dem Bus stieg und versicherten sich, daß er zur Wohnung ging. Die Operation war so gut durchdacht, daß nur ein wirklicher Experte — und Ari hielt sich für einen solchen — sie hätte entdecken können.
Wenn er seinen Abendspaziergang machte, nahmen sie wieder seine Spur auf. Er wurde 24 Stunden am Tag überwacht! Mit Sicherheit wurden auch das Haus und die Telefone abgehört. Na und? Er hatte nichts zu verbergen. Aber er war entschlossen, herauszufinden, wer dies alles tat und warum.
Er brauchte beinahe zwei Wochen, um alle Einzelheiten der Operation in Erfahrung zu bringen. So ärgerlich und möglicherweise gefährlich diese ganze Sache war, konnte er doch nicht umhin, die Teamarbeit dieser Leute zu bewundern. Diese Burschen waren die Besten. Die Überwachung wurde von einem Wagen aus geleitet, dessen Fabrikat und Farbe täglich wechselten. Wenn es ein Lieferwagen war, war Ari ganz besonders vorsichtig. Lieferwagen wurden sehr gern für Entführungen genommen. Ferner gab es drei Männer zu Fuß. Auf diese Weise mußten sie ihm nicht zu dicht folgen. Sie konnten seine Route voraussehen und ihn an strategischen Punkten wieder abholen. Alle Beteiligten schienen Israelis zu sein, was Ari erstaunte, denn er hatte ja den Mossad als Möglichkeit ausgeschlossen.
Warum wurde ihm eine so umfangreiche und kostspielige Aktion gewidmet? Ari hatte tagelang über diese Frage nachgedacht, ohne eine Antwort zu finden. Sicherlich wollten sie keine Informationen über ihn sammeln, denn da gab es nichts. Er tat Tag für Tag, Woche für Woche dasselbe. Es mußte Rogers Gruppe sein. Sie „beschützten“ ihn
wahrscheinlich, um sicher zu gehen, daß er am Leben blieb ... es sei denn, sie hatten Schlimmeres im Sinn.
Nachdem er die Überwachungsmethoden seiner Schatten herausgefunden hatte — wobei er großen Wert darauf legte, daß sie nichts davon bemerkten —, entschloß er sich eines Tages, den Spieß umzudrehen. Plötzlich verließ er seine gewöhnliche Route und ging eine sehr steile, schmale Straße hinauf, die für Kraftfahrzeuge unpassierbar war. Der Kommandowagen würde einen Umweg von mehreren Blocks machen und hoffen müssen, daß sie ihn an der Stelle, wo die kleine Gasse eine größere Straße kreuzte, wieder aufgabeln würden.
Sobald er die schmale Straße betreten hatte, ging Ari gemächlich in einen Laden mit Waren verschiedenster Art, wo er längere Zeit in den Auslagen herumstöberte. Es folgten weitere Läden in demselben gemächlichen Tempo. Nachdem er dieses Muster festgelegt hatte, betrat er einen Laden zu seiner Linken nahe dem Ende der Straße. Er hatte den Inhaber vor einigen Monaten kennengelernt, und sie waren Freunde geworden. Der Mann hatte kurze Zeit in Südfrankreich gelebt, und Ari hatte ihm angeboten, mit ihm ein wenig Französisch zu üben. Ab und an kam er zu diesem Zweck vorbei.
Der Laden war lang und schmal und voller Ecken und Winkel, die man von außen nicht einsehen konnte. Ari wußte, daß seine Schatten in sicherer Entfernung blieben. Sie würden den Laden erst betreten, wenn er zu lange wegblieb und sie sich Sorgen machten. Aber dann würde es zu spät sein.
„Du mußt mir einen Gefallen tun ... ich versuche, dieser Frau auszuweichen“, sagte Ari auf französisch entschuldigend zu dem Inhaber. „Versuche, mir etwas aus dem vorderen Teil des Ladens zu verkaufen. Ich werde so tun, als sei ich interessiert. Aber es wird nicht ganz das sein, was ich will. Du führst mich dann in den hinteren Teil des Ladens, um mir etwas anderes zu zeigen. Frage mich jetzt nicht nach den Details. Ich werde es dir später erklären. Aber ich muß durch deine Hintertür zur anderen Straße hinüber.“
„D’accord“, sagte der Inhaber mit einem Augenzwinkern. Dann begann er, mit erhobener Stimme zu sprechen und winkte Ari, ihm in den vorderen Bereich des Ladens zu folgen. Dort begann er das gewünschte kleine Schauspiel. Ari feilschte, und schließlich verkündete der Inhaber laut, daß er hinten im Geschäft eine größere Auswahl von Gegenständen dieser Art habe. Sobald sie hinten waren und von der Straße aus nicht mehr beobachtet werden konnten, schlüpfte Ari aus der Tür, während der Ladenbesitzer einen fließenden und ange-
regten Dialog mit seinem nunmehr verschwundenen Kunden fortsetzte.
Als Ari hinauskam, ging er durch ein Tor auf der hinteren Seite des Hofes. Dann lief er auf einer Steinmauer entlang, bis er sich zwischen zwei Gebäuden hinunterzwängen und auf die nächste Straße laufen konnte. Er eilte nach rechts, erreichte sehr schnell die nächste Straßenecke und lugte vorsichtig um die Ecke eines Hauses. Wie erwartet stand der Kommandowagen da, die Schnauze von ihm ab und in Richtung seiner vermutlichen Route gewandt; sie erwarteten, daß er wieder aus der Straße auftauchte, in der er verschwunden war. Ari lief auf der „blinden“ rechten Seite, die keinen Außenspiegel hatte, zu dem Wagen, öffnete schnell die Hintertür und sah hinein. Ihm blieb der Mund offen stehen. Völlig sprachlos starrte Ari auf die zwei Männer, die auf dem Rücksitz saßen.
„Du bist vielleicht ein listiger Fuchs!“ rief David verlegen aus. „Wie hast du das geschafft?“
„Ich schulde dir keine Erklärungen“, erwiderte Ari wütend. „Du schuldest mir welche. Warum werde ich beschattet?“
„Steig ein“, sagte Datid, winkte Ari und rutschte in die Mitte des Rücksitzes. „Wir sollten irgendwo hingehen und uns unterhalten.“
„Warum nicht in dein Büro beim Mossad?“ fragte Ari und setzte sich neben ihn.
„Wann hast du das herausbekommen?“ fragte David mit ehrlicher Bewunderung in der Stimme.
Ari überging die Frage und sprach den Mann an, der neben David saß. Er war der Anführer seiner „arabischen Entführer“ gewesen, und er war es, der Ari in dem Hinterzimmer des Souvenirladens auf so brutale Art verhört hatte.
„Du Sohn einer ...!“ Ari hatte sich hinübergebeugt, um dem Mann in die Augen zu sehen. „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Ich hatte eine Woche lang Kopfschmerzen!“
Der Mann nickte zu David hinüber. „Es war sein Einsatz“, sagte er leise und sah schuldbewußt und reumütig aus.
Ari starrte David kalt an. „Es macht mir nicht besonders viel Spaß, wenn man mir Gewehre in den Rücken stößt, mich fesselt und schlägt — nur so zum Spaß. Was war das? Ein Übungseinsatz für neue Mos-sad-Rekruten?“
„Wir haben ihn verloren!“ knisterte das Funkgerät. Das kam von dem Team, das Ari gefolgt war. „Er ist in diesen Laden gegangen und muß durch die Hintertür hinaus sein ...“
Der Fahrer nahm das Mikrofon, um zu antworten. „Gib es mir!“ sagte David rasch und nahm es ihm weg. „Was sagt ihr da? Ihr habt ihn verloren?“ rief er aufgebracht. „Dann/i«hetihn! Los!“ Er blinzelte Ari zu, aber der wütende Ausdruck in Aris Gesicht wurde kein bißchen milder.
„Nun?“ sagte An und sah durch David hindurch, als sei der Luft, „laß hören. Und du solltest dir Mühe dabei geben. Dein Freund da kann dir erklären, daß die Feder mächtiger ist als das Schwert. Er liest meine Kolumne.“
David lachte. „Du hast wirklich mehr als nur deinen Anteil an chuzpe . Hör mal, Ari, ich entschuldige mich ja, wirklich, aber wir hatten keine andere Möglichkeit. Wir wollten dich anwerben. Also mußten wir natürlich sicher sein, daß du sauber bist. Außerdem mußten wir uns davon überzeugen, daß du gewitzt und mutig genug bist, um den Auftrag auszuführen ... deine Akten stellten dir zwar dieses Zeugnis aus, aber das reichte nicht.“
„Ich hoffe, ihr seid jetzt überzeugt davon. Wie würde es dir gefallen, wenn ich dich so durch die Mangel drehen würde?!“
„Sieh mal, Ari, wir brauchen dich ... und wir hatten keine andere Wahl. Wir brauchten Gewißheit.“
„Diese Gewißheit müßt ihr doch schon längst haben. Warum werde ich immer noch beobachtet?“
„Eigentlich wollten wir mit der Überwachung aufhören — aber uns wurde klar, daß du alle Tricks kennst ... deshalb haben wir dich benutzt, um einige von unseren neuen Leuten zu trainieren und um unsere Technik zu verbessern.“
„Besten Dank! Ihr Kerle habt mir das Leben zur Hölle gemacht... Ständig habe ich mich gefragt, wer mir auf den Fersen ist und warum. Ich sollte ein Gehalt vom Mossad bekommen! Ich kann dir jeden Pkw und Lieferwagen nennen, den ihr benutzt habt, jeden eurer Männer beschreiben. Wußtest du, daß ich euer Team beobachte?“
„Wir haben es vermutet, aber wir haben dich nur zwei oder drei Mal dabei ertappt. Genau deshalb war es ein so unschätzbares Training. Ich bin übrigens normalerweise nicht mit dem Team unterwegs. Du hast mich heute rein zufällig erwischt.“
„Also gut, wie hast du das mit dem Anwerben gemeint?“
„Du hast einige Informationen, die wir brauchen.“
„Wovon redest du?“
Chuzpe die; [hebr.-jidd.] (ugs. verächtlich für Dreistigkeit, Unverschämtheit)
„Wir brauchen Informationen über die Gruppe, die deine Studentenbewegung finanziert hat.“
„Ich dachte, Israel gehört zum Ost-West-Konsortium.“
„Wie kommst du darauf?“
„Das wird allgemein angenommen. Du weißt doch, daß es sich um eine gemeinsame Operation der USA und der Sowjetunion handelt. Die USA unterstützt Israel. Selbst die Sowjets unterhalten jetzt diplomatische Beziehungen zu Israel... der Kalte Krieg ist endgültig vorbei.“
„Genau das soll jedermann glauben. Aber wer würde denn im Ernst seine Beziehungen zu 200 Millionen Arabern aufs Spiel setzen ... mit ihrem Öl ... und zu einer Milliarde Moslems ... für fünf Millionen Israelis?“
„Die Chancen stehen ziemlich schlecht“, gab Ari zu.
„Deshalb brauchen wir deine Informationen.“
„Dem Mossad ist es doch sicherlich weitaus besser gelungen, in ihre Organisation einzudringen, als mir. Ihr habt doch sicherlich schon jede Menge Informationen ...“
„Wenn du nichts weißt, was wir nicht bereits herausgefunden haben, brauchen wir dein Wissen nicht... aber es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“
Ari schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Keine Chance.“
„Du willst uns nicht helfen?“
„Nicht, weil ich Israel gegenüber nicht loyal wäre. Ich meine, das habt ihr inzwischen geklärt.“
„Wo ist dann das Problem?“
„Ich habe das vollständige Expose bei mehreren Leuten, denen ich vertrauen kann, hinterlegt... damit sie es veröffentlichen, falls mich jemand umbringt. Das ist meine Lebensversicherung. Wenn ich es euch gebe ... dann hätten diese Gangster doch keinen Grund mehr, mich am Leben zu lassen.“
„Sie würden nicht erfahren, daß wir Bescheid wissen.“
Ari dachte kurz darüber nach und schüttelte dann wieder den Kopf. „Ich weiß, wie die westlichen Geheimdienste arbeiten. Es werden ständig Informationen ausgetauscht ... oder sie sickern durch. Das Risiko kann ich nicht eingehen.“
„In Ordnung“, sagte David. „Das verstehe ich. Wir werden dich nicht drängen.“
„Es würde auch nichts nützen“, erwiderte Ari entschieden. „Aber du hast immer noch nicht meine Frage beantwortet. Du hast etwas
von anwerben gesagt — das bedeutet doch mehr, als euch nur alte Informationen zu geben.“
„Wir haben einen Auftrag für dich. Es ist gefährlich — aber du bist der ideale Mann dafür.“
„Und?“
„Paß auf, ich hänge jetzt mit diesem Team fest. Ich werde sie wirklich in die Mangel nehmen, weil sie dich verloren haben. Ich werde morgen abend gegen acht Uhr zu dir nach Hause kommen und wir werden alle Einzelheiten besprechen.“
„Gut. Und was ist mit Yakov?“
„Kein Problem. Er arbeitet seit Jahren für uns.“
„Das habe ich vermutet.“ Ari schüttelte Davids Hand, beugte sich dann hinüber und schüttelte auch seinem Begleiter die Hand. „Ich bin nicht nachtragend“, versicherte ihm Ari. „Ich wünschte nur, Ihre Männer wären nicht ganz so gewissenhaft gewesen.“
„Tut mir leid ... wir mußten es realistisch machen.“
Ari streckte die Hand aus, um die Wagentür zu öffnen und auszusteigen. Aber David packte ihn. „Komm wieder rein! Einer meiner Männer könnte dich sehen.“
Dann sagte er zum Fahrer: „Heim, bring uns zu Aris Wohnung — schnell. Wir werden ihn dort hinauslassen und dann sofort wieder her-kommen.“
35. Der Auftrag
David erschien pünktlich um acht Uhr und gesellte sich zu Ari, der im Wohnzimmer vor dem Panoramafenster saß. Er kam sofort zur Sache. „Bei dem, was ich dir sagen werde, gibt es einige höchst seltsame Aspekte“, begann er und lehnte sich vor. Seine Stimme klang angespannt, und er rieb sich die Knöchel seiner starken, ruhelosen Finger. Die Scheinwerfer waren gerade angegangen und erleuchteten den Felsendom und die Westmauer. Aber die beiden nahmen die herrliche Aussicht gar nicht wahr.
Man konnte Yakov hören, der in der Küche abwusch. „Komm endlich her!“ rief David, dessen Stimme leicht irritiert klang. „Hör auf, so beschäftigt zu tun. Du wirst schon noch früh genug deine Ratschläge geben — also kannst du auch von Anfang an dabei sein.“
„Ich tue nicht so. Ich bin beschäftigt. Aber wenn du darauf bestehst, werde ich mich dazusetzen.“ Yakov grinste breit, als er ins Wohnzimmer kam, wischte seine Hände an der Schürze ab, die er trug, und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz im Schaukelstuhl. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß sich kein anderer auf diesen Stuhl setzte.
„Zunächst etwas Hintergrundwissen“, begann David. „Du weißt das natürlich bereits... aber auf höchster Ebene gibt es eine geheime Partnerschaft zwischen Ost und West... um eine Neue Weltordnung zu errichten. Und das geht viel weiter, als Bush oder Gorbatschow oder der Papst in ihren öffentlichen Aussagen andeuten.“
„Das ist mir bekannt. Bisher haben sie nicht viel mehr gesagt“, stimmte Ari zu, „als daß jeder andere Aggressor Saddam Husseins Schicksal teilen wird. Wir sind in eine neue Ara des Friedens eingetreten. Aggression wird nicht mehr toleriert. Und es ist auch eine neue Ara der internationalen Banken- und Geschäftsbeziehungen und des Teilens mit den Entwicklungsländern. Das ist im großen und ganzen die Neue Weltordnung, die in der Öffentlichkeit vorgestellt wird.“ „Aber in Wirklichkeit“, fuhr David fort, „planen sie eine Weltregierung mit ihrem eigenen Militär und einer eigenen Polizei.“
„Genau. Das war auch das Ziel des Konsortiums, das mich finanziert hat. Aber das Konsortium selbst hat mir niemals diesen Eindruck vermittelt. Das mußte ich selbst herausfinden.“
„Okay, das wissen wir alle.“ David lehnte sich in seinem Sessel zurück und sprach langsam. „Was wäre, wenn ich dir nun sagen würde, daß außerirdische Intelligenzen an dieser ganzen Sache beteiligt sind?“
Seine Augen beobachteten durch die halb geschlossenen Lieder genau, wie Ari reagierte.
„Aber sicher — kleine grüne Männchen“, sagte Ari mit einem raschen Lachen. Er kann nicht die Neun meinen, oder etwa doch f Woher sollte er von ihnen wissenf Ich kann ihn nicht fragen — ich bin zu absolutem Stillschweigen verpflichtet!
„Nein, ich meine das ernst“, sagte David, der weder seine Haltung änderte noch seinen Blick von ihm abwandte. „Bereitet dir das Probleme?“
„Nun, ich habe in der Gruppe, die mich finanziert hat, überall meine Leute gehabt, und ich habe nichts dergleichen bemerkt.“
„Auf dieser Ebene ist es nicht bekannt. Dies ist das bestgehütetste Geheimnis des CIA. Wir glauben, daß sie es selbst Präsident Bush nicht mitgeteilt haben. Zumindest kennt er nicht das volle Ausmaß der Beteiligung der Außerirdischen.“
„Ich nehme an, daß es, rein theoretisch gesehen, möglich ist“, räumte Ari ein. „Aber es klingt immer noch wie Science-fiction .. . oder wie diese Geschichte, die sich Verrückte ausdenken ... weißt du ... wie sie an Bord von fliegenden Untertassen gebeamt worden sind und all solcher Müll.“
„Sie sind nicht alle verrückt. Wir wissen zufällig, daß die USA Kontakt mit Außerirdischen haben, und zwar in einem streng geheimen parapsychologischen Forschungszentrum südlich von San Francisco in der Nähe der Stanford-Universität. Durch diesen Kontakt sind die Amerikaner den Russen in dem Wettkampf um psychische Macht weit voraus. Im Grunde genommen gibt es sogar keinen Wettkampf mehr.“
„Und ihr habt handfeste Beweise?“ erwiderte Ari vorsichtig.
„Die darf ich nicht einmal andeuten. Es könnte unsere Agenten in Gefahr bringen. Aber um deine Frage zu beantworten: ja, die haben wir.“
„Wenn das wirklich stimmt“, rief Ari aus, „ist es die wichtigste Entwicklung in der Geschichte dieses Planeten. Das würde alles verändern.“
„Das hat es bereits. Warum, glaubst du wohl, mußten die Sowjets ihre Pläne aufgeben, die ganze Welt zu erobern, und statt dessen eine Partnerschaft mit dem Westen eingehen? Sicherlich werden die meisten Parteimitglieder und Militärs der alten Schule die Wahrheit nicht kennen ... und der KGB tappt größtenteils im Dunkeln. Das macht es ziemlich schwer für Gorbatschow. Er hat vor einigen Jahren von den
Kontakten des CIA zu Außerirdischen erfahren. Wir wissen nicht, wie er davon erfahren hat. Aber wir vermuten, daß er selbst direkten Kontakt mit ihnen hatte
„Das glaubt ihr wirklich?“ unterbrach Ari. Er war fasziniert von dem, was David, ein hochrangiger Mossad-Agent, ihm mitteilte.
„Es gibt keine andere Erklärung dafür, warum er 1987 Perestroika schrieb, die Berliner Mauer zu Fall brachte und den Warschauer Pakt auflöste. Seine Angst vor diesen Wesen, die bisher ausschließlich mit den USA zusammengearbeitet haben, hat seitdem jeden seiner Schritte mitbestimmt. Sie zwingen die Erdenwürmer buchstäblich, zusammenzukommen.“
„Wenn das wahr ist“, sagte Ari nachdenklich, „würde das einige Fragen beantworten. Ich konnte nie verstehen, wodurch Gorby motiviert wurde ... warum er alles niederriß, was der Kommunismus in 70 Jahren aufgebaut hatte. Natürlich hat der Marxismus nicht funktioniert — aber ich dachte, er würde die alte Garde im Kreml an der Macht lassen und zu einem gemäßigten Sozialismus übergehen. Ich konnte das Bild nicht glauben, daß es alles ein KGB-Komplott sei, um den Westen dazu zu bringen, sie finanziell bei der Bewältigung ihrer Probleme zu unterstützen und uns dann mit Atombomben zu vernichten. Wie dem auch sei, jetzt ist es zu spät. Der Schaden ist inzwischen nicht wieder zu reparieren.“
„Ja und nein“, gab David zurück. „Wir haben Bestätigungen für die Geschichte ... daß der KGB plante, den Westen reinzulegen und uns dazu zu bringen, daß wir die bankrotten Satellitenstaaten des Ostblocks finanzieren, indem man ihnen die Freiheit gab, die Mauer öffnete, Deutschland vereinte.
„Stichhaltige Beweise?“ unterbrach Ari.
„Ja. Aber wir meinen, daß Gorbatschow das KGB-Komplott als Tarnung für seinen eigenen Plan benutzt hat. Wie lange er noch an der Macht bleiben wird, wenn sich die UdSSR auflöst, ist die Frage, die sich im Augenblick jeder stellt ... und es ist auch nicht so wichtig. Falls er durch irgendeinen internen Machtkampf seines Amtes enthoben werden sollte, könnte das seine weltweite Popularität sogar noch steigern ... und das ist es, woran er in Wirklichkeit interessiert ist.“
„Außerirdische, die ihre Macht mit dem CIA teilen“, sagte Ari gedankenverloren. „Klingt wie ein Science-fiction-Thriller, aber es fügt einige Stücke des Puzzles zusammen.“
Ari und David saßen schweigend und nachdenklich da. Yakov hatte
ein dickes Buch vom Couchtisch genommen und blätterte darin herum.
„So — ihr meint also, daß Außerirdische tatsächlich die USA benutzen, um hinter den Kulissen die internationale Politik zu dirigieren ... und daß Gorbatschow mitmachen muß“, faßte Ari langsam zusammen. „Das ist erschreckend, unglaublich ...!“
„Es ist erschreckend“, stimmte David zu. „Und fürchterlich. Und das ist in der Tat das größte Problem, das die USA jetzt lösen müssen — die Frage, wie sie diese Kontakte publik machen sollen, ohne eine weltweite Panik auszulösen. Eines der Hauptziele jenes Forschungszentrums bei Stanford ist es, dieses Problem zu lösen.“
„Und wo liegt Israels besonderes Problem?“
„Die Außerirdischen sind äußerst negativ gegenüber Israel eingestellt.“
„Du machst Witze!“
„Nein, das ist eine Tatsache. Und kürzlich hat Hafez al-Assad öffentlich erklärt, er glaube an UFOs und die Außerirdischen seien die einzigen, die fähig seien, eine friedliche Lösung im Mittleren Osten zu erreichen.“
„Ja, ich kann mich erinnern, daß ich das Interview, in dem er das zum ersten Mal sagte, gelesen habe. Damals habe ich mich gefragt, ob er den Verstand verloren hätte. Hältst du es für möglich, daß dieselben Außerirdischen, mit denen der CIA Kontakt hat, auch Kontakt zu Syrien haben — und vielleicht auch zu anderen moslemischen Ländern?“
„Das wissen wir nicht. Aber diese Aussagen, die Assad in Interviews mit internationalen Medien gemacht hat, jagen uns einen gehörigen Schrecken ein.“
„Vielleicht ist es nur seine persönliche Meinung, eine weitere von diesen verrückten Ideen, die daher rühren, daß er Präsident von Syrien ist. Ich sehe keinen Grund, warum Außerirdische — falls sie je auf die Erde kommen sollten — gemeinsam mit Syrien gegen Israel angehen sollten. Warum sollten sie anti-israelisch sein?“
David wies auf Yakov. „Er könnte das besser erklären als ich, weil er die ganze Zeit die Bibel liest. Er glaubt sie sogar — von vorne bis hinten, wie er jedem bei der erstbesten Gelegenheit erzählt. Erstaunlicherweise sehen diese Wesen in der Bibel eine große Bedrohung für die Neue Weltordnung ...“
„Die Bibel sagt“, unterbrach in Yakov, „daß ,die Dämonen glauben und zittern’. Sie haben genug Verstand, um die Bibel ernstzunehmen ... das ist mehr, als man von euch beiden sagen kann!“
„Willst du damit sagen, die Außerirdischen seien Dämonen ... und daß sie deshalb die Bibel so ernst nehmen?“ fragte David.
„Genau das.“
„Selbst wenn es so wäre, was ich für Unsinn halte“, konterte David rasch, „heißt das noch nicht, daß die Außerirdischen die Bibel für wahr halten. Ich würde auch sagen, daß die Außerirdischen die Bibel ernst nehmen — aber nur, weil beinahe zwei Milliarden Menschen daran glauben. Millionen von Menschen akzeptieren das Märchen, daß die Juden Gottes auserwähltes Volk sind und daß ihr Messias die Welt von Jerusalem aus regieren wird. Das beunruhigt meiner Meinung nach die Außerirdischen ... oder Gorbatschow oder den Papst oder jeden sonst, der daran interessiert ist, eine Neue Weltordnung zu bilden.“
„Und das mit gutem Grund“, setzte Ari nach. „Offensichtlich wird jeder, der einen auferstandenen ,Messias’ erwartet, der die Welt von Jerusalem aus regieren wird, gegen die Bush-Gorbatschow-Johannes Paul II.-Weltordnung sein, die deiner Meinung nach von den Außerirdischen unterstützt wird.“
„Du weißt, was ich davon halte“, fiel ihm Yakov ins Wort. Er nutzte die Gelegenheit, die David ihm gegeben hatte. „Abgesehen von Engeln oder Dämonen gibt es keine Geschöpfe außerhalb dieses Planeten. Engel treten nicht als Außerirdische auf ... aber das wäre eine ideale Tarnung für Dämonen. Das ist es, womit die USA Kontakt haben ... und die ganze Welt wird in die Falle laufen!“
David blinzelte Ari zu. „Wir lassen ihm seinen Willen, wenn er Unsinn redet, weil er mit dem nächsten Atemzug etwas äußerst Kluges sagen wird.“
Ari starrte Yakov ungläubig an. „Du sagst also, daß es auf keinem einzigen der Millionen von Planeten im Universum, die um Sonnen, ähnlich wie die unsere, kreisen müssen, höher entwickelte menschenähnliche Kreaturen geben könnte? Nun mach aber mal halblang, mein Guter!“
„Das ist die einzig logische Schlußfolgerung, zu der man auf Grund der Tatsachen kommen kann“, erwiderte Yakov ohne jedes Zögern. „Dieselbe Thora, die uns die einzige logische Erklärung für die Einzigartigkeit der Juden und ihre Verfolgung durch alle Jahrhunderte hindurch gibt, sagt, daß Gott den Menschen geschaffen hat. Ich kann das glauben. Aber ich kann nicht glauben, daß sich das Leben und alle Intelligenz aus einem großen,Urknall’ der Energie entwickelt hat. Reiner Zufall könnte niemals — nicht einmal in einer Trillion von Jahren — auch nur eine einzige lebende Zelle hervorbringen, und erst recht nicht
den menschlichen Körper und das Gehirn ... ganz zu schweigen von individuellen Persönlichkeiten und abstrakten Konzepten.wie Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Wenn es in der Druckerei eine Explosion gibt, entsteht daraus keine Enzyklopädie! Die Evolution ist ein Märchen. Nur ein unendlicher Designer hätte die äußerst kompliziert angelegten Organismen, die auf dieser Erde leben, hervorbringen können.“ Seine Stimme klang leidenschaftlich.
„Na gut“, konterte Ari. „Angenommen, dein ,Gott’ hat das Leben auf diesem Planeten geschaffen. Warum hätte er das nicht auch auf einigen anderen Planeten tun können — und warum hätten solche Wesen nicht eine Technologie entwickeln können, um die Erde zu besuchen, so wie wir den Mond besuchen konnten?“
David erhob sich abrupt von seinem Stuhl, stellte sich vor das Fenster und starrte mürrisch in die Nacht hinaus. Offensichtlich hatte er nicht erwartet, daß Yakov diese Richtung einschlagen würde und wollte an einer solchen Diskussion nicht teilnehmen.
Yakov machte Ari ein Zeichen, daß er David ignorieren solle, und fuhr fort: „Wenn es irgendwo im Universum Geschöpfe mit einem freien Willen gäbe, würden sie gegen ihren Schöpfer rebellieren, genau wie wir es taten. Gott brauchte nicht zu experimentieren’, indem er auf anderen Planeten menschenähnliche Wesen erschuf und abwartete, was geschah. Er wußte es bereits. Gemäß der Bibel ist dieser Planet einzigartig ... Gottes Kampf mit dem Satan um die Kontrolle des Universums konzentriert sich auf die Erde. Es gibt nirgends einen Hinweis darauf, daß auf anderen Planeten ähnliche Wesen leben.“ „Du kannst ihn bekehren, wenn ich nicht da bin“, grollte David ungeduldig und drehte sich zu Yakov und Ari um. „Ich habe nur begrenzt Zeit, und ich bin heute abend mit einem ganz bestimmten Ziel hierher gekommen. Können wir nun damit weitermachen?“ „Mach nur weiter“, sagte Yakov, in dessen Stimme eine böse Vorahnung mitschwang. „Wirb Ari an. Ich halte dich nicht auf. Aber ich möchte, daß er weiß — und du auch —, wogegen ihr bei diesem speziellen Projekt antretet.“
„Laß uns ein paar Minuten die Außerirdischen vergessen“, fuhr David fort. „Wir werden später darauf zurückkommen. Hättest du Probleme damit, für den israelischen Geheimdienst zu arbeiten?“ „Den Mossad?“ fragte Ari, der gerne genau sein wollte.
„Das ist ein Wort, das hier in Israel nicht benutzt wird, weil er nicht existiert“, erwiderte David sofort. „Wir sprechen vom ,Büro’.“
Ari dachte kurz darüber nach. „Es macht mir nichts aus, für ,das
Büro’ zu arbeiten“, sagte er schließlich, „aber es kommt darauf an, wie du dir das vorstellst.“
„Wir brauchen Informationen — jene Art, die nicht über die Drähte bei der Post kommt.“
„Ich hoffe doch nicht, daß ihr die Informationen meint, die ich über das Konsortium gesammelt habe“, sagte Ari mißtrauisch. „Das hatten wir doch schon geklärt.“
„Natürlich nicht. Wir meinen etwas anderes, was sich später vielleicht sogar als noch wichtiger erweisen wird.“
„Ich sehe nicht, wie ich irgendwelche Informationen sammeln - könnte. Ich dachte, das sei eine Spezialität jener unaussprechlichen Organisation.“
David lachte. „Woher, denkst du, bekommen wir unser Wissen? Wir haben nur sehr wenige hochqualifizierte Offiziere. Wir nennen sie katsas. Aber wir haben Tausende von unbezahlten Freiwilligen — say-anim— 'm der ganzen Welt. Sie sind unser Lebensblut. Du wirst verstehen, warum. Ich bezweifle, daß wir in der ganzen Welt auch nur auf 1.500 bezahlte Angestellte kommen, Sekretärinnen und Hausmeister eingeschlossen. Vergleiche das mit den 25.000 allein schon im CIA-Hauptquartier in Langley und den 250.000 Angestellten, die der KGB weltweit hat. Wir müssen uns also sehr stark auf Freiwillige stützen. Du müßtest einfach bestimmte Informationen weiterreichen. Wir würden dir beibringen, wie du sie sammelst und weiterleitest.“
„Ich kann nicht ins Ausland reisen“, erwiderte Ari pessimistisch. „Was für Informationen könnte ich hier in Israel für euch bekommen?“
„Du wirst reisen“, sagte David, als sei das ganz selbstverständlich. „Ich habe das bereits geklärt. Kurz bevor du nach Israel gekommen bist, hattest du in Paris Kontakt mit einer ehemaligen Studentin ... Carla Bertelli. Stimmt das?“
„Was ist mit ihr ? “ fragte Ari beunruhigt. War es möglich, daß sie etwas von dem Austausch der Handtaschen wußten... von den Informationen, die er ihr gegeben hatte?
„Ich möchte, daß du ihr schreibst. Ein Anruf wäre zu aufdringlich. Teile ilir mit, wo du bist, daß du für die Post schreibst. Das wird sie bestimmt interessieren — und pflege eure Freundschaft.“
„Warum sollte ich mit ihr in Kontakt treten?“ Aris Mißtrauen war erneut erregt. Das sah nicht gut aus.
„Sie war in jenem parapsychologischen Forschungszentrum des CIA in der Nähe von Stanford mit dabei, als der Kontakt mit den Außerirdischen hergestellt worden ist.“
„ Carla war mit dabei? Sie sagte mir, daß sie über parapsychologische Forschungen schreiben würde ... aber ich hatte keine Ahnung, daß sie das große Los gezogen hat!“
„Das würde sie dir natürlich nicht sagen ... aber sie steckt bis über beide Ohren drin. Wenn du dein Spiel richtig spielst, wird sie die Informationen weitergeben, die wir brauchen. Wir werden dich dabei sehr stark unterstützen.“
Ari atmete jetzt etwas leichter. „Da komme ich also ins Spiel ... meine Beziehung zu Carla. In Ordnung, ich werde mein Bestes tun. Wie lauten meine Anweisungen?“
David drehte sich wieder zum Fenster um und starrte schweigend in die Ferne. „Das ist noch nicht alles“, sagte er schließlich, ohne sich umzudrehen. „Aber das kann ich im Moment noch nicht erklären. Im Augenblick willst du nur eine Einladung von ihr, sie zu besuchen.“
„In den Staaten?“
„In Kalifornien ... in dem parapsychologischen Forschungszentrum. Aber der erste Schritt ist natürlich, dich wieder mit ihr in Verbindung zu setzen und eure Freundschaft zu erneuern. Schreibe ihr noch heute. Laß mich wissen, wie du vorankommst.“
36. Dejä Vu
Der Bodenkampf in diesem Krieg am Golf war vorbei, noch bevor er richtig begonnen hatte — er dauerte ganze 100 Stunden. War das einfach eine schöne runde Zahl, die Präsident Bush gefiel, als er den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen gab — oder steckte mehr dahinter? Seine Generäle, die im Feld standen, waren nicht sehr erfreut darüber, daß sie ihre Truppen verfrüht abziehen und damit Saddam, einen arabischen Hitler, an der Macht lassen mußten. Warum war diese Entscheidung genau zu diesem Zeitpunkt getroffen worden?
Nachdem er in einer seiner Kolumnen diese Frage gestellt hatte, machte Ari die Leser auf eine andere Seite der Geschichte aufmerksam. Bushs Befehl, die Operation „Desert Storm“ am 27. Februar um Mitternacht zu beenden, hatte den Lubavitcher Rabbi Menachem Schneerson zu einem Propheten gemacht. Er hatte nämlich vorausgesagt, daß der Konflikt bis Purim beendet sei, und Purim begann am 28. Februar. War das bloßer Zufall?
Und das war noch nicht alles. Aus irgendeinem seltsamen Grund hatten das amerikanische Repräsentantenhaus und der Senat in einer gemeinsamen Resolution den neunundachtzigsten Geburtstag des Rabbis zum „Tag der Erziehung“ in den USA erklärt. Die Lubavitcher waren plötzlich einflußreich geworden. Warum? Ari gab keine Antworten. Er stellte nur Fragen — und schlug vor, die Lubavitcher im Auge zu behalten.
Iraks hochgepriesene Kriegsmaschinerie, einschließlich ihrer Panzer und Artillerie und der angeblich unbesiegbaren Republikanischen Garde, war vollkommen vernichtet, während die Alliierten unglaublich niedrige Verluste hatten. Die kleine Anzahl von Patriot-Raketenabwehrgeschützen, die von den Vereinigten Staaten nach Israel gebracht worden waren — zu wenige, um ganz Israel zu schützen —, hatten viele, wenn auch nicht alle, der irakischen Skud-Raketen abgefangen. Einige waren durchgekommen, und die Folgen waren schrecklich genug gewesen, aber wiederum waren die Verluste an Menschenleben relativ niedrig. Da Saddam jedoch gedemütigt und gezwungen war, strenge Kapitulationsbedingungen zu akzeptieren, war auch das Problem der Skuds aus der Welt geschafft. Der israelische Nachrichtensender hatte am 24. Februar 1991 seine Abendnachrichten mit den Worten „Gott segne Amerika!“ begonnen und damit
die Stimmung, die in ganz Israel herrschte, sehr treffend zum Ausdruck gebracht.
Nach sieben Monaten unter einem irakischen Regime, das sich sogar als noch brutaler erwiesen hatte als das der Nazis, war Kuwait befreit worden. Bevor seine besiegten Truppen flohen, hatten sie noch auf Saddams persönlichen Befehl hin mutwillig so viel von dem Land zerstört, wie sie konnten. Selbst historische arabische und islamische Kunstgegenstände und Kulturgüter wurden geplündert oder zerschlagen, und die Museen wurden in einem letzten Akt der Barbarei zerstört. Selbst der Zoo blieb nicht verschont. Und indem er Kuwaits Ölquellen anzünden ließ, erwarb sich Saddam Hussein die Auszeichnung, die schlimmste Umweltkatastrophe der menschlichen Geschichte verursacht zu haben. Es war ein abscheuliches Verbrechen an der gesamten Menschheit, einschließlich der kommenden Generationen.
Die Tatsache, daß solch eine mutwillige, absolute Bosheit von einer moslemischen Nation an einer anderen im Namen des jihad, des Heiligen Krieges, begangen worden war, erschütterte den Glauben vieler intelligenter Araber und verursachte eine tiefe Spaltung in ihren Reihen. Sie verminderte jedoch weder den vereinten Haß der Araber gegen Israel noch ihre Entschlossenheit, es zu vernichten. Wenn Saddam das, was er Kuwait angetan hatte, Israel angetan hätte, hätten die Moslems seine Handlungen als vollkommen gerechtfertigt gefeiert. Und fatalerweise hätte das auch eine zunehmende Anzahl von Nicht-Moslems in der restlichen Welt getan.
Kurz nachdem der Krieg beendet war — auf recht unbefriedigende Weise, wie sich mit der Zeit erweisen sollte —, bereiste der amerikanische Außenminister James Baker den Mittleren Osten und traf mit den Alliierten zusammen, um darüber zu sprechen, wie man einen bleibenden Frieden für die gesamte Region erreichen könne. Er kam auch nach Israel. Der Druck auf Israel, einen Handel mit den Palästinensern einzugehen und ihnen die Westbank und den Gazastreifen im Tausch gegen „Frieden“ zurückzugeben, nahm zu. Nur wenige Israelis gaben sich der Illusion hin, daß die PLO jene Klausel, die die Vernichtung Israels verlangte, aus ihrer Charta entfernen würde — oder daß man irgendwelchen Versprechen, die sie eventuell bezüglich ihrer „friedlichen Absichten“ machen würde, trauen könne.
Die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten und ihrer Koalitionspartner, dem Mittleren Osten den Frieden zu bringen, war paradoxerweise der Beginn einer der gefährlichsten Zeiten in der Geschichte
Israels. Ari konnte spüren, wie die Spannung zunahm. Und natürlich analysierte er die Gefahren in seiner Kolumne in der Jerusalem Post, die zweimal pro Woche erschien.
„Du hast mein ganzes Leben durcheinandergebracht — ganz unerwartet und gründlich!“ erklärte Ari mit gespielter Entrüstung, als er seine Kaffeetasse abstellte und über den elegant gedeckten Tisch zu Miriam hinübersah. Es war Samstag nachmittag und etwa das zwanzigste Wochenende in Folge, das sie seit ihrer ersten Begegnung miteinander verbrachten. Die atemberaubende Pracht des Teesalons im King David Hotel schien der perfekte Hintergrund für Miriams dunkle und kraftvolle Schönheit zu sein. Der weite Blick auf die Altstadt, den man aus den Fenstern des ehrwürdigen Hotels hatte, verstärkte die romantische Atmosphäre noch beträchtlich.
„Dann sieh’ dir erst einmal an, was du mit mir gemacht hast!“ erwiderte sie mit einem Lachen in demselben vorgetäuschten Ton. „Jedes Wochenende fahre ich hier herauf. Das ist doch wohl kaum die Rolle der Frau! Wann wirst du dir endlich ein Auto kaufen, damit du kommen und mich besuchen kannst?“
„Ja, wann! Von meinem armseligen Gehalt... und bei den horrenden Autopreisen ... Sieh mal, Liebling, kannst du dich nicht an eine Schule in Jerusalem versetzen lassen?“
Miriam sah auf den Tisch vor sich hinunter. Sie nahm einen Löffel und begann, langsam und mit ganzer Aufmerksamkeit ihren Kaffee umzurühren. Schließlich sah sie zu Ari auf. „Ich ... ich liebe dich“, sagte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Ich bin noch nie so verliebt gewesen wie jetzt. Unter diesem agnostischen Geschrei ist ein wunderbarer Mensch verborgen ... und ich habe es so genossen, mit dir zusammenzusein! Aber., ich ... nun, ich hätte es früher klarmachen sollen, daß ...“
Eine lange Stille folgte. „Das was?“~D\e ängstliche Frage hing in der Luft, und Ari wartete auf eine Antwort.
„Ich bin eine Nachfolgerin des Messias Jesus, so wie auch mein Großvater Yakov ...“
„Nun, das wußte ich“, erwiderte Ari mit deutlicher Erleichterung. „Du hast kein Geheimnis daraus gemacht. Einige Monate zuvor hätte
ich das nicht so ruhig hingenommen. Ich habe mich sehr verändert. Meinst du nicht auch?“ setzte er sehnsüchtig hinzu. „Durch dich bin ich sehr viel weitherziger geworden.“ Er lächelte zärtlich. Sicher würde sie ihre Religion nicht als ein ernsthaftes Problem betrachten, wenn er es nicht tat. Wenn er diese Einstellung Nicole gegenüber gehabt hätte, wäre alles anders gewesen. Oder?
Miriam streckte die Hand aus und ergriff seine Hand. „Das ist genau das Problem, Ari. Du verstehst mich nicht. Es macht sehr viel aus, und ich hätte dir von Anfang an erklären sollen, wie wichtig das ist. Aber ich habe mir eingeredet, daß ich mir einfach nur große Mühe gab, nett zu einem neuen Einwanderer zu sein ... einem Überlebenden des Holocaust ...“ Ihre Stimme zitterte.
Ari drückte ihre Hand und lachte. „Machst du Witze? Als wir uns das erste Mal in die Augen sahen, geschah etwas zwischen uns ... schon an dem Tag, als Yakov uns einander vorstellte. Du erinnerst dich doch noch ... du weißt, was ich meine.“
Miriam nickte. „Ich weiß, aber so etwas geschieht sonst nur in Märchen oder in rührseligen Seifenopern. Ich habe versucht, mir einzureden, daß es nicht wirklich so sei.“
„Nicht wirklich so sei! Ich denke Tag und Nacht an dich! Wo liegt denn nun das Problem?“
„Jesus ist mein Erretter, mein Herr“, platzte Miriam heraus. „Er ist mein ganzes Leben. Wenn du nicht dieselbe Beziehung zu ihm hast, dieselbe Liebe zu ihm ... dann wird es einfach nicht funktionieren, und ich könnte dich nicht ..
„Was könntest du nicht?“
„Ich könnte dich nicht heiraten ...“
„Und wenn ich dieselbe Religion hätte, würdest du es tun?“
„Es geht nicht um Religion, Ari. Durch den Messias habe ich eine sehr persönliche Beziehung zu Gott. Ich sage es ungern immer wieder, aber du verstehst einfach nicht, worum es geht. Und es ist unfair dir gegenüber. Ich hätte niemals zulassen dürfen, daß es so weit geht. Ich will nicht, daß du dich gezwungen fühlst, nur um meinetwillen irgendeine Art der Hingabe an Jesus zu vollziehen. Das wäre nicht echt.“ Aris Augen spiegelten seine Verwirrung und Enttäuschung wieder — aber gleichzeitig auch seine sture Entschlossenheit. „Ich werde niemals an deinen Jesus glauben ... und ich würde auch nicht so tun, als ob. Aber ich würde dir auch niemals einen Vorwurf wegen deines Glaubens machen. Warum solltest du also die Beziehung zu mir abbrechen, wenn ich nicht ein Gläubiger werde, so wie du?“
In Miriams Gesicht waren deutlich ihre Angst und ihr Verlangen zu sehen. „Es ist meine Schuld. Es tut mir leid. Es ist unmöglich, daß du das verstehen könntest ... es sei denn
„Es sei denn was? Wir lieben einander so sehr ... ich verstehe nicht, warum ...“
Die erste Träne trat aus ihrem Auge und lief Miriams Wange hinunter.
Sanft tupfte Ari mit seiner Serviette ihre Wange ab. „Laß uns hier rausgehen.“ Er rief rasch den Ober und zahlte die Rechnung. Dann gingen sie schweigend in die einbrechende Dämmerung hinaus.
Als sie auf der Straße waren und auf die Altstadt und Yakovs Wohnung zugingen, machte Ari seiner Verwirrung Luft. „Sieh einmal, Miriam, wir lieben uns doch. Ich könnte ohne dich nicht leben ... und ich weiß, daß du mir gegenüber dasselbe empfindest. Warum dann all das, nur weil ich in einem einzelnen Punkt nicht genauso denken kann wie du ...?“
Miriam blieb plötzlich stehen, entzog Ari ihren Arm und drehte sich zur Seite, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen. „Wir reden hier nicht über Mythen oder unterschiedliche theologische Systeme, Ari. Jesus lebt! Ich kenne ihn persönlich. Er bedeutet mir so viel, daß ich unmöglich mein Leben mit jemandem teilen könnte, der nicht dieselbe Beziehung zu ihm hat!“
„Dejä vu murmelte Ari mehr zu sich selbst als zu Miriam. „Es ist unglaublich.“
„Was meinst du mit dejä vu?“ fragte Miriam. „Ist dir das schon einmal passiert?“
„Komm, laß uns weitergehen, und ich werde es dir erzählen.“
Miriam hakte sich wieder bei ihm ein und sie gingen langsam weiter, den Berg hinunter auf das Hinnomtal zu. „Ich war verlobt... na ja, wir haben sechs Jahre lang zusammengelebt... und, ähm... ich weiß, daß dir das jetzt nicht gefallen wird ...“
„Sie war eine Nachfolgerin des Messias Jesus?“ fragte Miriam erstaunt.
„Am Anfang nicht. Aber sie wurde eine — und wollte nicht mehr mit mir Zusammenleben ... Sie war inzwischen schwanger geworden. Ich wollte, daß sie eine Abtreibung machen ließ. Es war das einzig Sinnvolle. Ein Baby hätte ihre Karriere unterbrochen — sie machte gerade ihre Assistenzzeit als Neurochirurgin in einem sehr guten Krankenhaus — und ich brauchte einfach ihre Gegenwart, um mich zu unterstützen. Meine eigene Arbeit befand sich gerade in einer Krise.“
„Das Baby ... hat sie es bekommen?“
„Ja, es wurde ein Junge. Sie nannte ihn Ari Paul. Ich habe ihn niemals gesehen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir uns schon entfremdet. Sie war Christin geworden, und ich war außer mir vor Wut. Genau wie du sagte sie mir, daß sie mich nicht heiraten könne, wenn ich nicht ihren Glauben teilen würde.“
„Gut für sie! Und jetzt zieht sie das Kind allein in Paris groß?“
„Sie ist tot.“
„Oh ... das tut mir leid.“
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Schließlich fragte Miriam leise: „Wie ist das ... passiert?“
„Sie wurde von arabischen Terroristen getötet. PLO. Diejenigen, die den El Al-Flug überfielen, auf den ich wartete. Du hast es in den Nachrichten gesehen ... weißt du noch, ich habe dir davon erzählt... aber diesen Teil habe ich ausgelassen.“ Die Worte kamen nur noch erstickt. Es dauerte etwas, bis er sich genug erholt hatte, um weiterzureden. „Sie war gekommen, um sich von mir zu verabschieden. Ich wünschte, sie hätten das nicht zugelassen ... aber wer hätte sich träumen lassen, das so etwas geschehen würde! Einer der Mörder war ihr bester Freund gewesen. Ich bin sicher, er wußte nicht, daß ich diesen Flug nehmen wollte. Er war vollkommen außer sich, als er Niki da liegen sah ...“
Wieder hüllte sie Schweigen ein, während sie gemeinsam weitergingen. Miriam, die nicht wußte, wie sie sonst seinen Schmerz teilen und ihre Anteilnahme ausdrücken sollte, umklammerte seinen Arm noch fester.
„Und das Baby?“ fragte sie schließlich.
„Er wächst bei einem christlichen Arzt und seiner Frau auf“, antwortete Ari.
„Dem Herrn sei Dank!“
„Ich danke ihm nicht dafür. Warum sollte ich? Sie werden ihn indoktrinieren ... und das macht mich wütend.“
„Du bist der sturste Mensch, der mir je begegnet ist!“ rief Miriam aus. „Meinst du etwa, mein Großvater und ich seien weniger intelligent, weil wir an Jesus glauben?“
„Nein, aber aus irgendeinem seltsamen Grund seid ihr irgendwie überredet worden, an etwas zu glauben, was eurer kulturellen Integrität total zuwider ist. Ich nehme an, es muß verlockend sein, an eine ,höhere Kraft’ zu glauben ... zum Schutz ... wegen der Antworten auf letzte Fragen
„Weißt du, was es einen Israeli kostet, an Jesus als den Messias zu glauben?“
„Ich weiß, daß das nicht beliebt ist ..
„Das ist eine Untertreibung kosmischen Ausmaßes! Unsere kleine Gruppe von Gläubigen in Tiberias ist gesteinigt und bespuckt worden, Ziegelsteine sind durch die Fenster geworfen worden ... sie haben sogar das Haus, in dem wir uns zum Gottesdienst getroffen haben, niedergebrannt, genau wie die Baptistenkirche hier in Jerusalem. Überlebende des Holocaust haben gesagt, es hätte sie an die Kristallnacht erinnert.“
„Ich dachte, Menachem Begin hätte sich dafür entschuldigt ...“
„Das hat er auch... offiziell. Aber es hat nichts geändert. Wir treffen uns jetzt heimlich in dem Wald oberhalb des Sees Genezareth. Wir Israelis sollten eigentlich die letzten sein, die einander verfolgen! Die Behandlung, die gläubige Christen hier in Israel erfahren, weckt Erinnerungen an die Zeit, als in den dreißiger Jahren in Deutschland der Antisemitismus zunahm. Unsere Telefone werden abgehört, unsere Post wird geöffnet, Briefe und Schecks werden herausgenommen ... wir erhalten leere Umschläge. Ich sage das nur, damit du weißt, daß Großvater und ich ... und eine Menge anderer Leute hier in Israel... nicht leichtfertig eine Beziehung zu Jesus beginnen würden, der so verachtet wird, nicht nur von den Juden, sondern von fast allen Menschen auf dieser Welt.“
Ari wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Alles, was er denken konnte, war, daß er dabei war, die Frau zu verlieren, die er liebte — genauso, wie er auch Nicole verloren hatte ... und er konnte nicht verstehen, was er dagegen tun konnte.
Schließlich brach Miriam das Schweigen. „Ich beklage mich nicht. Jesus hat gesagt, daß es seinen Nachfolgern so gehen würde. Ich wollte nur, daß du weißt, daß es einen Israeli — und ich bin eine Sabra, also hier im Lande geboren — sehr viel kostet, an Jesus Christus zu glauben. Damit du verstehst, daß Großvater und ich, und jeder andere jüdische Gläubige, wirklich vollkommen davon überzeugt sein muß, daß Jesus Israels Messias ist, daß er für unsere Sünden an einem Kreuz direkt vor der Mauer der Altstadt gestorben ist und daß er am dritten Tag von den Toten auferstanden ist und heute lebt.“
„Aber Miriam, Liebste, natürlich glaubst du das — aber deswegen muß es doch noch lange nicht stimmen. Denke einmal darüber nach.“
„Und was ist mit dir? Bist du bereit, darüber nachzudenken ... die Beweise zu prüfen?“
Ari gab keine Antwort. Wie sollte er nur mit solch unbeirrbarer Hingabe an eine altmodische Fabel umgehen? Dies war der einzige Fehler an diesem ansonsten so liebenswerten Geschöpf.
„Ich würde gern mit dir das Gartengrab besuchen, das Grab, wo Jesus beerdigt wurde. Es ist natürlich leer. Wirst du morgen mit mir dorthin gehen?“ Miriam sah ihn bittend an.
„Vielleicht ... aber ungern.“
„Ich will dich etwas fragen, Ari. Hast du je die Bibel gelesen?“
„Nein ... aber es gibt auch viele andere Bücher, die ich nicht gelesen habe.“
„Die Bibel ist nicht nur ein Buch. Sie behauptet, Gottes Wort zu sein. Und das allein ist schon Grund genug, sie wenigstens einmal zu prüfen. Und wenn du sie lesen würdest, wüßtest du, daß jedes einzelne Wort wahr ist. Sie legt die Geschichte dar, die Beweise, die Tatsachen — sie sagt sogar die Zukunft voraus, ohne sich je zu irren. Hältst du es nicht auch für reichlich dumm, zu einem Ergebnis zu kommen, bevor du dir die Beweise auch nur angesehen hast?!“
„Und noch einmal Dejä vu. Niki hat mir dasselbe gesagt.“
„Zu dumm, daß du ihren Rat nicht befolgt hast. Du hast mehr Bücher gelesen, als die meisten Menschen. Warum dann nicht die Bibel?“
„Ich hatte keine Zeit.“
„Ich glaube, daß du vor Gott wegläufst... wie Jakob und Mose und Jona es taten ...“
„Jakob, Mose, Jona ... woher willst du wissen, daß sie jemals gelebt haben?“
„Das steht zweifelsfrei fest. Die Schulkinder hier studieren die Geschichte Israels anhand der Schriften. Du mußt dasselbe tun! Du kennst nicht einmal die Geschichte deines eigenen Volkes. Du bist jetzt ein Israeli. Du bist nach Israel gekommen ... und doch hast du nicht die geringste Ahnung, warum dies unser Land ist oder was für erstaunliche Dinge Gott in der Vergangenheit getan hat, um unser Volk hierher zu bringen.“
„Die Geschichte des Mittleren Ostens war nicht mein Spezialgebiet“, erwiderte er wenig überzeugend.
„Nun, jetzt sollte sie es sein ... schließlich lebst du hier.“
„Das habe ich mir nicht selbst ausgesucht, aber trotzdem bin ich froh, hier zu sein ... aus mehreren Gründen. Und du bist der wichtigste.“
„Du bist schon immer sehr vage gewesen, wenn es darum ging, was
dich hergebracht hat“, sagte Miriam, „und ich wollte dich nicht drängen ... aber ich habe mich gefragt, was es war.“
„Ich bin deportiert worden ... und Israel war das einzige Land, das mich aufnehmen wollte ... aber mehr als das kann ich dir nicht sagen.“
„Du und ein Krimineller? Das glaube ich nicht. Ist dir etwas angehängt worden ...?“
„Ja ... aber es ist noch viel komplizierter. Vielleicht kann ich es dir eines Tages erklären ... aber nicht jetzt. Vielleicht kann es dir dein Großvater sagen. Ich bin sicher, David weiß Bescheid. Er sagte, der Mossad hätte eine Akte über mich, die einen ganzen Aktenschrank füllt... und sie haben mich hereingelassen ... das sollte für mich sprechen.“
Die letzten Minuten zu Yakovs Wohnung legten sie schweigend zurück. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Als sie ankamen, saß Yakov in seinem Lieblingsschaukelstuhl im Wohnzimmer und las seine Bibel. An diesem Abend fand Ari die friedliche Szene besonders ärgerlich.
Mit einem gewinnenden Lächeln appellierte Miriam an Ari: „Siehst du, Großvater liest seine Bibel... und er hat jede Menge Bibeln hier herumliegen. Du hast also keine Entschuldigung ..."
„Eines Tages, vielleicht“, erwiderte Ari.
„Er ist stur, nicht wahr?“ beklagte Miriam sich bei Yakov.
„Ein wirklicher Jude!“ rief Yakov mit einem gelassenen Lächeln aus. „Genau wie Rabbi Saulus von Tarsus ... er wird auch ein Erlebnis brauchen wie das auf der Straße nach Damaskus, damit er überzeugt wird. Und eines Tages wird er es haben. Wir sollten ihn nicht aufgeben.“
37. Fortschritt und Fährnis
Am folgenden Montag erhielt Ari eine Antwort auf seinen Brief, den er an Carla geschrieben hatte. Er klang begeistert und versprach weiteren Kontakt.
„Es war so schön, etwas von dir zu hören“, begann ihr Brief. „Und ich war sehr traurig, daß mir dein Brief Nicoles Tod bestätigt hat. Ich hatte ihren Namen auf der Liste der Opfer in den Nachrichten gesehen, aber ich war nicht sicher, ob sie dieselbe Person war, der du mich vorgestellt hattest. Ich versuchte, dich an der Sorbonne anzurufen, und dabei erfuhr ich, daß du nach Israel gegangen bist. Sie konnten mir keine Anschrift oder Telefonnummer geben. Deshalb war dein Brief eine so willkommene Überraschung.
Ich war sehr aufgeregt, als ich las, daß du jetzt eine eigene Zeitungs-Kolumne hast, und noch dazu in einem so angesehenen Blatt wie der Jerusalem Post! Ja, es war eine Überraschung zu erfahren, daß du eigentlich ein Jude bist, ein Überlebender des Holocaust. Ich nehme an, das macht dich in Israel zu etwas ganz Besonderem. Ich kann verstehen, daß du dort leben wolltest, als du von deiner Abstammung erfahren hast. Es ist seltsam, dich jetzt Professor Ari Thalberg zu nennen, nachdem ich dich all die Jahre als Professor Hans Müller kannte. Aber ich werde mich daran gewöhnen.“
Carla erzählte weiter, daß sie sich von ihrem Verlobten, Ken Inman, getrennt hätte, und daß es so das Beste sei. Er sei derjenige gewesen, der sie in das Gebiet der Parapsychologie eingeführt hätte. Aber er habe es vor kurzem aufgegeben. Sie dagegen stiege immer mehr in dieses Gebiet ein. Ja, es gäbe sogar einige spektakuläre Entwicklungen, die sie schon bald der ganzen Welt bekanntgeben würde. Seit sie sich von Ken getrennt hätte, fühle sie sich freier in ihrer Arbeit. Sie berichtete keine Einzelheiten über ihre Arbeit, deutete jedoch erneut an, daß sie bald einen ganz besonderen Bericht schreiben würde, etwas sehr Folgenschweres, und daß sie Ari vielleicht sogar einen Knüller für seine Zeitung geben könnte.
An brachte Carlas Brief noch am selben Tag direkt zu David in dessen Büro. Ihre Hinweise auf die Parapsychologie, ihre Arbeit, die neuen Entwicklungen und die Möglichkeit, Ari einen Knüller zu liefern, waren für die Behörde natürlich von besonderem Interesse. Erst nachdem die Experten der Behörde den Inhalt des Briefes genauestens
analysiert hatten, erhielt Ari grünes Licht für eine Antwort — und natürlich sagten sie ihm genau, was er schreiben sollte.
„Das ist ein großartiger Anfang“, freute sich David, als er einige Tage später in Yakovs Wohnung kam und Ari den Brief zusammen mit einigen genauen Anweisungen für die Antwort zurückbrachte. „Wir sind sehr zufrieden. Sie gibt dir die Möglichkeit zu fragen, worum es sich bei diesem Knüller handeln könnte, und ob es etwas mit einem amerikanischen Durchbruch in der parapsychologischen Forschung zu tun hätte, da sie dir ja gesagt hat, daß das ihr neues Spezialgebiet sei.“
„Kein Problem. Sie hat ziemlich offen und begeistert über ihr Interesse an der Parapsychologie gesprochen, als wir uns das letzte Mal in Paris getroffen haben“, erinnerte sich Ari.
„Dann hast du ja einen Grund, das Thema gezielt anzusprechen, ohne daß du neugierig wirkst.“
„Ja, ohne jede Frage.“
„Also, wir werden folgendes tun: Einer unserer Schreiber wird einen Artikel über die mögliche Beteiligung von Außerirdischen auf dem Gebiet der psychischen Kraft verfassen. Er wird nächste Woche in der Post veröffentlicht werden. Schicke ihr eine Kopie davon mit deinem Brief und frage sie, ob sie meint, das irgend etwas Wahres daran sei. Aber übertreibe es nicht. Du darfst nicht zu interessiert klingen. Wenn du den Entwurf des Briefes fertig hast, gib ihn mir, und unsere Leute werden ihn fertigmachen.“
„Ich frage mich nur, ob wir uns nicht selbst etwas vormachen“, sagte Ari nachdenklich. „Wenn uns die Außerirdischen in ihrer psychischen Entwicklung so weit voraus sind, müßten sie doch in der Lage sein, unsere Gedanken zu lesen und zu wissen, was wir planen und tun, oder?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie das können“, erwiderte David düster. „Trotzdem, dieses Risiko müssen wir eingehen. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und nichts unternehmen.“
„Ich nehme an, du hast recht ... aber es ist furchteinflößend.“ „Und hier“, sagte David und reichte Ari ein Blatt Papier mit einer Landkarte und Anweisungen, „steht, wann du dich wo melden sollst. Lerne alles auswendig, bevor du schlafen gehst, dann zerreiße es und spüle es die Toilette hinunter.“
Einige Tage später meldete sich ein aufgeregter und eifriger Rekrut im Mossad-Hauptquartier am King Saul Boulevard in Tel Aviv. Drei Wochen lang unterzog sich Ari dem intensiven Trainingsprogramm des Mossad, und während dieser Zeit, in der er keinerlei Kontakt mit der Außenwelt hatte, wohnte er zusammen mit anderen Rekruten in einer nahegelegenen Wohnung. Er sollte in der großen, zweigeschossigen Midrasha, der Trainingsakademie des Mossad, eine besondere Ausbildung in Mishlasim erhalten — dem Sammeln und Weitergeben von Informationen. Die Trainingsakademie lag auf einem Berg unmittelbar am Stadtrand von Tel Aviv, von wo aus man die Straße nach Haifa überblicken konnte.
Die Ausbildung war gründlich und konzentriert. Nachdem er sie durchlaufen hatte, sollte Ari in der Lage sein, jede Information, die er bekam, unbemerkt und in der jeweils vorgeschriebenen Weise an die richtigen Leute in der Organisation weiterzuleiten. Obwohl David nichts mehr darüber gesagt hatte, war sich Ari jetzt sicher, daß er diesen Spezialauftrag in den USA durchführen würde. Ansonsten hätte der Mossad wohl kaum soviel Zeit und Mühe auf seine Ausbildung verwandt.
Ideologische Diskussionen bildeten den Rahmen für den praktischen Unterricht des jeweiligen Tages und füllten beinahe jeden Abend aus. Ari erfuhr, daß Israel zwar dankbar war für die Hilfe, die es bisher von den Vereinigten Staaten erhalten hatte, daß es jedoch befürchtete, sein alter Verbündeter würde es nach und nach im Stich lassen. Den Rekruten wurde gesagt, daß es in den Vereinigten Staaten gewisse Elemente gäbe, die die bloße Existenz Israels als eine Bedrohung sowohl des Friedens im Mittleren Osten als auch der versprochenen Neuen Weltordnung betrachteten. Der Mossad war fest davon überzeugt, daß solche Gruppierungen gemeinsam mit den Arabern hinter den Kulissen die Vernichtung Israels planten.
Der Einfluß von Außerirdischen wurde nicht erwähnt. Offenbar war dieses Thema, das Ari beschäftigte, seit David es das erste Mal angeschnitten hatte, noch zu geheim, um außerhalb des innersten Kreises des Mossad darüber zu sprechen. Ihm hatte man nur wegen seiner Beziehung zu Carla davon erzählt und weil der Mossad hoffte, durch ihn an Informationen von Carla heranzukommen. David behauptete, sie hätte unmittelbar und persönlich mit den Entwicklungen in dem CIA-Labor zu tun. Aber Ari konnte kaum glauben, daß Carla noch auf andere Weise beteiligt sei als in ihrer Funktion als Journalistin. War es möglich, daß sie mit den Neun zusammenarbeitete,
denselben Außerirdischen, von denen Elor behauptete, er sei ihr Repräsentant? Falls das stimmte, was war dann mit den „Lebensversicherungsunterlagen“, die Ari ihr gegeben hatte? Es schien unmöglich zu sein, das Netz der Intrigen, das man um ihn herum gewebt hatte, aufzulösen.
Nach Aussage seiner politischen Instruktoren beim Mossad wuchs in den USA die Überzeugung, daß Israels Militär so stark geworden sei, daß es eine Bedrohung des Weltfriedens darstelle. Seine atomaren Möglichkeiten verursachten die größten Sorgen. Niemand glaubte, daß Israel sein Arsenal an Atomwaffen aufgeben würde, selbst dann nicht, wenn die Araber versprechen sollten, daß sie sein Existenzrecht anerkennen würden. Und es glaubte auch niemand in den USA oder sonstwo, daß die Araber, falls sie solch ein Versprechen der Anerkennung und der friedlichen Koexistenz geben sollten, wirklich dahinter stünden. Und doch wurde Israel dafür kritisiert, daß es auf einen so selbstmörderischen Handel nicht eingehen wollte. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß seine Lehrer vom Mossad ein verzweifeltes „Alle sind gegen uns“ - Gefühl vermittelten und von denen, die sie so sorgfältig ausbildeten, einen fanatischen Einsatz für Israels Sicherheit erwarteten.
Als Ari nach Jerusalem zurückkehrte, setzte David seine hochspezialisierte und lehrreiche politische Fortbildung, die einmal wöchentlich stattfand, fort. Das meiste von dem, was David erzählte, war für Ari nicht gerade neu. Aber seine Interpretation der Fakten war einzigartig. Er analysierte und erklärte die Bedeutung von Geschehnissen, mit denen Ari als Professor der Politischen Wissenschaften zwar mehr oder weniger vertraut gewesen war, deren verborgene Bedeutung er aber selbst als Nachrichtenanalytiker nicht erkannt hatte. Er hatte jedenfalls die einzelnen Informationen nicht auf so verständige und faszinierende Weise miteinander in Verbindung gebracht, wie David das jetzt tat.
„Der Kalte Krieg ist out, Kooperation ist in“, begann David eines abends, als er etwa eine Woche nach Aris Rückkehr auf einen Besuch vorbeikam. „Die Frage ist nur, warum. Jede Partei in diesem Spiel hat ihre eigenen Gründe. Die Sowjets arbeiten mit dem Westen zusam-
men, um die Neue Weltordnung zu errichten — zumindest sieht es so aus. Beide hofieren sie die Moslems, die ihre eigenen Pläne zur Eroberung der Welt haben. Wenn sie dieses Ziel aufgeben sollten, müßten sie auch den Islam und Mohammed aufgeben, und das ist äußerst unwahrscheinlich.“
Ari nickte und hörte genau zu. Diese rasche Analyse nahm ihn vollkommen gefangen. „Aber es gibt noch eine vierte Gruppe“, fuhr David leicht geheimnisvoll fort, „die möglicherweise noch mächtiger und eventuell auch gefährlicher ist als der Islam. Sie übt sowohl im Osten als auch im Westen hinter den Kulissen starken Einfluß aus, und auch sie hat ihren eigenen Plan, die Welt zu beherrschen.“ Er hielt kurz inne, damit Ari über seine Worte nachdenken konnte.
„Ein weiterer Mitspieler ... vielleicht noch mächtiger, als der Islam?“ Ari grübelte kurz darüber nach und zuckte dann mit den Schultern. „Ich habe da meine eigenen Vorstellungen ... aber du würdest mir wahrscheinlich nicht zustimmen. Sag mir lieber, an wen du denkst.“
„Ich werde dir einen Hinweis geben. Er ist etwa genauso groß wie der Islam — beinahe eine Milliarde Menschen. Die beiden haben sich jahrhundertelang bekämpft, aber jetzt führen sie einen ,Dialog’ darüber, was für Gemeinsamkeiten sie besitzen.“
„Also denken wir doch dasselbe!“ erwiderte Ari. „Du mußt die katholische Kirche meinen. Habe ich recht?“
„Genau. Sie ist die größte und mächtigste christliche Kirche der Welt, und sie hat Israel niemals als Nation anerkannt. Genau wie der Islam verweigert sie Israel das Existenzrecht.“
„Das ist schon seltsam, nicht wahr?“ sagte Ari nachdenklich. „Die Christen benutzen dieselben hebräischen Schriften, und sie haben Israel schon immer am meisten unterstützt.“
„Bisher war es so, aber das ändert sich. In letzter Zeit haben sich selbst absolute Fundamentalisten unter den Christen gegen Israel gewandt. Aber mit der katholischen Kirche war es schon immer so
„Jetzt sprichst du von etwas, was ich schon in Frankreich sehr intensiv untersucht habe“, sagte Ari sehr erfreut. „Ich habe keinen Zweifel daran, daß der Papst zur Zeit der mächtigste Führer der Welt ist. Bush und Gorbatschow konsultieren ihn jede Woche ... sie arbeiten bei der Errichtung ihrer Neuen Weltordnung sehr eng zusammen, genauso, wie sie es taten, um die Solidarität zu retten und den Kommunismus in Osteuropa zu stürzen.“
„Aber trotz der scheinbaren Zusammenarbeit in dieser Phase des Planes hat jeder von ihnen seinen eigenen Plan“, warf David ein.
„Genau. Und ich denke, wenn es um die Macht geht, ist der Papst eindeutig im Vorteil!“
„Ja, da sind wir einer Meinung. Rom hat vor, seine eigene Weltregierung aufzurichten — das ,Königreich Gottes’ mit dem Papst an der Spitze.“
„Diese Idee stammt aus dem Mittelalter“, sagte Ari, „und jetzt taucht sie wieder auf, um uns heimzusuchen. Unglaublich! Ich bin sicher, daß sich Israel deswegen Sorgen macht.“
„Sogar sehr große Sorgen. Die katholische Kirche blickt auf eine lange Tradition des Antisemitismus zurück. Sie behauptet, sie sei das wahre Israel und habe den göttlichen Auftrag, die Welt zu regieren. Deshalb hat sie Israel nie anerkannt.“
„Ich glaube, der normale Katholik weiß gar nichts davon“, meinte Ari.
„Da hast du wahrscheinlich recht... und deshalb muß der Papst mit Hilfe katholischer Geheimorganisationen arbeiten. Ihr Einfluß reicht bis in die höchsten Ebenen der Macht in aller Welt. Selbst hier in Israel sind ihr Reichtum und ihr Einfluß am Werke — offen und auch insgeheim.“
Ari nickte. „Ich habe Nachforschungen über einige dieser Organisationen angestellt. Es gibt Dutzende von ihnen.“
„Es sind die größeren, die uns Sorgen machen.“ Davids Stimmung und Ausdrucksweise waren ernst geworden. „Die drei großen beunruhigen uns am meisten: Die Jesuiten, Opus Dei und der Malteserorden.“
„Ich hatte gerade begonnen, mich intensiv mit den Maltesern zu beschäftigen“, sagte Ari. „Ich habe ihre Geschichte studiert und was sie jetzt tun. Ich weiß, daß sie ein wichtiger Faktor sind, nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika, Nord wie Süd, besonders in den Vereinigten Staaten. Aber ich habe mich nie für ihre Beziehung zu Israel interessiert. Sind sie anti ...“
„Ist der Papst katholisch?“
„Wie, ist es so eindeutig?“
David nickte nachdrücklich. „Einige besonders interessante Vorfälle aus ihrer Geschichte sind dir wahrscheinlich bekannt ...“
„Sprich weiter. Im Moment fällt mir nichts ein. Ich weiß nicht, woran du speziell denkst.“
„Laß uns ein paar Beispiele aus den Akten des Büros nehmen.
Gegen Ende des 2. Weltkrieges nahm das Büro für Strategische Dienste — der Vorläufer des CIA, kurz OSS — Kontakt mit Reinhard Gehlen auf, der damals Hitlers Leiter des Geheimdienstes (der Schutzstaffel oder auch SS genannt) an der Ostfront war. Das Ergebnis dieses Treffens war ein geheimes Abkommen, in dem das OSS die Kontrolle über ,die Organisation Gehlen’ übergeben wurde. Nach dem Krieg wurde daraus dann der Nachkriegsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland, der BND.“
„Ich erinnere mich“, sagte Ari. „Unglaublich! Aber mach’ weiter.“
„Das OSS und der BND“, fuhr David fort, „arbeiteten zusammen, um einen unverschämten Betrug mit dem Decknamen ,Projekt Büroklammer’ aufzuziehen. Ein reicher Industrieller in Amerika, ein Malteser, war auch daran beteiligt. Vergiß nicht, dies geschah im gerade besiegten Nazideutschland, das voll von Menschen war, die sich in unterschiedlichem Maße der Mittäterschaft beim Mord an sechs Millionen Juden und Millionen von Nicht-Juden schuldig gemacht hatten. Bei dem 'Projekt Büroklammer’ ging es darum, circa 900 deutsche Wissenschaftler in die USA zu schmuggeln.“
Ari nickte ernst. Er wurde langsam wütend. „Ja. Viele von ihnen haben sie den Russen direkt unter der Nase weggeschnappt, bevor die sie in die Sowjetunion bringen konnten. Die ermordeten Juden waren da nicht so interessant. Andere Dinge waren viel wichtiger, ganz besonders das Raumfahrtprogramm der USA ... und das hatte zur Folge, daß bei den Verhandlungen in Nürnberg eine ganze Reihe von Angeklagten und Zeugen fehlten.“
„Richtig. Aber das Interessanteste ist die Rolle, die die katholische Kirche bei dieser scheußlichen Schweinerei gespielt hat“, fuhr David fort. „Gelilens Bruder — denk dran, Gehlen war der Leiter der SS an der Ostfront und arbeitete stark mit dem amerikanischen OSS, dem heutigen CIA, zusammen — war der Sekretär eines hochrangigen Funktionärs im Hauptquartier des Malteserordens in Rom. Ein weiterer Handel wurde ausgemacht: mit Hilfe der Malteser sollten Tausende von Nazis, viele von ihnen Kriminelle, wie zum Beispiel der berüchtigte Klaus Barbie, nach Südamerika fliehen. Eine Reihe von katholischen Mönchs- und Nonnen-Klöstern dienten als Zufluchtsorte entlang der heimlichen Fluchtroute, der sogenannten ,Rattenstrecke’, über die diese Nazis in die Freiheit gelangten.“
„Ich glaube, mein Blutdruck steigt“, murmelte Ari ärgerlich. „Erst der Holocaust... und jetzt das! Was du da erzählst, ist mir nicht ganz
unbekannt, aber ich habe nie viel darüber gelesen. Ich hatte kein Interesse ..
David sah ernst aus. „Alles, was ich dir hier erzähle, ist von vorn bis hinten belegt. Ich könnte dir aus den Unterlagen des Büros jede Menge Einzelheiten geben, einschließlich mehrerer hundert Namen. Baron Luigi Parrilli, ein Malteser, der an den Verhandlungen für dieses Abkommen beteiligt war, Prinz Valerio Borghese ... und so weiter. Aber die Namen sind heute nicht mehr wichtig. Borghese ist übrigens vom OSS davor bewahrt worden, für Kriegsverbrechen eingesperrt zu werden, die vom italienischen Widerstand begangen worden waren. Es ist kein Zufall, daß er bei den Maltesern einen hohen Rang bekleidete. Sein genauer Titel lautete ,Verwalter des großen Kreuzes der Ehre und des Eifers’.“
David stand auf und begann, auf und ab zu gehen, während er weitersprach: „Und jetzt hör dir das mal an. Borghese verlieh dem SS-Führer Gehlen und gewissen amerikanischen Führungspersönlichkeiten das Große Malteserkreuz. Unter den amerikanischen Empfängern dieser Auszeichnung befand sich Myron C. Taylor, Präsident Harry Trumans Gesandter im Vatikan.“ Er wandte sich Ari zu, und der Ärger stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich denke, das sind jetzt genügend Einzelheiten dieser Art. Sie sind nicht wichtig. Ich wollte nur, daß du einen Eindruck von der Macht, dem widerlichen Doppelspiel, der Kooperation mit den Nazis und dem anti-jüdischen Vorurteil der katholischen Kirche und besonders der Malteser bekommst.“
„Kein Wunder, daß die Israelis glauben, die ganze Welt sei gegen sie“, brummte Ari wütend, mehr für sich als an David gerichtet.
„Verstehst du jetzt, warum wir niemandem trauen? Wenn wir überleben wollen, müssen wir in der Lage sein, uns gegen die ganze Welt zu verteidigen.“
Ari nickte. „Aber jetzt sagst du, Außerirdische seien an diesem ganzen Zeug beteiligt ... und sie würden mit den Amerikanern Zusammenarbeiten. Welche Verteidigungsmöglichkeiten haben wir gegen sie? Und auf wessen Seite stehen sie?“
„Ich weiß es nicht. Es ist wie ein Puzzle, und bisher konnten wir die einzelnen Teile noch nicht zusammenfügen. Die Amerikaner und die Sowjets arbeiten jetzt zusammen, wie sie es nie zuvor getan haben. Aber sie hintergehen einander auch. Das sowjetische Militär und der KGB haben trotz Gorbatschow ihre eigenen Pläne. Mit dem Papst ist es auch nicht anders. Jeder der Rivalen manövriert hinter den Kulis-
sen, um an Ende der Sieger zu sein. Die Außerirdischen arbeiten im Moment mit dem CIA zusammen, aber auch sie haben offensichtlich ihre eigenen Pläne. Und obwohl wir nicht genau wissen, was sie Vorhaben, kannst du sicher sein, daß sie Israel nicht wohlgesonnen sind. Die Gründe für diese Annahme habe ich dir ja bereits genannt.“ David setzte sich wieder. Er sah aus, als habe er sich einer Last entledigt und sei jetzt erschöpft. Eine lange, nachdenkliche Stille folgte. Schließlich stellte Ari jene Frage, vor der er sich gefürchtet hatte. Aber er mußte es jetzt einfach wissen.
„Die Außerirdischen“, sagte An und versuchte, unbeteiligt zu klingen, „haben sie irgendeinen Namen?“
„Ja, ,die Neun’ ... oder auch ,Archonten’“, erwiderte David ohne zu zögern. „Diese Information ist noch ziemlich neu, und sie hat irgendeine mysteriöse Bedeutung, die wir noch nicht genau kennen.“ Die Neun ...! Oh, mein Gott! Aris schlimmste Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Er wandte sich rasch ab, um seine Bestürzung zu verbergen. Hoffentlich hatte David seine Reaktion nicht bemerkt.
„Hör mal, erwähne das niemandem gegenüber“, sagte David noch, „nicht einmal innerhalb des Büros. Wir haben einen Spion in dem geheimen Forschungslabor. Du mußt das wissen, denn du mußt mit ihm Kontakt aufnehmen, wenn du dort hinkommst.“
38. Ein gefährlicher Auftrag
Yakov hatte untätig mit geschlossenen Augen in seinem Lieblingsschaukelstuhl gesessen und dabei genau zugehört, was David Ari erzählte. Jetzt erwachte er zum Leben, setzte sich aufrecht hin und wandte sich unvermittelt an Ari. „Laß die Finger davon! Der CIA wird reingelegt. ,Die Neun’ sind keine Außerirdischen.“
„Komm, Yakov“, erwiderte David unsicher, „bring uns nicht wieder vom Thema ab mit dieser Dämonen-Sache ... ja?“
„Du hörst jetzt zu, was ich zu sagen habe“, gab Yakov ungeduldig zurück, „denn du wirst dabei etwas lernen. Ich habe früher Kabbala praktiziert. Das ist tiefster Okkultismus. Und ich sage euch, daß ,die Neun’ in diesen Kreisen wohlbekannt sind. Sie nehmen schon seit Jahrhunderten in Seancen Kontakt mit Medien auf.“
”So?“
„Sie haben sich bis vor kurzem niemals als Außerirdische ausgegeben. Sie sagten, sie seien ,aufgefahrene Meister’, die vor Tausenden von Jahren gelebt haben. Erst später behaupteten sie, sie seien hoch-entwickelte Außerirdische ... aber sie werden immer noch auf dieselbe Weise ,gechannelt’, nämlich durch Medien.“
„Nenne uns ein Beispiel“, verlangte David.
„Es waren die Neun, die Andrija Puharich, einen amerikanischen Mediziner, dazu brachten, sich mit Parapsychologie zu beschäftigen, und sie brachten ihn in Kontakt mit Uri Geller. Die Neun waren sogar in einem Vorlesungskatalog von Esalen aufgeführt. Sie sollten durch ein dort ansässiges Medium Gestalttherapie unterrichten ...“ „Esalen?“ fragte David.
„Ja, ich habe davon gehört“, meinte Ari. „Habe das Seminar sogar beinahe besucht, als ich einmal in Kalifornien war. Aber ich hatte zuviel in Stanford zu tun. Es ist so eine Art geistiges Austausch- und Schulungszentrum der New Age-Bewegung in der Nähe von San Francisco. Von dort ging auch die ,Human Potential-Bewegung’ aus.“ „Richtig“, fuhr Yakov fort. „Jeder, der sich im Okkultismus auskennt, würde dir sagen, daß die Neun schon seit Jahrhunderten als Geister bekannt sind, nicht als Außerirdische.“
„Aber daß sie denselben Namen tragen, muß doch nicht unbedingt bedeuten, daß sie auch dieselben Wesen sind“, wandte Ari ein. Yakov schüttelte den Kopf. „Glaubst du wirklich, daß diese ,Außer-
irdischen’, wenn sie wirklich so mächtig sind, zulassen, daß andere Wesen ihren Namen benutzen und solche Verwirrung stiften?“
„Ich habe immer gemeint, Seancen seien nur Betrug“, warf David ein. Aber er klang nicht sehr überzeugt.
„Die meisten sind es auch“, stimmte Yakov zu, „aber nicht alle. Jeder Grundschüler in Israel kann euch sagen, daß die Thora Seancen und jeden Versuch, Kontakt mit ,Geistern’ aufzunehmen, verbietet. Erinnert euch an König Saul. Er ging zur Hexe von Endor, und seine Beschäftigung mit dem Okkulten brachte Vernichtung über ihn und seine Armee. Wenn der CIA damit weitermacht, wird ihn dasselbe Schicksal ereilen!“
„Und warum verbietet die Thora Seancen?“ fragte Ari, der sich trotz seiner Abneigung gegen die Bibel langsam für das Thema zu interessieren begann.
„Weil, wie ich bereits neulich versucht habe, euch beiden zu erklären, die ,Geister’, mit denen in Seancen Kontakt aufgenommen wird — und auch diese angeblichen Außerirdischen, an die die Wissenschaft glaubt — in Wirklichkeit Dämonen sind, die auf Täuschung und Zerstörung versessen sind!“
Ein langes Schweigen folgte. David und Ari tauschten verlegene Blicke aus, sagten jedoch nichts. Sie schienen Yakovs Erklärungen über Dämonen endlich zum ersten Mal etwas ernster zu nehmen.
„Die Neun werden übrigens im Neuen Testament erwähnt ... sie werden im Griechischen sogar ,die Archonten’ genannt.“
„Du willst uns einen Bären aufbinden“, lachte Ari. „Kapitel und Vers bitte, okay?“
„Lacht nur, wenn ihr wollt, aber ich warne euch ...“ Yakov blickte wie ein Lehrer, der seine Schüler schilt, über die Brillengläser hinweg. „,Die Archonten’ ist ein griechischer Ausdruck, den einer der größten Rabbis Israels benutzt, Saulus von Tarsus. Er lebte im ersten Jahrhundert und haßte die Christen leidenschaftlich. Er warf sie ins Gefängnis und ließ sie töten. Dann wandelte er sich plötzlich um 180 Grad ... wurde einer der bedeutendsten Christen aller Zeiten ... der Apostel Paulus.“
„Warum diese plötzliche Veränderung?“ fragte Ari. David sah aus, als werde ihm das Thema immer unangenehmer. Offenbar paßte es ihm gar nicht, daß Yakov ständig die Religion ins Spiel brachte.
„Er behauptete, Jesus hätte ihm bewiesen, daß er auferstanden sei, indem er ihm persönlich erschienen sei“, sagte Yakov, „und er begann zu predigen, daß Jesus Israels Messias sei.“
„Und du glaubst ihm?“ fragte Ari.
„Ein Zeugnis wie dieses würde von jedem Gericht anerkannt werden! Man muß entweder blind oder pervers sein, um es einfach in Abrede zu stellen. Die jüdische Geschichtsschreibung gibt zu, daß Saulus, ein führender Rabbi, der die Christen haßte und verfolgte, plötzlich einer der ihren wurde und sich selbst der Gefangenschaft und schließlich sogar dem Märtyrertod aussetzte. Warum? Es erscheint unlogisch, es sei denn, seine Geschichte ist wahr.“
„Es hätte ein Hirngespinst sein können ... eine Halluzination.“
Yakov lächelte geduldig. „Saulus von Tarsus war kein Träumer. Er war ein brillanter Mann, ein dickköpfiger Rabbi und ganz und gar gegen das Christentum. Um ihn so plötzlich und vollständig zu verändern, war etwas Übernatürliches nötig. Sein Leben und seine Lehren haben die Menschheit stärker beeinflußt, als sonst irgend jemand, ausgenommen Jesus selbst. Es ist nicht logisch, zu sagen, das sei alles auf Spinnerei gegründet. Er mußte absolut zweifelsfrei davon überzeugt sein, daß Jesus von den Toten auferstanden war und daß er Israels Messias sei... oder er wäre auf gar keinen Fall einer jener Gläubigen geworden, die er so haßte.“
David hatte Yakov mit wachsendem Ärger zugehört. „Willst du auf diese Weise verkünden, daß auch du, genau wie Saulus, glaubst, Jesus sei Israels Messias?“ wollte er wissen.
„Das habe ich dir schon früher gesagt“, erwiderte Yakov ruhig.
„Du hast es angedeutet.“
„Nein, ich habe es dir gesagt — aber du wolltest es nicht hören.“
„Wenn das bekannt wird“, gab David bestürzt zurück, „wird das ein schrecklicher Schlag für das Militär sein. Einer von Israels letzten lebenden Helden aus allen fünf Kriegen verrät sein Land ...“
„Es ist kein Verrat!“ entgegnete Yakov schnell. „Du vergißt ständig etwas ... Jesus war ein Jude!“
„Hört mal“, unterbrach Ari, „wir haben über Außerirdische gesprochen. Du hast diesen Saulus von Tarsus erwähnt, weil er etwas über die Neun gesagt hat.“
„Ich wäre gleich darauf gekommen“, sagte Yakov und lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück. „In einem seiner Briefe an die ersten Christen erwähnt der Apostel Paulus diese Wesen.“
„Erzähl’ uns davon.“
Yakov begann, aus der offenen Bibel vorzulesen, die er in der Hand hielt. „,Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher die-
ser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt.’ Das griechische Wort, das Paulus für ,Weltbeherrscher’ benutzt, ist kosmo-kratoras, ein Beiname Satans. Und das Won für ,Gewalten’ ist archä — oder Archonten.“
„Er hat also vor 1900 Jahren etwas über die Archonten geschrieben?“ Ari war erstaunt.
„Genau. Und das, was er sagte, erklän einiges über sie. In den Tagen des Paulus wurden die neun Ratsherren, die Athen regierten, Archonten genannt, und deshalb nennen sich diese Wesen ,die Neun’ ...“
„Also waren die Neun Menschen und keine Außerirdischen“, unterbrach David. „Ich sehe da keinen Zusammenhang.“
„Laß mich ausreden. Paulus sprach über Satan und seine Dämonen ... und er sagte, daß es eine Hierarchie von neun Dämonen gibt, die das Böse, das diese Welt beherrscht, regieren, genauso wie es eine Hierarchie von neun Männern gab, die Athen regierten. Und er argumentierte, daß nicht andere Menschen, sondern diese bösartigen Wesen die wirklichen Feinde der Menschheit seien.“
„Wie willst du das belegen?“ fragte Ari, der jetzt neugierig geworden war.
„Sieh das Won in irgendeinem Wörterbuch nach“, gab Yakov mit zuversichtlichem Lächeln zurück.
„Das werde ich tun!“
Eine Zeitlang war es still. Ari bemerkte, daß David ihn aufmerksam beobachtet hatte.
„Sag mal“, fragte David schließlich, „warum ist dir der Name ,Archonten’ so wichtig?“
„Ich finde ihn faszinierend“, erwiderte Ari rasch und tat so, als sei er völlig ruhig. Sollte er ihm die Wahrheit sagen? Er war zur Geheimhaltung ermahnt worden. Aber war er Elor auf irgendeine Weise verpflichtet? Er sah zu Yakov hinüber. „Du mußt es für wichtig halten, sonst hättest du uns nicht diese lange Erklärung gegeben. Richtig?“
Yakov antwortete nicht. Auch er schien Ari mit ungewöhnlichem Interesse zu beobachten.
„Da steckt doch mehr dahinter“, beharrte David. „Was ist es?“
„Ich war mir nicht sicher, ob ich es euch sagen sollte. Einer der Neun ... nehme ich an ... zumindest behauptete er, daß er das sei ... hat bereits Kontakt mit mir aufgenommen.“
„Wann war das?“ fragte David scharf. „Du hättest es sofort melden müssen!“
„Ich wurde zur Geheimhaltung verpflichtet.“
„Du hast keine Geheimnisse vor dem Büro!“
„Das war lange, bevor ihr mich angeworben habt... bevor ich überhaupt wußte, daß du für das Büro arbeitest.“
„Aber jetzt gehörst du zu uns. Also los, berichte.“
„Sie sind mir fast mein ganzes Leben lang in meinen Träumen erschienen, haben versucht, meine Gedanken zu kontrollieren ... und ich habe dagegen angekämpft. Manchmal bin ich fast verrückt geworden. Den ersten ,wachen’ Kontakt, also nicht im Traum, gab es vor etwa 30 Jahren in Ost-Berlin. Der nächste folgte einige Jahre später in Paris. Das dritte Mal war vor ungefähr vier Monaten, hier in Jerusalem. Ein gut gekleideter israelischer Geschäftsmann kam auf der Straße auf mich zu ..
„Mittelgroß, etwa 40 Jahre alt, in einem beigen Leinenanzug?“ fragte David ungläubig. „Und er verschwand plötzlich?“
„Ja“, antwortete Ari erstaunt. „Woher weißt du das?“
„Einige von meinen Männern waren dir gefolgt. Das war noch, bevor du uns entdeckt hattest. Sie wußten weder, woher dieser Kerl gekommen war — sagten, er sei plötzlich erschienen —, noch, wohin er gegangen war. Sie behaupteten, er sei einfach verschwunden. Ich habe ihren Bericht nicht geglaubt und sie fertiggemacht. Einen hätte ich beinahe entlassen. Sie sagten, eine große weiße Taube sei auf seinem Kopf gelandet, als er mit dir sprach, und dann sei sie verschwunden.“ „Also haben es deine Männer auch gesehen!“ rief Ari aus. „Dann verliere ich also nicht den Verstand. Das ist noch nicht alles, was der Kerl getan hat. Er zog einen großen Stein aus einem Gebäude, ohne ihn zu berühren, und tat ihn dann wieder an seinen Platz zurück. Eine Flamme sprang plötzlich aus seiner Handfläche empor. Es war nicht vorgetäuscht. Ich konnte die Hitze spüren. Unglaublich — aber ich habe es gesehen!“
„Und er sagte, er sei ein Archont?“
„Ja. Er nannte sich ,Elor, einer der Neun’. Er konnte meine Gedanken lesen. Ich bin so gut wie tot, wenn ich ihn hintergehe. Wie soll ich Carla dazu bringen, mir Informationen über die Neun zu geben, ohne daß sie wissen, was ich tue? Wahrscheinlich wissen sie bereits, was wir Vorhaben. Es ist unmöglich, sie zu bekämpfen!“
„Sagte er, daß er wieder Kontakt mit dir aufnehmen würde?“ fragte David.
Ari nickte. „Bald. Aber ich weiß nicht, wo oder wann.“
„Gut. Wenn er das tut“, sagte David vorsichtig, „versuche es ganz direkt. Frage ihn, was sie mit dem CIA Vorhaben. Vielleicht sagt er es
dir. In der Zwischenzeit arbeite weiter an Carla. Du machst gute Fortschritte, wenn man nach den Briefen geht, die sie schreibt. Aber es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir glauben, daß bald etwas Wichtiges passieren wird.“
Ari gab keine Antwort. Wie war er nur in diese Sache hineingeraten? Er arbeitete für den Mossad ... und gleichzeitig für die Neun. Nach Davids Meinung waren sie gegen Israel ... und doch planten sie, ihn zu benutzen, um Israel von seiner Täuschung, das „auserwählte Volk“ zu sein, und vom Zionismus zu befreien. Das klang gerechtfertigt und heilsam. Es war die einzige Möglichkeit, im Mittleren Osten Frieden zu erreichen. Der Mossad mußte falsch informiert sein.
Davids besorgte Stimme brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. „Ich weiß, was du denkst. Es ist ein ungewöhnlich gefährlicher Auftrag. Aber wir werden dir das nötige Training geben ... und die nötige Unterstützung ... damit du ihn erfolgreich ausführen kannst.“ Yakov schnaubte mißbilligend. „Du willst ihn gegen Dämonen antreten lassen! Er braucht Gottes Schutz, nicht irgendeine sinnlose Spionageausbildung!“
„Ich schätze deine Sorge, Yakov“, sagte David ruhig, „aber nicht deine Einmischung in die Angelegenheiten des Büros.“
Yakov ließ sich nicht einschüchtern. „Ich warne euch beide. Ihr habt es mit Dämonen zu tun! Satan bereitet die Welt für den Antichristen vor — und Israel ist ein besonderes Ziel seiner Verführung. Es wird auf clevere Weise getäuscht werden, so daß es seinen Feind als den Messias empfängt... nur, weil er ihm Sicherheit garantieren und Frieden bringen wird!“ Hier sah er mit großer Sorge Ari an. „Und du könntest durchaus eine Rolle bei der Vernichtung Israels spielen.“
„Jetzt ist es aber genug mit deiner religiösen Macke, Yakov!“ David sprang auf und stürmte aus dem Zimmer. In dem kleinen Eingangsbereich blieb er kurz stehen und rief Ari zu: „Vergiß nicht deine Hausaufgabe. Ich melde mich später bei dir.“ Er warf die Tür hinter sich zu und war verschwunden.
„Ich werde Spazierengehen“, sagte Ari und stand auf. „Ich weiß, du meinst es gut, aber ich habe es satt, daß du mir ständig deine Religion aufdrängst. Ich dachte, du hättest das inzwischen aufgegeben.“ Yakov sah Ari mitfühlend an. „Es tut mir leid, daß du es so empfindest. Ich würde nie versuchen, dir etwas aufzudrängen. Es ist deine Entscheidung. Aber ich warne dich — steige nicht ohne Gottes Schutz in diese Sache ein. Falls du das tust ... bist du erledigt. Verlaß dich drauf!“
39. Wieder fest im Sattel
Als Ari nach Hause kam, war Yakov, der sich in der Regel schon früh zurückzog, bereits im Bett und schlief fest. Ari konnte sein typisches pfeifendes Schnarchen hören, als er auf Zehenspitzen durch den Flur zu seinem eigenen Zimmer ging. Der alte Mann mochte ja ein Exzentriker sein, aber seine Religion hatte ganz offensichtlich sein Gewissen reingewaschen und ihm inneren Frieden gegeben. Er schien immer gleich einzuschlafen und schlief die ganze Nacht tief und fest — und seit Ari ihn kannte, hatte er kaum je irgendeine Sorge geäußert. „Der Wille des Herrn ist immer das Beste“, war seine Standardantwort, wann immer ein Problem auftauchte.
Im Gegensatz dazu lag Ari in jener Nacht lange wach und versuchte, die Einzelteile des Puzzles zusammenzusetzen. Er befand sich jetzt in der zwar unangenehmen, aber auch anregenden Lage, ein Doppelagent zu sein. Das Leben hatte wieder einen Sinn ... und es war wieder aufregend. Es liebte das. Gefahr war nichts, wovor man sich fürchten mußte; es war eine Herausforderung, der man sich stellen und die man meistern mußte. Was ihn jetzt beunruhigte, war die Frage, wie er die Dinge anpacken sollte, die vor ihm lagen, und so lag er wach im Bett und drehte und wendete die verwickelte Situation in seinen Gedanken hin und her.
Er hatte den Auftrag des Mossad aus Loyalität seinem neuen Heimatland gegenüber angenommen, und auch, weil er etwas Sinnvolles tun wollte. Nun erwies sich dieser Auftrag als weit gefährlicher und wichtiger, als er sich vorgestellt hatte. Und als er erfuhr, daß er dabei sowohl den CIA als auch dessen Mentoren, die Neun, ausspionieren mußte, die seit seiner frühesten Kindheit über ihn wachten, war es bereits zu spät. Diese mysteriösen Wesen, die behaupteten, daß sie das Universum kontrollierten, hatten ihn als Israels „Messias“ ausgewählt, der das Land so führen sollte, daß es seinen Platz in der Neuen Weltordnung einnahm. Sie behaupteten sogar, dafür hätten sie ihn nach Israel gebracht.
Der Gedanke an einen Retter — er hatte Nicoles Glauben an Jesus als messianische Verrücktheit bezeichnet — war zuerst abstoßend gewesen. Aber mit der Zeit und je besser er den arabisch-israelischen Interessenkonflikt verstand, erschien dieser Gedanke immer sinnvoller. Und nachdem Elor seine unglaublichen Kräfte demonstriert hatte, hatte er kaum noch Zweifel, daß die Neun dafür sorgen könnten, daß
es so käme — einschließlich der „Auferstehung“, die Elor erwähnt hatte —, falls sie das so wollten. Natürlich mußte man diesen Gedanken nicht wörtlich nehmen. Aber es würde so sein, „als ob“ er von den Toten zurückgekommen wäre. Was auch immer sie täten, es würde sicherlich eindrucksvoll werden.
Der Mossad dagegen war davon überzeugt, daß die Neun gegen Israel seien, ja, daß sie es sogar vernichten wollten. Hieß das, daß die Neun ihn betrogen? Benutzten sie ihn vielleicht für eine List, durch die Israel schließlich vernichtet werden würde? Was war die Wahrheit? Konnte er es wagen, Elor bei ihrem nächsten Treffen mit dieser Frage zu konfrontieren? Aber kannte Elor nicht bereits seine Gedanken — und wußte somit bereits, daß er zugestimmt hatte, gegen die Neun für den Mossad zu arbeiten? An überlegte sorgfältig, was für Möglichkeiten er hatte.
Und um alles noch verwirrender zu machen, schwor Yakov, daß die Archonten Dämonen seien und daß Ari ohne Gottes Schutz „erledigt“ wäre, wenn er sich überhaupt mit ihnen einließe. David hatte versprochen, daß der Mossad ihn bei diesem Auftrag schützen würde. Aber nach dem, was Ari bereits gesehen hatte, schien es nicht menschenmöglich zu sein, den Neun zu trotzen. Der Mossad würde also genauso erledigt sein. Dennoch: sein Wahlspruch, den er sich als Teenager zu eigen gemacht hatte, der ihm geholfen hatte, mit einem gewalttätigen Stiefvater zu leben und der seitdem sein Leben geleitet hatte, war: „Gib dich niemals geschlagen. Mit genügend Mut und Köpfchen ist alles möglich!“ Das stimmte auch heute noch.
Jetzt stand er vor der größten Herausforderung seines Lebens. Sie war es wert, sich ihr zu stellen! Nachdem man ihn nach Israel gebracht hatte und sein Leben scheinbar in einer Sackgasse steckengeblieben war, erschien ihm die Zukunft plötzlich wieder hell. Vielleicht konnte er diesen Planeten ja doch noch auf mächtige Weise beeinflussen. Die Gelegenheit hatte bei ihm angeklopft, und nun mußte er sich entscheiden. Er fühlte sich weder dem Mossad noch den Neun gegenüber verpflichtet. Seine Loyalität gehörte der Menschheit. Er arbeitete für das Wohl aller Menschen. Und dafür würde er diese Doppelrolle spielen, dabei aber innerlich unabhängig und seinen eigenen Idealen treu bleiben. Es war ein großartiges Gefühl, wieder fest im Sattel zu sitzen!
Ari, der jetzt sicher war, daß das Leben wieder einen Sinn hatte und dessen Augenlider endlich schwer wurden, trieb einige Momente in jenem Niemandsland des Halbschlafs. Er sank gerade in den Schlaf, als ihn plötzlich das Erscheinen eines strahlenden Lichtes direkt neben
seinem Bett aufschreckte. Er richtete sich auf und war auf der Stelle hellwach. Es war mehr als nur ein Licht — eine überwältigende Gegenwart erfüllte das Zimmer!
„Du wolltest mich etwas fragen.“ Es war eher ein Befehl als die schlichte Feststellung einer Tatsache. Die Worte ertönten mit einer vibrierenden, beinahe melodischen Stimme aus dem strahlenden Glanz. Das Innere des Lichtes begann, eine Form anzunehmen. Elor! Obwohl er jetzt nicht als Mensch, sondern in einer durchscheinenden, transzendenten Gestalt erschien, war klar zu erkennen, daß er es war. „Nun, mein Sohn, habe keine Angst. Frage mich, was immer du willst!“
Trotz seiner tapferen Gedanken, daß er sich jeder Herausforderung stellen und sie meistern wolle, erkannte Ari, daß er jetzt mit etwas konfrontiert wurde, was nicht von dieser Erde war. Er hatte sich niemals auch nur vorgestellt, daß etwas so schrecklich sein könnte. Elors „habe keine Angst“ hatte seine Angst nur noch gesteigert. Sein Herz schlug heftig und sein Atem kam in kurzen, krampfhaften Stößen. Er versuchte, seine Atmung zu verlangsamen und seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. David hatte ihm vorgeschlagen, es auf die direkte Art zu versuchen. Warum nicht?
Schließlich brachte er die Worte heraus: „Die Neun arbeiten mit dem CIA zusammen. Stimmt das?“
„Unser Ziel ist die Erhaltung und das Wohl der Menschen auf diesem Planeten“, kam die ausweichende Antwort. „Wir haben keine Lieblinge. Ja, wir arbeiten im Augenblick mit dem amerikanischen Geheimdienst zusammen, aber irgendwann werden wir mit jedem einzelnen Menschen auf diesem Planeten in direktem Kontakt stehen. Der Mossad hat von uns nichts zu befürchten.“
„Sie meinen, du seist gegen Israel.“ Das war’s. Jetzt war er damit herausgeplatzt und mußte die Konsequenzen tragen.
„Es ist gut, daß du das gesagt hast. Der Mossad versucht, den Doppelmythos des ,auserwählten Volkes’ und des Zionismus zu verteidigen. Du selbst weißt, daß diese Täuschungen dem Frieden im Wege stehen. Wir sind Israels wahre Freunde, so, wie wir auch die Freunde der ganzen Menschheit sind. Hätten wir dich, einen Mann, der Israel jetzt liebt, ausgewählt, das Land in der Neuen Weltordnung zu führen, wenn wir nicht Israels Bestes im Sinn hätten?“
„Nein, sicherlich nicht.“ Ari fühlte sich ein wenig erleichtert. „Die Welt besteht nicht nur aus Israel, sie ist größer. Israel muß seinen Platz in der Familie der Nationen einnehmen, ohne zu erwarten, daß es
bevorzugt behandelt wird. Aber es sollte auch nicht das Ziel von besonderem Haß und Angriffen sein.“
„Gut gesprochen. Wenn Israel seinen Anspruch auf bevorzugte Behandlung fallen läßt, wird auch der Antisemitismus aufhören. Es gibt keinen ,Gott’ im Himmel. Und wenn es einen gäbe, warum sollte er Lieblinge haben? Warum sollte es irgendein ,auserwähltes Volk’ geben? Dieser Wunsch, vor allen anderen bevorzugt zu werden, ist die Wurzel aller Probleme auf Erden. Verstehst du das?“
„Ja. Ich sehe durchaus, daß du recht hast.“
„Eine weitere Ursache für Streitigkeiten ist die Eifersucht, die aus der Angst erwächst, andere könnten von Allah oder Jahwe oder irgendeinem sagenhaften ,Gott’ bevorzugt werden. Wir bevorzugen weder die Juden noch die Araber — und auch nicht die Amerikaner. Warum sollten wir auch? Wir sind so weit entwickelt, daß wir alle Macht und allen Besitz haben und nichts brauchen. Erdenwürmer besitzen keine Schätze, die sie uns anbieten könnten, um unsere Gunst zu erkaufen. Eine der Täuschungen der Religion liegt in dem Glauben, die ,Götter’ wollten angebetet werden und gäben Hilfe im Tausch gegen Geschenke. Wie töricht! Wir sind Götter ... und du bist es auch. Aber du und auch der ganze Rest der Menschheit, ihr seid noch nicht erwacht und habt eure eigenen Möglichkeiten noch nicht erkannt. Wir wollen und wir brauchen nichts von der Menschheit. Alles, was wir wollen, ist, eine Katastrophe zu verhindern, die das Karma der gesamten Galaxie zurückwerfen könnte. Das ist unsere Sorge.“
Es war eine lange Rede. Aber der Ton seiner Stimme war mitfühlend und aufrichtig gewesen. Alles klang logisch und beruhigte Aris Gedanken ein wenig. „Kann ich dem Mossad diese Botschaft mitteilen?“ fragte er Elor. „Es würde einige ihrer Befürchtungen verringern.“ „Nein. Erzähle niemandem von diesem Kontakt. Der nächste Kontakt wird schon bald stattfinden, und den magst du berichten — aber nicht diesen.“
„Kannst du mir irgend etwas Genaueres über eure Arbeit mit dem CIA mitteilen und welchen Nutzen sie haben wird ...?“
„Noch nicht“, unterbrach ihn Elor ungeduldig. „Du wirst bald in die Vereinigten Staaten reisen und es selbst sehen. Ich habe jetzt nicht den Auftrag, dich über diese Entwicklung zu informieren. Ich bin gekommen, um dich zu warnen.“
„Um mich zu warnen?“ fragte Ari besorgt.
„Ja — die Frau, in die du dich verliebt hast, täuscht dich. Du darfst
diese Beziehung nicht fortführen.“ Er schwieg kurz und fügte dann bitter hinzu: „Es ist nicht unsere Schuld, daß du sie oder ihren Großvater getroffen hast!“
„Nicht eure Schuld?“ fragte Ari vorsichtig. „Aber ich dachte, ihr hättet alles unter Kontrolle ...“
„Es gibt jemanden, der unser Feind ist ... und er ist auch dein Feind.“
„Von wem redest du?“
„Sie nennen ihn den Christus ... aber er ist ein Thronräuber. Eines Tages werden wir ihn vernichten. Aber bis dahin hat er viel Macht. Sie und ihr Großvater sind auf seiner Seite und arbeiten gegen uns. Du darfst ihren cleveren Lügen nicht glauben.“
„Willst du damit sagen, daß der, den sie ,den Christus’ nennen, tatsächlich hier in Israel gelebt hat... daß er eine historische Persönlichkeit ist?“
„Wir haben ihm damals denselben Auftrag gegeben, für den wir jetzt dich ausgewählt haben. Er sollte die Liebe zu aller Kreatur lehren, daß alle Menschen Brüder sind und daß in jedem einzelnen ein unbegrenztes Potential schlummert. Wir haben ihn in die zehnte Bewußtseinsstufe eingeweiht — so, wie unser Repräsentant in Kalifornien dich einweihen wird. Aber er nahm diese Macht und benutzte sie, um die engstirnigste, fanatischste Religion in der Geschichte des Universums zu gründen. Er behauptete, er sei der einzige Weg zu Gott — ja sogar, er sei Gott. Und anstatt zu lehren, daß jeder angenommen sei, verdammte er die, die nicht nach seinem engstirnigen Gesetz lebten... er behauptete sogar, daß er für die ,Sünder’ sterben würde.“
„Und er ist hier in Jerusalem gekreuzigt worden ... und auferstanden? Ist das so geschehen?“ fragte Ari.
„Das ist ein Mythos, den die Priester erfunden haben, um das Volk in der Unfreiheit zu halten. Jesus starb nicht am Kreuz. In diesem Punkt liegen die Moslems richtig. Es gibt keinen Tod. Nur denen, die ihn in ihren Gedanken annehmen, erscheint er real. Böses, genau wie Schönheit, ist eine Frage der Sichtweise.“
„Was ist dann mit dem leeren Gartengrab, von dem die Christen sagen, es beweise seine Auferstehung?“
„Eine weitere Erfindung der Geistlichen!“ Elors Stimme triefte vor Verachtung. „Jesus von Nazareth hat einfach nur die Geisteskraft der zehnten Dimension benutzt, um das Potential, das in jedem Menschen ruht, zu demonstrieren. Er hat den Leib, den er vorübergehend angenommen hatte, wieder abgelegt und ist in die Astralebene aufgestie-
gen. Indem er das tat, demonstrierte er das Christus-Potential, das in jedem ruht, und zeigte der Menschheit, wie man dem Kreislauf der Reinkarnation entfliehen kann. Unglücklicherweise ist er jetzt unser Gegner ... aber er hat keine Chance. Sein Plan muß mißlingen.“
In dem Augenblick hörte Ari, daß seine Schlafzimmertür aufging. Als er den Kopf wandte, erblickte er Yakov, der im Türrahmen stand und sich die Szene ansah. Das Gesicht des alten Mannes war zornerfüllt. Er wies mit seinem Finger unerschüttert auf Elor.
„Im Namen der Herrn Jesus Christus!“ befahl Yakov mit einer Autorität, die Ari entnervte. „Hinaus hier!“
Zu Aris Verwunderung verschwanden Elor und das Licht, das ihn umgab, augenblicklich.
„Dämonen haben in dieser Wohnung nichts zu suchen“, erklärte Yakov einfach. Nach diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer. Die Tür schloß er leise hinter sich.
In jener Nacht wurde Aris Schlaf von schrecklichen Alpträumen gestört. Jedesmal war Elor die zentrale Gestalt. Er gab ihm Befehle, verfolgte ihn, jagte ihn gnadenlos in einer Phantasmagorie surrealistischer Visionen. Als Ari am nächsten Morgen zu Yakov in die Küche kam, waren Elors Besuch und seine rasche Abfertigung durch Yakov schon fast ein Teil von Aris Alpträumen geworden. Ari war die Episode zu peinlich, um sie zu erwähnen, und er hoffte, daß auch Yakov schweigend darüber hinweggehen würde.
„Du hattest wohl eine unruhige Nacht, hm?“ fragte Yakov sehr gezielt, als Ari endlich in der Küche erschien.
„Alpträume ... Visionen ... seltsames Zeug. Ich kann nicht einmal sagen, was real war und was nicht. Es war schrecklich.“
„Hast du schon öfter solche Besuche gehabt?“
„Besuche? Du meinst so wie das, was du in meinem Zimmer gesehen hast? Nein, das ist mir noch nie passiert.“
„Das war Elor ... nicht wahr?“
„Ich ... ich denke, ja.“
„Ich meine, du hättest gesagt, daß er dir schon mehrmals erschienen ' « sei.
„Nur in der Gestalt eines Menschen ... und bei Tageslicht“, erwiderte Ari zögernd. „Niemals auf diese Weise ...“
„Und glaubst du jetzt, was ich gesagt habe ... daß diese Wesen Dämonen sind?“
Ari dachte ein Weile darüber nach. Schließlich antwortete er: „Ich glaube nicht, daß die letzte Nacht das bewiesen hat. Er behauptet, er sei so hoch entwickelt, daß er keinen Körper mehr habe ... und daß er jede beliebige Gestalt annehmen könne. Das ist eine wissenschaftlich annehmbare Erklärung.“
„Ari, du überraschst mich. Du bist so skeptisch gegenüber allem, was die Bibel sagt, und doch akzeptierst du die Theorie einiger weniger Wissenschaftler ohne jeden Beweis dafür, daß sie stimmt. Solange sie nicht bewiesen sind, sind Theorien eben nur Theorien ... und für diese Theorie gibt es keinen Beweis.“
„Einer meiner Freunde in Paris, ein Professor der Astrophysik am Polytechnischen Institut neben der Sorbonne, hat die Hypothese aufgestellt, daß es Wesen gebe, die, wie er sagte, dem Menschen auf der Evolutionsskala wahrscheinlich so weit voraus seien, wie der Mensch dem Wurm. Er meinte, sie würden auf uns wie ,Götter’ wirken, falls wir ihnen jemals begegnen sollten.“
„Eine Hypothese aufgestellt. Ohne jeden Beweis. Es gibt nicht einmal ein Fitzelchen eines möglichen Beweises, der in diese Richtung weist.“ Yakov versuchte, geduldig zu reden, aber es fiel ihm schwer.
„Elor hat mir jedenfalls demonstriert, daß er göttliche Fähigkeiten besitzt“, erwiderte Ari rasch. „Das kann ich nicht wegerklären. Er sagt, es gäbe keinen Gott, daß wir alle Götter seien und daß er auf der Evolutionsskala einfach höher stünde, als die Einwohner dieses Planeten ... und das erklärt seine Fähigkeiten. Meiner Meinung nach stimmt das mit den Hypothesen überein, die einige Astrophysiker aufgestellt haben.“
„Die Evolution ist ein Märchen — mit einem teuflisch cleveren Ziel. Sie ist die perfekte Vorbereitung für Dämonen. Eines Tages werden die Wissenschaftler Kontakt mit Dämonen aufnehmen, die als Außerirdische auftreten — und die ganze Welt wird sich täuschen lassen.“ „Selbst wenn du recht hättest, könntest du das nicht beweisen.“ „Ich habe es vergangene Nacht bewiesen.“
„Wie?“
„Ich habe deinem teuflischen Elor im Namen des Herrn Jesus Christus befohlen, zu verschwinden — und er ist verschwunden. Das sollte dir Rückschlüsse auf seine Identität erlauben!“
„Ich bewundere deinen Mut“, räumte Ari ein. „Ich habe schreckli-
che Angst vor Elor. Ich wünschte, ich hätte den Einfluß, den du über ihn hast.“
„Wenn dich der Gott, der das Universum erschaffen hat, beschützt, brauchst du keinen Mut, um gegen Dämonen anzutreten.“
Ari gab keine Antwort. Wie sollte er mit diesem alten Mann diskutieren, der sich so sicher war, daß ,Gott’ auf seiner Seite stand — und dessen Leben das auch zu beweisen schien? Er versuchte, sich abzulenken, indem er ein Ei aufschlug, einen Toast hineintunkte, ihn in die Pfanne legte und sich einen Armen Ritter briet, während Yakov seinen üblichen Haferbrei mit Datteln und Rosinen kochte.
Nach einem längeren Schweigen begann Yakov: „Ich habe neulich gelesen, daß der Antisemitismus jetzt sogar Japan überflutet, obwohl es dort überhaupt keine Juden gibt.“
„Ich glaube, ich habe den Artikel auch gelesen“, erwiderte Ari. Er war froh, daß Yakov ihm keinen weiteren Vortrag über Dämonen hielt und war gern bereit, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. „In dem Artikel wurde doch ein Buch erwähnt, in dem behauptet wird, Japan sei das Opfer einer internationalen jüdischen Verschwörung. Es ist vor kurzen erschienen und ist in Japan ein Bestseller, richtig?“
„Richtig. Es ist noch ein anderes erschienen, das von einem früheren Parlamentsmitglied verfaßt wurde. Es heißt Das Geheimnis der jüdischen Macht, die Welt zu kontrollieren. Von diesen beiden Büchern wurden insgesamt beinahe zwei Millionen Exemplare verkauft. Das letztere klingt sehr stark nach Hitlers Propaganda. In den letzten fünf Jahren ist Japan mit mehr als 200 Büchern über die Juden überschwemmt worden, von denen viele offen antisemitisch sind. Das ist doch ziemlich erstaunlich, meinst du nicht auch?“
„Ich kann diesen ständigen, weltweiten Antisemitismus immer noch nicht begreifen!“ rief Ari frustriert aus.
„Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich ständig darauf herumreite“, sagte Yakov halb entschuldigend, „aber es gibt nur eine sinnvolle Erklärung dafür. Die Juden sind Gottes auserwähltes Volk. Wenn Satan — er ist der Anführer der Neun — Israel vernichten könnte, dann könnte Gott nicht sein Versprechen halten, das er durch die hebräischen Propheten gegeben hat, daß nämlich eines Tages der Messias auf Davids Thron sitzen und regieren wird.“
„Es gibt tatsächlich eine Prophetie, die besagt, daß der Messias von Davids Thron aus regieren wird?“
„Eine Prophetie? Es gibt jede Menge.“
„Könntest du sie mir eines Tages vielleicht einmal... äh, alle in der Bibel markieren, damit ich sie mir durchlesen kann?“
„Sicher. Ich werde es gleich tun. Wenn du heute abend von der Arbeit kommst, kannst du sie haben.“
„Und ich meine immer noch, daß es eine andere Erklärung für diesen universellen Antisemitismus geben muß“, beharrte Ari.
„Dann sage mir, wie diese Erklärung lautet. Ich bin gespannt.“ Ari sagte nichts. Gerade in dem Moment, als er glaubte, daß sich sein Leben wieder regeln würde, wurden alle seine Stützen von einer eindringenden Gegenwart umgestoßen, gegen die er keine Verteidigungsmöglichkeit hatte.
40. Der Bezug zu Israel
Am 13. Mai 1991 erhielt die Jerusalem Post eine ziemlich ungewöhnliche Nachricht über den Fernschreiber. Aris erste Reaktion war, sie einfach als grotesk abzutun. Aber je länger er darüber nachdachte, umso mehr faszinierte sie ihn. Nachdem Ari einige intensive Nachforschungen angestellt hatte, ging er am Spätnachmittag in das Büro seiner Herausgeberin Ruta Cohen und setzte sich, um mit ihr über das zu sprechen, was er herausgefunden hatte.
„Worüber denkst du nach, Ari? Einen Knüller? Ich kenne doch diesen Blick“, sagte Ruta, als Ari es sich auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch bequem gemacht hatte. Sie rückte die Brille mit dem übergroßen Silbergestell zurecht, die ihrer recht großen und überschlanken Gestalt ein schulmeisterliches Aussehen verlieh, und sah Ari mit ihrem direkten und durchbohrenden Blick an, der die meisten ihrer Untergebenen einschüchterte.
„Bitte lach’ nicht“, sagte Ari vorsorglich. Er kannte Ruta gut genug, um zu vermuten, daß sie seinen Vorschlag sofort ablehnen würde. „Mich fasziniert diese Nachricht über den Papst, die heute über die Drähte kam.“
„Was war das doch gleich? Ich habe sehr viel zu tun gehabt ..
„Nun, heute hat der Papst in Fatima, Portugal, eine Diamanthalskette um den Hals der Statue ,Unsere gute Frau von Fatima’ gelegt. Und in dem Geschmeide war eine der Kugeln, die Mehmet Ali Agca, der türkische Revolverheld, dem Papst vor genau zehn Jahren in den Körper gejagt hat. Du weißt doch noch ... das versuchte Attentat.“
„Warum das Geschmeide? Und warum die Kugel darin? Übrigens, möchtest du Kaffee ... oder etwas anderes zu trinken?“
Ari schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Weil der Papst davon überzeugt ist, daß ,Unsere gute Frau von Fatima’ ihm das Leben gerettet hat ... und er hat sich — unter anderem — auf diese Weise bei ihr bedankt.“
Ruta winkte ihre Sekretärin hinaus. „Meint er das ernst?“ fragte sie.
„Ja, daran gibt es keinen Zweifel.“
„Und du hast daran gedacht ...?“
„Ein Feature darüber zu schreiben.“
„Tue es! Gnadenlos ... tue es.“ Ruta war Reserveoffizier, und sie führte ihre Abteilung, als sei sie Teil der israelischen Armee und als befände sich das Land im Krieg. Aber Ari fühlte sich dieser eindrucks-
vollen Frau gegenüber vollkommen ungezwungen — er war einer der wenigen Mitarbeiter, die das konnten. Sie wiederum achtete ihn wegen seiner Fähigkeit, ihr die Meinung zu sagen.
„Eigentlich glaube ich, daß die Story etwas Besonderes ist“, widersprach Ari.
„Wirklich?“ Dieser Gedanke schien sich für Ruta außerhalb des Möglichen zu befinden. Aber jetzt, wo Ari es ohne mit der Wimper zu zucken behauptet hatte, war sie bereit, noch einmal darüber nachzudenken. Er wußte, daß sie, wenn man von etwas überzeugt war und den Mut und die Fähigkeit besaß, diese Überzeugungen zu begründen, durchaus bereit war, sich diese Argumente anzuhören und ihren eigenen Standpunkt zu überdenken. Konnte man das nicht, war sie wie ein Panzer, der jede Opposition niederwalzte.
„Wenn du dich an den Hintergrund erinnern kannst, ist die Geschichte ziemlich faszinierend.“
„Ich kann mich vage erinnern“, antwortete Ruta nachdenklich, „daß der Attentatsversuch am Jahrestag der ersten Erscheinung von ,Unserer guten Frau von Fatima’ stattfand.“
„Ja. Sie erschien das erste Mal an demselben Tag, einem 13. Mai, im Jahre 1917“, warf Ari ein.
„Richtig. Wahrscheinlich ein Zufall. Niemand könnte beweisen, daß es keiner war — außerdem, ist das wichtig?“
„Wenn das die ganze Story wäre, wäre ich auch deiner Meinung und würde eine gute Satire daraus machen, wie sie meine Leser von Zeit zu Zeit von mir erwarten“, sagte Ari respektvoll. „Aber es steckt weit mehr dahinter. Ich habe den ganzen Tag Nachforschungen angestellt, und je mehr ich ausgegraben habe, um so interessanter wurde es.“
„Sprich weiter.“
„Zum einen ist da die Tatsache, daß es sehr viele vermeintliche Erscheinungen der Jungfrau Maria’ überall auf der Welt gibt. Selbst wenn man die meisten dieser Erscheinungen als Halluzinationen abschreiben kann, bleibt noch ein Kern übrig, der sich nicht wegdiskutieren läßt.“
„Klingt wie das, was die Verrückten von den UFOs sagen.“
„Nicht nur die Verrückten. Das ist zu einfach. Einige der zuverlässigsten Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, daß es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Erscheinungen der UFOs und den Erscheinungen von Maria gibt.“
„Das beeindruckt mich nicht. Als nächstes wirst du noch sagen, daß sie in UFOs kommt.“
„Darum geht es nicht. Darf ich dich daran erinnern, daß die römisch-katholische Kirche in dieser Frau eine geheime Waffe mit weltweiter Anziehungskraft besitzt, sogar unter Nicht-Katholiken? Sie paßt zur gegenwärtigen Stimmung. Du weißt schon, Feminismus, Frauenbewegung, Anbetung von Göttinnen ...“
„Ich würde nicht behaupten, daß Jungfräulichkeit populär ist“, kam die rasche Antwort. Ari, der Ruta kannte, nahm diese sarkastische Bemerkung als Warnung und fuhr eilig fort.
„Laß mich zu Ende reden. Es gibt noch mehr. Der Papst glaubt an viele dieser Erscheinungen von Maria und ist den verschiedenen Jungfrauengestalten — wie zum Beispiel der Schwarzen Jungfrau von Tschenstochau und anderen ... — treu ergeben. Sie ist seit 600 Jahren die Schutzheilige und Schirmherrin Polens. Der Papst glaubt wirklich daran. Im August wird er eine ausgedehnte Pilgerreise nach Jasna Gora in Tschenstochau anführen. Sie erwarten mehr als eine Million Teilnehmer ... hauptsächlich junge Leute, aus aller Welt. Ziemlich beeindruckend, nicht wahr? Millionen haben Medjugorje in Jugoslawien besichtigt, wo die Jungfrau’ angeblich jeden Tag erscheint. Diese Erscheinungen haben eine gewaltige Anhängerschaft!“
Ruta begann, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Auf diese Weise drückte sie aus, daß das Thema sie nicht besonders interessierte und daß das Gespräch demnächst enden würde.
„Sieh mal, man kann das nicht einfach übergehen“, beharrte Ari. „Der Papst ist der am höchsten respektierte Leiter der heutigen Welt. Bush und Gorbatschow und eine ganze Reihe anderer, wie zum Beispiel Arafat, gehen zu ihm, um sich Rat zu holen. Du mußt diesen Mann ernstnehmen. Du kannst seine Überzeugungen nicht einfach als lachhaft ab tun.“
Ruta warf Ari einen Das-kannst-du-doch-nicht-im-Ernst-meinen-Blick zu. „Du meinst also, man müsse alles, was der Papst glaubt, übernehmen und ein Katholik werden, nur weil er ein in aller Welt hochangesehener Führer ist?“
Ari lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte. „Du bist vielleicht lustig. Natürlich nicht. Diese Erscheinungen sind etwas Besonderes, Einzigartiges. Sie sind keine Dogmen, die von der Kirche verkündet worden sind. Sie sind Ereignisse. Entweder sie passieren, oder sie passieren eben nicht. Irgend etwas hat Millionen von Menschen dazu gebracht zu glauben, daß sie geschehen. Und wenn das tatsächlich stimmt, dann meine ich, daß wir es mit etwas zu tun haben, das einige Nachforschungen wert ist.“
Ruta hörte auf zu trommeln und legte ihre Hände in den Schoß. „Okay, überzeuge mich.“
„An jenem Tag vor zehn Jahren bemerkte der Papst, als er durch die Menschenmenge ging, ein junges Mädchen, das eine Halskette mit einem Anhänger trug. Es war ein kleines Bild von,Unserer guten Frau von Fatima’. Er beugte sich vor, um sie zu segnen. Bumm! Zwei Kugeln, die ihn sonst getötet hätten, trafen ins Leere, dahin, wo eben noch sein Kopf gewesen war.“
„Ein sehr glücklicher Zufall.“
„Das hätte ich auch gesagt — aber es geht noch weiter“, beharrte Ari. „Während er sich von dem Anschlag erholte, erschien ,Unsere gute Frau von Fatima’ dem Papst persönlich. Sie gab ihm ein,Zeichen’ und versprach, daß sie eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft der ganzen Welt ein spektakuläres Zeichen geben würde, woraufhin die gesamte Menschheit die überragende geistliche Autorität des Papstes erkennen und sich unter sie beugen würde.“
„Zu unglaublich, um es ernst zu nehmen“, sagte Ruta kurz angebunden.
„Korrekt. Und genau deshalb ist es so faszinierend — denn offensichtlich glaubt es der Papst heute noch. Und ich bin nach wie vor der Meinung, daß er ein viel zu glaubwürdiger Führer von Weltformat ist, als daß man diese Sache als Unsinn abtun könnte. Ich glaube nicht, daß er Halluzinationen hat. Und was die Frage angeht, ob die Welt seine geistliche Autorität anerkennt — Gorbatschow, ein Atheist, hat es bereits getan. Seiner Frau Raisa hat er den Papst als ,die höchste geistliche Autorität auf Erden’ vorgestellt.“
Ruta schwang mit ihrem Drehstuhl zur Seite und sah schweigend aus dem Fenster. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß sie jetzt ernsthaft über den Vorschlag nachdachte.
„Und vergiß nicht“, fuhr Ari eilig fort, „solange Millionen von Menschen meinen, daß sie einen Grund haben, etwas zu glauben, ganz gleich, wie grotesk dieser Grund sein mag, solange ist es gleichgültig, ob etwas zutreffend oder vernünftig ist. Und hör dir das mal an:,Unsere gute Frau von Fatima’ hat gesagt, sie würde Rußland bekehren und die Flutwelle des Kommunismus aufhalten, die sonst die ganze Welt überspülen würde, wenn der Papst Rußland ihrem ,Unbefleckten Herzen’ weihen würde. Wem, meinst du wohl, wird jetzt der Fall der Berliner Mauer, die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus und die Öffnung der Sowjetunion zugeschrieben?“
„Das ist doch lächerlich.“
„Das meinst du, und ich denke genauso. Aber wenn Millionen von Menschen es glauben, dann liegt darin eine gewaltige Kraft zur Bildung und Veränderung der öffentlichen Meinung.“
Ruta sah immer noch aus dem Fenster. Sie wirkte gedankenverloren. Schließlich stellte sie jene Frage, die einfach kommen mußte: „Und wo ist der Bezug zu Israel?“
„Die Verbindung zu Israel ist eine recht unheilvolle. Wie du weißt, hat die katholische Kirche niemals das Existenzrecht Israels anerkannt. Sie ist sogar unser geheimer und äußerst mächtiger Feind gewesen. Davon brauche ich dich wohl nicht zu überzeugen.“
Ruta schwang mit ihrem Stuhl zurück und sah Ari skeptisch an. „Und du meinst, diese Erscheinungen der Maria hätten etwas damit zu tun? Also wirklich!“
„Laß mich ausreden. Syriens Präsident Hafez Assad behauptet steif und fest, daß Außerirdische in UFOs den Frieden im Mittleren Osten wiederherstellen werden. Und nach Meinung der Experten gibt es, wie ich bereits sagte, eine Beziehung zwischen UFOs und den Marienerscheinungen. Der Vatikan, der Maria befürwortet, stellt sich gegen Israel und auf die Seite der arabischen Nationen ...“
„Zu dürftig!“ unterbrach ihn Ruta nachdrücklich. „So etwas könnten wir nicht drucken!“
„Ich bin immer noch nicht fertig. Millionen von Menschen sind überzeugt davon, daß sie UFOs und Erscheinungen ,Unserer guten Frau’ hier oder da gesehen haben. Stimmst du dem zu?“
Ruta nickte. „Sie glauben, sie hätten sie gesehen.“
„Mehr ist auch nicht nötig“, argumentiere Ari. „Sie brauchen nur zu glauben, sie hätten etwas Unerklärliches oder ,Übernatürliches’ gesehen. Was auch immer die Quelle dieser ,Zeichen’ sein mag, die Millionen davon überzeugt haben, daß es UFOs gibt und daß Maria erscheint — es wäre durchaus möglich, daß dieselbe Quelle auch ein weit größeres Zeichen verursacht, das Hunderte von Millionen ... vielleicht sogar Milliarden von Menschen in aller Welt überzeugen würde.“
Ruta sah wieder aus dem Fenster. Ari fuhr fort.
„Und wenn das geschieht, wäre es sehr schlecht, wenn das Zeichen, das die Welt erhält, die Opposition der Araber und der Katholiken gegen Israel zu unterstützen scheint „Wer sagt, daß es solch ein Zeichen geben wird? Angenommen, es wird keines geben — und ich glaube nicht, daß es eines geben wird.“ „Genau an der Stelle wird es interessant“, sagte Ari, der eilig weiter-
sprach, bevor sie das Interesse verlor. „Mohammeds Lieblingstochter hieß Fatima. Vor seinem Tode sagte er, daß sie die höchste Frau im Piimmel werden würde ... nur die Jungfrau Maria wäre noch höher als
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sie ...
Ruta wandte sich Ari zu. „Das war mir nicht bekannt“, sagte sie. „Somit ist,Unsere gute Frau von Fatima’ besonders ansprechend für Moslems ...“ Zum ersten Mal, seit Ari begonnen hatte, über seine Ideen zu sprechen, hatte Ruta diesen Bluthund-Ausdruck. Sie hatte endlich Witterung von etwas bekommen, was ihre Aufmerksamkeit verdiente. .
„Genau! Hör dir das mal an“, fuhr Ari fort. „Ich habe darauf geachtet, was für Berichte wir über die Statue ,Unserer guten Frau von Fatima’ über den Fernschreiber erhalten. Sie wird von den Moslems in Afrika und Indien mit Begeisterung empfangen. Sie kommen zu Hunderttausenden heraus ... und verneigen sich vor ihr und beten sie an! Und in einem sehr populären Buch, das vor längerer Zeit, im Jahre 1952, erschienen ist, sagte ein hochgeachteter Bischof voraus, daß es ,Unsere gute Frau von Fatima’ sein würde, die die Moslems in aller Welt mit den Katholiken vereinen würde!“
Ruta stand unvermittelt auf. Ari tat dasselbe. „Ich bin immer noch nicht überzeugt“, sagte sie, setzte dann aber widerwillig nach: „Aber ich glaube, daß du vielleicht einer Sache auf der Spur bist, der man nachgehen sollte. Mach weiter mit deinen Nachforschungen, und informiere mich über das, was du herausfindest.“
An jenem Abend arbeitete Ari, den sein neues Projekt fesselte, länger als gewöhnlich. Es war solch ein herrlicher Abend, daß er beschloß, nicht den Bus zu nehmen, sondern zu Fuß zu Yakovs Wohnung zu gehen. Er würde weniger als eine Stunde brauchen, und die Bewegung würde ihm guttun. Das Wetter war in den letzten Tagen heiß geworden, aber als sich die Dämmerung gesenkt hatte und eine leichte Brise vom Mittelmeer aufkam, war die Temperatur gesunken, und jetzt, am Abend, war sie schon sehr angenehm. Ari war bereits über ein Jahr in Jerusalem. Er mußte zugeben, daß ihm die Stadt sehr lieb geworden war. Sie besaß eine Vitalität, eine Erwartungshaltung, als stehe man kurz vor etwas Aufregendem, wie er sie in all den Jahren, in denen er in der Welt herumgereist war, sonst nirgends angetroffen hatte.
Als Ari, der die Shlomzion ha Malacha-Straße hinunterkam, die Kreuzung erreichte und in die Mamilla einbog, war es bereits dunkel geworden, und die Straßenlaternen waren angegangen. Er durchquerte das Hinnomtal und war begeistert vom Anblick des Jaffa-Tores direkt vor sich. Zu seiner Rechten erhob sich der Davidsturm, und die Stadtmauer mit der Brustwehr, die noch aus den Zeiten der Kreuzritter stammte, erstreckte sich in beide Richtungen. Jetzt, wo sie vom Flutlicht beleuchtet wurde, wirkte die alte Mauer unwirklich, wie eine riesige Kulisse aus einem Film. Als er sich ihr näherte, türmte sie sich in zeitloser Schönheit über ihm auf.
Ari wollte das arabische Viertel meiden und entschied sich, nicht durch das Jaffa-Tor zu gehen. Statt dessen ging er nach rechts auf einen schmalen Pfad, der sich auf den Berg Zion hinaufschlängelte. Als er den Fuß der alten Mauer erreicht hatte, wandte er sich auf einen breiten Fußweg. Dieser Weg würde ihn durch das Zions-Tor, in dem man immer noch die Einschüsse aus dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 sah, in die Aitstadt führen.
Ari war noch nicht weit auf der menschenleeren Promenade gegangen, als er etwa fünfzig Meter vor sich eine wohlvertraute Gestalt im Schatten des armenischen Klosters stehen sah. Offenbar wurde er erwartet. Als Ari näherkam, merkte er, wie ihm die Nackenhaare zu Berge standen. Es war zweifellos Elor, diesmal jedoch erschien er wie einer der Araber, die man am Schaftor der Altstadt antraf, in einem fließenden weißen Gewand mit einem Beduinen-kafiyab.
„So, mein Freund“, begann das geheimnisvolle Wesen, als Ari bei ihm angekommen war, „du wirst also eine deiner Kolumnen den Erscheinungen der Jungfrau Maria widmen. Beunruhigt es dich, daß ich alles weiß ... selbst deine geheimsten Gedanken?“
„Ruhig Blut“, sagte Elor als Antwort auf Aris sprachlosen Zorn. „Du vergißt, daß wir euch auf der Evolutionsskala Milliarden von Jahren voraus sind und uns deshalb eure privaten Gedanken nicht interessieren. Es sei denn, daß diese Gedanken gegen unsere Pläne für das Wohl dieses Planeten gerichtet sind „Und schließen diese eure Pläne ,Unsere gute Frau von Fatima’ ein?“ fragte Ari, der seine Wut wieder unter Kontrolle bekam. Es war frustrierend, bei einem Intelligenzvergleich so sehr benachteiligt zu sein. Ja, man konnte nicht einmal von einem Vergleich sprechen.
„Ich bin in Fatima als ,Maria’ erschienen“, erwiderte Elor, als sei das ganz selbstverständlich. „Ja, ,Unsere gute Frau von Fatima’ wird eine wichtige Rolle bei der Bewußtseinsveränderung spielen, die die
Menschheit erleben muß, damit Friede herrscht. Aber all das wird dir in genau zwei Jahren und einem Monat klar werden. Dann wirst du in jener geheimen Forschungseinrichtung bei Palo Alto in Kalifornien eintreffen, um einem historischen Ereignis beizuwohnen. Und du wirst mich erst Wiedersehen, wenn diese Reise erfolgreich beendet sein wird.“
„Kalifornien?“ fragte Ari vorsichtig. Dann wußte Elor alles! „Sprichst du von der Mission, auf die mich der Mossad schicken wird?“
Elors Lachen ließ Ari erneut die Haare zu Berge stehen. „Laß sie ruhig denken, daß sie dich schicken. Sie werden dich genau dorthin schicken, wohin wir dich haben wollen, und zwar zu dem Zeitpunkt, den wir gesetzt haben. Du wirst unseren Befehl ausführen ... und du wirst feststellen, daß das mit ihren Zielen übereinstimmt. Du wirst dem Mossad alles berichten können, was er wissen will. Du wirst ein Augenzeuge sein. “
Ari war sprachlos. Konnten die Neun wirklich die Zukunft Voraussagen ... vielleicht sogar dafür sorgen, daß sich bestimmte Dinge ereigneten? Elor hatte das schon einmal angedeutet. Aber er war nie so deutlich gewesen wie jetzt.
Elor legte seine Hand auf Aris Schulter. „Du fragst dich, ob ich wirklich die Zukunft kenne. Ich werde dir ein Zeichen geben. Die Israelis und die Araber werden sich noch vor Ende des kommenden Oktobers an einem Tisch gegenübersitzen, um Friedensverhandlungen zu führen ... und diese Gespräche werden in Madrid stattfinden. Im Dezember werden die Verhandlungen dann nach Washington D.C. verlegt werden.“
Ari konnte Elor nur mit großen Augen anstarren. Er war sprachlos vor Verwunderung.
„Du kannst diese Vorhersage ruhig in deiner Kolumne in der Post machen, wenn du möchtest“, fuhr Elor fort. „Ich würde es dir jedoch nicht raten.“
„Du bist dir also doch nicht sicher ...?“
„Im Gegenteil ... aber wie würdest du es erklären wollen?“
„Warum sollte ich?“
„Man wird dich fragen. Und wenn du es nicht begründen kannst, wird man es, selbst wenn es dann eintrifft, nur für einen Zufallstreffer halten.“
„Ja, natürlich“, erwiderte Ari nach einem kurzen Zögern.
„Das Zeichen, das ich dir gegeben habe, beweist unser tiefes Interes-
se daran, daß Israel eine friedliche Regelung mit seinen Nachbarn erreicht. Ja, wir werden sogar diejenigen sein, die dafür sorgen, daß das geschieht.“
„Es wird also ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Arabern geben?“
„Später einmal. Aber jetzt genug von diesem Thema.“
Ari versuchte das, was Elor gesagt hatte, zu verstehen. „Willst du mir damit sagen, daß ihr auf irgendeine Weise die Geschichte der Menschheit lenkt?“
„Nicht vollständig. Ursprünglich hatten wir das vor — aber die Menschen sind stur, so wie du, und lassen sich nicht bereitwillig führen. Sie können es nur auf dem harten Wege lernen ... und einige werden es nie lernen.“
„Gib mir ein Beispiel für euren Einfluß“, forderte Ari ihn heraus.
Elor lächelte und löste seinen Griff um Aris Schulter. „Es gibt so viele Lügen. Religion ist solch ein Betrug. Unsere Pläne, diese Erde zu verändern, sind von selbstsüchtigen religiösen Führern behindert worden, die ihre Nachfolger in Sklaverei halten, indem sie ihnen einen allegorischen ,Himmel’ versprechen.“
Ari nickte. „Ich stimme dir zu!“
„Die Buddhisten sind der Wahrheit noch am nächsten. Die Moslems sind etwas weiter davon entfernt. Die schlimmsten Täuschungen stammen von denen, die sich Christen nennen. Das Christentum wurde schnell zu einer vollkommenen Perversion der ursprünglichen Lehren des Christus, bevor er rebellierte. Die ursprünglichen, heidnischen Religionen waren viel dichter an der Wahrheit. Dieses uralte Wissen wäre mit dem Aufkommen der Wissenschaft verlorengegangen, die eure sogenannten Fortschritte der Zivilisation begleitet. Deshalb haben wir die Gründung vieler geheimer Gesellschaften angeregt, wie zum Beispiel die Freimaurer und die Rosenkreuzer, um die uralten Geheimnisse bis zu jenem Tage zu bewahren, wenn die Macht der Götter auf die Menschen übergehen und ein Neues Zeitalter anbrechen wird.“
Elor ergriff Ans Arm und zog ihn sanft vorwärts. „Komm, mein Freund, laß uns ein wenig Spazierengehen.“
Ari gehorchte wie ein Schlafwandler. Er war sprachlos vor Verwunderung. Schweigend gingen sie einige Schritte. Dann fuhr Elor fort: „Der Kaiser Konstantin befolgte viele unserer Ratschläge ... er harmonisierte das Christentum, das so weit abgeirrt war, wieder mit dem Hauptstrom des Heidentums. Diese Mischung wurde als römisch-
katholischer Glaube bekannt. Damit es auf der Erde bleibenden Frieden gibt, müssen alle Religionen unter einem Dach vereint werden, und wir haben den Vatikan als das Hauptquartier ausgewählt. Der jetzige Papst ist auf dem richtigen Weg. Maria ist der Schlüssel. Bei den echten Erscheinungen ist immer einer der Neun erschienen, und sie werden noch eine sehr bedeutende Rolle dabei spielen, die Religionen zu vereinen. Dein Interesse an diesem Thema zeigt, daß auch du dich auf dem richtigen Weg befindest.“
Ari schüttelte verwundert den Kopf. „Du sprichst in Rätseln.“
Wieder erschien dieses zuversichtliche, allwissende Lächeln auf Elors Gesicht. „Das erscheint dir nur im Moment so. Wenn du in Kalifornien sein und den einen treffen wirst, den wir ausgesucht haben, um die Neue Weltordnung zu regieren, dann wirst du alles verstehen. Er ist ein Jesuit. Er wird die römisch-katholische Kirche und ihren Papst dazu benutzen, eine weltweite Einheit der Religionen zu bewirken. Und dann, mein Freund ... dann haben wir sie!“ Elor lächelte.
„Die schlimmsten Hindernisse für den Frieden sind der christliche Fundamentalismus und der Zionismus“, fuhr Elor fort. „Beide müssen beseitigt werden. Jerusalem ist sehr zentral für unsere Pläne. Es muß international werden. Der Glaube, daß der Messias die Welt vom Thron Davids in Jerusalem aus regieren wird, muß aus dem Bewußtsein des jüdischen Volkes entfernt werden. Für diesen Zweck bist du auserwählt worden.“ Einen flüchtigen Moment lang enthüllte Elors Gesicht unter dem spöttischen Lächeln eine Maske unaussprechlicher Bosheit.
Ari blinzelte, und Elor war verschwunden. Der flüchtige Ausdruck auf dem Gesicht dieses geheimnisvollen Wesens war schrecklich gewesen. Aber er verschwand beinahe sofort aus Aris Gedächtnis, bis er sich nicht mehr sicher war, was er eigentlich gesehen hatte.
41. Eine unwiderstehliche Einladung
Die nächsten zwei Jahre waren recht einsame Jahre. Miriam kam nur selten nach Jerusalem. Sie war immer sehr freundlich, wenn sie tatsächlich einmal in Yakovs Wohnung vorbeischaute, aber das machte es beinahe noch schmerzlicher. Es schien keine Hoffnung zu geben, erneut eine romantische Beziehung einzugehen. Das einzige, worauf sich Ari freuen konnte, war seine Reise nach Kalifornien. Und seine Ungeduld, diese Herausforderung endlich anzupacken, ließ die Monate nur umso langsamer und langweiliger dahinfließen.
Er hatte durchaus genügend Ereignisse von großer Wichtigkeit, die er überwachen und zweimal die Woche in seiner Kolumne analysieren konnte. Daran lag es nicht. Trotz starker Zweifel von beiden Seiten, daß es jemals tatsächlich dazu kommen könnte, kamen die Israelis und die Araber noch vor Ende Oktober in Madrid zu direkten historischen Friedensgesprächen zusammen. Dann wurden die Friedensgespräche im Dezember 1991 nach Washington D.C. verlegt, wo sie in die nächste Verhandlungsphase eintraten. Alles geschah genauso, wie es Elor vorausgesagt hatte.
Daß solche Gespräche zwischen diesen eingeschworenen Feinden in den beinahe 44 Jahren der Existenz des Staates Israel noch niemals stattgefunden hatten, daß sie bis zum letzten Moment unmöglich zu sein schienen, und daß es sowohl von Seiten der Araber als auch von Seiten der Israelis sehr viele Proteste gab, machte Elors Vorhersage nur noch eindrucksvoller. Ari schien nichts anderes übrigzubleiben, als zu glauben, daß die Neun, wer auch immer sie sein mochten, hinter den Kulissen die Geschichte der Menschheit lenkten.
Die Tatsache, daß diese mysteriösen Wesen vorhatten, ihn zu benutzen, um die Israelis von dem fanatischen Zionismus abzubringen, gegen den er schon immer gewesen war, machte ihn trotz Yakovs schrecklicher Warnungen in bezug auf Elor etwas entspannter. Wie sollte man schließlich jemals einen Frieden erreichen, ohne diese Verirrung, man sei das „auserwählte Volk“, aufzugeben? Es war alles absolut sinnvoll und logisch.
Natürlich gab es da noch die fanatischen moslemischen Fundamentalisten, die sich mit nicht weniger als der totalen Vernichtung Israels zufriedengeben würden — und Elor würde ihm noch sagen müssen, wie sie an dem Friedensprozeß beteiligt werden könnten. Ari machte sich Gedanken deswegen. Aber es war unmöglich, Kontakt mit Elor
aufzunehmen und ihn zu diesem wichtigen Punkt zu befragen, den sie in ihrer kurzen Diskussion übersehen hatten.
Zur gleichen Zeit, zu der die Madrider Friedensgespräche stattfanden, gab es in Teheran eine weitere „Friedens“-Konferenz, zu der sich alle Größen des internationalen Terrorismus einfanden. Sie nannte sich „The International Conference to Support the Islamic Revolution of Palestine“ (Die internationale Konferenz zur Unterstützung der islamischen Revolution von Palästina). Ari, der seine Beziehungen zum Mossad nutzte und auch ein paar eigene Nachforschungen anstellte, sammelte Informationen und widmete diesem unrühmlichen Treffen zwei Artikel. Die Konferenz wurde von Irans Präsident Has-chemi Rafsandschani eröffnet, der die iranischen Truppen dazu verpflichtete, gegen Israel zu kämpfen. Der „Friede“, den diese Konferenz erreichen wollte, sollte aus der völligen Zerstörung Israels hervorgehen.
Ari erstaunte seine Leser, indem er berichtete, daß 400 Delegierte aus 60 islamischen Ländern, einschließlich einiger Massenmörder, an der Konferenz teilnähmen. Nur wenigen Israelis war bewußt, daß es so viele islamische Länder gab. Einer der Terroristen, die teilnahmen und die ihren Standort in Damaskus hatten, wo sie den Schutz des friedliebenden Syriens genossen, war Ahmed Jibril. Seine „Progressive Front for the Liberation of Palestine“ (Progressive Front zur Befreiung Palästinas) war für den Bombenanschlag auf die Pan-Am 103 über Lockerbie, Schottland, verantwortlich gewesen. Die PLO-Delegation wurde von dem zweiten Mann nach Arafat, Scheich Abdel Hamid el-Saikh, angeführt, der auch der Vorsitzende des „Palestine National Council“ (Nationalrat von Palästina) war.
Unter den Resolutionen, die verabschiedet wurden, war die Resolution 11, in der die Friedensgespräche in Madrid verurteilt wurden. Die Resolution 3 verlangte die „Eliminierung der Existenz der Zionisten“, und Resolution 22 wiederholte „die Notwendigkeit eines radikalen jihadgegen das zionistische Regime“. Ägyptens halboffizielle Zeitung Al-Ahram veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 24. Oktober alle Resolutionen. Das Auffällige daran war, daß es keinerlei Verurteilung dieser Konferenz durch Ägypten, jener Nation, die einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hatte, gab.
Der israelische Botschafter Yoram Aridor legte wegen der Tehe-raner Konferenz offiziell Beschwerde beim UN-Generalsekretär ein, aber sie wurde von dieser Organisation, die ja der Erhaltung des Friedens dienen soll, ignoriert. Ari wies darauf hin, daß ironischerweise
ausgerechnet ein Iraner zweiter Vorsitzender des Komitees für Menschenrechte bei der UN in Genf war. Diese beiden Artikel brachten Ari mehr Leserbriefe und größere Popularität ein als alles andere, was er bis dahin geschrieben hatte.
Ari versuchte, die erschreckende Erscheinung Elors in seinem Schlafzimmer zu vergessen und ihn sich, wenn er an ihn dachte, nur so vorzustellen, wie er ihm als Mensch erschienen war. Yakov machte hier und da ein paar Andeutungen in bezug auf den Vorfall, aber Ari wechselte jedesmal sofort das Thema, und Yakov bohrte dann auch nicht weiter. Dann, im Herbst 1992, schien die Sorge des alten Mannes zuzunehmen, bis er nicht länger schweigen konnte.
„Ich muß dich warnen. Die Speichellecker des Satans selbst versuchen, dich für ihre Zwecke einzuspannen“, sagte ihm Yakov im Februar ohne jede Umschweife, während sie gerade zu Abend aßen. „Was ich an jenem Abend in deinem Zimmer gesehen habe, zeigt ohne jeden Zweifel, daß Elor ein Dämon ist... und daß du dich in großer Gefahr befindest. Ich bete ständig für dich — aber du mußt selbst eine Entscheidung treffen.“
„Aber sie sind für den Frieden“, protestierte Ari. „Sie haben die Friedensgespräche vorhergesagt und auch dafür gesorgt, daß sie stattfanden.“
„Wie kommst du zu dieser Überzeugung?“
„Das kann ich dir nicht sagen ... aber sie wollen wirklich Israels Frieden! Willst du das nicht auch ...?“
Yakov nahm seine große Bibel in die Hand und blätterte rasch durch ihre schon abgegriffenen Seiten. „Hast du die Verse gelesen, die ich für dich angestrichen hatte ... die Prophetien über den Messias und das israelische Volk und das Land Israel?“
„Ja, ich habe sie zweimal durchgelesen. Sehr interessant... aber die Sprache ist manchmal etwas schwer zu verstehen.“
„Laß mich noch ein paar andere vorlesen. Hör dir mal an, was der Prophet Daniel sagt.“ In Yakovs Stimme lag eine unverkennbare Dringlichkeit. „Ich lese aus Kapitel 8 ab Vers 24: ,Und seine Macht wird stark sein, jedoch nicht durch seine eigene Macht’. Wenn man diese letzten Worte, Jedoch nicht durch seine eigene Macht’ mit dem
Neuen Testament vergleicht, wird klar, daß Daniel sich auf den Antichristen bezieht. In 2. Thessalonicher 2,9 wird der Antichrist als jemand beschrieben, ,dessen Ankunft gemäß der Wirksamkeit des Satans erfolgt, mit jeder Machttat und mit Zeichen und Wundern der Lüge’. Und genau damit blendet dich dieser Dämon Elor — mit Wundern der Lüge’. Der Haken daran ist, daß diese Wunder in der Kraft Satans geschehen. Johannes spricht in der Offenbarung ebenfalls vom Antichrist, und er sagt in Vers 2: ,Und der Drache’ — das ist Satan — ,gab ihm seine Macht’. Genau, wie Daniel gesagt hat ...“
„Aber der Friede!“ warf Ari ein.
„Ein falscher Friede!“ gab Yakov zurück. „Daniel sagt weiter, der Antichrist ,wird die Starken und das Volk der Heiligen vernichten’. Und wie wird er das tun? Daniel erklärt: ,und unversehens’ — also im Frieden — ,wird er viele vernichten’. Es ist ein Trick. Dieser ,Friede’ wird auf Kompromisse und falsche Versprechungen gegründet sein. Sie werden Land gegen,Frieden’ eintauschen — dem Antichristen vertrauen, der sie betrügen wird, anstatt dem Gott zu vertrauen, der Israel das Land gegeben hat. Nur für die, die ihm vertrauen, ist es die Zuflucht der Auserwählten. Die Bibel warnt uns und sagt, daß Har-magedon in Israel stattfinden wird!“
„Auserwähltes Volk!“ protestierte Ari. „Das ist so arrogant!“ „Das wäre es, wenn wir selbst es von uns behaupten würden. Aber es ist nicht arrogant, wenn Gott es sagt. Es ist arrogant, ihm nicht zu glauben.“
„Wer sagt denn, daß Gott es gesagt hat? Das ist deine Meinung. Aber die meisten Israelis, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht daran. Für sie ist es nur ,Tradition’.“
„Es steht in Gottes Wort. Seine Propheten sagen es, angefangen bei Mose bis hin zu Maleachi, und es wird durch die Erfüllung dessen bewiesen, was sie gesagt haben ...“
„Hör mal, ich habe diese Prophetien gelesen... aber warum erklärst du es mir nicht in normaler, verständlicher Sprache. Sage mir genau, was laut Bibel geschehen wird.“
„Jawohl, Sir!“ Yakovs Lächeln hellte sich wieder auf. „Im nächsten Kapitel, Vers 27, sagt Daniel vom Antichristen: ,Und stark machen wird er einen Bund für die Vielen, eine Woche lang’ ... das bedeutet eigentlich eine Woche von Jahren. Damit ist seine Garantie für einen Tempel in Jerusalem und ein Friedensvertrag für sieben Jahre gemeint. Dann, wenn diese ,Woche’ halb um sein wird — also nach dreieinhalb Jahren —, wird er dafür sorgen, daß die Israelis in dem wiedererbauten
Tempel keine Opfer mehr darbringen, und er wird sein eigenes Standbild dort aufstellen. Er wird die Israelis und die ganze Welt dazu zwingen, ihn als Gott anzubeten. Schließlich wird er alle Armeen der Welt gegen Israel führen, um die Juden ein für allemal zu vernichten ... und das ist der Zeitpunkt, wenn Jesus Christus vom Himmel aus eingreifen und Israel retten wird.“
„Haben die hebräischen Propheten so häufig die Worte Jesus Christus’ gebraucht?“ erwiderte Ari. „Ich habe das in keiner der Stellen gefunden, die du angestrichen hast.“
„Sacharja sagte, daß sie ihren Gott, Jahwe, als Auferstandenen erkennen würden, den sie durchbohrt und getötet haben. Das kann nur Jesus sein ... und Sacharja, Jesaja und andere, die ähnliche Aussagen machen, sind hebräische Propheten!“
„Das ist deine Interpretation. Aber ich kann das nicht glauben, nur weil du es sagst.“ Er starrte schweigend aus dem großen Panoramafenster hinaus auf den Tempelberg. Schließlich wandte er sich Yakov zu und fragte: „Dieser ,Antichrist’ ... was wird über ihn gesagt?“ „Jesus sagte damals in seinen Tagen zu den Juden: ,Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen.’ Es schmerzt mich, daß mein eigenes Volk, das seinen wahren Messias ablehnte, als er kam und ihn gemeinsam mit den Römern kreuzigte — genau, wie es ihre eigenen Propheten im voraus als Warnung gesagt hatten —, den falschen Messias, diesen Antichristen, annehmen wird, wenn er kommt. Und das, was Elor dir gesagt hat, klingt genau so, als solltest du eben diesen Menschen in Kalifornien treffen ... den Antichristen persönlich. Offensichtlich sollst du sein Botschafter für Israel werden!“
„Was kann ich dagegen tun?“ fragte Ari hilflos. „Sie kennen jeden meiner Gedanken. Sie wissen, worüber wir uns jetzt gerade unterhalten. Ich bin ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ..
„Elor betrügt dich. Dämonen haben nicht so viel Macht. Sie wissen nicht alles.“
„Du kannst das leicht sagen ... aber ich habe seine Macht gesehen.“ „Und du hast gesehen, daß ich im Namen Jesu größere Macht hatte als er. Glaube an den Herrn Jesus Christus und vertraue dich ihm an!“ rief Yakov ernst aus. „Dann hast du nichts zu befürchten! Hör mal, was Daniel in Kapitel 8, Vers 25 weiter über den Antichristen sagt: ,Und gegen den Fürsten der Fürsten wird er sich auflehnen' — damit ist Jesus Christus, der wahre Messias, gemeint — ,aber ohne eine «Men-
schen»hand wird er zerbrochen werden.’Jesus ist der einzige, der dich schützen kann! Er starb für deine Sünden, damit du Vergebung bekommen kannst... und er kommt wieder auf die Erde zurück, um den Antichristen und alle, die ihm nachfolgen, zu vernichten. Sei nicht einer von ihnen!“
„Miriam hat mir dasselbe gesagt — und weil ich es nicht glauben kann, hat sie mit mir Schluß gemacht. Warum bringt sie ihr Glaube an den Messias — falls Jesus das wirklich ist — dazu, etwas so Grausames zu tun!? Wir lieben einander ... aber sie will mich nicht mehr sehen.“ „Sage nicht, daß sie dich nicht mehr sehen will“, berichtigte Yakov. „Du bist ihr nicht gleichgültig. Sie macht sich Sorgen um dich ... und sie liebt dich sehr. Aber sie kann sich nicht länger zu deinen Bedingungen mit dir treffen. Du hast sie gebeten, dich zu heiraten ... und das kann sie nicht tun, es sei denn ..
„Es sei denn, ich glaube an ihren Jesus’!“ warf Ari bitter ein. „Das ist so unfair und eine offensichtliche Nötigung!“
„Nein. Sie würde niemals wollen, daß du sagst, du glaubst an Jesus, nur damit sie dich heiraten kann. Und deshalb hält sie es auch für das Beste, keine so enge Beziehung aufrechtzuerhalten ... sie will dich nicht unter Druck setzen.“
„Ihre Haltung hat mir nicht geholfen, zu glauben!“
„Ari, du mußt dich den Tatsachen stellen. Du bist ein Rebell in Gottes Universum und nicht bereit zuzugeben, daß du seine Gesetze gebrochen hast und seine Vergebung brauchst. Er liebt dich so sehr, daß er ein Mensch wurde, um für deine Sünden zu sterben ...“ „Das Thema haben wir schon ausführlich besprochen!“ unterbrach Ari ungeduldig. „Ich mag stur erscheinen, und ich bin es auch ... aber ich weiß deine und Miriams Sorge zu schätzen. Es ist nur so: diese grotesken Glaubensüberzeugungen, die ihr habt ... und dann Elor und seine Pläne für mich ... ich fühle mich, als säße ich in einer Falle.“ Ari stand auf und begann, in sein Zimmer zu gehen.
„Ich bete für dich, Ari“, rief Yakov hinter ihm her, „und Miriam betet auch. Sehr viel!“
Es war seltsam, aber irgendwie ärgerten ihn diese Worte. Nun, er konnte weitherzig sein. Laß sie doch beten, wenn sie wollen. Schaden kann es nichts.
Unter der wachsamen Anleitung des Mossad hielt Ari brieflichen Kontakt zu Carla. Ihre Briefe kamen allmählich immer seltener, und Ari erhielt natürlich die Anweisung, sich so zu verhalten, daß nicht etwa der Eindruck entstehen könnte, er sei zu sehr an der Beziehung interessiert. Er sollte auch keine weiteren Fragen über die Parapsychologie und das geheime Projekt stellen, an dem sie mitarbeitete.
„Immer mit der Ruhe, Mann“, erinnerte ihn David oft in jenen quälenden Monaten, die so ereignislos vergingen. „Sie ist dein Ticket nach Kalifornien, und wir sind genauso daran interessiert wie du. Aber wir müssen die Unbeteiligten spielen. Wenn sie dich endlich einladen wird — falls das überhaupt je geschehen wird, und wir können das nicht erzwingen —, mußt du so tun, als ob du zögerst, zu kommen.“ Dann, Mitte April 1993, kam eines Abends, als er und Yakov gerade mit dem Abendessen fertig waren, der Anruf, von dem er so lange geträumt hatte. Der alte Mann, der gerade in der Küche war und den Abwasch machte, ging ans Telefon.
„Da ist eine Frau aus Palo Alto in Kalifornien am Telefon“, rief Yakov Ari zu, der sich gerade im Wohnzimmer mit der neuesten Ausgabe der Le Monde entspannte, die frisch aus Paris eingeflogen worden war. Ab und zu holte er sich eine Ausgabe am Zeitungsstand und studierte sie eifrig.
Ari sprang sofort auf, war im Nu in der Küche und nahm den Hörer, bevor ihm auch nur klar wurde, daß sein Herz vor Aufregung wild hämmerte. Ruhig, alter Junge, erinnerte er sich selbst. Spiel den Uninteressierten.
Ari holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. „Ja ... Ari hier“, sagte er und bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
„Dr. Thalberg! Schön, Ihre Stimme zu hören! Hier ist Carla.“ „Was für eine angenehme Überraschung! Bitte nennen Sie mich doch einfach An. Sind Sie liier in Israel?“
„Kaum“, lachte Carla. „Ich hatte zuviel zu tun, um zu verreisen. Nein, ich bin in Kalifornien. Wie geht es Ihnen so?“
„Ziemlich gut ... aber ich fürchte, allmählich wird hier alles Routine. Wie geht es Ihnen? Sie haben eine ganze Weile nichts mehr von sich hören lassen.“
„Hier drüben wird es immer aufregender. Deshalb rufe ich auch an. Genießen Sie immer noch die wunderbare Welt des Journalismus?“ „Ich weiß nicht, ob es eine so wunderbare Welt ist ... aber ich genieße es wirklich, wenn es auch manchmal etwas eintönig wird.“
„Nun, hier eröffnet sich gerade etwas, das Sie von Ihrer Monotonie erlösen wird — und das ist noch milde ausgedrückt.“
„Sie meinen ... sprechen Sie von dem Knüller, den sie vor beinahe drei Jahren angedeutet haben und den Sie mir eventuell liefern könnten?“
„Daran können Sie sich noch erinnern?! Es ist schon lange her, aber wenn Sie erfahren werden, worum es geht, werden Sie auch sagen, daß sich das Warten mehr als gelohnt hat.“
„Wirklich? Worum geht es denn?“
„Ich konnte es Ihnen bisher nicht sagen, weil das Projekt, an dem ich mitarbeite, streng geheim ist. Einige Aspekte sind es immer noch. Aber wir werden in Kürze die Welt über etwas informieren, was wohl die phantastischste Möglichkeit ist, Frieden zu erreichen ... und zwar nicht nur im Mittleren Osten, sondern überall. Und auch unfaßbaren Wohlstand. Die ganze Sache ist absolut unglaublich — aber sie ist wahr!“
„Und worum handelt es sich genau?“
„Wir haben einen Durchbruch im Bereich psychischer Kraft gemacht, der alle Vorstellungen sprengt! Die Welt wird vollkommen verändert werden. Aber es ist so phantastisch, daß wir uns genau überlegen müssen, wie wir diese Nachricht veröffentlichen. Deshalb werden wir hochrangige Vertreter aus 120 Nationen zu einem Weltkongreß einladen. Es werden Hunderte von Presseleuten da sein, aber nur etwa 30 werden der eigentlichen Versammlung beiwohnen dürfen. Ich hätte Sie gerne bei dieser handverlesenen Gruppe dabei, Ari, als Vertreter der Jerusalem Post. “
„Psychische Kraft... das klingt ein wenig zu seltsam für die Post“, erwiderte Ari leicht ablehnend. Er versuchte, seine Aufregung zu verbergen. „Außerdem gehöre ich zu den Mitarbeitern mit dem geringsten Dienstalter. Es gibt hier jede Menge Journalisten, die weit länger hier sind als ich ... von daher bezweifle ich, daß mich mein Herausgeber gehen läßt.“
„Ari, sie werden es müssen. Ich werde keinen anderen akzeptieren.“
„Sehr schmeichelhaft, aber Sie werden sie überzeugen müssen. Sie sind sehr konservativ ...“
„Erzählen Sie mir doch nicht, sie seien zu konservativ“, beharrte Carla. „Die Post hat einen Artikel über psychische Kraft veröffentlicht ... und über die mögliche Mitwirkung von Außerirdischen dabei. Sie selbst haben ihn mir geschickt ... wissen Sie noch? Aber wenn Sie nicht interessiert sind, ist das natürlich etwas anderes ...“
„Oh, ich bin interessiert“, versicherte ihr Ari eilig. „Alles, was Sie machen, interessiert mich sehr. Und ich bin auch an dem Thema interessiert. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bezweifele nur, daß meine Herausgeber ...“
„Vergessen Sie Ihren Herausgeber. Sie werden erkennen, daß dies eine Story ist, wie man sie nur einmal im Leben bekommt. Und ich werde nicht zulassen, daß sie irgend jemand anderen als Sie schicken. Das wäre also erledigt.“
„Und ... wann wird es stattfinden?“
„Am 14. Juni.“
Am 14. Juni! Zwei Jahre und einen Monat, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe — genau, wie Elor gesagt hat! Aris Herz setzte für ein paar Schläge aus und fing dann an, so laut in seiner Brust zu hämmern, daß er sicher war, Carla müsse es hören. Sie hatte währenddessen weiter gesprochen, und er hatte einiges gar nicht gehört.
„ ... und in etwa zwei Wochen werden Sie mit der Post eine offizielle Einladung erhalten. Zusammen mit der Einladung kommen eine ganze Menge Informationen. Einiges davon ist schockierend, vieles unglaublich. Bis zum Ende des Kongresses ist alles vertraulich. Danach können Sie die phantastischste Story in der Geschichte der Menschheit veröffentlichen!“
„Klingt zu schön, um wahr zu sein. Ich bin schon richtig aufgeregt.“
„Aufgeregt ist noch milde ausgedrückt. Sie können sich nicht vorstellen, was Sie erleben und was für eine Story Sie für die Weltöffentlichkeit haben werden. Und ich freue mich schon sehr darauf, Sie zu sehen!“
„Gleichfalls. Vielen Dank, daß Sie an mich gedacht haben ... und mich in diese Sache eingeweiht haben. Ich werde auf diesen Brief warten.“
Na, wenn das nichts ist! sagte er zu sich selbst, als er auflegte. Es passiert — genau, wie Elor vorausgesagt hat. Noch einen Monat... und ich befinde mich mitten in der größten Herausforderung, die ich jemals zu meistern hatte! Erschreckend? Ja — aber auch absolut unwiderstehlich!
Ari berichtete David sofort von Carlas Anruf. „Phantastisch!“ kam die begeisterte Reaktion durchs Telefon. „Da haben wir wirklich Glück gehabt! Und sie besteht darauf, daß du kommst. Siehst du, wir haben
ja gewußt, daß du der richtige Mann für den Job bist ... und ich bin sicher, du kannst die Sache auch durchziehen.“
„Ich habe so getan, als ließe es mich völlig cool“, sagte Ari. „Ich habe mich überreden lassen. Aber das war, offen gestanden, auch nicht schwierig. Ich glaube, ich habe genauso viel Angst wie Vorfreude.“ „Es wird also eine Art .Weltkongreß’ geben mit Vertretern aus 120 Nationen. Das paßt zu den Informationen, die wir bekommen haben. Wo wird er stattfinden?“
„Das hat sie nicht gesagt, aber ich hatte den Eindruck, daß es in dieser geheimen Forschungseinrichtung des CIA sein wird, von der du mir erzählt hast — die Sache, an der Carla beteiligt ist.“
„Soweit wir verstanden haben, ist das Spitzen-Medium des CIA ein Jesuit namens Antonio Del Sasso ...“
„Das ist der Mann, von dem Elor mir erzählt hat... der zukünftige Weltherrscher!“
„Gemäß unseren Berichten ist er unglaublich“, sagte David. „Er kann Gedanken lesen.“
„Das können die Neun auch.“
„Denke an das Training, das wir von unseren Psychologen erhalten haben. Niemand kann etwas in deinen Gedanken lesen, was du nicht gerade denkst. Du mußt deine Gedanken kontrollieren, damit dir nichts in den Sinn kommt, was dich in Schwierigkeiten bringen könnte.“
„Unmöglich! Ich habe jeden Tag stundenlang geübt... und ich kann immer noch nicht verhindern, daß mir hier und da unversehens ein unerwünschter Gedanke kommt.“
„Du wirst es können, wenn dein Leben davon abhängt.“
„Besten Dank!“
„Da ist noch etwas, was ich dir sagen muß“, meinte David ernst. „Vor einigen Monaten hat der KGB sein bestes Team für psychischen Kampf dorthin geschickt. Sie sollten versuchen, die Einrichtung zu zerstören. Dieser Del Sasso hat sie zu Hackfleisch verarbeitet. Genau genommen konnte man es nicht einmal einen Kampf nennen.“ David wartete kurz, damit Ari die Information verarbeiten konnte. „Du wirst in die Höhle des Löwen gehen. Ich kann das gar nicht stark genug betonen. Ein Ausrutscher, und du bist erledigt!“
Ari antwortete nicht. Er durfte solche negativen Gedanken nicht aufnehmen. Er würde es schaffen, er würde als Sieger daraus hervorgehen. — Gib dich niemals geschlagen. Mit genügend Mut und Köpfchen ist alles möglich!
„Und vergiß nicht“, sagte David noch, „du wirst nur aus einem einzigen Grund dort sein: um soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Versuche nicht, besonders schlau zu sein und mehr als das zu tun. Wir wollen dich zurück haben ... und zwar nicht als Leiche in einem Sack!“
„Ich werde zurückkommen ... mit allem, was ihr wollt, und noch mehr ... ich werde den Auftrag erfolgreich ausführen!“
Den letzten Monat vor seiner Abreise trainierte Ari ständig mit besonderen Agenten des Mossad. Die Kontrolle seiner Gedanken sollte der Schlüssel sein. Del Sasso würde versuchen, seine Gedanken zu lesen. Ari mußte seine wahren Gedanken unter einem einstudierten Gedankenstrom verbergen, den er, falls nötig, jede wache Minute in Gang halten könnte. Sein Auftrag lautete, hinter die Fassade zu sehen, hinter der sich nach Meinung des Mossad mit Sicherheit etwas ganz anderes verbarg. Und wenn er das geschafft hatte, sollte er auf einem der vielen Wege, auf denen man geheime Informationen weiterleiten konnte und die er gelernt hatte, darüber berichten. Er würde in Palo Alto von einem Dutzend Mossadagenten unterstützt werden. Er hatte eine Beschreibung, wie sie aussahen, und den Code, mit dem er jeden einzelnen identifizieren konnte. Aber es war unwahrscheinlich, daß auch nur einer von ihnen Zutritt zum Kongreß selbst bekommen würde.
Die Einladung für den Kongreß wurde vom Mossad abgefangen und kopiert, noch bevor sie Ari erreichte und ohne daß er davon wußte. Er sollte nicht damit belastet werden, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Die besonderen Mossadagenten, denen das Material zur Analyse übergeben wurde, fanden es äußerst erstaunlich. Es übertraf sämtliche Vorstellungen. Wenn der CIA tatsächlich die Fähigkeiten besaß, die zu demonstrieren er versprach, dann konnte sich ihm keine Macht der Welt entgegenstellen. Und doch behaupteten sie, sie würden diese unglaubliche psychische Macht im Interesse des Friedens mit der ganzen Welt teilen. Es mußte mehr dahinter stecken — und es würde Aris Aufgabe sein, die Wahrheit herauszufmden.
Eine halbe Stunde, bevor Ari nach Tel Aviv zum Flughafen Lod aufbrechen mußte, kam Miriam in die Wohnung, um sich von Ari zu verabschieden. Sie war offensichtlich traurig, beherrschte sich jedoch.
„Ich hoffe, es klingt nicht abgedroschen“, sagte sie, „aber du befindest dich in größerer Gefahr, als du dir vorstellen kannst.“
„Ich weiß, worauf ich mich einlasse“, sagte Ari und tat so, als habe er keine Angst. „Ich bin gut trainiert worden ... es wird schon gut gehen.“
„Es ist nicht die Gefahr für dein Leben, die mir Sorgen bereitet.“ Der Ernst, der in Miriams Stimme lag, war auffallend. „Oh, ich weiß, du glaubst nicht an Satan ... aber er will deine Seele haben. Er will dich benutzen, um Israel dazu zu verführen, daß es dem Antichristen nachfolgt-“
„Wieso sagst du das?“ Ari hatte Miriam auch nicht das Geringste von irgendeinem der Besuche Elors erzählt, und doch schien sie darüber Bescheid zu wissen. „Hat dir Yakov von Elor erzählt?“
„Elor? Nein. Wer ist das?“
„Aus welchem Grund sagst du dann, daß Satan meine Seele haben will? Und der Antichrist ... warum erwähnst du ihn?“
„Ich weiß es nicht. Es ist eine Sorge, die in mir aufsteigt, wenn ich bete. In den letzten fünf Wochen habe ich jeden Tag für dich gebetet. Und ich bin immer und immer wieder im Gebet an das erinnert worden, was du mir von Nicole erzählt hast — an das, was sie dir gesagt hat, als sie in Paris zum Flughafen kam, um sich von dir zu verabschieden. Dieser Traum, den sie hatte, von dem du mir erzählt hast... das wird in Kalifornien passieren. Ich weiß es einfach!“ Tränen stiegen in Miriams Augen auf.
„Es bedeutet mir viel, daß du dir Sorgen machst“, murmelte Ari leise.
„Ari, Satan hat einen Auftrag für dich ... und es wird dein Untergang sein, wenn du ihn annimmst!“
„Yakov hat dir etwas erzählt!“ beharrte er.
„Nein, er hat nichts dergleichen gesagt. Es ist mir im Gebet gekommen. Gott offenbart Dinge. Auch er hat einen Auftrag für dich. Du wirst wählen müssen. Wenn es so aussehen wird, als sei das Ende gekommen, wird Jeshua — der Messias Jesus — dich retten ... wenn du es ihm erlaubst. Oh Ari, erlaube ihm, dich zu retten!“ Die Angst in Miriams Stimme ließen abwechselnd Wogen der Hoffnung und der Angst in Ari aufsteigen.
Er konnte nicht mehr widerstehen. Er streckte die Hände aus, zog
sie an sich und drückte sie fest. Miriam klammerte sich an ihn. „Ich liebe dich“, flüsterte er. „Ich werde zurückkommen, nur für dich. Und wenn dein Jesus tut, was du sagst... wenn er mir beweist, daß es ihn gibt... dann werde auch ich ein Gläubiger werden. Aber ich brauche irgend etwas ... irgendeinen Beweis.“
„Ich liebe dich auch, Ari. Ich werde beten, daß er dir gibt, was du haben möchtest. Und ich werde auf dich warten ... und hoffen ...“ Sie konnte sich nur in wortloser Pein an ihn klammern.
42. Kongreß für eine Neue Welt
Es war ein langer Flug von Tel Aviv nach London und von dort weiter nach Los Angeles, wo sie die Nacht verbrachten, und dann am nächsten Morgen weiter nach San Francisco. Wegen des begrenzten Platzes in dem Auditorium durfte Israel nur einen politischen Delegierten, Yetsak Kaufy, und einen religiösen Führer, Rabbi Mordechai Margo-lins, einen beliebten und einflußreichen Lubavitcher, und einen Vertreter der Medien — der natürlich Ari war — schicken. Die drei saßen nebeneinander, und ihre angeregte Unterhaltung ließ den ansonsten langweiligen Flug rascher vorübergehen.
Ari interessierte sich für die Lubavitcher, seit er sich Anfang 1991 wegen eines Artikels, an dem er schrieb, mit dieser esoterischen und doch mächtigen Gruppe beschäftigt hatte. Damals war diese bisher recht unbekannte Gruppe plötzlich international bekannt geworden — eine unerklärliche Entwicklung, die Ari erstaunte. Was hatte den Kongreß und den Senat der Vereinigten Staaten dazu gebracht, in einer gemeinsamen Sitzung den Leiter der Lubavitcher, Rabbi Menachem Schneerson, der in Brooklyn, New York, wohnte, zu ehren, indem sie seinen Geburtstag zum „Tag der Erziehung“ machten, und das trotz der Tatsache, daß die meisten Amerikaner noch nie von ihm oder seiner Bewegung gehört hatten? Es war ihm nicht gelungen, dieses Geheimnis zu lösen. Er hatte für diesen Artikel sehr viele Nachforschungen anstellen müssen. Deshalb war dies ganz und gar nicht Aris erster persönlicher Kontakt mit Vertretern von Israels mächtigster religiöser Gruppe, wenn er auch Rabbi Margolins noch niemals persönlich getroffen hatte. Die Ideen des Rabbis faszinierten ihn, besonders die Gedanken, die er bezüglich des Messias hatte.
„Wir sind absolut davon überzeugt, daß der Messias bereits da ist und nur auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um sich zu offenbaren“, hatte der Rabbi mit großer Begeisterung mindestens ein halbes Dutzend Mal während des Fluges erklärt. Yetsak Kaufy schien skeptisch zu sein, hatte seinen Zweifeln aber keinen Ausdruck verliehen. Offensichtlich hütete er sich, diesen einflußreichen religiösen Führer zu beleidigen.
„Woran wird man ihn erkennen?“ hatte Ari gefragt, als Margolins diesen Gedanken zum ersten Mal geäußert hatte.
„An seinen Taten!“ war die sofortige Antwort gewesen.
„Aber es wird doch sicherlich irgendeine besondere Qualifikation
geben ... irgend etwas, womit er sich ausweist ... aufgrund dessen man sicher sein kann, daß er der Richtige ist, oder?“
„Es ist ziemlich gleichgültig, wer oder was er ist — nur was er tut, zählt“, hatte der Rabbi nachdrücklich erklärt. „Man wird ihn als den Mann erkennen, der in der Lage ist, alle drängenden Probleme der Welt zu lösen und alle Nationen und Völker in Frieden zu vereinen.“
„Wird er das überzeugend tun können?“ hatte Ari erstaunt gefragt.
„Absolut“, war die zuversichtliche Antwort gewesen. „Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird niemand in der ganzen Welt einen Zweifel daran haben. Durch diesen einen Mann wird eine neue Ära der universellen Brüderschaft anbrechen. Die Nationen der Welt werden endlich in Frieden und gegenseitiger Achtung Zusammenleben. Es wird in der Tat eine Neue Weltordnung der Einheit und Harmonie sein.“
„Ich hoffe, Sie haben recht“, war Kaufys einziger Kommentar gewesen, und er hatte aufrichtig geklungen.
„Also hätte Jesus von Nazareth der Messias sein können ...“ Ari hatte versuchsweise ausgedrückt, was anscheinend mit diesen Worten angedeutet worden war.
„Natürlich nicht!“ erwiderte der Rabbi mit Nachdruck. „Es ist ganz gleich, was die Christen über ihn sagen. Er hat es nicht geschafft, diesen universellen Frieden zu bringen ... aber der wahre Messias wird das schaffen, wenn er kommt!“
Trotz seines festen Vorsatzes, aufgeschlossen zu bleiben, wurde Ari im Laufe der Unterhaltung unbehaglich zumute. Die Behauptungen des Rabbis erinnerten ihn an Yakovs furchtbare Vorhersagen: „Die Welt wird so von einem Verlangen nach Frieden besessen sein, daß sie jedem, der scheinbar für Frieden sorgen kann, als dem Retter zujubeln wird, und wenn es der Teufel selbst wäre! Und es wird in der Tat der Antichrist sein. Dieser nachgemachte Messias muß erst von Israel und der Welt angenommen werden, bevor Jeshua, der wahre Messias, wiederkommen wird. Er wird kommen, um den Antichristen und seine Neue Weltordnung zu vernichten!“
Miriam hatte wiederholt und unabhängig von Yakov die gleichen Warnungen geäußert. Als Ari sie beschuldigt hatte, sie hätten sich zusammengesetzt und vereinbart, daß sie ihm beide dieselben Argumente vorsetzen würden, hatten sie vehement jede geheime Absprache geleugnet. „Die Bibel sagt eben einfach, daß es so geschehen wird“, lautete Miriams einzige Erklärung. „Das kann jeder selbst nachlesen! Daß der Messias bei seinem ersten Kommen von seinem eigenen Volk
abgelehnt und gekreuzigt werden würde ... daß er die Schuld für unsere Sünde sühnen würde ... das ist keine neue Erfindung der Christen. Die hebräischen Propheten haben es ganz klar im Alten Testament gesagt... und sie haben auch gesagt, daß er erst bei seinem zweiten Kommen sein weltweites Königreich des Friedens aufrichten würde.“
Ari konnte nicht leugnen, daß dieses Buch, das er ohne die Hilfe dieser beiden Nachfolger Jesu nur so schwer verstehen konnte, Aussagen enthielt, die so treffende Einsichten vermittelten, daß sie überzeugend erschienen. Im Gegensatz zu Rabbi Margolins Meinung, woran man den Messias erkennen könnte, hatten beide, Yakov und Miriam, den Propheten Sacharja zitiert: „ ... und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben ...“ Er hatte das Kapitel 12 mehrere Male gelesen und war tief beunruhigt, denn es schien auszusagen, daß der Messias an Wundmalen erkannt werden würde, die bewiesen, daß er getötet worden war und jetzt wieder lebte. Und Ari konnte auch die Prophetie Daniels nicht vergessen, die Yakov ihm vorgelesen hatte — besonders den Satz, der sich auf den Antichristen bezog: „und unversehens“ — also im Frieden — „wird er viele vernichten.“ Der Gedanke daran verfolgte ihn regelrecht.
Frieden! Darum ging es bei dem Weltkongreß. Und ein unbekannter Mann mit großer psychischer Kraft — offenbar dieser Antonio Del Sasso, vor dem ihn der Mossad gewarnt hatte — würde seine unglaublichen Fähigkeiten demonstrieren, die er mit der Welt teilen wollte, um einen bleibenden Frieden zu erreichen. So war es in den Vorabinfor-mationen, die alle Delegierten und Vertreter der Medien erhalten hatten, erklärt worden.
Und es hatte Aris inneren Frieden nicht gerade verstärkt, als er erfuhr, daß der offizielle Name der Konferenz, an der er teilnahm, Weltkongreß 666 lautete. Es war irgendwie beunruhigend gewesen, als er bei den Unterlagen, die er erhalten hatte, sein Namensschild fand, das er vorzeigen mußte, um eingelassen zu werden, und über seinem Namen in großen, fetten Ziffern die Zahl 666 sah. Offenbar hielt man das für wichtig. Aber warum? Was bedeutete das?
Ari hatte sich immer gerühmt, er sei nicht abergläubisch. Er hielt die Zahl 666 für einen Witz, der nur in einen schlechten Horrorfilm paßte. Aber das machte es nur um so rätselhafter, daß diese Zahl für diesen wichtigen Kongreß ausgewählt worden war. Die streng geheimen Unterlagen enthielten eine Erklärung, aber Aris Befürchtungen waren nicht geringer geworden, als er sie las:
Viele Jahrhunderte lang ist die Welt unter dem Einfluß einer hysterischen Warnung gewesen, die von korrupten Priestern auf unehrliche Weise in die Bibel eingebaut worden ist. Sie besagte, daß ,in den letzten Tagen’ ein schrecklicher Weltdiktator aufstehen solle, der der Antichrist genannt werden würde, und daß die Zahl 666 sein geheimes Zeichen wäre. Diese Absurdität ist über einen so langen Zeitraum von so vielen Millionen Menschen für wahr gehalten worden, daß sie sich inzwischen in das gemeinsame Unbewußte der ganzen menschlichen Rasse eingegraben hat — selbst in jenen Kulturen, in denen das Christentum unbekannt war. Letzteres läßt sich wahrscheinlich zum Teil auf eine Reihe von Hollywoodfilmen zurückführen, die diesen grotesken Glauben für ihre reißerischen Handlungen benutzt haben.
Nach Meinung der führenden Psychologen und Psychiater der Welt ist dieser heimtückische Wahn von einem Antichristen und der Zahl 666 das Haupthindernis für den Frieden. Er muß aus dem gemeinsamen Unbewußten entfernt werden. Das läßt sich nur bewirken, indem man diesen Gedanken zerstört. Man muß der Welt zeigen, daß er tatsächlich nur ein Märchen ist. Und genau das werden Sie tun, wenn Sie gemeinsam mit anderen Führungspersönlichkeiten aus aller Welt bei diesem Kongreß, auf dem eine solide Grundlage für bleibenden Frieden in der Welt gelegt wird, ohne jede Furcht Ihr Namensschild tragen.
Als Ari und seine beiden Begleiter das Flugzeug verließen, wurden sie von einem übereifrigen und sehr beredten Mann in einem tadellos geschnittenen Seidenanzug begrüßt, der sich als Staatssekretär vorstellte. „Ihr Gepäck wird zum Hilton in Palo Alto gebracht, wo Sie die nächsten drei Nächte verbringen werden“, teilte er ihnen mit. „Sie werden Ihr Gepäck heute abend auf Ihren Zimmern vorfinden.“ Er geleitete sie nach draußen, wo sie in einer von etlichen Limousinen Platz nahmen, die am Straßenrand warteten. Schon bald gesellten sich zwei politische Delegierte aus Polen und zwei aus Holland zu ihnen. Dann erhielten der Fahrer und sein Begleiter auf dem Vordersitz die
Anweisung, abzufahren. Sie sind wahrscheinlich beide vom CIA, nahm Ari an.
„Die Fahrt wird etwa zwei Stunden dauern“, informierte sie der Mann im Seidenanzug. „Sie werden direkt an einen sicheren Ort am Fuße der Berge westlich von Palo Alto gebracht, wo der Kongreß zusammentreten wird. Entspannen Sie sich und genießen Sie die Fahrt.“
Als sie an ihrem Ziel ankamen, bemerkte Ari überrascht, daß die massiven Stahltore in der hohen, dicken Steinmauer, die das Grundstück umgab, weit offen standen. Bewaffnete Wachen kontrollierten sorgfältig die Pässe all jener, die durch das Tor kamen, aber das war bei einer solchen Zusammenkunft auch nicht anders zu erwarten. Aris Auftraggeber beim Mossad hatten dieses Gelände, auf dem sich das geheime CIA-Forschungszentrum befand, als eine Festung beschrieben, die selbst dem Angriff einer Armee widerstehen könnte. Aber an diesem Tag wurde bewußt der Eindruck völliger Offenheit der ganzen Welt gegenüber vermittelt. Zumindest äußerlich schien alles, was Ari sehen konnte, der Zusage zu entsprechen, die in dem Informationspaket gemacht worden war: Man würde die psychischen Kräfte, die in den letzten Jahren entwickelt worden waren, im Interesse des Friedens mit der ganzen Menschheit teilen.
Eine Limousine nach der anderen traf ein. Sie brachten Diplomaten aus der ganzen Welt. Nachdem die Fahrer ihre Fahrgäste vor dem Hauptgebäude abgesetzt hatten, folgten sie der kreisförmigen Auffahrt und fuhren wieder zum Tor. Sie parkten ihre Fahrzeuge entlang der schmalen Zufahrtsstraße, die von der Landstraße kam und sich mehrere Kilometer durch die hohen Kiefern und Redwood-Bäume bis zu diesem abgelegenen Ort schlängelte.
Viele Delegierte waren skeptisch und nur gekommen, weil ihre Regierungen sie geschickt hatten und weil es eine Ehre war, bei so einer hochkarätigen Zusammenkunft anwesend zu sein. Dennoch konnte man geradezu spüren, wie sich unter dieser illustren Gesellschaft eine Atmosphäre der Erregung und der Erwartung aufbaute. Jeder war gespannt darauf, dem großen Medium zu begegnen und zu sehen, wie er das demonstrierte, was in der Vorankündigung als „göttliche Kräfte“ angekündigt worden war — Kräfte, die schließlich jedem in der Welt gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden sollten. Dadurch sollte ein Neues Zeitalter der buchstäblich unbegrenzten Leistungen und des Reichtums eingeläutet werden. Diese Erde würde wieder ein Paradies sein. Die beiden israelischen Delegierten waren genauso gespannt und optimistisch wie alle anderen auch. Sie hatten
vom Mossad falsche Informationen erhalten, damit Ari gedeckt war. Er war die einzige Ausnahme, ein Spion mitten im Geschehen, gezwungen, einen ständigen Strom von positiven Gedanken über diesen Kongreß aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, daß jemand seine Gedanken lesen könnte und dadurch seine wahren Motive offenbar würden.
Jetzt, wo das Ereignis beginnen sollte, auf das Ari so lange gewartet hatte, war jeder Nerv seines Körpers und jede Zelle seines Gehirns unter Hochspannung und einsatzbereit. In die Höhle des Löwen! Das waren Davids Abschiedsworte gewesen, und jetzt, da er hier war, spürte Ari, daß diese unheilvolle Warnung zutreffend gewesen war. Und es war auch nicht nur Del Sasso, den er daran hindern mußte, seine Gedanken zu lesen. Was war mit den Neun? Trotz Yakovs offener Verachtung ihrer Fähigkeiten kannten sie doch jeden seiner Gedanken, oder? Er sollte an jenem Abend im Hotel in Palo Alto seinen ersten Kontakt mit einem Mossadagenten aufnehmen, um die Informationen, die er gesammelt hatte, weiterzugeben. Es war ein schwieriger und gefährlicher Auftrag.
Es war ein herrlicher, klarer Tag mit Temperaturen über 25 Grad und gerade genügend Wind, um es angenehm zu machen. Farbenfrohe Baldachine waren errichtet worden, um die bedeutenden Besucher vor der warmen kalifornischen Sonne zu schützen, und es gab lange Tische mit hors d’oeuvres und unvorstellbar köstlichen Desserts. Soldaten der US-Marine in Galauniform und Waffen an der Seite gingen zwischen den Gästen umher und bedienten sie mit Speisen und Getränken. Ari bemerkte, daß sich unter den Gästen auch eine Reihe von Generälen und Admiralen aus den Vereinigten Staaten, Kanada und den europäischen NATO-Ländern befanden.
Es wurden Führungen durch die Laboratorien in den Nebengebäuden angeboten, aber es gab keine Führung durch das Hauptgebäude. Ari ging lieber auf eigene Faust umher und bemerkte voller Interesse, wie genau die Beschreibung, die er vom Mossad erhalten hatte, auf das paßte, was er jetzt sah. Er erhaschte einen flüchtigen Blick von Roger und auch von Bourbonnais, die jedoch nicht in seiner Nähe standen, und entschied sich, bewußt jeden Kontakt mit den beiden zu vermeiden. Als der Zeitpunkt für die offizielle Eröffnung des Programms näherrückte, begannen die Delegierten, sich auf dem weitläufigen Rasen vor dem Hauptgebäude zu sammeln. Sowohl die allgemeine Erregung als auch der Geräuschpegel nahmen zu.
Pünktlich um 16.00 Uhr trat ein recht zart gebauter Mann mittleren Alters und mittlerer Größe mit eiligen Schritten aus dem Hauptein-gang. Seine hohe, breite Stirn wurde von einigen Strähnen seines nicht mehr ganz vollen grauen Haares gekrönt, und er trug eine große Nik-kelbrille, die ihm ein eulenartiges, an einen Professor erinnerndes Aussehen verlieh. Er lächelte und nickte der versammelten Menschenmenge zu. Dicht hinter ihm folgte ein großer, kräftiger Mann mit dichtem schwarzem Haar und einem ebenso schwarzen Bart. Er trug eine lange schwarze Mönchsrobe, deren Kapuze zurückgeschlagen war. Del Sassolin der Tat eine eindrucksvolle Gestalt. Er schien Ari sofort mit seinen tiefliegenden, stechenden Augen anzustarren, als habe er ihn erwartet. Dann lächelte er plötzlich liebenswürdig und verbreitete einen gewinnenden Charme. Als Nächste kam Carla, strahlend schön in ihrem bodenlangen geblümten Seidenkleid, das den Schimmer ihrer langen rotbraunen Haare hervorhob. Ihr auf den Fersen folgte ein dünner, mittelgroßer Mann Anfang vierzig mit frühzeitig ergrauendem, kurzgeschnittenem blonden Haar und scharfen Gesichtszügen. Er war ungewöhnlich bleich und offensichtlich nervös. Während diese vier zu dem kleinen Baldachin gingen, unter dem sie stehen würden, um die Delegierten einzeln zu begrüßen, ertönte zu ihrer Begrüßung ein donnernder Applaus.
Ari wurde bewußt, daß eine Veränderung stattgefunden hatte. Die elektrisierende, fesselnde Gegenwart Del Sassos, der jetzt nach allen Seiten lächelte, hatte die Atmosphäre plötzlich mit Ehrfurcht und einer beinahe furchtsamen Erwartung erfüllt. Ari warf einen Blick auf die Gesichter der Leute, die um ihn herumstanden. Es war deutlich zu sehen, daß die Skepsis einer beinahe kindlichen Erwartung der Wunder, die da kommen sollten, gewichen war. Es war, als sei eine geistliche Kraft über die Menge hinweggegangen. Ari mußte heftig kämpfen, um nicht selbst von dieser plötzlichen Woge rasender Begeisterung erfaßt zu werden.
Links von diesen vier Llonoratioren bildete sich rasch eine Schlange. Die Delegierten begannen, langsam an ihnen vorbeizugehen. Sie waren begeistert, weil sie jeden einzelnen kennenlernten, aber besonders deshalb, weil sie zwar nur kurz, aber doch persönlich mit dem berühmtesten Medium der Welt und mit dem Leiter jenes Experimen-tal-Labors sprechen konnten, in dem dieser Durchbruch erzielt wor-
den war. Als Ari endlich bei den Honoratioren ankam, trat Carla vor und umarmte ihn rasch.
„Wie schön, daß Sie kommen konnten!“ rief sie aus. Sie wandte sich an den bleichen blonden Mann zu ihrer Linken und sagte: „Ich möchte Ihnen Dr. Ari Thalberg vorstellen. Ari, dies ist Dr. Viktor Khorev. Dr. Khorev war jener sowjetische Spitzenwissenschaftler, der sich mit Parapsychologie beschäftigte. Er ist vor mehreren Jahren geflohen. Aber dieses Wort hat jetzt keine Bedeutung mehr.“ Sie legte freundschaftlich die Hand auf Viktors Arm und sagte: „Viktor, Dr. Thalberg war einer meiner Professoren an der Sorbonne in Paris. Das ist jetzt schon länger her, als wir beide zugeben wollen. Er war der beste Lehrer, den ich je hatte! Jetzt schreibt er für die Jerusalem Post. “
„Bitte, gehen Sie weiter“, sagte eine höfliche, aber bestimmte Stimme hinter Ari.
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte Khorev mit starkem russischem Akzent. Er schien in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt zu sein, und offenbar gefiel es ihm nicht sonderlich, im Rampenlicht zu stehen.
Carla zog Ari schnell zu dem großen Mann zu ihrer Rechten hinüber, der Ari bereits genau betrachtete. „Und dies ist Antonio Del Sasso!“ erklärte sie stolz. „Er ist der bemerkenswerteste Mann, den die Welt je gesehen hat — aber das werden Sie noch selbst entdecken!“
„Sie läßt sich manchmal ein wenig von ihrer Begeisterung fortreißen“, erwiderte Del Sasso bescheiden mit einer tiefen, melodischen Stimme und umschloß Aids nur mittelgroße Hand mit seiner riesigen Rechten. Es war ein warmer Händedruck, und er dauerte eine Ewigkeit. Del Sassos Augen schienen direkt in sein Herz zu sehen.
„Wh sind so froh, daß Sie hier sind. Die Neun haben mir sehr viel von Ihnen erzählt ... Sie sind ein auserwähltes Werkzeug für einen äußerst wichtigen Auftrag!“ Wieder kam dieses plötzliche warme Lächeln, diesmal ein wenig gönnerhaft, so, als sei Ari ein Kind. „Ihr Traum von einer Welt, in der Gerechtigkeit und Friede herrschen, wird sich erfüllen. Und zwar jetzt! Das, was Sie in der Vergangenheit erreicht haben, hat eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung für diesen Zeitpunkt gespielt... und schon bald werden Sie den Sieg schmecken ... wenn jeder einzelne göttliche Fähigkeiten erhalten wird und dadurch völlige Freiheit von jeder Form der Unterdrückung, innerlich und äußerlich.“
Ari vermied es, dem Mann in die Augen zu sehen. Er fühlte sich unwohl unter diesem Blick. Er nickte und lächelte und versuchte dann,
weiterzugehen. Del Sasso erfaßte seinen Arm mit einem kräftigen Griff und sah ihm noch einmal durchdringend ins Gesicht. „Ihr Versuch, einen Schutzschild nichtssagender Gedanken aufrechtzuerhalten, hindert mich nicht, Ihre Gedanken zu lesen. Sie haben tiefe innere Konflikte, Zweifel, wichtige Fragen, aufrichtige Sorgen. All das wird sich in den nächsten Stunden lösen. Und dann, vielleicht morgen, müssen wir beide miteinander reden — allein.“
„Eine große Ehre!“ flüsterte Carla. Ari war sprachlos. Er konnte nur nicken. Die Gegenwart dieses Mannes war genauso hypnotisierend wie die Elors.
„Er ist wirklich bemerkenswert, nicht wahr?“ sagte Carla begeistert. Aber Del Sasso sah bereits wieder an Ari vorbei zur nächsten Person in der Schlange, dem Delegierten aus Frankreich, der Ari vor kurzem anvertraut hatte, daß er sich seit Jahren sehr für das Okkulte interessiert hatte — und daß viele der Spitzenpolitiker Frankreichs dasselbe Interesse hatten.
„Dr. Ari Thalberg“, sagte eine krächzende Stimme, und Ari bemerkte, daß er von Del Sassos starkem Arm weitergeschoben worden war und nun von Dr. Frank Leighton begrüßt wurde, dessen Namensschild ihn als den Gründer und Direktor des Parapsychologischen Forschungszentrums auswies. „Carla hat mir sehr viel von Ihnen erzählt. Wir sind so froh, daß Sie kommen konnten. Ich bin sicher, Sie werden einen wichtigen Bericht mit nach Israel zurücknehmen können — etwas, was die Jerusalem Post sehr gern drucken wird.“
„Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre, hier zu sein.“ Worte, bedeutungslose Worte... der Mann ist nicht aufrichtig, erkannte Ari instinktiv und ging rasch weiter.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Ari damit, ziellos auf dem Gelände umherzulaufen. Er befand sich in einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Überzeugungen. Und er fühlte sich entblößt. Del Sasso hatte ihn mühelos durchschaut. Dennoch hatte er ihn nicht öffentlich als Spion oder Verräter in ihrer Mitte gebrandmarkt. Der Mann hatte etwas Aufrichtiges und Charmantes — und doch gleichzeitig auch etwas Unheilvolles. Ein auserwähltes Werkzeug! Genau diese Worte hatte Elor gewählt. Dieser Mann stand zweifellos in Kontakt mit den Neun, und seine Fähigkeiten, die er schon bald vor dieser Versammlung demonstrieren würde, mußten von ihnen stammen. Göttliche Fähigkeiten, die, wie Elor gesagt hatte, eines Tages die gesamte Menschheit besitzen sollte — genau das wurde hier angeboten. Warum auch nicht?
Der Mossad hatte die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Sie hatten ihn auf eine Mission geschickt, die nicht durchführbar war. Weder sie noch er hatten auch nur die geringste Chance gegen Del Sasso oder die Neun. Eine Verschwörung gegen sie war ein geradezu lächerliches Unterfangen. War es möglich, daß der Mossad auch mit seiner Einschätzung von den Absichten der Neun falsch lag? Elor behauptete, daß es so sei. Vielleicht waren sie ja doch nicht gegen Israel. Elor hatte ihn fast davon überzeugt. Wer hatte ein Recht zu behaupten, ihr Versprechen, diese unglaublichen Kräfte mit der ganzen Welt zu teilen, sei nicht aufrichtig?
Auf der anderen Seite waren Yakov und Miriam — und besonders jene Bibelstellen, die sie ihm erklärt hatten — genauso überzeugend. Wenn die Neun Dämonen waren, wie diese beiden Nachfolger Jesu behaupteten, was war dann? Es war ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Aber solche Gedanken mußte er beiseite tun, wenn er seinen Auftrag erfüllen wollte. Und das wollte er, trotz der unmöglichen Schwierigkeiten, die dagegen standen. Weder der Mossad noch die Neun hatten seine Loyalität. Er mußte als allererstes sich selbst treu sein. Es war sein Ziel, die Wahrheit herauszufinden, was auch immer das sein mochte ... und sie dann der Welt zu berichten.
Aris besorgte Gedanken wurden von Del Sassos tiefer, dröhnender Stimme unterbrochen, der um Aufmerksamkeit bat. Als Ari sich umdrehte, sah er, daß sich alle Teilnehmer des Kongresses vor einer erhöhten Plattform versammelt hatten, auf der der große Mönch jetzt hinter einem Mikrofon stand.
„Willkommen zum ,Weltkongreß 666’.“ Diese Worte brachten Ari schonungslos in die Wirklichkeit zurück. Er eilte hinüber, um sich unter die Menge zu mischen, damit er nicht so auffiel. Aber es war unmöglich, sich vor Del Sasso zu verbergen. Sah der Mann denn ständig immer nur zu ihm hinüber?
„Sie alle wissen, daß Name, Zeitpunkt und Inhalt dieser Versammlung von höheren Intelligenzen angeordnet worden sind, die unsere Entwicklung — oder auch mangelnde Entwicklung — seit Jahrtausenden beobachtet haben. Zu diesem Zeitpunkt haben sie sich entschieden, einzugreifen, um uns vor einem sehr wahrscheinlichen nuklearen Holocaust und beinahe sicheren ökologischen Kollaps zu retten ... und die Basis für ein revolutionäres politisches und ökonomisches System zu legen, das ein Neues Zeitalter des Wohlstandes und des Friedens für alle Menschen einleiten wird.“
Bei diesen Worten mußte Ari an die Prophetien denken, die Yakov
und Miriam ihm vorgelegt hatten und die er selbst in der Bibel gelesen hatte — jene Verse, die Yakov für ihn angestrichen hatte. Er konnte machen, was er wollte, es war ihm unmöglich, die Worte der hebräischen Propheten über den Antichristen einfach abzutun. Und er konnte auch nicht leugnen, daß sie den jetzigen Augenblick äußerst treffend zu beschreiben schienen. Ari, der von diesen Überlegungen abgelenkt worden war, wurde kurz darauf wieder in die Gegenwart zurückgebracht, als die fesselnde Stimme begann, die Bedeutung der Zahl 666 zu erklären.
„Sie alle tragen — wie ich hoffe, mit großem Stolz und großer Würde — auf einer Anstecknadel, die auch Ihren Namen, Ihr Land und Ihr Amt nennt, die Zahl 666. Durch die Literatur, die Sie alle mit Ihrer Einladung erhalten haben, ist Ihnen bereits mitgeteilt worden, was diese Symbolik bedeutet. Dennoch blieben viele von Ihnen skeptisch und verwirrt. Als sie dem Begrüßungskomitee die Hand gereicht haben, hatten sie Fragen zu dieser Zahl — wenn auch nur wenige diesen Fragen Ausdruck verliehen haben. Einige von Ihnen schienen sogar ziemlich verwirrt zu sein. Erlauben Sie mir deshalb, eine kurze Erklärung der monumentalen Bedeutung dieses historischen Augenblicks zu geben.
Jene von Ihnen, die aus dem Osten kommen, werden wahrscheinlich nicht wissen, daß die westliche Welt jahrhundertelang von der Angst vor einem kommenden Antichristen gequält wurde, der diesen Planeten übernehmen und von jedem Menschen unter Androhung der Todesstrafe verlangen würde, die Zahl 666 zu tragen. Ihr Mut und Ihre Überzeugung, die Sie dadurch bewiesen haben, daß Sie sich heute mit jener gefürchteten Zahl identifizieren, hat dieses machtvolle Tabu im gemeinsamen Unbewußten gebrochen und hat die Welt von diesem Augenblick an von dem lähmenden antichristlichen Aberglauben befreit, der in der Vergangenheit so viele geknechtet hat. Die Welt kann sich jetzt von den negativen Vorstellungen von Sünde und Erlösung und dem erniedrigenden Irrglauben, daß die Menschheit von irgendeinem mystischen ,Gott’ abhängig sei, lösen.
Männer und Frauen guten Willens auf der ganzen Welt werden Ihrem mutigen Vorbild folgen und sich mit der Neuen Weltordnung identifizieren, indem sie eine ähnliche Anstecknadel tragen. Deshalb beglückwünsche ich Sie zu der wichtigen Rolle, die Sie heute spielen. Lassen Sie uns die Gläser erheben und auf die herrliche Freiheit von den zerstörerischen religiösen Überzeugungen trinken, die den Fortschritt so lange erstickt und die Intoleranz gefördert haben.“
Nach dem Applaus hörte man fröhliches Geplauder und das Klingen von Gläsern. Überall konnte man als Trinkspruch hören: „Auf den Frieden auf Erden durch psychische Kraft.“ Ari hatte sich kein Glas genommen, aber ein Marinesoldat reichte ihm sofort eine Champagnerflöte. Bevor er wußte, wie ihm geschah, hatten ein Dutzend Leute mit ihm angestoßen, und einige murmelten dabei: „Auf unsere eigene Göttlichkeit!“
Ari erschauderte unwillkürlich. Yakov und Miriam hatten ihm eingebläut, daß es die Schlange im Garten Eden gewesen war, die Eva diese Überzeugung vorgestellt hatte. „Ihr werdet sein wie Gott“, hatte sie versprochen und damit Gottes Gericht auf die ganze Menschheit gebracht.
Natürlich hatte er diese Geschichte im 1. Buch Mose immer für einen Mythos gehalten. Und doch empfand er ein Gefühl des Grauens, das sich nicht abschütteln ließ, als er jetzt sah, wie dieselbe reizvolle Lüge erneut präsentiert wurde — dieses Mal vor Führungspersönlichkeiten von Weltrang, und durch sie schließlich der ganzen Menschheit.
Die krächzende Stimme des Direktors, der von Del Sasso das Mikrofon übernommen hatte, unterbrach Aris Gedanken. „In wenigen Minuten werden wir zu unserer ersten Versammlung hineingehen, und dort werden Sie dann mit Ihren eigenen Augen die erstaunlichen Fähigkeiten sehen, die Antonio Del Sasso besitzt. Wie Sie bereits durch den Bericht des Weißen Hauses wissen, der jedem von Ihnen zugesandt wurde, besitzt Dr. Del Sasso Kräfte, die kein anderer, ob tot oder lebendig — Krishna, Buddha, Jesus Christus und Mohammed eingeschlossen — je gezeigt hat.
Wir haben nicht vor, ihn anzubeten. Und er hat auch nicht vor, um unsere Anbetung zu bitten. Er ist ein sehr demütiger Mann, dessen einziges Ziel es ist, der Menschheit zu dienen. Antonio erinnert mich immer wieder daran, daß ihn höhere Intelligenzen lediglich dafür ausgewählt haben, der Prototyp für Millionen und schließlich sogar Milliarden von Menschen zu sein, die durch sein Beispiel und seine Anleitung zu gegebener Zeit dieselben gottähnlichen Fähigkeiten entwik-keln werden. Dies ist der Kern des Planes und die einzige Hoffnung auf eine Neue Welt des Friedens, der Liebe und der echten Bruderschaft aller Völker. Erst dann werden wir in die intergalaktische Gemeinschaft der planetarischen Zivilisationen aufgenommen werden können, die seit Jahrhunderten geduldig darauf gewartet hat, daß wir den Kinderschuhen entwachsen — was schon längst hätte passieren
sollen. Was für ein Erbe werden wir an unsere Kinder und Enkel weiterreichen können!
Und nun können Sie durch die beiden Eingänge zu Ihrer Rechten, wo die beiden Marinesoldaten Wache stehen, ins Auditorium gehen. Achten Sie bitte darauf, daß Ihre Anstecknadeln deutlich sichtbar sind, damit Sie eingelassen werden. Wir werden in etwa fünfzehn Minuten drinnen weitermachen.“
Ari ging sofort zum Auditorium hinüber. Das schien der beste Weg zu sein, um jeden weiteren persönlichen Kontakt mit Del Sasso zu vermeiden, der sich unter die Delegierten gemischt hatte, Charme versprühte und sich bereits in Aris Richtung bewegte.
43. Die Hölle bricht los!
Für das Pressekorps, das auf 30 Reporter der angesehensten Zeitungen und Zeitschriften der Welt beschränkt worden war — alle von Carla handverlesen — waren Plätze im Zentrum des Auditoriums reserviert worden. Fernsehberichterstatter hatten keine Zulassung bekommen. Ari fand den für ihn reservierten Platz und setzte sich. Hinter ihm strömten die Delegierten herein. Ari empfand es auf seltsame Weise unheilverkündend, als er beobachtete, wie sich diese kultivierten politischen Führungspersönlichkeiten hereindrängten. Anscheinend waren sie so begierig und aufgeregt wie Kinder, die sich an einem Samstag nachmittag ins Kino drängeln.
Ari hatte gehört, wie unter den Kongreßbesuchern das Gerücht umging, der Präsident der Vereinigten Staaten sei mit Anfragen von Botschaftern, Parlamentsmitgliedern, Senatoren und Kongreßabgeordneten aus aller Welt überschwemmt worden, die unbedingt hatten teilnehmen wollen. Offenbar waren Tausende wegen Platzmangel abgewiesen worden. Und nun füllte sich das kleine Auditorium mit seinen 300 Sitzplätzen rasch mit jenen, die das Glück gehabt hatten, eine Einladung zu erhalten. Simultandolmetscher saßen in ihren Kabinen im hinteren Teil des Auditoriums, und jene Delegierte, deren Englisch nicht ausreichte, setzten Kopfhörer auf und wählten die Zahl ihrer jeweiligen Heimatsprache.
Als die vier Honoratioren durch einen Eingang Unter der Bühne hereinkamen und sich auf eine Reihe von Stühlen direkt hinter dem Rednerpult setzten, wurde es still im Auditorium. Rechts außen saß Del Sasso, als nächster kam Leighton, dann Carla, und ganz links saß Khorev, der noch finsterer aussah als zuvor. Ari fragte sich, wie Carla an Del Sasso geraten war und was mit ihr geschehen würde. Er wurde von Minute zu Minute mehr von bangen Vorahnungen erfüllt.
„Psychische Kräfte? Ich lasse mich nicht so leicht überzeugen“, murmelte der Mann links von Ari. Sein Namensschild wies ihn als Herausgeber des Time Magazins aus. „Das ist doch nur eine Menge Publicity. Ich hoffe, ich verschwende Uer nicht meine Zeit. Was meinen Sie?“
„Oh, ich bezweifle nicht, daß Del Sasso uns ungeheuer beemdruk-ken wird“, erwiderte Ari. „Die Frage ist nur: wer verleiht ihm diese Fähigkeiten, und warum?“
„Wer?“ warf der Mann rechts neben Ari ein, der mit großem Interesse zugehört hatte. „Was meinen Sie mit wer?“
„Sie haben doch auch das Informationsmaterial gelesen. Angeblich hat das alles mit Wesen aus einer nichtphysischen Dimension zu tun“, gab Ari zurück. „Wer sind sie und was haben sie vor? Das würde ich gerne wissen!“
„Wohlwollende, hochentwickelte Wesen, hieß es da ... die uns vor unseren eigenen destruktiven Tendenzen retten wollen. Ich hoffe, das stimmt!“
„Und genau in diesem Punkt bin ich skeptisch“, erklärte Ari. „Ich bezweifle nicht, daß die Kräfte existieren. Ich bin sicher, daß es sie gibt. Aber sind diese Wesen so menschenfreundlich, wie sie behaupten? Darüber mache ich mir Sorgen.“
Ihre weitere Unterhaltung wurde von Leightons kratziger Stimme unterbrochen, die über den Lautsprecher kam. „Meine Damen und Herren, hochverehrte Repräsentanten der Nationen aus aller Welt, geehrte Vertreter der Medien, es ist mir eine große Ehre und Freude, heute jeden einzelnen von Ihnen hier begrüßen zu dürfen.
Wir befinden uns hier südlich von San Francisco, wo im Jahre 1945 Delegierte von weniger als halb so vielen Nationen, wie heute an diesem Ort vertreten sind, voller Floffnung zusammenkamen, um die Grundlagen für die Vereinten Nationen zu schaffen. Heute legen wir die Grundlagen für etwas weitaus Bedeutenderes ... eine Neue Weltordnung, die alle Menschen und alle Nationen gleich und einig machen wird. Wenn wir Erdlinge unsere friedlichen Absichten bewiesen haben, dann können wir uns darum bewerben, in die intergalaktische Gemeinschaft von Zivilisationen aufgenommen zu werden, die uns in ihrer Entwicklung weit überlegen sind und die darauf warten, ihre Technologie und ihre übernatürlichen Kräfte mit uns zu teilen. Wir werden dann ungeahnten Zugang zu dem ungeheueren Universum und seinen unbegrenzten Ressourcen haben.
Wir müssen krabbeln, bevor wir gehen können, Babyschritte tun, bevor wir laufen und dann fliegen können ...“ Ari bemerkte bestürzt, daß Del Sasso ihn anstarrte, als lese er wieder seine Gedanken. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er war nicht mehr warm und freundlich, sondern feindselig. Ari wandte rasch seinen Blick ab. Er mußte gegen einen plötzlichen Schwindel ankämpfen. Du bist ein verlogener Verräter! Du wirst hier nicht lebend herauskommen! Die Anschuldigung kam ihm mit voller Wucht in den Sinn, so, als habe Del Sasso sie telepathisch dort hineingepflanzt.
Ari bemühte sich, wieder Kontrolle über seine Gedanken zu bekommen. Er schien in einen Abgrund zu sinken, in den ihn eine schreckliche Macht unerbittlich hineinzog. Mit großer Mühe erlangte er sein inneres Gleichgewicht wieder, hatte aber in der Zwischenzeit beinahe Leightons ganze Rede verpaßt. Er hörte nur noch die letzten paar Sätze.
„ ... macht es der Empfang der Kraft erforderlich, daß man sich den Anweisungen der Neun unterwirft, bis sie der Meinung sind, daß wir gut in der Neuen Weltordnung verankert sind und allein weitermachen können. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es in jedem Land vergleichbare psychische Führer geben wird, die einen Weltrat bilden können, werden die Anweisungen der Neun durch Antonio Del Sasso übenragen werden. Er ist der Mann, den ich Ihnen jetzt erneut vorstellen möchte — zum einen auf dem riesigen Bildschirm direkt hinter mir, und dann persönlich, um Ihnen live weitere Demonstrationen dieser revolutionären Fähigkeiten zu geben.“
Es gab einen donnernden Applaus. Ari tat kurz so, als applaudiere er auch, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Der kurze Blick voll unverhüllten Hasses in Del Sassos Augen hatte die Angelegenheit geklärt. Dies war eine clevere Falle. Wenn Del Sasso nicht der Teufel selbst war, dann war er zumindest dessen rechte Hand. Ari wollte aufstehen und laut eine Warnung ausrufen, aber er wußte, daß man sie nicht beachten würde. Als er sich in der Zuhörerschaft umsah, war deutlich zu sehen, daß alle begeistert dabei waren — wie Schafe, die zur Schlachtbank liefen. Selbst der Skeptiker vom Time Magazin applaudierte begeistert.
Sollte er aufstehen und gehen? Falls sie ihn gehen ließen, was er bezweifelte, würde er das, was er hier sehen wollte, verpassen. Nein, er hatte eine Verpflichtung, sowohl gegenüber dem Mossad als auch gegenüber der Post— und gegenüber der Menschheit. Er mußte Zeuge der Ereignisse werden und dann die Welt warnen. Del Sasso hatte geschworen, daß er nicht lange genug leben würde, um seine Geschichte zu erzählen. Vielleicht würden seine Chancen für eine Flucht, falls sie überhaupt möglich sein sollte, besser stehen, wenn er jetzt nicht versuchte, wegzugehen, sondern bis zum Ende blieb und sich dann unter die Menge mischte.
Das Licht wurde gedämpft, und auf dem riesigen Bildschirm erschien etwas, das wie die erstaunlichste Demonstration des Übernatürlichen wirkte, die man sich vorstellen kann. Man konnte Del Sasso sehen. Er hielt einen dünnen Draht in der Hand, den er langsam über
einer Karte bewegte. Plötzlich ging der Draht nach unten und ein Assistent eilte hinüber, um sich den genauen Breiten- und Längengrad zu notieren, auf den der Draht wies. Mehrere Geologen erschienen auf dem Bildschirm, die bezeugten, daß Del Sasso auf diese Weise zahlreiche Ölvorkommen in der ganzen Welt aufgezeigt hatte, und zwar an den unwahrscheinlichsten Orten. Die Ölvorkommen seien sogar größer als die unter der arabischen Wüste. Dieser übergroße Reichtum wurde besonders in Gegenden mit großer Armut entdeckt. Die Förderung des Öls würde ganz offensichtlich diese Länder verändern, ihren Lebensstandard auf das Niveau der westlichen Welt heben und so zu weltweitem Reichtum beitragen.
Die nächste Szene zeigte Del Sasso, der in einem pyramidenförmigen Gewächshaus durch seine Hände irgendeine geheimnisvolle Kraft auf ganz normale Pflanzen übertrug, die dort wuchsen. Dann wurde gezeigt, was für Früchte diese Pflanzen produziert hatten: Tomaten, so groß wie Volleybälle, Kohl von der Größe eines Basketballs und Aprikosen, die so groß wie ein Baseball waren. Das Video wurde unterbrochen, und einer der stellvertretenden Minister für Agrarwirtschaft der Vereinigten Staaten kam zu Leighton auf die Bühne und zeigte einige der echten Gemüsepflanzen. Er erklärte, Tests auf den Feldern hätten bewiesen, daß Samen von den Pflanzen, auf die Del Sasso psychische Kraft übertragen hätte, auch auf stark erschöpftem Boden und bei großer Trockenheit gediehen — und daß das Obst und Gemüse, das sie produzierten, mehr als doppelt so viel an Vitaminen und Mineralstoffe enthalte, wie sonst üblich. Offenbar hätte Del Sasso irgendeinen unbekannten Vorgang ähnlich der Photosynthese ausgelöst, der es den Pflanzen ermöglichte, einen großen Teil ihrer Nahrung aus der Atmosphäre und den Sonnenstrahlen zu ziehen.
Das Video lief wieder weiter, jetzt mit einigen Aufnahmen von Dr. Khorev — vor seiner Flucht — in seinem geheimen Labor bei Moskau. Anschließend kam eine erstaunliche Serie von kurzen Szenen aus aller Welt, die rasch aufeinander folgten: Sowjetische Politiker, die in einer geheimen Sitzung im Kreml gerade den fehlgeschlagenen Putsch vom August 1991 planten; Generäle und ihre Adjutanten bei einer Krisensitzung der NATO, die über den Putsch sprachen; das Kabinett des Präsidenten bei einer Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Weißen Haus; Drogenbosse, die sich heimlich in Kolumbien trafen; eine Geheimsitzung der Mafia auf höchster Ebene in Sizilien; der Papst beim privaten Gebet in seinem Gemach; und Offiziere eines sowjetischen Atom-U-Bootes unter der Eiskappe des Pols, die sich auf der
Brücke über einer Karte berieten. Untertitel auf englisch erklärten jede Szene.
Das Licht ging wieder an, und während sich die erstaunte Zuhörerschaft aufgeregt Bemerkungen über das Gesehene zuflüsterte, trat Leighton rasch auf das Podium. „Sie hatten recht!“ flüsterte der Skeptiker zu Aris Linken. „Das ist unglaublich! Ohne jeden Zweifel!“
An nickte ernst. „Aber warum Del Sasso? Was macht ihn so besonders?“
„Nun, er wird es weitergeben ... alle anderen lehren“, war die schnelle Antwort. Der Mann hatte den Köder offensichtlich geschluckt.
„Sie fragen sich, wie wir all diese Aufnahmen von geheimen Treffen überall auf der Welt gemacht haben“, sagte Leighton mit einem selbstsicheren Lächeln. „Sie würden es nie erraten! Sie wurden alle von Antonio Del Sasso aufgenommen, und zwar ohne irgendeine Kamera, von einem Labor aus, das sich am Ende des Korridors zu ihrer Linken befindet. Die Aufnahmen wurden direkt von seinem Gehirn auf das Video übertragen, so, wie Sie es eben gesehen haben.“ Er hielt inne, um sich an der Wirkung seiner Worte zu freuen, und redete weiter, als wieder Ruhe eingekehrt war.
Leighton fuhr fort: „Sie haben zum Beispiel Dr. Khorev in seinem Labor nördlich von Moskau gesehen, zusammen mit einigen seiner Assistenten, die mit ihm an einem geheimen Experiment arbeiteten. Das war, bevor er in dieses Land kam, und er merkte damals nicht, daß diese Videoaufnahme von ihm gemacht wurde. Und bedenken Sie, daß er sich auf einem geheimen und schwer bewachten Armeestützpunkt befand, von dessen Existenz nur einige wenige aus der Kreml-Elite wußten. Ja, erst Dr. Del Sasso entdeckte dieses geheime Labor für den CIA — mit seinen psychischen Kräften!
Ich werde Ihnen nicht erst sagen müssen, was man mit solchen Fähigkeiten machen kann, nicht nur, um den Krieg zu beenden, sondern auch die Kriminalität. Deshalb wählten wir die Aufnahmen von dem geheimen Treffen der Drogenbosse in Kolumbien und der Anführer der Mafia in Sizilien aus. Diese Männer sind noch nicht hinter Gittern, aber Sie können sicher sein, daß sie dort landen werden, sobald der Plan in Kraft tritt. Beides, Krieg und Kriminalität, meine Damen und ITerren der Weltgemeinschaft, werden auf diesem Planeten genauso der Vergangenheit angehören, wie Armut und religiöser Aberglaube!“
Der Sprecher wurde von einer stehenden Ovation unterbrochen.
Als der Beifall abgeebbt war, stellte Leighton mit unterwürfigen Superlativen, die schon an Anbetung grenzten, erneut den Star der Show vor.
Del Sasso verlor keine Zeit, sondern trat sofort in Aktion. „Wir haben heute im Zentrum des Auditoriums etwa 30 Vertreter der angesehensten Zeitungen und Zeitschriften unter uns. Einige dieser Reporter sind vielleicht noch skeptisch. Schließlich sind sie unsere Wachhunde und müssen vorsichtig sein mit dem, was sie berichten. Ich möchte sie Ihnen gerne vorstellen!“
Zum äußersten Erstaunen seiner Zuhörer und zum Leidwesen der Journalisten, die entsetzt aufschrien, wurden sie alle 30 plötzlich aus ihren Sitzen gehoben und schwebten nach oben, bis ihre Köpfe die Decke berührten. Auch die letzte leise Hoffnung auf Flucht, die Ari noch gehabt hatte, schwand dahin. Del Sasso hatte diese Gruppe zweifellos deshalb ausgesucht, weil er sich unter ihnen befand. Das Ungeheuer spielte mit ihm. Es war klar, daß sich — wenn der Zeitpunkt gekommen war — der Haß, den dieser unglaubliche Mann auf ihn gerichtet hatte, auf gewalttätige Weise äußern würde, obwohl er seine Rache mit Sicherheit nicht öffentlich ausführen würde. Nachdem Ari und die anderen eine volle Minute in der Luft geschwebt hatten, wurden sie sanft wieder auf ihre Sitze hinuntergelassen.
Der Applaus war ohrenbetäubend. Jetzt gab es keine Skeptiker mehr. Del Sasso brauchte nichts weiter zu tun. Dennoch fuhr er mit einer raschen Folge von Demonstrationen fort, die alles übertrafen, was Elor Ari gezeigt hatte.
Es gab Materialisationen und Dematerialisationen — und zwar von äußerst spektakulärer Art. Gewehrkugeln, die aus großer Nähe auf ihn abgeschossen wurden, berührten ihn nicht. Ein Oberst der Marine wurde aus der Zuhörerschaft auf die Bühne gerufen und erhielt einen Flammenwerfer. Er schnallte ihn sich auf den Rücken, entzündete ihn an und zielte damit aus etwa sechs Metern Entfernung auf Del Sasso. Die Flamme schoß heraus, direkt auf den großen Mönch zu. Aber als sie sich seinem Brustkorb bis auf etwa einen Meter genähert hatte, verschwand sie. Dann begann Del Sasso, auf den Oberst zuzugehen. Je näher er kam, desdo weiter ging die Flamme zurück, bis plötzlich der Flammenwerfer selbst verschwand, als Del Sasso direkt davorstand.
Die Zuschauer, die bei dieser unglaublichen Vorführung in atemlosem Staunen dagesessen hatten, sprangen spontan auf und brachen in laute Beifallsrufe aus. Del Sasso lächelte unmerklich, verbeugte sich mehrmals und kehrte auf seinen Platz neben Carla zurück. Sie strahlte
vor Stolz und versuchte, Ari in die Augen zu sehen und einen anerkennenden Blick aufzufangen, aber er tat so, als bemerke er sie nicht.
Leighton stand wieder am Mikrofon. „Ich habe jetzt die große Freude, Ihnen den Hauptredner dieses Abends vorzustellen, einen Mann, dessen Anwesenheit nicht nur ein Symbol wissenschaftlicher Größe ist, sondern auch ein Symbol der Solidarität der Vereinigten Staaten von Amerika und der neuen Vereinigung der früheren sowjetischen Republiken — Dr. Viktor Khorev.“
Langsam und bedächtig trat der russische Wissenschaftler auf das Podium, nahm seine Notizen aus einem einfachen Hefter und breitete sie vor sich aus. „Hochverehrte Delegierte aus den Nationen der Welt, verehrte Gäste“, begann er und blickte über seine Zuhörerschaft. „Seit ich in dieses bemerkenswerte Forschungszentrum gekommen bin, habe ich etwas getan, was Sie alle heute abend tun müssen, und zwar sorgfältig und mutig. Ich habe versucht, die immer unglaublicheren Ereignisse in diesen Laboratorien und ihre Bedeutung für die ganze Menschheit zu verstehen.
Was Sie auf dem Video gesehen haben, entspricht alles der Realität, und was Sie hier gerade live auf der Bühne gesehen haben, war nur eine kleine Kostprobe dessen, was dieser Mann vermag. Seine Taten sind allem, was wir in den Jahren meiner parapsychologischen Forschung in der UdSSR erreichen konnten und auch nur zu erreichen hofften, um Lichtjahre voraus. Dasselbe kann auch von der parapsychologischen Forschung in jedem anderen Land gesagt werden.
Wie sowohl Dr. Leighton als auch Dr. Del Sasso bereits deutlich erklärt haben, ist es unmöglich, ohne jene Wesen, die als die Archonten — oder auch die Neun — bekannt sind, solche Kräfte zu entwik-keln. Ich kann Ihnen auf der Basis meiner langen Jahre in der Forschung unwidersprochen sagen, daß keine menschliche Organisation solche Kräfte entwickelt hat oder sie entwickeln kann. Sie kommen ausschließlich von den Neun, die selbst in einer nichtphysischen Dimension des Seins existieren, aber in der Lage sind, auch das physische Universum zu betreten. Diese hochentwickelten Wesen kontrollieren diese Kraft und geben sie, wie und wem sie es wollen. Und jetzt haben sie durch Antonio Del Sasso ihre Bereitschaft erklärt, diese Kraft der Welt zur Verfügung zu stellen, um die Zerstörung dieses Planeten zu verhindern.
Damit die Welt diese Kraft empfängt, müssen wir uns, wie bereits gesagt wurde — und Sie alle haben offizielle Einverständniserklärungen erhalten, die sie mitnehmen und Ihren Regierungen vorlegen müssen,
wenn Sie wieder zurückreisen, damit Sie im Falle der Zustimmung unterschrieben werden — notwendigerweise diesen Wesen völlig unterordnen. Dies muß natürlich durch ihren Botschafter Antonio Del Sasso geschehen. Ich nehme an, Sie alle sind davon überzeugt, daß er eine sehr wichtige Rolle in dem Plan haben wird und daß er auf einzigartige Weise befähigt ist, diese Rolle zu übernehmen. Wenn wir uns den Archonten völlig unterordnen sollen, müssen wir ihnen natürlich auch völlig vertrauen.
Und genau da liegt der Kern des Problems, mit dem ich in den letzten Wochen gekämpft habe. Ich möchte, daß Sie gemeinsam mit mir den Prozeß des Zweifels durchlaufen, den ich selbst durchlebt habe, um Sie dann zu der glücklichen Schlußfolgerung zu führen, zu der ich gekommen bin.
Ich werde Ihnen jetzt berichten, welchen gedanklichen Prozeß ich selbst durchkämpfen mußte. Zunächst einmal bin ich in einem atheistischen Land aufgewachsen und bin selbst ein Atheist. Dennoch erkannte ich, was jeder vernünftige Mensch erkennen muß, nämlich, daß nur Gott allein — falls ein solches Wesen existieren sollte — völliges Vertrauen verdient. Dies ist so, weil Gott definitionsgemäß hebend und freundlich ist und über jede Korrumpierung, selbst durch seine eigenen Wünsche, erhaben ist. Er existiert, weil er ist, vollkommen unabhängig von irgend jemandem oder irgend etwas anderem als sich selbst, und er ist unendlich und braucht von daher nichts von irgend jemand oder irgend etwas anderem, denn er selbst ist ja der Schöpfer aller Dinge. Und weil Gott, wiederum per Definition, unwandelbar ist, können wir ihm sowohl auf der Basis seines Charakters als auch seines Verhaltens in der Vergangenheit völliges Vertrauen entgegenbringen, was seine Handlungen in der Zukunft angeht. Unglücklicherweise existiert Gott nicht, und so bleiben uns nur unsere eigenen Hilfsmittel und Fähigkeiten, und wir können es nicht wagen, uns einem anderen auf Gedeih oder Verderb auszuliefern. Als ich über diese Dinge nachdachte, erschien es mir nur logisch, daß das auch die Neun betraf.
Da sie weniger als Gott sind — ja, sie leugnen sogar die Existenz einer höchsten Gottheit und behaupten, daß jeder von uns selbst ein Gott sei —, wäre es denkbar, daß die Neun von ihren eigenen selbstsüchtigen Wünschen korrumpiert sind. Desweiteren könnten sie sich verändern. Selbst wenn sie in den vergangenen tausend Jahren in ihrem Verhalten der Menschheit gegenüber durch und durch wohlwollend gewesen wären, könnten wir auf der Basis dieser beeindruckenden
Tatsache nicht völlig darauf vertrauen, daß sie sich nicht vielleicht in der Zukunft gegen uns wenden oder uns betrügen würden. An diesem Punkt stand ich vor einem schwerwiegenden Dilemma.“
An dieser Stelle wandte sich Dr. Khorev um und wies auf Leighton und Del Sasso, die beide besorgt aussahen, aber im allgemeinen mit seinem bisherigen Vorgehen zufrieden zu sein schienen. „Dr. Leighton und Dr. Del Sasso wußten von meinen Zweifeln und waren so liebenswürdig, mir bei der Aufarbeitung dieser Zweifel zu helfen. Es war nicht leicht, denn es handelte sich um ein äußerst schwieriges Problem. Die Neun versichern uns, sie wollten nur unser Bestes. Aber wie können wir dessen sicher sein?
Ein überzeugendes Argument ist, daß die Neun den Menschen so weit überlegen sind, daß sie uns eigentlich nicht brauchen. Es scheint nichts zu geben, was wir ihnen bieten könnten, und daher kann es auch nichts geben, was sie möglicherweise von uns wollten. Also hätten sie kein Motiv, uns auf irgendeine Weise zu schaden. Denn was für einen Zweck sollten sie damit verfolgen? Eine Zeitlang übernahm ich diesen Gedankengang. Aber schließlich mußte ich mir eine Frage stellen, die ich bis dahin beiseite geschoben hatte: Wenn die Neun nicht daran interessiert sind, uns zu schaden, warum sollten sie dann daran interessiert sein, uns zu helfen? Warum sollten sie sich überhaupt für uns interessieren? Die Frage verwirrte mich, bis mir klar wurde, daß ich etwas übersehen hatte.“
An diesem Punkt machte Dr. Khorev eine kurze Pause und holte mehrmals tief Luft. Eine beinahe tödliche Stille hatte sich auf die Zuhörer gesenkt. Jedes Auge war unverwandt und voll Erwartung auf Dr. Khorev gerichtet. Leighton saß stocksteif auf seinem Stuhl, und Del Sasso war seltsam regungslos, als sei er dabei, in Trance zu fallen. Der Mossad hatte Ari gesagt, daß seine Macht in diesem Zustand noch stärker würde. Das Grauen, das Ari verspürte, nahm zu. Er hatte das Gefühl, als ob eine geistliche Macht gegen ihn kämpfte und versuchte, die Kontrolle über seinen Verstand zu übernehmen. Nur mit großen Schwierigkeiten und unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft war er in der Lage, seine Entscheidungsmöglichkeiten und die Konsequenzen dessen, was er jetzt in diesem erschreckenden Augenblick erkannte, abzuwägen.
Was dieser russische Atheist über Gott gesagt hatte, traf Ari mit erstaunlicher Wucht. Da war ein Mann, der Gottes Existenz leugnete — etwas, das Ari niemals in letzter Konsequenz getan hatte. Und doch erklärte er Dinge über Gott, über die Ari niemals nachgedacht hatte —
das betraf insbesondere die Gründe, warum man ausschließlich ihm vertrauen konnte. Seine Argumentation war äußerst überzeugend gewesen. Sie hatte eine Flut von tiefen und immer stärker werdenden Überzeugungen freigesetzt, die sich Ari durch seine Diskussionen mit Yakov und Miriam aufgedrängt hatten, die er aber bisher unterdrückt hatte, weil Zustimmung gleichbedeutend mit Unterordnung unter Gott war.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Das Auditorium wurde irgendwie unwirklich, und Dr. Khorevs Stimme wurde zu einem entfernten Brummen, als seine früheren Unterhaltungen mit jenen beiden Nachfolgern Jesu — den einzigen, die er abgesehen von Nicole kennengelernt hatte — mit neuer Kraft in sein Bewußtsein drangen. Er konnte weder die Gültigkeit ihrer Argumente ehrlichen Herzens leugnen, noch konnte er die Worte der hebräischen Propheten, die sie ihm vorgelegt hatten, wegdiskutieren. Tief in seinem Inneren hatte er das schon einige Zeit gewußt, aber die Argumente dieses Atheisten waren nötig gewesen, um ihn zu zwingen, die Wahrheit anzuerkennen.
Dr. Khorevs Stimme, die jetzt die Anspannung zunehmender Angst verriet, aus der jedoch gleichzeitig jener Mut klang, der aus Überzeugung geboren wird und dem dringenden Verlangen, die Welt zu warnen, forderte wieder Aris volle Aufmerksamkeit. „Es war nicht nötig, Vermutungen anzustellen. Die Beweise waren klar und offensichtlich, aber ich war nicht bereit gewesen, sie zu akzeptieren. Man muß sich nur ansehen, was bisher geschehen ist — Frank Leighton könnte es bestätigen, wenn er dazu bereit wäre, und falls nicht, gibt es andere, die vielleicht den Mut dazu haben“ (hier sah er kurz zu Carla hinüber, die ihm zustimmend zuzuhören schien) — „um zu erkennen, daß die Neun denjenigen gegenüber, die an diesem Projekt beteiligt waren, alles andere als aufrichtig gehandelt haben, und zwar von Anfang an.
Sie haben Frieden, Liebe und Brüderlichkeit versprochen. Statt dessen haben sie Gewalt verursacht. Das ging sogar soweit, daß einige von denen, die ihren Versprechen glaubten und sich ihrer Kontrolle unterwarfen, starben oder den Verstand verloren. Sie versprachen, zusätzlich zu Del Sasso Millionen von Medien hervorzubringen, aber bisher haben sie nicht einen einzigen erzeugt — trotz der sorgfältigen Bemühungen in diesem Labor, andere auf dem Psitron auszubilden, derselben Maschine, auf der Del Sasso seine Kräfte entwickelt hat! Inzwischen bezweifle ich, daß sie je vorhatten, außer ihm noch irgendeinen anderen mit Macht auszustatten. Wir haben gehorsam den Neun die völlige Kontrolle über dieses Projekt und unser Leben übergeben, und
bisher ist — abgesehen von den Kräften, die Del Sasso vorgeführt hat, um uns zu verführen — nichts Gutes dabei herausgekommen!“
Ari erkannte die Wahrheit immer deutlicher. Dieser Russe zeigte das Böse in den Archonten, das Ari bei jedem Kontakt mit Elor gespürt hatte, mit großer Deutlichkeit. Es schien jetzt alles vollkommen klar zu sein. Was, wenn die Neun Dämonen sind? Yakov hatte das hieb- und stichfest bewiesen, indem er Elor im Namen Jesu Christi befohlen hatte, zu gehen. Sie sind böse. Ohne jeden Zweifel. Sie sind darauf aus, zu täuschen, zu beherrschen — und vielleicht sogar zu vernichten.
Ari verspürte einen überwältigenden Drang, aufzuspringen und zum nächsten Ausgang zu rennen. Aber das würde mit Sicherheit nichts bringen. Del Sasso könnte ihn auf der Stelle vernichten. Und was wurde aus dem mutigen Khorev? Ari mußte einfach alles hören, was er sagte, und sehen, was mit ihm geschah. Was würde Del Sasso tun? Warum hatte er ihn nicht bereits daran gehindert, weiterzureden?
Die Zuhörer bewegten sich unruhig auf ihren Sitzen, ein Gemurmel kam auf. Plötzlich verspürte Ari eine grauenerregende, uralte, reptilienartige Gegenwart überall um sich herum. So etwas hatte er noch nie erlebt, noch nicht einmal im Traum daran gedacht. Leighton begann, sich zu erheben, sank aber wieder auf seinen Sitz zurück. Er war anscheinend zu fassungslos, um zu reagieren. Jetzt hatte sich eine unheimliche Stille über das Auditorium gelegt, wie die Ruhe vor einem Sturm. Nur das unheimliche Geräusch des Atmens war zu hören. Die Zuhörer waren starr vor Schreck.
Dr. Khorevs Worte kamen jetzt wie ein Flut aus seinem Mund. Es war, als beeilte er sich, um noch alles sagen zu können, was er sagen wollte. „Was mich dabei beunruhigt, ist die totale Kontrolle, die sie fordern. Ich habe den Terror des Totalitarismus erlebt. Ja, im Augenblick werden in meinem Heimatland — einem Land, das ich sehr liebe — viele Veränderungen vorgenommen. Und dennoch ist dieses Land noch sehr weit von der Freiheit entfernt, die allen Menschen heb und teuer ist, jener Freiheit, die ich im Westen gesucht habe und die, wie ich erkennen mußte, selbst liier fehlt.“
Ari mochte seinen Ohren nicht trauen. Und es schien noch unglaublicher, daß weder Leighton noch Del Sasso etwas unternahmen, um Khorev aufzuhalten. Hatten sie Angst, vor dieser Zuhörerschaft eine noch schlimmere Szene hervorzurufen und ließen Dr. Khorev deshalb einfach zu Ende reden, um ihn dann als unglaubwürdig zu bezeichnen? Und was war mit den Neun? Warum hatten sie ihn nicht zum Schweigen gebracht? War es möglich, daß Yakov mit seiner Erklärung
recht hatte und weder sie noch Del Sasso so allwissend waren, wie sie behaupteten? Andernfalls hätten sie Khorevs Absichten doch im voraus gekannt und er wäre jetzt nicht da vorne am Rednerpult.
„Diese Versammlung ist von größter Bedeutung. Sie, die Sie heute hier anwesend sind, halten die Zukunft der Welt in Ihren Händen. Alles hängt davon ab, ob Sie sich dem Willen der Neun beugen, oder ob Sie sich ihm widersetzen. Ich warne Sie hiermit: Wenn Sie sich ihrer Kontrolle unterordnen, wird diese Welt in ein riesiges Gefängnis verwandelt werden — kein Gefängnis, in dem Leiber in Zellen eingesperrt sind, sondern eines, in dem man nicht mehr selbst denken kann. Das Paradies, das die Neun anbieten, wird die unbeschreibliche Hölle eines bösartigen Totalitarismus sein, der bösartiger sein wird als alles, was diese Welt je gesehen hat...“ Khorevs Stimme war zu einem verzweifelten Crescendo angeschwollen.
Leighton schien endlich seine Lähmung abgeschüttelt zu haben. Er sprang auf, rannte zum Podium und versuchte, Dr. Khorev das Mikrofon zu entreißen. In einem letzten verzweifelten Versuch rief der Russe aus: „Verschließen Sie Ihre Gedanken vor dem Einfluß der Neun. Wehren Sie sich. Lassen Sie nicht zu, daß sie Ihnen ihren Willen aufzwingen.“ Eine Wache kam nach oben gerannt und packte Khorev, riß ihm das Mikrofon aus den Händen und warf ihn auf den Boden der Plattform.
Das war der Augenblick, in dem sich die Wut der Neun entlud, und es geschah mit einer Gewalt, die jeden vernünftigen Gedanken beiseite fegte. Die Stille wurde von einem Schrei unterbrochen, der aus Del Sassos Kehle kam. Er hatte eine meditierende Yoga-Haltung eingenommen und schien sich jetzt in tiefer Trance zu befinden. Sitze wurden vom Boden gerissen und durch die Luft geschleudert. Diejenigen, die darauf gesessen hatten, wurden umhergeworfen, als wären sie Treibgut auf stürmischer See. Das ganze Auditorium befand sich in einem gewaltigen Chaos. Riesige Stücke des Daches krachten herunter und zerschmetterten die Delegierten reihenweise. Das Grausigste von allem war, daß die Balken aus geleimtem Holz, die die Decke stützten, zu langen Speeren zersplitterten. Sie flogen durch die Luft wie ferngelenkte Geschosse und spießten jene auf, die wie wild über menschliche Körper und Trümmer krabbelten und versuchten, zu den Ausgängen zu gelangen.
Die wenigen, die dicht genug an den Ausgängen gesessen hatten und es schafften, sie zu erreichen, ohne getötet zu werden, mußten feststellen, daß die Türen verschlossen waren und ihnen die Flucht aus dem
Inferno verwehrten. Sie hämmerten hilflos mit den Fäusten gegen die Türen und Wände und schrien nach Hilfe. Einige starben an Hysterie, die übrigen wurden von dem Trümmerregen des einstürzenden Daches erschlagen. Es schien, als würden die Trümmer von einer Intelligenz, die alles sah und die Zerstörung steuerte, auf die Menschen unten gelenkt. Die Neun hatten offensichtlich vor, keinen einzigen Überlebenden entkommen zu lassen, um die schreckliche Wahrheit zu berichten.
Für das Pressekorps schien ein besonderes Geschick reserviert zu sein. Ob es nun an ihrem besonderen Training lag, Ereignisse genau zu beobachten und dann darüber zu berichten, oder ob eine unsichtbare Hand sie alle gehalten hatte — sie blieben alle starr vor Faszination sitzen und starrten um sich, als fühlten sie sich gezwungen, Zeugen dieses nackten Grauens zu werden. An hatte verzweifelt versucht, von seinem Sitz aufzustehen, aber er konnte sich nicht rühren. Es war, als hielte ihn eine unsichtbare Macht fest.
Ari konnte Dr. Leightons krächzende Stimme hören, der — das Ende seines unseligen Traumes vor Augen — die Neun verfluchte. Plötzlich ging er in Flammen auf und seine Schreie wurden rasch von der intensiven Hitze verschluckt, während beinahe gleichzeitig sein Körper zu schmelzen schien und zu Asche wurde. Ein uniformierter Mann auf der Plattform, offenbar der Leiter des Sicherheitsdienstes, den Ari zuvor dabei beobachtet hatte, wie er einigen Wachen Anweisungen gab, wurde von einem schweren Stück der Decke getroffen und zu Boden geworfen. Er stützte sich mühsam auf einen Ellenbogen, zog seinen Revolver aus der Tasche und feuerte voll Wut einige Kugeln auf Leightons sich auflösenden Körper ab. Dann richtete er die Waffe auf Del Sasso, der in Trance war und in Yoga-Position auf seinem Platz saß. Aber die Waffe wurde dem Uniformierten aus den Händen gerissen; ein schwerer Balken krachte herab und zerschmetterte seinen Schädel.
Ari, der sich immer noch nicht von seinem Sitz erheben konnte, hatte vergeblich versucht, in dem schrecklichen Chaos Carla zu entdecken. Dann sah er, wie sie hinter einem Bühnenvorhang wieder zum Vorschein kam und auf die Plattform zu Khorevs lebloser Gestalt zurücklief. Er war von einem Stück der Beleuchtungsschiene, das auf ihn heruntergekracht war, eingeklemmt worden. Sie und Khorev brauchten Hilfe. Es mußte einen hinteren Bühnenausgang geben. War das vielleicht eine Fluchtmöglichkeit? Dieser Gedanke schien den Bann zu brechen, der ihn gefangengehalten hatte.
Mit großer Mühe kämpfte sich Ari auf die Füße. In dem Augenblick öffnete sich ein großes Stück des Bodens unter ihm. Er spürte, wie er zusammen mit dem Rest der Presseabteilung in völlige Dunkelheit hinunterfiel. Er konnte absolut nichts sehen, nicht einmal seinen eigenen Körper. Plötzlich fiel er auf etwas, was sich wie ein steiler, sandiger Abhang anfühlte.
Ari spürte, wie er, immer noch in völliger Dunkelheit, schnell den Abhang hinunterrutschte, und fragte sich, ob er jemals enden würde. Er konnte die entsetzten Schreie derer hören, die an ihm vorbeifielen. Sie verschwanden ohne ein Echo in der leeren Tiefe, als ob der Abgrund, in den sie alle fielen, keinen Boden hätte. Schließlich krachte er mit großer Wucht gegen ein hartes Hindernis und verlor das Bewußtsein.
44. Ein Traum wird wahr
Tot ... lebendig ... irgendein Stadium dazwischen? Ari spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Leib. Wie lange er dort gelegen und immer wieder bewußtlos geworden war, wußte er nicht. Als er schließlich das Bewußtsein vollständig wiedererlangt hatte, bewegte er ein Glied nach dem anderen und kam dann zu dem Schluß, daß er zwar voller blauer Flecke, aber ansonsten noch ganz war. Hatte einer von den anderen überlebt?
„Hallo“, rief er in die Dunkelheit hinein. Nichts. Nur das Echo seiner eigenen Stimme. „Ist dort jemand?“ rief er noch einmal. Die Echos sprangen hin und her, während sie in der Ferne verschwanden — dann nichts als Stille. Allein! Diese plötzliche Erkenntnis war erschreckend. Wo war er?
Er streckte eine Hand nach hinten aus und suchte eine Stütze, um sich aufzurichten. Aber seine tastende Hand traf auf keinen Widerstand, wodurch er das Gleichgewicht verlor und beinahe über den Rand und noch tiefer in den Abgrund gefallen wäre. Uber ihm war der Hang, den er hinuntergerutscht war. Er schien in einen schmalen Sims zu münden und dann jäh abzufallen.
In welche Richtung sollte er kriechen? Vielleicht war es ja egal. Konnte er Gott um Hilfe bitten? Natürlich mußte es irgendwo einen Schöpfer geben — aber er hatte nie daran geglaubt, daß er auf irgendeine Weise an seinen Geschöpfen interessiert sei. Und doch hatte Kho-rev, obwohl er ein Atheist war, argumentiert, daß Gott, falls es ihn gäbe, Moral, Gerechtigkeit und Liebe in ihrer reinsten Form darstellen würde ... und Ari hatte endlich das zugegeben, was er schon sein ganzes Leben lang gewußt hatte: daß Khorev recht hatte. Vielleicht würde ihm dieser Gott jetzt helfen, obwohl er ihn immer verleugnet hatte. Eine andere Hoffnung gab es für ihn nicht mehr.
„Gott, hilf mir!“ Ari erschrak, als er hörte, wie er die Worte laut aussprach. Er fühlte sich wie ein Narr, als das Echo seine Bitte mehrmals wiederholte, bis sie in der Ferne verhallte. „Hilf mir, Gott! Hilf mir!“ Es war ein verzweifelter Schrei aus der Tiefe seines Wesens — und er gab damit zum ersten Mal in seinem Leben zu, daß er Hilfe von jemandem brauchte, der größer war als er selbst. In diesem dunklen Loch der Verzweiflung erkannte er seine Selbstbezogenheit und seinen Stolz endlich als das, was sie waren — absolute Torheit. Warum hatte er das bisher nie gesehen?
Ari tastete wieder um sich und fand etwas, das sich wie ein Felsen anfühlte, auf den er anscheinend gestürzt war und der verhindert hatte, daß er weiter in den Tod fiel. Er stützte sich auf diesen festen Halt und schaffte es, auf die Knie zu kommen, um dann weiterzukriechen. War das ein schwacher Lichtschimmer dort vorne? Er zog sich höher auf den Felsen. Ja, von dieser neuen Position aus konnte er einen winzigen Lichtpunkt in der Finsternis ausmachen.
„Gott, hilf mir!“ sagte er noch einmal. Dieses Mal wußte er, daß jemand zuhörte. Irgend etwas hatte sich tief in ihm verändert, als er dieses Gebet aussprach. Der Gott, an den Nicole geglaubt hatte, der Gott, an den Yakov und Miriam glaubten — von dem sie behaupteten, er sei der Gott der Bibel, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs — das war der Gott, an den auch Ari glaubte. Das wußte er jetzt.
„Ich glaube an dich, Gott. Ich glaube.“ Ein Schluchzer drang aus seiner Kehle. „Ich glaube!“ Jetzt wollte er unbedingt weiterleben, um Yakov und Miriam von diesem Wunder zu berichten. Ja, von diesem Wunder.
Er tastete sich vorsichtig auf Händen und Knien am Rande des Abgrunds entlang und begann seine gefährliche Reise zum Licht. Er kam nur langsam voran. Sein Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Er zwang sich, trotz der Qualen weiterzukriechen. Es war unmöglich zu sagen, wie weit es noch bis zu diesem winzigen hoffnungspendenden Lichtsignal war oder ob er überhaupt einen Weg dorthin finden würde. Aber er durfte jetzt nicht aufgeben.
Ari merkte zum ersten Mal, daß ihm kalt war. Seltsam, daß er das nicht schon eher bemerkt hatte. Das könnte ein wichtiger Faktor seines Überlebens werden. Wenn er sich bewegte, war sein Körper warm — und bewegen mußte er sich, so schnell wie möglich, und dabei sehr vorsichtig sein, damit er nicht abstürzte.
Als er langsam weiterkrabbelte, schien der Sims breiter zu werden, bis er nicht mehr sagen konnte, ob er sich noch am Rande eines Abgrunds befand. Nach einiger Zeit schien er an einem größeren Hindernis vorbeizukommen, denn der ferne Lichtpunkt wurde um einiges heller. Aber er hatte sich nur wenige Meter weiter bewegt, als das Licht allmählich schwächer wurde. Panik stieg erneut in ihm auf.
Bleib ruhig! Draußen muß es jetzt dunkel werden. Das dürftige Licht in der Ferne wurde rasch schwächer. Schon bald würde es wieder stockdunkel sein. Es wäre töricht, sich weiter vorzutasten. Ohne das Licht als Fixpunkt konnte er eine falsche Richtung einschlagen und würde womöglich das Licht nie wiederfinden. Er tastete seine Umge-
bung ab, und als er Gewißheit hatte, daß der Platz, wo er sich befand, sicher war, legte er sich hin und fiel trotz der durchdringenden Kälte in einen unruhigen Schlaf.
Als er erwachte, zitterte er heftig. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte oder wie spät es war. Der Boden, auf dem er lag, war feucht. Er war schon beinahe durstig genug, um jede Flüssigkeit, die er fand, aufzulecken. Er tastete sich vor und krabbelte einen leichten Hang hinauf, bis er weiter oben eine sandige Stelle fand, die trocken zu sein schien. Er wühlte sich in den Sand, legte sich auf die Seite, zog Arme und Beine an und fiel schließlich in einen tiefen Schlaf.
Als er aufwachte, zitterte er wieder. Aber dieses Mal war das Licht in der Feme wieder aufgetaucht. Während er es beobachtete, wurde es langsam heller. Endlich Tageslicht! Unter Schmerzen begann er wieder, sich vorwärts zu tasten und weiterzukriechen und stieß unzählige Male mit dem Kopf gegen Felsen oder riesige Stalaktiten, die von der Höhlendecke herabhingen.
Soweit er es einschätzen konnte, verbrachte er den ganzen Morgen damit, sich seinen schmerzhaften Weg durch ein Labyrinth zu suchen, das manchmal an einer Felswand und manchmal an einem tiefen, finsteren Abgrund endete. Dann, als er sich um eine hohe Wand aus nassen, schlüpfrigen Felsen herumgetastet hatte, wurde das Licht plötzlich so stark, daß er zum ersten Mal den Boden erkennen konnte, auf dem er sich bewegte. Zu seiner großen Freude sah er rechts von sich etwas, das wie Wasser aussah. Das neue Licht reflektierte auf der Wasseroberfläche. Er war, ohne es zu wissen, um einen unterirdischen See herumgekrochen. Wie ein Verrückter warf er sich auf die Knie und trank in großen Zügen.
Als Ari wieder aufstand, kam er viel schneller voran. Er ließ den See hinter sich und schwankte und stolperte über das unebene Terrain. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. In dem immer heller werdenden Licht kletterte er über einen hohen Haufen Felsen und Geröll und erreichte den oberen Rand eines Abhanges. Und dort, es war schwer zu sagen, wie weit entfernt, konnte er jetzt durch eine kleine Öffnung Bäume und den Himmel erkennen.
Danke, Gott! Ich werde es schaffen! Kaum hatte Ari zu Ende gedacht, als er entsetzt erkannte, daß ungefähr fünfzehn Meter vor ihm das Gelände in einer Schlucht verschwand, die jedes Entkommen aus der Höhle unmöglich machte. Wenige Augenblicke später stand er am Rande einer steilen Klippe, die in einen Spalt hinabführte. Er war nicht breiter als zwanzig Meter, dafür aber so tief, daß Ari den Boden
nicht sehen konnte. Aus großer Tiefe drang das laute Tosen eines reißenden Sturzbaches nach oben, dessen donnernder Lärm in den letzten Minuten immer lauter geworden war. Links von Ari war eine senkrechte Felswand, die bis zur ungefähr fünfzehn Meter hohen Decke ging. Rechts von ihm wand sich der Spalt um eine Kurve. Er führte den Weg, den er gekommen war, zurück und wurde zum See hin immer breiter. Er war vollständig abgeschnitten!
Sollte das das Ende sein? Er war bis in Sichtweite eines Auswegs gekommen. War es nun unmöglich, ihn zu erreichen? Noch einmal sah er sich suchend in der Höhle um, rechts und links, oben und unten, so weit er sehen konnte. Es stand endgültig fest — er war in eine Sackgasse geraten.
„Hilfe!“ schrie er. „Hilfe! Ich bin hier! Hilfe!“ Die Worte gingen in dem ohrenbetäubenden Brausen des Flusses unter.
Ari setzte sich auf einen Felsen, um nachzudenken. War dies eine Höhle, die Hobby-Höhlenforschern bekannt war? Vielleicht. Er hatte allerdings keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, daß jemals irgend jemand die Kluft, vor der er jetzt stand, überquert hatte. Wahrscheinlich gab es noch einen anderen Eingang, und die Erkundungen fanden alle in einem anderen Teil der riesigen Höhle statt. Der Kongreß war an einem Montag zusammengetreten. Heute war Dienstag. Also waren es noch vier Tage bis zum Wochenende, an dem möglicherweise jemand kam, um die Höhle zu erforschen.
Ari war ausgehungert, seine Kehle war ausgedörrt und der See lag mindestens zwei Stunden hinter ihm. Er verspürte erneut, daß der Tod unausweichlich war. Erschöpfung, Schmerzen, Hunger, Durst — alles ließ sich ertragen, solange man noch Hoffnung hatte. Aber jetzt, wo alle Hoffnung geschwunden war, übermannte ihn schließlich doch die Verzweiflung.
Ari hatte nie richtig über den Tod nachgedacht. Wenn es geschah, hatte man zumindest kein Bewußtsein mehr. Am besten, man machte es schnell. Das würde die Existenz beenden — zumindest hatte er immer so gedacht. Dann hatte Yakov einmal in einem seiner regelmäßigen Versuche, ihn zu bekehren, dieses Thema angeschnitten, und es hatte eine hitzige Diskussion gegeben. Yakovs Argumente waren schlicht, aber wirkungsvoll gewesen. Jetzt fielen Ari seine Worte wieder ein.
„Wenn das Leben im Vergessen endet, dann führt es ins Nichts — und wenn es ins Nichts führt, dann hat es keinen Sinn“, hatte der alte Mann argumentiert. „Und das kann man nicht glauben. Denn das
würde auch bedeuten, daß das Universum ein Ort der Ungerechtigkeit wäre — und das ist unmöglich, denn der Gott, der es gemacht hat, ist unendlich gerecht. Es muß einfach so sein, daß man weiter existiert, selbst nachdem diese Leiber sterben, damit das Leben einen Sinn hat und damit Gott Gericht über uns halten kann.“
Ari hatte Yakovs Argument wegen der damit verbundenen Konsequenzen abgelehnt. Jetzt glaubte er. Er konnte Khorev für diese neue Überzeugung danken — einem Mann, der überhaupt nicht an Gott glaubte.
Als er und Miriam sich voneinander getrennt hatten, war es wegen genau dieser moralischen Fragen gewesen. „Du willst nicht an einen Gott glauben, der sich persönlich für dich interessiert, Ari“, hatte sie gesagt, „weil du dich dann ihm gegenüber verantworten müßtest. Das könntest du nicht ertragen. Du hast selbst über dein Leben bestimmt, ohne dich im geringsten darum zu kümmern, was dein Schöpfer von dir erwartet.“ Ari konnte ihr Gesicht vor sich sehen. Sie hatte ihn voller Mitleid angesehen, als sie das sagte. Und er hatte zugegeben, daß das genau die Gründe waren, weshalb er nicht an solch einen Gott glauben wollte.
Aber in den letzten 24 Stunden hatte er durch einen Atheisten zum Glauben an einen Gott gefunden, der sich um ihn als Person kümmerte — und er hatte diesen Gott sogar um Hilfe gebeten. Aber das war doch sicherlich keine einseitige Sache. Wie konnte er Gott um Hilfe bitten und dabei weiterhin gleichgültig gegenüber Gottes Ansprüchen auf sein Leben bleiben? Sollte Gott sein kosmischer Laufbursche sein, der ihn rettete, ihm gab, was immer er wollte, und doch keinerlei Recht haben, ihm zu sagen, wie er leben sollte? Das war nicht sehr logisch.
Seine Beziehung zu Nicole war wegen eben dieser Frage zerbrochen: Ob Gott moralische Richtlinien gegeben hatte, nach denen man leben mußte, oder nicht. Wenn er Gott darum bat, sein Leben zu retten, dann mußte er auch Gott entscheiden lassen, was für ein Leben das sein sollte. Und hatte Gott nicht schon immer diesen Anspruch besessen, einfach aufgrund der Tatsache, daß er ihm seine Existenz verdankte? Und doch hatte er Gott immer aus seinem Leben herausgehalten. Er hatte nach seinen eigenen Launen und Wünschen gelebt, wie sowohl Nicole als auch Miriam ihm ehrlich gesagt hatten.
„Sünde richtet sich gegen Gott, Ari“, hatte Miriam argumentiert. Und genau das hatte auch Nicole erklärt. Seine Weigerung, zuzuge-
ben, daß er sich Gott gegenüber zu verantworten hatte, hatte ihn von den beiden Frauen getrennt, die er liebte.
Er sah das Straßencafe vor sich, die Touristen, die ihre Kameras mit sich herumschleppten und vorbeischlenderten, den großen, orangenen Sonnenschirm, der ihren Tisch beschirmte, seine Fransen, die sanft im Wind flatterten, ja, sogar den Platz, an dem sie an jenem Abend in Paris gesessen hatten. Und als wäre es erst gestern gewesen, hörte er noch einmal, wie ihn Nicole fragte: „Hältst du es für einen logischen Gedanken, daß Gott, wie du selbst zugibst, die Gesetze der Physik und Chemie festgelegt hat, die die Atome und Moleküle und das Wachstum und die Funktionen unseres Körpers bestimmen, aber keine moralischen Gesetze erlassen hat und sich auch nicht dafür interessiert, wie wir uns in unserer Beziehung zu ihm und zu anderen verhalten?“
In seinem Inneren hatte er gewußt, daß sie recht hatte, aber er war zu stolz gewesen, um das vor Nicole oder Miriam zuzugeben. Aber jetzt, als er erkannte, daß er keinerlei Möglichkeit hatte, sich selbst zu helfen, war ihm dieser törichte Stolz genommen worden. Ja, er mußte zugeben, daß er ein Rebell in Gottes Universum war, daß er nach seinen eigenen Regeln gelebt hatte und sich Gott zum Trotz geweigert hatte, daran irgend etwas zu ändern. Es war eine schreckliche Erkenntnis, die ihn tief im Inneren schmerzte, wenn er an seine völlige Verachtung und Geringschätzung gegenüber dem Gott dachte, der ihn erschaffen hatte und mit unendlicher Liebe liebte.
„Wir haben uns verirrt wie Schafe, die den Hirten aus den Augen verloren haben. Aber Gott legte unsere Sünden auf den Messias, der Gott war und als Mensch auf diese Erde kam, und er starb für unsere Sünden ...“ Ari konnte sich nicht mehr an die genauen Worte erinnern, aber Miriam hatte ihm etwas in dieser Art aus der Bibel vorgelesen. Er war schockiert gewesen, als sie ihm gesagt hatte, daß sie nicht aus dem Neuen Testament, sondern aus einem der großen hebräischen Propheten, nämlichjesaja, Kapitel 53, gelesen hatte. Ganz offensichtlich hatte Jesaja von Jesus geredet, mehrere Jahrhunderte vor dessen Geburt in Bethlehem. Ari hatte das damals schon gewußt. Jetzt war er bereit, es zuzugeben.
„Gott, ich bin ein Sünder ... ich habe deine Gesetze gebrochen ... und gelebt, ohne mich um dich zu kümmern ... um deinen Willen für mein Leben.“ Die Worte kamen zunächst langsam und zögernd und wurden von Schluchzern echter Reue unterbrochen. Dann wurde sein Gebet wie ein Sturzbach, als sei ein Damm gebrochen und die Schuld,
die sich ein Leben lang dahinter aufgestaut hatte, in einer Flut von Tränen und Bekenntnissen freigesetzt. „Es tut mir leid ... ich bin ein stolzer Narr gewesen ..
„Ich will nicht an diesem schrecklichen Ort sterben. Aber ich kann dich nicht bitten, mein Leben zu retten, es sei denn, ich lasse dich auch bestimmen, wie dieses Leben dann aussehen soll. Es tut mir leid, daß ich für mich selbst gelebt habe, daß ich mich geweigert habe, für die Aufgabe, für die du mich geschaffen hast, zu leben ... daß meine Sünden dir so viel Leid und Schmerz bereitet haben. Danke, Herr Jesus. Du liebst mich so sehr, daß du die Strafe, die ich verdiene, auf dich genommen hast, damit mir vergeben werden kann. Danke, daß du für mich gestorben bist!
Oh Herr, ich wünschte, ich könnte hier herauskommen, damit du mich einsetzen könntest, um in dieser Welt etwas für dich zu vollbringen. Aber wenn du das nicht möchtest ... dann tue mit mir, was du willst. Aber ich wünschte, du könntest dich ein wenig über mein Leben freuen. Ich wünschte, ich könnte die Aufgabe, für die du mich geschaffen hast, ausführen. Gott, deshalb möchte ich weiterleben. Aber falls ich niemals von hier wegkommen sollte, dann möchte ich, daß ich die Zeit, die mir noch bleibt, so verbringe, daß du dich darüber freust ...“
Ari brach zusammen und weinte bitterlich. Als die Tränen endlich versiegten, fühlte er sich sauber, befreit und hatte Frieden. Nicole hatte ihm all das schon einmal beschrieben, vor langer Zeit, als er sich noch geweigert hatte, ihr zuzuhören. Es kam ihm jetzt vor, als sei das in einer anderen Welt gewesen. Und jetzt erlebte er dieselbe Verwand-lung.
Nicole! Sie hatte einen Traum gehabt. Er war so real für sie gewesen, daß sie ihm auf dem Flughafen unbedingt davon erzählen mußte. Es war das letzte gewesen, was sie ihm gesagt hatte, bevor sie so brutal erschossen worden war. An erinnerte sich beschämt daran, wie ärgerlich er gewesen war, daß sie ihm davon erzählt hatte, denn in diesem Traum hatte er sich in großer Gefahr befunden und Jesus hatte ihn gerettet. Er hatte eine Kluft überbrückt, die ihm den Weg in die Sicherheit versperrt hatte. Jetzt glaubte er an diesen Jesus. Könnte dies die Erfüllung des Traumes sein?
Seit Nicoles tragischem Tod hatte er oft über die Bedeutung dieser Vision nachgedacht, aber immer nur in bezug auf die Bedeutung, die sie für Nicole hatte. Ich werde noch vor dir in Jerusalem sein. Der Traum war eine Vorahnung ihres Todes gewesen. Aber auch er war in dem
Traum vorgekommen. Er hatte nur nie darüber nachgedacht. Sie hatte sich in einem wunderschönen Paradies voll Frieden und Sicherheit befunden. Er war durch eine Kluft von ihr getrennt gewesen und hatte um Hilfe gerufen. Er war eingekesselt und in Lebensgefahr, und Jesus hatte diese Kluft überbrückt und ihn gerettet, ihn in Sicherheit gebracht!
Würde der, den er verachtet und abgelehnt hatte, jetzt erscheinen und ihn über die Kluft bringen, die ihm die Flucht aus dieser Höhle unmöglich machte?
Sicherlich hatte er um Hilfe geschrien, und Christus hatte ihn gerettet. Es war keine physische Befreiung gewesen, aber eine mit weit größeren Konsequenzen. Wenn er jetzt starb, würde er zu Nicole in den Himmel gehen. Ja, der Traum war wahr geworden. Seine Flucht aus der Tiefe dieser Höhle war nicht mehr nötig. Er konnte jetzt in Frieden sterben.
45. Von den Toten zurück
Sieb noch einmal hin! Hatte er eine Stimme gehört, oder waren die Worte nur seinen Gedanken entsprungen? Sieh genauer hin! Da war sie wieder, und er konnte immer noch nicht sagen, ob es eine Stimme war, die von außen zu ihm sprach, oder Worte, die in seinem Kopf ertönten. Was sollte das heißen? Sieh genauer hin — was sollte er sich genauer ansehen? Die Kluft, die ihm den Weg versperrte? Sollte er nach Möglichkeiten suchen, um sie zu überqueren?
Zögernd stand Ari auf und sah sich um. Es hatte sich nichts verändert. Geh dichter ran, bis an die Kante! Angetrieben von diesem Befehl näherte er sich vorsichtig noch einmal dem Abgrund und sah hinunter in die Tiefe. Dann suchte er beide Seiten der tiefen Kluft ab. Das Tosen des Flusses in der Tiefe machte ihn nervös. Er sah immer noch nichts, was er nicht auch schon vorher gesehen hätte. Da war nichts, was ihn hätte hoffen lassen.
Moment mal! War das da ein Pfad, kaum wahrnehmbar, in einem Sandstreifen inmitten des Gerölls und der Felsen am Fuße der steilen Klippe, die sich über ihm erhob? Unmöglich. Er kletterte über die Felsblöcke, um es sich genauer ansehen zu können, und bemerkte, daß die Felswand nicht bis ganz an den Rand der Kluft ging. Es gab noch einen Abstand zwischen der Klippe und der Kluft, gute 40 cm breit, der um die Felswand bog und direkt an den Rand der Kluft führte. Dort schien der Pfad, falls es überhaupt einer war, zu enden. Konnte er es wagen, ihm zu folgen?
Geh zur Kante! Das war ein Befehl, dem man gehorchen mußte. Er preßte sich gegen die steile Felswand und ging vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, um den Fuß des Felsens herum auf einen schmalen Felsvorsprung, der den schlüpfrigen Rand des Abgrundes einrahmte. Und dann sah er sie, nur etwa ein Dutzend Schritte weiter weg, verborgen in einer Nische — eine natürliche Felsenbrücke, die er von keiner anderen Stelle aus hätte sehen können! Als er sie voll Dankbarkeit und Staunen betrachtete, fiel ihm auf, daß sie eine seltsame Form hatte. Sie hatte allergrößte Ähnlichkeit mit einer riesigen Gestalt, die auf dieser Seite der Kluft kniete und sich mit ausgestreckten Händen und gesenktem Kopfüber die Kluft vorbeugte und gerade noch die andere Seite berührte. Nicoles Traum!
Wie in Trance kletterte Ari auf die seltsame Felsformation und begann vorsichtig seinen gefährlichen Weg auf die andere Seite. Auf
der anderen Seite angekommen, sprang er mit einem erleichterten Schluchzer von dem Felsen und eilte auf das Licht zu. Ein paar Minuten mühevollen Kletterns über Felsen, und er befand sich am Ausgang der Höhle. Er zog sich durch die schmale Öffnung nach oben und war endlich draußen. Er stand auf einem steilen, felsigen Hang und sah in ein bewaldetes Tal mit schlanken Kiefern und hohen Redwood-Bäu-men hinunter. Danke, Herr! Danke, Herr!
Draußen war kein Pfad, der von der kleinen Öffnung im Hang wegführte. Anscheinend war diese Höhle, oder zumindest dieser Teil der Höhle, noch niemals entdeckt worden. Er würde sich seinen eigenen . Weg zwischen den Felsbrocken hindurch suchen müssen. Die Sonne hatte sich bereits hinter den höheren Spitzen dieser Bergkette, die sich an der Küste entlang erstreckte, gesenkt. Das mußte demnach Westen sein. Dann waren Palo Alto und die nächsten Häuser direkt vor ihm weiter unten.
Von Schmerzen, Hunger und Durst geschwächt, ging Ari so schnell er konnte den Berg hinunter in das Tal, das vor ihm lag. Hoch über ihm flog ein Passagierflugzeug vorbei. Bei dem Geräusch blieb er stehen und sah nach oben. Der Dunstschweif, den das Flugzeug hinter sich herzog, färbte sich in den diffusen Strahlen der Sonne, die schon sehr tief am Horizont stehen mußte, orange. Ihm blieben vielleicht noch zwei Stunden mit genügend Licht.
Ari eilte weiter. Als er einen guten halben Kilometer gegangen war, kam er an ein winziges Flüßchen, das den Berg hinunterplätscherte. An einem flachen Teich unterhalb eines kleinen Wasserfalls trank er in hastigen Zügen. Dann zog er seinJackett aus, spritzte sich Wasser über Gesicht und Hals und säuberte die Schnitt- und Schürfwunden aufseinen Händen und Armen. Er nahm den Schlips ab, den er immer noch trug, und warf den ausgefransten, schmutzigen Lumpen in das Unterholz. Er sah schlimmer aus als ein Landstreicher. Er nahm ein Taschentuch, tauchte es ins Wasser, wrang es aus und unternahm einen halbherzigen Versuch, mit dem nassen Tuch zumindest den schlimmsten Schlamm, der an seiner zerrissenen Hose und seinem Jackett festgebacken saß, abzuwischen. Das war also der teure Anzug gewesen, den der Mossad ihm für seine Teilnahme am Weltkongreß gegeben hatte. Bei dem Gedanken daran erschauderte er.
Ari ging weiter und suchte sich seinen gewundenen Weg den Hang hinunter, in Schluchten hinein und wieder heraus, und fragte sich, wie weit er noch gehen mußte — wieweit er noch gehen konnte — , als er plötzlich in der Ferne den Motor eines Autos hörte. Danke, Herr!
Noch zehn Minuten auf einem mühseligen Weg durch dichtes Unterholz und über umgestürzte Bäume, und er kletterte eine steile Böschung hinauf und stand endlich auf Asphalt.
In welche Richtung? Er hatte sich bereits überlegt, daß es nach Palo Alto sicherlich abwärts ging. Er stellte sich auf die entsprechende Straßenseite und wartete. Kaum eine Minute später kam ein Laster mit Baumstämmen, der mit kreischendem Getriebe langsam den Hang hinunterfuhr. Ari winkte und schrie, aber der Fahrer fuhr weiter. Der Sattelschlepper war zu schwer, um zu halten. Dann kam ein Pkw und beinahe unmittelbar hinter ihm ein zweiter. Die Fahrer beschleunigten, als er versuchte, sie zu stoppen. Natürlich — wer würde es schon riskieren, einen Landstreicher aufzulesen, der so übel aussah wie er?
Verzweifelt überlegte Ari, welche Möglichkeiten ihm blieben. Wie konnte er irgend jemanden dazu bringen, anzuhalten?
In dem Augenblick kam ein vorsintflutlicher Pritschenwagen, verbeult und verrostet, keuchend und mit Fehlzündungen den steilen Hang herunter. Ari winkte und schrie. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen der abgenutzten Bremsen kam das Vehikel schlingernd zum Stehen.
„He, Kumpel, irgendwelche Probleme?“ fragte der Fahrer, ein sonnengebräunter Mann um die fünfzig, der einen ausgeblichenen Overall trug. Sein langes, zerzaustes Haar und sein buschiger Bart ließen ihn wie einen Hippie aussehen, der noch aus den sechziger Jahren übriggeblieben war. Seine starke Hand langte aus dem Fenster und entfernte eine ausgefranste Schnur, die die Tür sicherte. Die Hand erstarrte. „Meine Güte, bist wohl in ’nem Wirbelsturm oder sowas gewesen? Wo willst’n du überhaupt hin?“
„Palo Alto. Ist das hier die richtige Richtung?“ fragte Ari hoffnungsvoll. Er mußte schreien, um das laute Radio zu übertönen.
„Absolut, Mann. Da will ich hin. Sag mal, wo haste denn den ausländischen Akzent her?“
„Bin in Deutschland geboren und habe die meiste Zeit in Frankreich gelebt
„So klingste auch. Na komm’ schon rein, Mann, bevor die Kiste hier abstirbt.“
Dankbar kletterte Ari hinein. Einen Moment lang wurde ihm die Komik dieser Situation bewußt. Wer außer diesem Anachronismus aus der „Gib dem Frieden eine Chance“-Ära würde es wagen, ein Wrack wie ihn aufzulesen?
„He, Mann, was is’n dir passiert? In dieser Gegend hat’s seit Wochen nicht mehr geregnet. Wo haste’n all den Schlamm aufgetrieben?“ „Ich muß fürchterlich aussehen“, erwiderte Ari entschuldigend. „Ich habe mich verirrt, bin eine Klippe hinunter in einen Fluß gefallen ..
„Hier gibt’s keine Flüsse in der Gegend. Du mußt ganz schön weit gelaufen sein. Wo is’n dein Auto?“
„Ich meinte einen Bach. Ich bin so müde, daß ich kaum noch denken kann. Vergiß das Auto ... ich muß einfach nur nach Palo Alto.“ „Kein Problem, Mann. Ich bring dich direkt nach Hause.“
„Ich wohne nicht dort ... ich bin in einem Hotel abgestiegen.“ „Ah so. In welchem?“
„Im Hilton.“
„Whouw! Is nich grade meine Gegend ... aber ich weiß genau, wo es ist. Mach’s dir bequem und schlaf ’n bißchen. Siehst so aus, als könnte-stes brauchen. Ich weck dich, wenn wir da sind.“
Der Fahrer löste die Bremsen und setzte seine Fahrt den Berg hinunter fort. Die dröhnende Rockmusik wurde von einer Meldung unterbrochen:
Und hier das Neueste von der Katastrophe in den Ausläufern der Gebirgskette über Palo Alto. Die Zahl der Toten und Vermißten liegt jetzt bei 298, die meisten davon Delegierte aus dem Ausland. Bis jetzt konnte noch nicht festgestellt werden, was die Explosion, die das Hauptgebäude zerstörte und von mehr als 200 Vertretern der Presse direkt vor dem Gelände beobachtet wurde, ausgelöst hat. Die Regierung weigert sich, Auskunft darüber zu geben, woran man dort gearbeitet hat. Unbestätigten Gerüchten zufolge handelte es sich um ein streng geheimes parapsychologisches Forschungszentrum. Von der Stanford-Universität wird jede Verbindung zu ihrem Institut abgestritten.
Bisher weiß man nur von zwei Überlebenden: Antonio Del Sasso, ein Jesuitenpriester, und Carla Bertelli, eine Journalistin, die sich auf Parapsychologie spezialisiert hat. Beide haben offenbar im Zentrum gearbeitet. Es ist jedoch nicht bekannt, was für Funktionen sie ausübten. Del Sasso befindet sich im Krankenhaus und erholt sich von einer Rauchvergiftung und inneren Verletzungen, während Frau Bertelli anscheinend un-
verletzt geblieben ist. Allerdings war es bisher nicht möglich, mit eitlem der beiden Überlebenden zu sprechen.
Carla ist in Sicherheit! Was ist mit Khorev passiert? Und Del Sasso, der miese Kerl — was wird er jetzt tun? Weiß er, daß ich überlebt habe? Ich muß meine Sachen holen, mich waschen ... und zurück nach Israel.
Der Fahrer streckte die Hand aus und stellte das Radio ab. „Das schlimmste Unglück, das hier je passiert is!“ sagte er. „In den letzen Tagen haben se im Radio nichts anderes mehr gebracht. Was halt’n Sie davon ...?“ Er bemerkte, daß sein Fahrgast bereits fest schlief.
Das nächste, was Ari merkte, war, daß ihn jemand wachrüttelte. Er schreckte hoch. Erst wußte er nicht, wo er war, aber dann fiel es ihm wieder ein. Die Höhle ... der Berg ... der Pritschenwagen ...
„Du mußt ganz schön müde gewesen sein! Bist sofort eingeschlafen und hast den ganzen Weg hierher geschnarcht. Also, da ist das Hilton ... auf der andern Straßenseite. Ich dachte mir ... naja, weißt schon ... dies hier is nicht grad ’ne Limousine.“
„Vielen Dank! Wirklich, vielen Dank!“ sagte Ari, der immer noch müde war und so steif, daß er sich kaum bewegen konnte. Unter Schmerzen langte er in seine Tasche. „Hier haben Sie etwas ...“ „Kommt nich in Frage, Mann! Du schuldest mir nichts!“
Ari kletterte aus dem Wagen, warf die Tür zu und winkte, als der Wagen die Straße hinuntertuckerte.
Es war unmöglich, den erstaunten Blicken und geflüsterten Kommentaren zu entgehen, als Ari durch die vielen Menschen in der Eingangshalle humpelte. An der Rezeption beeilte er sich, seine Erklärung loszuwerden, bevor der schockierte Hotelrezeptionist, dem der Mund offenstand, etwas gegen seine Anwesenheit Vorbringen konnte.
„Ich hatte einen unglücklichen Unfall... habe mich in den Wäldern verirrt. Beinahe wäre ich sogar umgekommen, aber es ist schon in Ordnung. Ich habe hier ein Zimmer. Jemand anderes hat mich angemeldet ... ich heiße Ari Thalberg.“
Der Hotelangestellte, ein äußerst gepflegter junger Mann um die Zwanzig, gab Aris Namen in den Computer ein und sah ihn kurz dar-
auf schockiert an. „Sie gehören zu der Delegation für den Kongreß. Man hält Sie für tot
„Ich bin gerade aus den Bergen zurück und habe die Nachrichten gehört. Schrecklich! Es war mir so peinlich, daß ich mich verirrt hatte und die Versammlung verpaßt habe ... aber jetzt ... ich hatte echt Glück! Ich muß auf mein Zimmer.“
„Sie haben Ihr Gepäck anderswo aufbewahrt ... aber ich kann es vom Pagen holen lassen. Ihr Zimmer ist noch frei.“ Der Hotelangestellte zögerte. „Man hält Sie für tot, wissen Sie. Sollten wir die Polizei verständigen?“
„Hören Sie“, sagte Ari, beugte sich über den Tresen und senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Ton. „Dies hier ist mir äußerst peinlich ... ich werde es ihnen selbst mitteilen ... mit meinen eigenen Worten ... nachdem ich mich geduscht habe. In Ordnung? Ich möchte nicht, daß mich irgend jemand in diesem Aufzug sieht!“
Der Mann nickte verständnisvoll. „Hier ist Ihr Schlüssel. Zimmer 342. Wenn Sie möchten, können Sie die Feuertreppe nehmen ... gleich dort drüben. Ich lasse sofort Ihr Gepäck hinaufbringen.“
Nachdem er geduscht und ein riesiges Essen hinuntergeschlungen hatte, das man ihm auf sein Zimmer gebracht hatte, fiel Ari auf das Bett. Er erwachte spät am nächsten Morgen. Die Sonne schien durch die gläserne Schiebetür des Balkons. Nachdem er sich rasiert und auf seinem Zimmer gefrühstückt hatte, rief er eine von einem halben Dutzend Telefonnummern an, die er auswendig gelernt hatte.
„Hallo“, sagte eine tiefe männliche Stimme, nachdem es mehrmals geklingelt hatte.
„Ich habe ein wertvolles Exportpaket, das nach Syrien muß“, sagte Ari. „Es befindet sich in der Lobby des Hilton.“
„Das ist unmöglich! “ kam die verdutzte Antwort. Der Agent meinte offensichtlich, Ari sei tot. Es gab keinen Code für diese Situation.
„Hören Sie, ich bin am Leben“, sagte Ari, „und ich brauche wirklich Hilfe ... schnell.“
„Wir werden die Ware übernehmen ... in ungefähr fünfzehn Minuten.“
Ari packte seine Taschen und ging in die Lobby hinunter. Er hatte
nicht die Absicht, sich abzumelden. Sollten sie ruhig meinen, er sei noch da. Er setzte sich so weit wie möglich von der Rezeption entfernt auf einen Stuhl und wartete. Wer auch immer ihn hier treffen würde, wußte, wie er aussah. Er dagegen hatte keine Möglichkeit, irgendeinen der Kontaktleute des Mossad zu erkennen, wenn er sie sah.
Etwa zehn Minuten später betraten zwei Männer die Lobby und setzten sich in Aris Nähe. Sie blickten sich beiläufig um, zündeten sich Zigaretten an und wirkten gelangweilt. Schließlich rutschte der größere der beiden nervös auf seinem Stuhl hin und her und sagte leise zu seinem Begleiter: „Mein Gott, ich glaube, er ist es wirklich. Es ist das Paket.“
„Ich muß so schnell wie möglich nach Israel zurück!“ sagte Ari leise.
Der zweite Mann stand auf. „Ich werde das Auto herbringen. Wartet zwei Minuten.“ Er drehte sich um und ging wieder durch den Haupteingang hinaus.
Als er sicher im Auto saß und auf dem Weg zum Internationalen Flughafen von San Francisco war, zögerte Ari, zu erklären, was passiert war. „Ich habe unheimlich viel zu berichten ... aber ich weiß nicht, wie dieses Material eingestuft wird ... es ist einfach so unglaublich“, sagte er den beiden Agenten. „Ich werde es nur meinem katsa in Israel berichten. Das ist David Kauly. Teilen Sie ihm mit, daß ich zu ihm unterwegs bin.“
„Das werden wir tun“, sagte der größere der beiden, der sich selbst als Sam und seinen Begleiter als Mike vorgestellt hatte. Offenbar waren das nicht ihre richtigen Namen. Sam sah auf seine Uhr. „Wir liegen gut in der Zeit. Sie werden den nächsten El Al-Flug bequem erreichen.“
„Sie können uns wenigstens sagen, wie Sie überlebt haben“, sagte Mike, der am Steuer saß, „und wo Sie die ganze Zeit gewesen sind.“
„Sie könnten es nicht glauben, wenn ich es Ihnen erzählen würde“, erwiderte Ari. „Ich glaube es ja selbst kaum. Der Boden hat sich buchstäblich geöffnet und die gesamte Presseabteilung fiel in irgendeine unbekannte Höhle hinunter. Ich glaube nicht, daß einer von den anderen überlebt hat. Es ist ein Wunder, daß ich noch lebe ... und daß ich es
geschafft habe, am Spätnachmittag des nächsten Tages einen Ausgang aus der Höhle zu finden.“
„Sie waren also gar nicht im Auditorium, als die eigentliche Explosion stattfand?“ fragte Sam.
„Ich weiß nichts von einer Explosion, obwohl ich gestern abend in den Nachrichten Bilder davon gesehen habe. Zu dem Zeitpunkt war ich schon nicht mehr da ... und ich bezweifle, daß im Inneren noch jemand am Leben war, als es geschah. Sie waren schon auf andere Weise umgebracht worden. Das habe ich gesehen. Ich vermute, die Explosion war nur dazu da, das zu vertuschen, was vorher geschehen war, und um alle Beweise zu vernichten.“
Siebzehn Stunden später holte David Ari am Flughafen Lod in Tel Aviv ab und manövrierte ihn schnell durch den Zoll. Ari war freudig überrascht, als er in die Wartehalle hinaustrat und dort Yakov und Miriam sah. Ihr erleichtertes und erfreutes Lächeln war wie heilender Balsam auf Aris Seele. David hatte Yakov die gute Nachricht mitgeteilt, und er hatte Miriam angerufen. Die drei waren gemeinsam in Davids Wagen gekommen.
„Die Post gab bekannt, du seist tot!“ rief Miriam aus und warf ihre Arme um Ari. „Ich habe es nicht geglaubt.“ Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich weg und sah ihm suchend in die Augen. „Du hast mir etwas Wunderbares zu erzählen. Ich weiß es. Oh Ari, Liebling ...!“ Ari zog sie an sich. „Deine Gebete sind beantwortet worden“, flüsterte er, als er sie an sich drückte.
Dann ließ er Miriam los und umarmte Yakov. Er schluchzte, als er den alten Mann umklammerte. „Du hattest recht, Yakov... du hattest Recht. Es tut mir leid, daß ich es dir so schwer gemacht habe!“ „Ich wußte, daß du durchkommen würdest“, sagte Yakov. „Der Herr hat es mir gesagt — genau, wie er es Miriam gesagt hat.“ David stand etwas abseits. Ihm schien bei der Szene nicht wohl zu sein. Aber er wartete geduldig. Dann führte er sie zum Auto. Yakov saß vorne neben ihm, während Ari und Miriam hinten saßen. Im Augenblick reichte es ihm völlig, Miriam bei sich zu haben und sie festzuhalten. Die Erklärungen, die Einzelheiten, der Bericht seiner unglaublichen geistlichen Reise, die ihren Höhepunkt in den erstaunli-
chen Ereignissen der letzten paar Tage hatte, würde schon noch zur rechten Zeit kommen. Aber diese wenigen herrlichen Augenblicke lang wollte er sein Glück genießen.
„Ich werde mit der Berichterstattung im Hauptquartier bis morgen warten“, sagte David, „und dich in der Wohnung schlafen lassen ... unter der Bedingung, daß du sofort alles auf Kassette sprichst. Wirklich alles. Yakov wird mit dir aufbleiben, bis du fertig bist. Miriam, du mußt dich da raushalten ... geh gleich zu deinen Cousinen. Ari muß einen klaren Kopf haben ...“
Weder Miriam noch Ari hörten ein einziges Wort von dem, was David sagte. In dem Moment fragte Ari Miriam gerade: „Willst du mich heiraten?“ Diesmal war er sich der Antwort sicher.
46. Unter Verdacht
Früh am nächsten Morgen kam David zur Wohnung, holte Ari und das Band, das er und Yakov am Vorabend aufgenommen hatten, und fuhr mit ihnen zum Mossad-Hauptquartier in Tel Aviv. Ari brachte den Koffer mit der Kleidung für zwei Wochen mit, die er hatte einpak-ken sollen, wunderte sich aber, wozu das gut sein sollte. David wirkte ziemlich verbissen und war entweder nicht bereit oder nicht in der Lage, seine finstere Stimmung zu erklären.
„Sag nichts davon, daß du gestern nacht in deiner Wohnung bleiben durftest“, begann David, sobald sie im Auto waren.
„Warum nicht?“ fragte Ari überrascht.
„Es war ein Gefallen, den ich dir getan habe, und eigentlich war ich nicht dazu berechtigt“, sagte David geheimnisvoll. „Wenn du gefragt wirst, mußt du natürlich die Wahrheit sagen. Fang nur einfach nicht von selbst an, darüber zu sprechen.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Du wirst vielleicht lange Zeit nicht mehr in die Wohnung zurückkommen. Ich würde an deiner Stelle auf keinen Fall Hochzeitspläne machen.“
„Was soll das ... schon ein neuer Auftrag? Ich bin gerade erst zurückgekommen. Miriam und ich wollten uns morgen treffen und den Termin festlegen ...“ Aris Stimme wurde vor Enttäuschung immer leiser.
„Nein, es ist kein neuer Auftrag. Du wirst in Schutzhaft genommen.“
„Du glaubst doch nicht etwa, daß Del Sasso — oder Elor — vielleicht hinter mir her sind... Aber du weißt, daß der Mossad nichts gegen sie tun kann. Aber der Messias Jesus kann... und ich stehe jetzt unter seinem Schutz.“
„Erwähne ihn nicht im Hauptquartier!“ warnte David ihn. „Du hast so schon genug Probleme.“
„Probleme? Ich dachte, ich sei ein Held! Ich bin lebend dort rausgekommen und habe Informationen, die sonst niemand kennt... außer Del Sasso und Carla. Und sie werden nicht die Wahrheit sagen.“
„Meinst du, Carla ist auf Del Sassos Seite?“
„Warum sollte sie es nicht sein? Sie haben zusammengearbeitet.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Warum sollte ich nicht? Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst. Sie war diejenige, die mich eingeladen hat ..
„Genau das ist das Problem.“
Zum ersten Mal erkannte Ari, daß David ihn offenbar mißtrauisch betrachtete. „Hör mal, du sprichst in Rätseln. Was ist los?“
„Das wirst du noch früh genug herausfinden. Ich habe schon mehr gesagt, als ich darf.“ Er hörte auf zu sprechen und konzentrierte sich aufs Fahren.
Ari konnte das Gespräch nicht auf diese Weise enden lassen. „David, wir sind seit drei Jahren Freunde. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann sag es mir. Sicher, ich habe dir gestern abend gesagt, daß ich vor zwei Tagen ein Nachfolger Jesu geworden bin. Ich bin davon überzeugt, daß er lebt. Aber Yakov — er ist ein Gläubiger, und jedermann scheint ihn zu respektieren. Ich sehe nicht ein, warum mein neuer Glaube solch ein Problem darstellen sollte.“
„Du weißt, daß dieser Jesus in Israel nicht gut ankommt. Yakov ist ein besonderer Fall ... er ist ein Kriegsheld. Das bist du nicht.“ „Aber Jesus war ein Jude“, protestierte Ari, „und wurde hier in Bethlehem geboren ... warum also dieses Vorurteil? Ich glaube, die meisten Juden wissen nicht, was unsere eigenen hebräischen Propheten über den Messias sagen, und wie Jesus alle Vorhersagen erfüllt. Das kann man nicht leugnen. Hast du jemals ...?“
David unterbrach ihn. „Vergiß dieses Jesus-Zeug. Bei all den Problemen, die du hast, brauchst du das nicht auch noch.“
„Was für Probleme?“
„Ich habe schon zu viel gesagt. Ich werde nicht für die Abnahme deines Berichtes zuständig sein ... der Chef hat den Fall übernommen.“ „Das macht mir nichts aus. Ich meine, er sollte sich selbst anhören, was ich zu sagen habe. Israel befindet sich in großer Gefahr. Es ist unglaublich, was auf dem Kongreß geschehen ist!“
„Genau das ist das Problem — Unglaubwürdigkeit.“
„Du sprichst in Rätseln. David, wir sind Freunde. Wir vertrauen einander
„Sollte ich dir noch vertrauen?“ Davids Stimme klang traurig, so, als sei er verraten worden. Der gequälte Blick, den er Ari zuwarf, sagte mehr als alle Worte.
„Was meinst du damit?“ wollte Ari wissen.
„Was glaubst du denn, was ich meine?“
„Gott ist mein Zeuge, David, ich weiß es nicht. Ich habe für Israel mein Leben riskiert. Ich dachte, daß du, und besonders der Chef,
erfreut darüber wären. Ich verstehe nicht, was los ist. Du mußt dich schon klarer ausdrücken. Ich habe die Informationen mitgebracht...“ „Sie werden dir nicht glauben“, unterbrach ihn David.
„Nun mach aber mal einen Punkt. Du willst mich an der Nase herumführen!“
„Wir haben andere Berichte ... Und jetzt werde ich nichts mehr sagen!“
Ari war schockiert. Andere Informationen, die mir widersprechen?^ dachte eine Weile darüber nach, bevor es ihm dämmerte. Del Sasso und Carla, natürlich — aber der Mossad würde ihnen doch wohl nicht glauben!
„Du meinst Informationen von Del Sasso und Carla?“ fragte Ari ungläubig. „Sie sind die einzigen Überlebenden außer mir, wenn man den Nachrichten glauben kann. Natürlich werden sie sagen, daß ich lüge.“ Er schwieg ungläubig eine kleine Weile. „Du willst doch nicht etwa sagen ... daß das Büro nicht mir, sondern ihnen glauben wird?!“
„Du meinst immer noch, daß Del Sasso und Carla unter einer Decke stecken?“ fragte David und warf Ari einen weiteren mißtrauischen Blick zu.
„Natürlich. Sie haben zusammengearbeitet ...“
„Glaubst du das wirklich?“
„Ob ich das glaube ... ich weiß es! Carla hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß sie dort gearbeitet hat.“
„Fast überzeugst du mich, daß du es wirklich glaubst ...“
„David ... was soll das heißen?“
„Nimm meinen Rat an und ändere deine Geschichte.“
Ari explodierte ungehalten. „Ich kann doch nicht einfach irgend etwas erfinden! Ich werde die Tatsachen berichten ... und der Chef täte gut daran, genau zuzuhören.“
Ein längeres, verlegenes Schweigen folgte. Jedesmal, wenn die gewundene Straße es zuließ, sah David beim Fahren wieder zu dem Mann hinüber, der sein Freund gewesen war, als versuche er, dessen Gesichtsausdruck und Haltung zu analysieren und daraus zu schließen, ob er wirklich die Wahrheit sagte.
„Du glaubst mir nicht“, sagte Ari tief enttäuscht. „Ich verstehe nicht, warum.“
„Ich habe dir geglaubt ... aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher ...“
„Ich weiß nicht, was für Lügen sie auftischen werden ... aber selbst
wenn es zwei gegen einen steht, solltest du mir glauben ... wir sind Freunde gewesen. Und das Büro ... nun, ich bin ein Israeli!“ „Glaubst du wirklich, die Aussage der beiden stünde gegen deine?“ „Sie haben beide überlebt, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von ihnen zugibt, was wirklich geschehen ist!“
„Entweder bist du ein unglaublicher Lügner — oder du sagst die Wahrheit“, sagte David und sank wieder in besorgtes Schweigen.
Ari war wie betäubt. Nachdem er einige Minuten über ihre Unterhaltung nachgedacht hatte, platzte er heraus: „Das ist unglaublich! Warum bist du jetzt gegen mich?“
„Hör mal, falls du es wirklich nicht gewußt haben solltest — und niemand wird dir glauben, daß du es nicht wußtest —: Carla war eine sowjetische Spionin. Sie und Khorev hatten sich miteinander verschworen. Zu diesem Ergebnis sind das FBI und der CIA gekommen. Ihr habt euch schon viele Jahre lang gekannt, und sie hat dich eingeladen ... deshalb sieht es für dich nicht gut aus.“
„Sie ist keme sowjetische Spionin! Darauf würde ich mein Leben verwetten!“
„Was bedeutet sie dir schon? Warum willst du sie verteidigen? Das stellt dich in ein schlechtes Licht. Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Sie ist auch eine Fanatikerin geworden, genau wie du. Sie behauptet, sie hätte das Gemetzel überlebt, weil Jesus’ sie gerettet hat. Es werden allmählich zu viele Zufälle ...“
„Tut sie das?“ rief Ari überrascht aus. Dann muß sie wissen, daß die Neun Dämonen sind! Das ändert alles!
Davids Gesicht drückte einen tiefen inneren Konflikt aus. „Hör mal ... wenn wir nicht so gute Freunde gewesen wären, würde ich dir das jetzt nicht sagen. Es ist mir eigentlich verboten ... aber folge meinem Rat und ändere deine Geschichte. Im Augenblick klingt deine genau wie ihre. Und das ist belastend für dich.“
„Belastend? Warum solltet ihr Del Sasso glauben, wenn ihr zwei Augenzeugen habt, die ihm widersprechen?“
David warf ihm einen weiteren verwirrten Blick zu und sagte nichts mehr.
Als sie beim Mossad-Hauptquartier mit seiner grauen kalten Fassade am King Saul-Boulevard ankamen, wurde David direkt in das große Büro des Leiters des Mossad gebracht, und die Tür wurde geschlossen. Vier weitere leitende Offiziere des Mossad waren bereits da: Yosi Maidan, Moshe Yshai, Shimone Hofi und Eiten Yaar. David begrüßte sie und setzte sich auf einen der beiden leeren Stühle, die im Halbkreis vor dem Schreibtisch des Chefs standen. Der Leiter des Mossad, der gerade sprach, als David eintrat, nickte ihm zu und sprach weiter.
„Er lügt. Wir haben eine Kopie der vollen Aussage, die Del Sasso vor dem CLA gemacht hat — und sie sind sich sicher, daß er die Wahrheit sagt.“
„Und zwar ohne jeden Zweifel“, fügte Eiten Yaar hinzu.
„Wenn Thalberg bei der Versammlung im Inneren des Auditoriums gewesen wäre, hätte er niemals überlebt“, fuhr der Chef fort. „Das ist absolut unmöglich!“
„Diese ,Höhle’, in die er angeblich gefallen ist, ist die größte Lügengeschichte, die ich je gehört habe“, meinte Shimone Hofi. „Hat er wirklich gemeint, wir würden ihm das glauben?“
„Und seine Story stimmt mit der von der Journalistin überein“, erklärte Yosi Maidan. „Sie ist diejenige, die ihn eingeladen hat. Sie war Khorevs Komplizin. Es paßt alles lückenlos zusammen.“
„Wir können nicht zulassen, daß er seine Story verbreitet. Und es darf auch keine öffentliche Verhandlung geben“, sagte der Chef nachdenklich. „Er weiß zu viel. Unsere ganze Operation dort drüben wäre in Gefahr. Wir müssen ihn brechen, sein Gedächtnis zerstören ...“ Die anderen nickten, um zu zeigen, daß sie einverstanden waren.
„Irgendwelche Probleme damit, Kauly?“ fragte der Chef. „Er war dein Mann.“
„Wenn alle der Meinung sind“, sagte David nach einem kurzen Zögern, „werde ich mich nicht dagegen stellen.“
„Diese ganze Geschichte von Archonten — Wesen ohne Körper aus einer anderen Dimension — ist so phantastisch, daß es niemand glauben würde“, meinte Moshe Yschai. „Der CIA und das FBI leugnen natürlich offiziell, daß die ganze Operation jemals etwas mit Archonten zu tun gehabt hat... oder daß sie überhaupt existieren. Wir müssen damit übereinstimmen .... sonst würden wir unsere Operation gefährden. Wir können Thalbergs hartnäckiges Beharren auf Wesen aus einer anderen Dimension benutzen, um zu beweisen, daß er verrückt ist.“
„Eine gute Idee“, stimmten Yosi und Shimone zu. Die anderen nickten.
„Also sind wir alle der Meinung“, erklärte der Chef, „daß wir ... ahm ... auf diese Weise Vorgehen werden, richtig?“ Allgemeines Nicken. „Und jetzt laßt uns besprechen, wie wir es am besten anpak-ken.“
47. In „Schutzhaft“
Nachdem Ari etwa eine Stunde gewartet hatte, wurde er endlich von einem Sekretär hineingebracht. Sobald er den Raum betrat, konnte Ari die Ablehnung spüren. Er war nicht mehr einer der ihren. Sie hatten ihn bereits als Feind abgeschrieben.
Außer dem Chef und David waren noch vier andere anwesend, die Ari fremd waren. Er kannte ihren Ruf, hatte aber keinen von ihnen je getroffen und wurde ihnen auch jetzt nicht richtig vorgestellt. Der Chef nannte einfach rein formell ihre Positionen und Namen. Niemand rührte sich, um Aris ausgestreckte Hand zu schütteln, die er verlegen wieder zurückzog.
Sobald Ari saß, stellte der Chef einen Rekorder an, um alles zu protokollieren. „Sie sind ein kluger Mann, Thalberg“, begann er, „und wir hatten gehofft, Ihre beachtlichen Talente für andere Aufträge überall auf der Welt einsetzen zu können. Aber jetzt haben wir ein Problem ... und ich werde gleich ganz offen mit Ihnen reden. Ihre Geschichte — und ich muß zugeben, daß wir noch nicht alle Einzelheiten gehört haben — widerspricht vollkommen anderen einwandfreien Berichten, die uns zur Verfügung gestellt wurden.“
„Falls Sie Antonio Del Sassos Version von dem, was geschehen ist, meinen“, erwiderte Ari, „dann überrascht mich das nicht. Und es sollte auch Sie nicht überraschen. Er ist ein Feind Israels.“
„Was für Beweise haben Sie dafür?“ wollte der Chef wissen.
„David weiß, daß mehrmals ein Wesen mit mir Kontakt aufgenommen hat... es nennt sich Elor von den Neun. Das ist die Gruppe von Außerirdischen, die Del Sasso seine Fähigkeiten verliehen haben und die mit dem CIA Zusammenarbeiten. Sie wollten mich dafür benutzen, um dem Zionismus ein Ende zu bereiten und um Jerusalem zu internationalisieren ... damals meinte ich noch, das würde den Frieden fördern
„Dieses ganze Zeug von außerdimensionalen Intelligenzen ist ein riesiger Haufen Unsinn ... es taugt noch nicht einmal für eine intelligente Unterhaltung!“ unterbrach ihn Shimone verächtlich.
„Shimone ist derjenige, der diesen Punkt untersucht hat“, fügte der Chef hinzu, der seinen Mann unterstützte.
„Unsinn? Das ist seltsam“, erwiderte Ari. „Mir wurde von jemandem, der sich hier in diesem Raum befindet, gesagt, daß der CIA Kontakt mit ETIs (Extraterrestrischen Intelligenzen) habe, die möglicher-
weise keine physischen Körper hätten — was bedeutet, daß es sich um EDIs (Extradimensionale Intelligenzen) handelt.“ Er wandte sich Unterstützung suchend an David.
„Ich hatte falsche Informationen“, murmelte David entschuldigend, „und habe das erst vor wenigen Minuten herausgefunden.“
„Moment mal!“ beharrte Ari. „Einige deiner Männer ... als du mich beschattet hast... haben Elor und auch die unglaublichen Dinge, die er getan hat, gesehen!“
„Das war der vorläufige Bericht. Aber jetzt gibt es eine Kontroverse darüber, was sie gesehen haben ... eine gewisse Verwirrung ...“, sagte David nicht gerade überzeugend.
„Du kannst doch nicht einfach so plötzlich deine Meinung ändern!“ protestierte Ari. Er wandte sich an den Chef. „Einer Ihrer eigenen Leute hat einen Artikel über die Rolle, die ETIs in der parapsychologischen Forschung spielen, geschrieben und in der Post veröffentlicht — und auch über die von der Wissenschaft akzeptierte Möglichkeit, daß sie unter Umständen so hoch entwickelt sind, daß sie keine Körper mehr brauchen. Was ist damit?“
„Es besteht ein großer Unterschied zwischen ETIs und EDIs“, erklärte Shimone. „Dieser ganze EDI-Betrug wurde von Carla Bertelli verübt — und wir sind darauf so lange hereingefallen, bis wir die Fakten erfuhren. Das Ganze war ein Ablenkungsmanöver, das die Bertelli sich ausgedacht hat, um die Explosion zu erklären, die Khorev und sie geplant hatten. Aber ich erzähle Ihnen hiermit ja nichts Neues ..
„Ich muß protestieren!“ erwiderte An ärgerlich. „Damit klagen Sie mich an.“
„Zurück zu den Fakten“, sagte der Chef. „Sie haben zwei unserer Männer auf dem Weg zum Flughafen von San Francisco erzählt, daß sich der Boden des Auditoriums geöffnet hat und Sie in eine unterirdische Höhle gefallen sind ...“
„Das stimmt“, nickte Ari.
„Ermittlungsbeamte haben die Ruinen sorgfältig untersucht. Sie wollten Leichen finden, versuchen, sterbliche Überreste zu identifizieren und den Grund der Explosion herausfmden. Und obwohl der Boden an einigen Stellen aufgeworfen und aufgerissen ist, gibt es absolut kein Anzeichen für eine Öffnung, wie Sie sie beschreiben. Außerdem haben Geologen über einen Zeitraum von mehreren Jahren diese Gegend sorgfältig kartiert und nach Öl und Mineralien gesucht, und es hat nie irgendein Anzeichen für eine unterirdische Höhle gegeben, schon gar nicht von den Ausmaßen, die sie berichten.“
„Geologen haben sich schon tausendmal geirrt“, gab Ari zurück. „Sie wissen nicht alles. Ich sage Ihnen, die Höhle ist da. Ich glaube, ich könnte die Öffnung, aus der ich herausgekommen bin, wiederfinden. Fliegen Sie mit mir hin und ich werde es Ihnen beweisen!“
„Sie meinen, Sie könnten es beweisen.“
„Ich bin sicher, daß ich es kann. Sie ist nicht groß, aber ...“
„Wir werden nicht auf Hoffnungen und Träume hin nach Kalifornien fliegen. Dieses große Loch im Boden, durch das Sie gefallen sind ... hat es sich von allein wieder verschlossen?“ fragte der Chef sarkastisch.
, „Das kann ich nicht erklären — aber glauben Sie, ich könnte so eine Geschichte erfinden?“ gab Ari zurück.
„Sie sind clever genug, um sonst etwas zu erfinden ... deshalb ist es ja so verwunderlich, daß Sie mit einem derart unwahrscheinlichen Märchen ankommen. Haben Sie wirklich gemeint, wir würden diese abenteuerliche Geschichte glauben?“
„Es ist weder Fiktion noch eine abenteuerliche Geschichte. Ich berichte Ihnen die Wahrheit. Wenn ich lügen würde, würde ich mir nicht so eine Geschichte ausdenken ... ich würde etwas Glaubwürdigeres erfinden.“
„Sie haben zuviel Fernsehen gesehen... und den Bezug zur Realität verloren. Ich bin der Meinung, daß sie psychiatrische Hilfe brauchen.“
Ari holte tief Luft. „Wenn ich so clever bin, wie Sie meinen und mir eine Geschichte ausdenken würde, dann käme ich doch nicht mit etwas so Groteskem an, wie, daß ich in eine Höhle gefallen bin, oder? Ich würde einfach sagen, ich hätte das Auditorium verlassen, um zur Toilette zu gehen ... oder um frische Luft zu schnappen, oder irgend etwas in der Art. Richtig?“
„Ich denke, Sie sind clever genug“, meinte Moshe Yshai, „um sich eine Geschichte auszudenken, die so abstrus ist, daß Sie eben dieses Argument Vorbringen können ... Sie sind ein Genie, das den Bezug zur realen Welt verloren hat.“
„Was ich in diesem Höllenloch durchgemacht habe“, protestierte Ari, „das könnte sich meine Phantasie gar nicht ausbrüten! Es ist ein Wunder, daß ich lebend herausgekommen bin! Es ist alles auf dem Band. Hören Sie es sich an ... ich würde es Ihnen aber auch gern noch einmal erzählen.“
Die Männer um ihn herum schüttelten ihre Köpfe und sahen einander an, als bedauerten sie, daß solch ein hochintelligenter Mann den
Verstand verloren hatte. Ihre Vorführung war so überzeugend, daß Ari sich fast fragte, ob er vielleicht tatsächlich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Nein, er würde ihre Spielchen nicht mitspielen, falls es das war, was sie taten. Was er erlebt hatte, war in der Tat phantastisch und unglaublich, aber es war wirklich geschehen.
„Na gut“, sagte Ari mit einem Achselzucken, „ich weiß nicht, was ich tun kann, um Sie von diesem Teil zu überzeugen. Vergessen wir es vorerst. Worüber wir wirklich sprechen müssen — und das ist alles auf dem Band, das ich David gegeben habe —, sind die unglaublichen Dinge, die im Auditorium geschehen sind, bevor es explodiert ist. Das ist wirklich wichtig. Ich sage Ihnen, Israel ist in Gefahr. Dieser Kerl, Del Sasso ..
„Wo genau waren Sie, als die Explosion stattfand?“ unterbrach ihn Yosi Maidan, der Sprengstoffexperte des Mossad.
„Wie ich Mike und Sam bereits sagte — und Sie werden alle Tatsachen sehr detailliert auf dem Band vorfinden —, war mir nicht bewußt, daß es eine Explosion gegeben hatte, bis ich am darauffolgenden Abend, als ich ins Hotel gekommen war, die Nachrichten sah. Das muß passiert sein, nachdem etwa 30 von uns durch den Fußboden fielen ...“
„Und damit wären wir wieder in Fantasia!“ unterbrach Shimone verächtlich. „Was ist denn mit den anderen 29 geschehen, die angeblich in dieselbe Höhle fielen wie Sie?“
„Sagen Sie mir doch, was mit ihnen passiert ist! Ich wette mein Leben darauf, daß keiner der sterblichen Überreste als einer der Reporter identifiziert worden ist — und daß das auch niemals geschehen wird!“
„Darüber haben wir noch keinen Bericht“, unterbrach der Chef, „aber ich bin sicher, daß man sie finden wird.“
„Wenn man sie findet, können Sie mich nach draußen bringen und erschießen!“ erklärte Ari zuversichtlich.
„Nun, zurück zu Ihrer Geschichte“, beharrte der Chef. „Sie sagen, sie seien in dasselbe Loch gefallen wie Sie. Warum hat keiner von den anderen überlebt und ist herausgekommen?“
„Ich weiß nicht. Nachdem wir ein Stück gefallen waren — es kam mir wie mehrere hundert Meter vor — fiel ich per Zufall auf einen steilen, sandigen Hang und rutschte auf einen großen Felsen, der verhinderte, daß ich über den Rand und weiter in den Abgrund fiel. Das hat mir das Leben gerettet. Die anderen haben weniger Glück gehabt. Ich hörte die Schreie von Leuten, die an mir vorbeifielen. Als ich wieder
bei Bewußtsein war, rief ich nach ihnen, aber es kam keine Antwort. Da drinnen war es totenstill und stockdunkel.“
„Del Sasso hat vor dem FBI unter Eid ausgesagt, Sie seien niemals dort gewesen“, warf Eiten Yaar ein, der bisher geschwiegen und Ari genau beobachtet hatte.
„Dieser verlogene Satan!“ Ari wurde rot vor Wut.
„Er sagt“, beharrte Eiten, „er habe Frau Bertelli extra gefragt, wo der Reporter von der Jerusalem Post sei, und sie sei anscheinend verlegen gewesen und hätte irgend etwas davon erzählt, daß er aufgehalten worden sei, aber bald eintreffen werde
„Das ist eine Lüge! Sie hat mich Del Sasso vorgestellt, und wir hatten eine Unterhaltung, nach der mir sehr unwohl war. Ich habe nicht geträumt. Ich war da — und ich habe mit ihm geredet.“
„Hat Sie jemand in einem Pritschenwagen in die Stadt mitgenommen?“ fragte der Chef.
„Ja — er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte lange Haare und Bart, braungebrannt, hinterwäldlerisches Englisch ... ein Relikt aus der Fiippie-Ära.“
„Im Radio kam ein Bericht über die Zerstörung und die Toten. Sie haben es gehört, aber nichts davon gesagt, daß sie da waren. Ist das nicht eine ziemlich unnormale Reaktion ... wenn sie solch eine Tortur durchgemacht haben und entkommen sind ... daß man nichts davon erzählt?“
„Absolut nicht! Ich war mit einem geheimen Auftrag unterwegs. Ich hatte Informationen, die ich zurück nach Israel bringen wollte ... und ich wollte nicht von der örtlichen Polizei, dem FBI oder sonst jemandem aufgehalten werden, der mich in Gewahrsam genommen hätte, um mich für längere Zeit zu befragen. Und genau das wäre passiert, falls ich irgend jemandem gesagt hätte, daß ich ein Überlebender sei. Ich wollte Ihnen die Fakten berichten, nicht den anderen. Ist das nicht logisch?“
„Sie haben ihm — und auch dem Hotelsekretär — dieselbe Geschichte erzählt, nämlich, daß Sie sich in den Wäldern verirrt hätten und einen Abhang hinuntergefallen wären.“
„Ich mußte ihnen doch irgend etwas erzählen. Das schien die wahrscheinlichste Erklärung für mein zerfetztes, zerschlagenes, blutiges und schlammiges Aussehen zu sein.“
Der Chef nickte Yosi zu. „Lesen Sie ihm den betreffenden Teil aus dem FBI-Bericht vor.“
Yosi zog einige Papiere aus seiner Aktentasche und begann zu lesen:
„Del Sasso, der durch eine Rauchvergiftung und innere Verletzungen bewußtlos war, wurde von den Feuerwehrleuten neben Khorevs Leichnam gefunden. Dies stimmt mit dem Bericht überein, daß er sah, wie Frau Bertelli und Khorev plötzlich verschwanden, daß er Khorev jedoch einholte. Sie hatten einen Streit. Khorev schien unbedingt das Gebäude verlassen zu wollen. Es gab eine riesige Explosion, und ab da erinnert er sich an nichts mehr. Er kam erst im Krankenhaus wieder zu Bewußtsein.
Bertelli hatte nicht einmal einen Kratzer. Dennoch behauptet sie, daß — abgesehen von Khorev und Del Sasso, die beide verletzt waren — alle anderen bereits tot waren, als sie durch den hinteren Bühnenausgang floh. Und wie starben sie? Laut Bertelli wurden sie von Stücken aus der Decke getroffen, die herunterfielen ... und viele wurden von Splittern der Balken aus geleimtem Holz, die die Decke stützten, aufgespießt ... angeblich verfolgten diese Splitter die Leute wie ferngelenkte Geschosse ...“
„Das stimmt!“ warf Ari ein. „Ich habe gesehen, wie es passiert ist!“
„Wir wissen, daß ihre Berichte übereinstimmen“, sagte Yosi sarkastisch. „Sie sagt sogar, genau wie Sie, daß sie sah, wie sich der Boden öffnete und die gesamte Presseabteilung hinabfiel. Ihre Beschreibung von dem, was vor der Explosion innerhalb des Auditoriums geschah, klingt wie ein Horrorfilm. Es ist für normal denkende Menschen unvorstellbar. Aber lassen Sie mich weiterlesen.
Bertelli behauptet, daß Del Sasso bereits in der Lobby war und auf sie wartete, als sie hinauskam. Das widerspricht nicht nur seiner Aussage, es stimmt auch nicht mit dem Platz überein, wo er gefunden wurde. Warum hätte er, wenn er sich bereits in der Lobby befand, nach der Explosion zurück zum Auditorium gehen sollen? Und wie hätte er vor Bertelli und Khorev in die Lobby kommen sollen, wenn er das Auditorium nach ihnen verlassen hatte? Was Ari Thalberg betrifft ...“
„Das reicht“, unterbrach der Chef. Er wandte sich an Ari. „Wir sind der Meinung, daß sie lügen, Thalberg. Sie sind niemals in dem Auditorium gewesen.“
„Sie haben am Tor meinen Namen abgehakt, als ich hineinging!“
„Daran hat das FBI als erstes gedacht — und Ihr Name ist einer von dreien, die nicht abgehakt worden sind. Die beiden anderen sind in letzter Minute krank geworden und sind gar nicht angereist.“
„Jemand hat die Liste gefälscht. Ich habe gesehen, wie die Wache den Haken hinter meinem Namen gemacht hat — mit Kugelschreiber!“
„Ich glaube dem FBI“, beharrte der Chef. „Nicht immer, aber in diesem Fall. Am Tor standen ungefähr zweihundert andere Vertreter der Medien. Wir haben mit allen Kontakt aufgenommen, und niemand erinnert sich, Sie gesehen zu haben.“
„Das ist doch wohl ein Witz. Wie sollten sie wissen, wie ich aussehe? Ich hatte Israel ja nicht verlassen dürfen „Es waren Reporter aus Paris und Berlin da — und auch aus anderen Städten —, die Sie früher als Professor Hans Müller kannten. Sie haben Sie nicht hineingehen sehen.“
„Ich war in einem Auto, als ich das Tor passierte. Sie haben nicht durch die Fenster gesehen ...“
„Keiner der Fahrer, die die Delegierten vom Flughafen in San Francisco abgeholt haben, konnte sich an Sie erinnern.“
„Das FBI verheimlicht etwas!“ protestierte Ari. „Ich werde gleich hier in Israel von einem Ihrer besten Experten einen Lügendetektortest durchführen lassen! Fragen Sie ruhig auch nach den kleinsten Details von dem, was ich beobachtet habe ... und vergleichen Sie es dann mit dem, was Bertelli gesehen hat. Kontrollieren Sie die Telefonprotokolle. Seit ich sie das letzte Mal vor vier Jahren in Paris gesehen habe, habe ich nur einmal mit ihr telefoniert. Sie haben alle meine Briefe an sie und ihre Briefe an mich gesehen. Wann hätten wir denn überhaupt eine Gelegenheit gehabt, uns abzusprechen ...?“
Der Chef unterbrach ihn. „Wir werden das noch im Detail untersuchen ... und das gleiche tut auch der CIA. Ich kenne noch nicht alle Antworten. Aber im Augenblick weist alles auf eine Verschwörung zwischen Khorev, Bertelli und Ihnen hin. Sie hat Khorev in Paris vor dem KGB ,gerettet’. Der KGB sagt jetzt, das sei von Khorev und einem Schurken namens Chernov inszeniert worden, der später die CIA-Einrichtung angriff. Khorev und Bertelli haben zweifellos zusammengearbeitet. Sie haben die Bertelli schon Vorjahren in Paris kennengelernt, hatten Kontakt mit ihr, kurz bevor Sie nach Israel kamen, und sie holte Sie in das Projekt, um ein Alibi zu bekommen. Es war von Anfang an ein abgekartetes Spiel ..."
„Das ist doch absolut hirnverbrannt!“ warf Ari ein. Er war außer sich vor Wut und Enttäuschung. „Welches Motiv sollten Bertelli oder ich haben, um ...“
„Sie glauben beide, daß Jesus der Messias ist und daß er wiederkommen wird, um die Welt zu regieren. Richtig?“
Ari nickte. „Wenn man sich ansieht, was die hebräischen Propheten zu sagen hatten, kann man zu keinem anderen Schluß gelangen ...“
Der Chef hob protestierend die Hand. „Versuchen Sie nicht, mich zu bekehren! Fakt ist, daß das, was Sie beide von diesem angeblich auferstandenen Jesus glauben, der zurückkommen soll, um die Welt zu regieren, vollkommen konträr zu der Neuen Weltordnung ist, an der wir alle arbeiten. Da liegt Ihr Motiv. Es entspringt einem religiösen Wahn.“
Ari öffnete den Mund, um zu protestieren. Aber der Chef unterbrach ihn erneut. „Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Sie sind keines Verbrechens angeklagt — jetzt noch nicht. Aber bis alles aufgeklärt ist, kommen Sie in Schutzhaft. Nehmen Sie Ihren Koffer und gehen Sie mit Yosi und Moshe. Sie werden in eine konspirative Wohnung gebracht und rund um die Uhr bewacht werden. Machen Sie es uns nicht unnötig schwer.“
48. Das Warschauer Ghetto-Syndrom
Für Ari waren die nächsten paar Monate die bisher schwierigsten in seinem Leben. Er war in einer kleinen Wohnung in einem Seitensträßchen von Tel Aviv eingesperrt und wurde ständig bewacht. Miriam hatte versprochen, ihn so bald wie möglich zu heiraten — und jetzt konnte er sie nicht einmal sehen. Früher wäre Ari geflohen und hätte den Mossad für sein Geld arbeiten lassen. Aber anstatt die Dinge in die eigene Fland zu nehmen, wartete er jetzt geduldig auf Gottes Weisung, die er so dringend brauchte.
Der einzige Besucher, den man zu Ari ließ, war Yakov, und das auch nur aufgrund der bedeutenden militärischen Karriere des alten Mannes und weil er darauf bestand, „seinen guten alten Freund“ zwei- oder dreimal die Woche besuchen zu dürfen, „ob es dem Mossad nun paßt oder nicht“. Diese Besuche waren wie Manna vom Himmel — nicht nur wegen der Briefe von Miriam, die er mitbrachte (Ari durfte ansonsten weder Post verschicken noch welche empfangen), sondern auch wegen der geistlichen Nahrung, die er in den gemeinsamen Zeiten des Gebets und Bibelstudiums erhielt und die er und Yakov genossen.
Bei seinem ersten Besuch hatte Yakov Ari eine Bibel mitgebracht. Es war ein Buch, gegen das Ari früher tiefe Vorurteile gehegt hatte, obwohl er niemals in seinem Leben eine Bibel besessen oder mehr als ein paar Seiten darin gelesen hatte. Jetzt nahm ihn das Studium der Schrift vollkommen gefangen. Er war wie ein Verhungernder, der auf lebensspendende Nahrung gestoßen war. Er war jetzt überzeugt, daß dieses Buch Gottes Wort für die Menschheit war, und konnte einfach nicht genug davon bekommen. Da er ansonsten kaum etwas zu tun hatte, entschloß er sich, es sorgfältig von 1. Mose bis zur Offenbarung durchzulesen.
„Es ist so beeindruckend, daß der Schöpfer des Universums tatsächlich zu uns gesprochen hat — daß er uns seinen Willen für unser Leben mitgeteilt hat“, sagte Ari beinahe jedesmal, wenn Yakov zu Besuch kam, voller Dankbarkeit. „Ich kann es gar nicht fassen! Und wenn man bedenkt, daß ich Gottes Wort mein ganzes Leben lang ignoriert habe ... und die meisten Leute tun dasselbe. Was für ein Unglück!“
„In 5. Mose 8 stehen einige Verse, auf die ich dich aufmerksam machen möchte“, hatte Yakov gesagt, als er ihm die Bibel schenkte. „Das ist das fünfte Buch in der Bibel — das letzte Buch, das Mose geschrieben hat.“
Die beiden bewaffneten Wachen, die mit im selben Zimmer saßen, hörten zunächst verächtlich, dann jedoch mit wachsendem Interesse zu. „Nachdem Gott unsere Vorfahren aus Ägypten geholt hatte, um sie in das verheißene Land zu bringen, waren sie so rebellisch, daß er sie 40 Jahre lang in der Wüste ließ, bevor er sie über den Jordan führte. Und in diesem kurzen Abschnitt erklärt Gott, warum er die Israeliten so lange in der Wüste ließ und daß er wollte, daß sie und ihre Nachkommen — das schließt sogar uns heute ein — diese Erfahrung und die Lehre, die sie daraus ziehen sollten, niemals vergessen.“
Nachdem er Ari gezeigt hatte, wo die Verse in der Bibel, die er ihm gerade gegeben hatte, standen, las Yakov sie aus seinem abgenutzten und bunt markierten Exemplar mit lauter, fester Stimme vor:
„Und du sollst an den ganzen Weg denken, den der HERR, dein Gott, dich diese vierzig Jahre in der Wüste hat wandern lassen, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen «und» um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.
Und er demütigte dich und ließ dich hungern. Und er speiste dich mit dem Mann, das du nicht kanntest... um dich erkennen zu lassen, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt. Sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht, lebt der Mensch.“
Yakov fuhr fort: „Das sind die Verse, die Jesus zitierte, als der Oberste der Archonten kam, um ihn in der Wildnis zu bedrängen. Wahrscheinlich ist das gar nicht weit von hier geschehen. Du wirst die Stelle finden, wenn du ins Neue Testament kommst. Jesus hatte 40 Tage gefastet, und Satan versuchte ihn zu überreden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und seinen Hunger zu stillen ... aber Jesus erklärte, das Wichtigste sei, Gott zu kennen und seinen Willen zu tun.“ Yakov legte Ari freundlich eine Hand auf den Arm. Er wünschte sich inständig, daß Ari in seinem neugefundenen Glauben stark werden würde. „Auch du gehst jetzt durch eine Wüstenerfahrung, Ari. Sieh es als ein Geschenk an, An — als eine Zeit, in der du dein Vertrauen und deinen Gehorsam beweisen kannst, indem du annimmst, was auch immer er in deinem Leben zuläßt. Er wird dich nicht im Stich lassen. Vielleicht sieht es manchmal so aus, aber er wird dich siegreich durchbringen!
Es ist wie einer der Tests, mit dem der Mossad nach deiner Ausbildung herausfinden will, ob du deine Lektionen auch wirklich gelernt hast und bereit bist für den Auftrag, den du ausführen sollst. Gott hat einen Auftrag für dich, Ari. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird er dich befreien, damit du ihn ausführen kannst. Aber zunächst mußt du erkennen, daß du keine eigene Stärke oder Weisheit besitzt — du hast nichts, was Gott braucht. Du bist in allen Dingen vollkommen von ihm abhängig. Es ist eine demütigende Erfahrung, aber sie ist unbedingt nötig, wenn du willst, daß Gott dich in dieser Welt für seine Ziele einsetzen kann.“
„Vor sechs Monaten wäre ich wie der Blitz hier raus gewesen“, vertraute Ari Yakov leise an. „Diese Burschen hätten mich nicht aufhalten können! Aber jetzt — alles ist anders. Ich lerne, Gott zu vertrauen. Ich habe Frieden, selbst hier — bin glücklicher, als ich je zuvor war. Ich erkenne mich selbst nicht wieder“, setzte er mit einem flüchtigen Lächeln nach.
„Preis dem Herrn dafür!“ sagte Yakov begeistert.
„Es ist nicht leicht gewesen“, gab Ari ehrlich zu. „Aber ich weiß, daß es so das Beste ist. Ich denke Tag und Nacht an Miriam. Ich liebe sie jetzt sogar noch mehr als vorher! Es ist eine neue Dimension der Liebe, und das macht es noch schwieriger. Jetzt, wo die alten Hindernisse für unsere Ehe nicht mehr sind ... sitze ich hier wie ein Tier im Käfig.“ Er schüttelte traurig den Kopf, aber ohne die alte Rebellion und Wut.
„Steh auf und sieh die Rettung des HERRN, mein Freund“, sagte Yakov strahlend. „Wie es auch in den Psalmen heißt: ,Sei still dem HERRN und harre auf ihn’.“ Die Worte, die David vor so langer Zeit geschrieben hatte, waren wie Balsam für Aris Seele.
„Deine Freundin Carla Bertelli“, erzählte Yakov Ari eines Tages, nachdem er etwa drei Monate eingesperrt war, „hat Ken Inman geheiratet. Das ist der Mann, mit dem sie Vorjahren einmal verlobt war. Sie verließ ihn, als er Christ wurde ... obwohl er zu der Zeit im Krankenhaus lag und sich langsam von einem seltsamen Autounfall erholte, der normalerweise sein Tod gewesen wäre. Es ist schon erstaunlich, daß sie schließlich ein Jünger Jesu wurde, genau wie du, durch dasselbe Inferno.“
„Ich habe in der Zeitung davon gelesen“, erwiderte Ari. „Es geschah vor zwei Wochen, aber sie haben erst jetzt darüber berichtet. Ich wünschte, ich könnte mit ihr sprechen, jetzt, wo sie zum Glauben gekommen ist. Sie steht zumindest nicht unter Hausarrest, und sie und Ken können Zusammenleben. Aber die Zeitungsmeldungen klingen so, als würde man sie drüben in den USA genauso behandeln, wie mich hier. Sie ist der Sabotage angeklagt, während Del Sasso ein Held geworden ist. Manchmal werde ich wirklich wütend deswegen — und dann erinnert der Herr mich daran, daß er sich um Del Sasso kümmern wird, wann und wie es ihm am besten erscheint. Das beruhigt mich sehr schnell wieder.“
„Du hast gestern einen Brief von Carla bekommen“, sagte Yakov. Er flüsterte, obwohl die Wachen nicht auf sie achteten. „Ich wußte, du würdest gern wissen, was darin steht, und deshalb habe ich ihn geöffnet ...“
„Na los, erzähl’ schon!“ sagte Ari sofort.
Yakov beugte sich dichter zu Ari und flüsterte: „Sie hat einen Freund beim FBI — er ist Christ. Sie hat natürlich nicht seinen Namen genannt. Er hat ihre ganze Geschichte auf Band, und sie würde ihm gern deine Geschichte geben ... deshalb werde ich ihr eine Kopie der Bänder schicken, die wir in jener Nacht aufgenommen haben. Sie bezweifelt, daß das etwas nützen wird, aber sie will trotzdem, daß er sie für seine Unterlagen hat. Sie sagt, es gäbe zu viele Leute, die in Washington ganz oben an der Spitze wären und mit den Neun zu tun hätten, als daß die Wahrheit jemals herauskommen könnte. Sie fragt sich, was sie als nächstes tun werden.“
„Ich verstehe immer noch nicht ganz“, sagte An, „warum Del Sasso — oder die Neun — Khorev bei dem Kongreß sprechen ließen. Wenn sie ihn gleich zum Schweigen gebracht hätten, wäre dieses Gemetzel nicht nötig gewesen.“
„Ich habe dir schon vor längerer Zeit einmal gesagt“, meinte Yakov nachdenklich, „daß Dämonen nicht allwissend sind. Ihr Wissen und ihre Macht sind zwar in vielen Dingen größer als unsere, aber sie sind eindeutig begrenzt. So brillant Satan auch ist, so macht doch selbst er Fehler. Ich vermute, er glaubt an seine eigenen Lügen und ist ein Gefangener seines Egos.“
„Woher weißt du, daß er Fehler macht?“ fragte Ari. Er wollte unbedingt so viel wie möglich lernen. „Steht das in der Bibel?“
„Ich wüßte es nicht, wenn es nicht in der Bibel stünde ... und ich würde sicherlich keine Spekulationen über Satan oder irgendeine
geistliche Angelegenheit anstellen. Sein erster und größter Fehler war natürlich, daß er gegen Gott rebelliert hat. Er hat eine ganze Reihe von Schnitzern gemacht, aber ich werde nur zwei erwähnen, die zeigen, wie verwirrt er ist. Einmal hat er Petrus inspiriert, Jesus zu sagen, er solle nicht ans Kreuz gehen — und etwas später hat er Judas inspiriert, Jesus zu verraten, damit er getötet wird.“
„Sehr interessant! Ich habe erst neulich diese beiden Vorfälle gelesen, aber ich habe sie nicht miteinander in Verbindung gebracht.“
„Ich bin sicher, die Neun wußten nicht, was Khorev sagen würde ... und als es geschah, wußten sie zunächst nicht, was sie tun sollten.“
„Aber warum dieses Gemetzel? Warum haben sie alle umgebracht?“
„Nach dem, was du auf dem Band berichtet hast, hat Khorev alles so klar und deutlich gemacht, daß es nicht leicht gewesen wäre, es zu widerlegen. Er nannte die Fakten und forderte Leighton und Del Sasso heraus, es zuzugeben. Ich vermute, die Neun wurden wütend auf Khorev und stellten sich selbst bloß. Sie versuchen, sich als liebende und wohlwollende Wesen darzustellen, aber in Wirklichkeit sind sie der Haß und das Böse in Person ... und manchmal fällt die Maske. Sie haben die Selbstbeherrschung verloren — und nach deiner Beschreibung selbst der ersten wenigen Augenblicke ihrer Reaktion waren sie schnell an dem Punkt angelangt, wo sie sich keine Zeugen mehr leisten konnten.“
„Und Del Sasso ... warum hat er nicht schneller reagiert?“ „Damit er Kanal solch unglaublicher Macht sein kann, ist er offenbar so stark besessen, daß er nahezu vollständig unter ihrer Kontrolle steht. Er konnte nichts tun, solange sie nicht durch ihn handelten. Nach diesem Debakel mußten sie ihre Taktik ändern. Soweit ich weiß, hat Del Sasso eine Erfolgs/Motivations-Firma mit dem Namen Schamanen GmbH gegründet. Ihr Ziel ist es, Menschen zu ,befähigen’, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Die Firma hat weltweit grandiosen Erfolg. Vielleicht ist diese Methode noch erfolgreicher, die ganze Welt zu dämonisieren, als die erste ...“
„Ja“, warf Ari ein, „nach dem zu urteilen, was ich gelesen habe, ist er zu einem Begriff geworden — ein großer Held. Sie nennen ihn den,einzigen Überlebenden’. Carla zählt nicht, weil sie angeblich der Bösewicht ist, der das Unglück verursacht hat. Und ich werde nie erwähnt, weil offiziell behauptet wird, ich sei überhaupt nicht dagewesen. Ich weiß, daß mein Name am Tor abgehakt wurde. Und es gäbe auch
noch andere Möglichkeiten, um zu prüfen, ob ich da war. Das FBI verheimlicht etwas ..
„Ich glaube, der Mossad tut das teilweise auch“, flüsterte Yakov. „Du bist ein gefährlicher Mann. Sie können dich nicht freilassen. Ich weiß nicht, was sie tun werden ... aber sie werden bald etwas unternehmen müssen.“
„Warum? Sie können mich doch einfach hier verrotten lassen. Ich bin eine Unperson — selbst in Israel. Niemand weiß, daß ich hier bin ... oder daß ich überhaupt existiere. Und wer fragt schon nach mir? Es ist zum Verrücktwerden!“
„Ich sehe David kaum noch“, sagte Yakov nachdenklich. „Ich dachte, er würde eingreifen. Er muß wissen, daß du die Wahrheit sagst. Aber die Dinge haben sich geändert. Erinnerst du dich, wie er sagte, die Neun seien anti-israelisch und der CIA würde gegen uns arbeiten? Ich glaube, der Mossad hat sich auf Kompromisse eingelassen, um die Vereinigten Staaten friedlich zu stimmen und damit die Araber weiter an den Friedensgesprächen teilnehmen. Israel glaubt, seine einzige Hoffnung sei eine Partnerschaft mit anderen Nationen. Aber die Bibel sagt warnend, daß sie sich alle gegen Israel wenden werden. Israels einzige Hoffnung ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er würde es beschützen — und er ist der einzige, der dazu in der Lage ist —, wenn es sich nur zu ihm wenden würde!“
„Es ist wie das Warschauer Ghetto“, meinte Ari. „Weißt du noch? Als die Frau, die das Massaker überlebte, zurückkam und allen erzählte, daß die, die man weggebracht hatte, umgebracht worden waren, wollte ihr niemand glauben. Die Wahrheit war zu schrecklich, um sie glauben zu können. Und die Wahrheit, die ich dem Mossad zu berichten versuche, ist offenbar zu schockierend, als daß sie sie glauben könnten. Sie müssen beweisen, daß ich lüge, um nicht den Verstand zu verlieren.“
Carla Inman stand in den Vereinigten Staaten zwar nicht unter Hausarrest, aber es wurde ihr verboten, ihre Seite der Geschichte in der Öffentlichkeit zu berichten, bevor der Senatsausschuß seine Untersuchung beendet und zu einem Entschluß gekommen war. Aris Zeugenaussage wurde nicht einmal vorgetragen. Niemand außer dem Mossad bekam sie zu hören. Und als deutlich wurde, daß der Senat der USA
sich zugunsten Del Sassos und gegen Carla entscheiden würde, hielt der Mossad seine eigene interne Anhörung ab. Es stand von vornherein fest, zu welchem Schluß man gelangen würde.
Um zu beweisen, daß man die Wahrheit herausfinden wollte, ließ der Mossad eine Reihe von Lügendetektor-Tests an Ari vornehmen. „Er ist zweifellos davon überzeugt, daß er die Wahrheit sagt“, sagte der Lügendetektor-Experte bei der Mossad-Anhörung aus. „Ob das tatsächlich so ist oder nicht ... das ist eine andere Sache.“
Das Komitee hatte seinen Entschluß bereits gefaßt. Aber „für die Akten“ brauchten sie mehr, womit sie ihre Handlungsweise rechtfertigen konnten. Sie wollten möglicher Kritik Vorbeugen, falls der Fall später einmal wieder aufgerollt werden sollte. Natürlich hatten die hausinternen Psychiater ihre Erklärung bereits vorbereitet. Aber es sah gut aus, wenn man gründlich war, und deshalb taten sie so, als würden sie den Fall wirklich untersuchen.
Sie führten eine Reihe von tiefenpsychologischen Tests an Ari durch. Dr. Mordechai Margolanski, Israels bester Psychiater und zu dem Zeitpunkt Präsident der World Association of Psychiatrists, präsentierte die Ergebnisse des psychologischen Untersuchungsteams vor dem Komitee. Er tat das in einem sachlichen, klinischen Ton, wodurch er den Eindruck erweckte, er sei unvoreingenommen und unfehlbar:
„Die Versuchsperson Ari Thalberg befindet sich eindeutig im Zustand eines klassischen psychotischen Zusammenbruchs. Man könnte sagen, es ist ein Fall, wie er im Lehrbuch steht. Er hat die Fähigkeit verloren, zwischen der wirklichen Welt und einer Phantasiewelt zu unterscheiden — einer nicht-wirklichen Welt, in der er sich die meiste Zeit aufhält. Er hatte mehrmals Halluzinationen und hat,Stimmen’ gehört, die seiner Meinung nach von einem ,Gott’ stammen. Er erlebt im Moment zwar nicht das volle Spektrum der Psychose. Das könnte jedoch jederzeit wieder eintreten. Es wäre durchaus möglich, daß der Streß, über seine Erlebnisse in Kalifornien lügen zu müssen, zu groß war und dazu geführt hat, daß er sich in eine Phantasiewelt zurückgezogen hat, um das Bild von seiner eigenen Integrität aufrechtzuerhalten.
Seine religiösen Wahnvorstellungen — daß Jesus’ ihn aus der unterirdischen Höhle, die er erfunden hat und in die er seiner Meinung nach später hineinfiel, rettete — führte zu dem Glauben, daß daher dieser mystische Jesus’ leben müsse ... und weiter, daß diese Ausgeburt seiner Phantasie ihn auch von seinen,Sünden’,gerettet’ hat, indem er am Kreuz starb und am dritten Tag wieder auferstand. Es ist eine weitver-
breitete Illusion, die von Millionen von sogenannten Christen in aller Welt geglaubt wird und auf die tragischerweise viele unserer eigenen Leute hier in Israel hereinfallen.
Dr. Thalberg ist eine Gefahr, sowohl für sich selbst als auch für andere. Wir empfehlen, ihn in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik unterzubringen und bilaterale Elektroschocktherapie anzuwenden. Denjenigen im Komitee, die mit der Elektroschocktherapie nicht vertraut sind, möchte ich versichern, daß diese Therapieform inzwischen sehr verbessert worden ist. Es ist nicht mehr so wie früher, als elektrische Schocks verabreicht wurden, die beim Patienten krampfartige Anfälle auslösten. Heutzutage wird diese Therapie in Kombination mit den neuesten Narkotika (Thiopental, Thia-mylal und Methohexital) sowie in Verbindung mit den fortschrittlichsten Psychopharmaka, wie zum Beispiel Succinylcholine als Muskel-relaxans und Chlorpromazine zur Verminderung der psychotischen Symptomatik, durchgeführt.
Einer der Hauptvorteile dieser Therapie besteht natürlich in dem bleibenden Gedächtnisverlust. Man muß zwischen einer Verletzung des Gehirns, die nur vorübergehend sein wird, und einem Gedächtms-verlust, der bleibend ist, unterscheiden. Der Patient wird von den Wahnvorstellungen, die jetzt sein Denken vernebeln, befreit. Wenn diese belastenden Symptome erst einmal beseitigt sind, wird die übliche Psychotherapie in der Lage sein, erfolgreicher weiterzuarbeiten. Wir schulden Dr. Thalberg die Chance der Genesung.“
Dr. Margolanskis Entscheidung traf Ari wie ein Todesurteil. Er erhob sich, um eine letzte Erwiderung auf die Klage vorzubringen, aber er wurde von den Wachen, die rechts und links von ihm saßen, wieder auf den Stuhl gezogen.
„Uns ist — trotz der Lügendetektortests — natürlich bewußt“, sagte daraufhin der Offizier, der die Anhörung leitete, in ernstem Ton zu An, „daß Sie dieses Komitee möglicherweise bewußt getäuscht haben. Sollte das der Fall sein, wäre es das Beste, wenn Sie es jetzt zugeben und sich zumindest die Behandlung in einer psychiatrischen Klinik ersparen. Wir könnten vielleicht in gewissem Maße Milde walten las-sen ...
„Was ich Ihnen gesagt habe, ist die absolute Wahrheit“, erwiderte Ari mit Nachdruck. „Ich kann nicht lügen, um meine Haut zu retten. Ich bin in Gottes Hand und nehme seinen Willen an, was immer das sein mag. Tun Sie Ihr Schlimmstes. Sie können mir nicht mehr antun, als er zuläßt.“
Die Mitglieder des Komitees tauschten vielsagende Blicke aus. Sollte es noch irgendeinen Zweifel gegeben haben, so war diese Aussage von Ari mehr als ausreichend, um die Stichhaltigkeit der klinischen Diagnose von einer wahnhaften religiösen Psychose zu demonstrieren.
Ari wurde in Ketten in eine psychiatrische Klinik gebracht. Dort wurde er im Hochsicherheitstrakt für gefährliche Kriminelle untergebracht. Er erhielt ein Bett in einem großen Raum mit fünf weiteren Gefangenen. Bei allen war auf kriminellen Wahn entschieden worden. Ari war überzeugt, daß einer von ihnen ein Informant war, der von den Behörden dort plaziert war, um ihnen Bericht zu erstatten. Aber es dauerte nicht lange, bis er große Schwierigkeiten hatte, sich solche analytischen Gedanken zu merken.
Falls Ari geglaubt haben sollte, bei irgend jemandem an diesem entsetzlichen Ort auf Mitgefühl oder Verständnis zu stoßen, so mußte er bald erkennen, daß er sich geirrt hatte. Die Insassen waren menschliche Versuchskaninchen — und das Personal behandelte sie dementsprechend. Nach jeder sogenannten Behandlung war Ari stark mitgenommen und nahe daran, geisteskrank zu werden. Die Symptome reichten von völliger Verzweiflung bis zum Losgelöstsein von der Realität. Es war ein verzweifelter Kampf, sich einfach nur zu merken, wer er war.
Tag um Tag verging wie in einem Nebel, und Ari geriet an den Rand des Wahnsinns. Zeit verlor bald jede Bedeutung. Die Drogen und die Schocktherapie zeigten eine unheilvolle Wirkung. Sie höhlten Aris Gedächtnis aus. Das Erinnerungsvermögen kehrte teilweise zurück, wenn die Wirkung der letzten „Behandlung“ nachließ. Aber es gab einen zunehmenden Gesamteffekt, der verheerend war. Ohne daß Yakov oder sogar David es wußten, war Ari zum Gegenstand von Gehirnwäsche-Experimenten geworden, ähnlich denen, die der CIA finanziert und jahrelang an einigen seiner eigenen Staatsbürger ausprobiert hatte. In einer Bürokratie, die Gottes Gesetze nicht mehr anerkannte und ihre eigenen Regeln aufstellte, je nachdem, was gerade angenehm und passend schien, konnte beinahe alles mühelos gerechtfertigt werden — solange man nur an einem „wissenschaftlichen Experiment“ arbeitete und versuchte, neue „Erkenntnisse über die Funkti-
onsweise des Gehirns“ zu erhalten. Die Arzte der Nazis hatten das schon vor langer Zeit demonstriert.
Unterstützt durch die neurotoxischen Chemikalien, die sie benutzten, um Aris Gehirnprozesse zu unterbrechen, überzeugten ihn die Psychiater allmählich davon, daß er verrückt war und daß seine Erlebnisse in Kalifornien niemals stattgefunden hatten. Sie waren nichts weiter als die Phantasien eines kranken Verstandes. Aber auf einer tieferen Ebene kämpfte Ari weiter verzweifelt darum, seine Identität zu bewahren. Es war ein Kampf, den er nicht verstand und in dem seine Chancen so schlecht standen, daß die endgültige Unterwerfung seines Willens — das war das Ziel, das die Psychiater erreichen wollten — nur eine Sache von Tagen, bestenfalls ein paar Wochen, war.
Jedesmal, wenn Yakov Ari besuchte, konnte er das Fortschreiten des Verfalls sehen. Er beschwerte sich heftig bei David und dem Chef, aber er hatte keinen Erfolg. Ihre Argumente waren unangreifbar.
„Es ist eine rein medizinische Angelegenheit“, beharrte der Chef, „es ist mir völlig aus der Hand genommen. Die Psychiater haben ihre Diagnose gestellt und behandeln ihn jetzt dementsprechend mit den besten Therapien, die es gibt. Ari befindet sich in den besten Händen — er wird von Israels anerkannten Spezialisten behandelt, die international einen ausgezeichneten Ruf besitzen.“
„Es war niemals eine medizinische Angelegenheit!“ gab Yakov zurück. „Er wurde für verrückt erklärt, weil er bei seiner Geschichte geblieben ist ... weil er nicht das gesagt hat, was Sie hören wollen.“ „Er hat Wahnvorstellungen“, beharrte der Chef. „Die Dinge, von denen er behauptet, er habe sie in Kalifornien gesehen und erlebt, sind nie geschehen — aber er glaubt wirklich, daß sie passiert sind. Er hat alle Tests am Lügendetektor bestanden. Wir können also mit Sicherheit ausschließen, daß er lügt. Irgend etwas hat ihn in eine andere Welt geschnippst — eine Phantasiewelt mit Extra-Dimensionalen-Intelligen-zen und psychischen Wundern ... unglaublichen Ereignissen, die es nur in Science fiction-Thrillern gibt. Das ist das Problem, was sie zu kurieren versuchen. Sie meinen, das er in etwa einer Woche, höchstens jedoch in vier Wochen wieder lvlar sein wird.“
„Sie machen ihn verrückt mit den Drogen, die sie ihm geben!“ beharrte Yakov. „Ich habe selbst einige Nachforschungen angestellt. Ist Ihnen klar, daß jede psychische Droge in hohem Maße neuroto-xisch ist? Sie wirken, indem sie die normalen Funktionen der Gehirnzellen zerstören.“
„Dies ist ein sehr spezialisiertes Gebiet“, sagte der Chef und versuchte, nicht zu herablassend zu klingen. „Man kann nicht in die Bücherei gehen, ein wenig lesen und dann den Experten sagen, sie wüßten nicht, was sie tun! Sie müssen den Ärzten vertrauen. Sie haben mir berichtet, daß sie Fortschritte machen ... daß er diese Phantasien allmählich vergißt.“
„Er vergiß alles. Er war hochintelligent... mit einem Verstand wie ein Computer. Aber jetzt kann er kaum noch eine normale Unterhaltung führen! Wie ist es möglich, daß so etwas in Israel geschieht? Es ist wie die Experimente, die die Nazi-Ärzte mit den Juden gemacht haben!“
„Ich glaube, du hast dich emotional zu sehr auf die Sache eingelassen“, meinte David, der den Chef unterstützen wollte, ohne Yakov zu beleidigen. „Das wirft kein schlechtes Licht auf Ari. Das Gehirn ist ein sehr komplexes Organ. Vielleicht ist er ja wirklich einen Abhang hinuntergefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen ...“
„Gott helfe uns!“ rief Yakov aus. „Siehst du denn nicht, was hier geschieht? Die Gesellschaft wird zu einem Reservoir von Versuchstieren für einen Haufen machthungriger Egomanen. Diese sogenannten Experten werden schon bald die Autorität haben, uns alle für verrückt zu erklären, wenn wir nicht so denken, wie sie es wollen ... und uns Drogen verschreiben, um unser Verhalten ihrem Standard anzupassen. Wir kommen dem immer näher. Wenn sie es mit Ari tun können, dann können sie es mit jedem von uns tun!“
Yakovs Proteste und Bitten waren umsonst. Wie der Chef bereits erklärt hatte, hatten die Psychiater ihre Diagnose gestellt. Und da sie schließlich die Experten waren und besondere Kenntnisse besaßen, die von niemandem angezweifelt werden durften, gab es keine Möglichkeit, sie daran zu hindern, ihr komplettes Therapieprogramm durchzuziehen.
„Die Ausweichmanöver des Mossad“, vertraute Yakov Miriam bestürzt an, „beweisen nur, daß ich mit dem, was ich über den Mißbrauch der Psychiatrie gesagt habe, recht habe. Wir können im Augenblick nichts tun — nur beten.“
49. Eine überraschende Bestätigung
„Habe ich Sie nicht irgendwo schon einmal gesehen?“ fragte Ari. Es kostete ihn große Mühe, diese Frage an den neuen Pfleger zu richten, der vor ihm stand und ein Tablett mit Medikamenten in der Hand hielt. „Wie war doch gleich Ihr Name?“
In einem seiner lichteren Momente saß Ari auf seinem Bett in dem großen Mehrbettzimmer. Er hatte Schwierigkeiten, wahrzunehmen, wo er sich befand und erinnerte sich an fast gar nichts von dem, was geschehen war, seitdem er nach Israel gekommen war. Aber manchmal fielen ihm ohne jeden Zusammenhang Ereignisse ein, die weiter zurücklagen. Der Pfleger, der gerade erst für diesen Trakt der psychiatrischen Klinik eingeteilt worden war, war zusammen mit zwei Wachen ins Zimmer gekommen, um Medikamente zu verabreichen.
„Ich bin Dmitri Petrekov“, antwortete er. Sein Hebräisch war noch stockend, und er hatte einen starken russischen Akzent. Das runde Gesicht mit der Knollennase und den betont breiten russischen Wangenknochen hellte sich zu einem herzlichen, offenen Lächeln auf. „Nein, Sie haben mich noch nie gesehen.“ Der Fremde korrigierte den Patienten geduldig und sagte dann beinahe entschuldigend: „Es ist Zeit für Ihre Medizin.“ Er hielt Ari einige Pillen und einen Pappbecher mit Wasser hin.
Ari schüttelte hilflos protestierend den Kopf und schob die ausgestreckte Hand weg. „Nein ... bitte. Diese Dinger zerstören mein Gedächtnis ... das wollen die hier nämlich erreichen.“ An sah sich Dmitris Gesicht genauer an. „Ihr Gesicht ... ich weiß, ich habe Sie schon einmal gesehen ... irgendwo.“
Wieder lächelte der Pfleger freundlich und geduldig. „Das ist unmöglich. Ich bin erst vor drei Wochen aus Rußland gekommen, und dies ist mein erster Tag auf Arbeit ... und wenn Sie Ihre Tabletten nicht nehmen, muß ich Ihnen eine Spritze geben.“
„Herr Jesus, hilf mir!“ flüsterte Ari.
„Sie glauben anjesus?“ fragte Dmitri. Er senkte seine Stimme, damit die anderen im Zimmer nichts hörten.
Ari nickte schwach. „Sie auch?“
„Ja!“ flüsterte Dmitri. „Preis sei Gott! Gibt es hier noch andere Gläubige ...?“
Ari zuckte mit den Schultern. Er versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren. „Ich habe Sie nicht hier gesehen ...“, fuhr er leise fort, sah
Dmitris Gesicht suchend an und bemühte sich, sein Erinnerungsvermögen zu sammeln. „Sie waren in einem Labor ... in der Nähe von Moskau. Ja... Sie haben mit... mit... Khorev... Viktor Khorev zusammengearbeitet.“
Dmitris Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. „Wie können Sie das wissen? Es war ein geheimer Truppenstützpunkt. Sie waren niemals dort ..."
Ari umklammerte seinen schmerzenden Kopf mit beiden Händen und versuchte, die Bilder zu sortieren, die in seinem Kopf wie in einem Kaleidoskop bunt durcheinandergewürfelt auftauchten. „Sie beugten sich über ein Medium... einen schweren Mann, der auf einem großen Stuhl festgeschnallt war. Khorev befand sich in einer Art Beobachtungskabine über Ihnen und sah auf Sie ... und noch ein paar andere herunter.“
„Das ist das Labor, in dem ich mit Viktor gearbeitet habe!“ rief Dmi-tri aus. „Wie ist es möglich ...?“
„Ein Video ...“ fuhr Ari stockend fort, „ich habe es auf einem Video gesehen... auf einem riesigen Bildschirm in einem Auditorium... zusammen mit vielen wichtigen Leuten.“
„Es wurde kein Video aufgenommen“, erwiderte Dmitri, der immer verwunderter wurde. „Es war streng geheim.“
„Ein Mönch ... ein großer Mann ... mit einer Robe und einer Kapuze ... Del Sasso, er hat das Video mit seinem Verstand aufgenommen ... und Khorev hielt eine bemerkenswerte Rede ... und dann ... brach die Hölle los
Ari fiel total erschöpft auf das Bett zurück.
Dmitri steckte die Tabletten unauffällig in seine Tasche, beugte sich zu Ari vor und flüsterte: „Ich gebe Ihnen nichts.“ Dann sagte er laut: „Kommen Sie, seien Sie ein guter Patient und nehmen Sie Ihre Tabletten.“ Er tat so, als stecke er etwas in Aris Mund und ließ ihn dann aus dem Pappbecher trinken.
Ari sah Dmitri dankbar an. „Sie halten mich nicht für verrückt?“ flüsterte er. „Ich habe Sie wirklich gesehen?“
„Sie haben beschrieben, wo ich gearbeitet habe ... und da war ein Mann mit einer Kapuze ... ich erinnere mich daran. Das ist bemerkenswert!“
„Ich will meine Tabletten!“ sagte Mousa fordernd. Er war ein großer, schlanker Mann, der das Bett gleich neben Ari hatte. „Mein Kopf tut weh!“ Mousa war einmal ein katsa gewesen. Vor zehn Jahren hatte man ihm in einem Experiment versehentlich eine zu große Dosis LSD
gegeben. Sein Verhalten war so unberechenbar, daß es zu gefährlich gewesen wäre, ihn außerhalb der Anstalt leben zu lassen. Und so war er eines von etlichen ständigen Versuchskaninchen geworden. Irgendwie war er zu der Überzeugung gelangt, er habe eine besondere Stellung unter den experimentellen Wracks auf der Station.
„Ja, Sie sind der Nächste“, sagte Dmitri beruhigend zu ihm. Er klopfte Ari leicht auf die Schulter und ging weiter.
In dem Augenblick brachte ein anderer Pfleger Yakov in das Zimmer. Er setzte sich ans Fußende von Aris Bett und betrachtete ihn einige Momente lang traurig, bevor Ari überhaupt bemerkte, daß er da war.
„Yakov!“ rief Ari aus, als er ihn endlich gesehen hatte.
„Wie geht es dir?“ fragte Yakov. Er versuchte, trotz seiner Angst um Aris geistige Gesundheit fröhlich zu klingen. Er setzte sich neben das Bett seines Freundes und legte einen Arm um dessen hängende Schultern.
„Es geht mir gut.“ Ari richtete sich auf und lächelte. „Ich werde durchkommen.“ Dann fiel ihm etwas ein. „Der neue Krankenpfleger ... da drüben“, flüsterte er Yakov zu. „Er ist ein Gläubiger!“
„Wirklich?“ Yakov eilte hinüber, um Dmitri, der gerade das Zimmer verlassen wollte, abzufangen. „Wann haben Sie Dienstschluß?“ fragte er leise. Die beiden Wachen waren bereits draußen und hielten die Tür auf. Sie warteten ungeduldig.
„Um drei.“
„Ich muß mit Ihnen reden!“
„Wo treffen wir uns?“
,Werm Sie die Klinik verlassen, nehmen Sie den Vordereingang und wenden Sie sich nach rechts, dann bei der ersten Kreuzung wieder rechts. Gehen Sie einfach weiter, bis ich mit meinem Auto bei Ihnen halte. In Ordnung?“
Dmitri nickte. „Ich denke, er macht sich ganz gut“, sagte er ermutigend und laut genug, daß die Wachen es hören konnten. „Er ist ein guter Patient.“ Er winkte Ari und den anderen Insassen zu und ging hinaus.
Yakov wartete zwei Häuserblocks von der Klinik entfernt in seinem geparkten Auto. Er ließ den Pfleger an sich Vorbeigehen und folgte ihm noch knapp 200 Meter, bis er sicher war, daß sie niemand beobachtete. Dann hielt er und Heß ihn einsteigen.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte Yakov, sobald der Mann in sein Auto eingestiegen war und sie weiterfuhren. „Ich bin Yakov Kim-chy.“
„Dmitri Petrekov.“ Er schüttelte freundlich Yakovs ausgestreckte Hand. „Es tut mir leid, daß mein Hebräisch noch nicht so gut ist.“ „Sie sprechen schon großartig. Aber nun zu Ari Thalberg. Sie erinnern sich doch an ihn ... den Gläubigen ...?“
„Ja, ein bemerkenswerter Mann ..."
„Wir haben die Wohnung geteilt, bis man ihn hier einlieferte“, fuhr der alte Mann fort. „Er sagte mir, daß Sie Jesus kennen ..."
Dmitris Gesicht erhellte sich zu einem strahlenden Lächeln. „Ja. Preis sei dem Herrn dafür. Ansonsten hätte ich den Gulag nicht überlebt. Sie wollten mich unbedingt brechen.“
„Sie waren in einem Arbeitslager?“ fragte Yakov mitfühlend.
„In dreien. Aber jetzt haben sie mich im Zuge der neuen Offenheit rausgelassen ... und ich bin erst vor drei Wochen hierher immigriert. Heute war mein erster Arbeitstag. Ich bin dankbar für die Arbeit, aber es ist kriminell, was sie mit diesen bemitleidenswerten Kreaturen machen ..."
„Ich bin froh, daß Sie das auch so sehen!“ rief Yakov aus. Er spürte, daß er ein offenes Ohr gefunden hatte. „Die Schocktherapie und die Drogen zerstören Aris Verstand!“
„Ich habe das auch erkannt ... und habe ihm heute in meiner Schicht keine Medikamente gegeben. Sie würden mich feuern, wenn sie es wüßten ...“
„Preis sei Gott!“ rief Yakov aus. „Der Herr wird Sie schützen. Wenn wir nur verhindern könnten, daß sie ihm in den anderen Schichten etwas geben!“
„Das dürfte schwierig sein. Warum ist er überhaupt dort?“
„Das ist eine lange Geschichte. Er war mit einem Auftrag des Mos-sad unterwegs und kam mit Informationen zurück, die sie nicht glauben wollten — also haben sie ihn für verrückt erklärt. Jetzt versuchen sie, seine Erinnerung auszulöschen. Das ist eigentlich schon alles. Kriminell ist der richtige Ausdruck dafür! Er war ein äußerst intelligenter Mann ... aber diese ,Therapie’ zerstört sein Gehirn.“
„Ich halte ihn für sehr bemerkenswert“, erwiderte Dmitri nach-
denklich. „Er sagte einige Dinge über mich, die er unmöglich wissen konnte.“
„Wirklich? Was zum Beispiel?“
„Er sagte, er habe ein Video gesehen, in dem ich in dem Labor in Rußland bei der Arbeit zu sehen war. Das ist unmöglich, denn es handelte sich um einen geheimen Truppenstützpunkt. Aber er beschrieb das Labor und nannte sogar den Namen des leitenden Wissenschaftlers, mit dem ich dort zusammengearbeitet habe, Viktor Khorev. Das war ...“
„Khorev?“ unterbrach ihn Yakov, der auf einmal sehr aufgeregt war. „Der sowjetische Parapsychologe, der vor einigen Jahren in die USA geflüchtet ist?“
„Ja. Ich wußte, daß er fliehen wollte und hielt es geheim. Deshalb haben sie mich in den Gulag gesteckt.“
„Oh, danke, Gott! Danke!“ rief Yakov dankbar aus. „Gott hat Sie geschickt, um Aris Leben zu retten. Danke, Herr!“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Sind Sie sicher, daß Khorev geflohen ist?“
„Das war sein Plan, bevor er Moskau verließ und nach Paris ging.“
„Er war nicht an einem Komplott mit einem gewissen Oberst Cher-nov beteiligt?“
„Chernov?“ lachte Dmitri. „Woher kennen Sie den? Sie müssen scherzen. Alexei Chernov war der bösartigste Mann, den ich je kannte. Er haßte Khorev leidenschaftlich, und er hat mich in den Gulag gesteckt!“
„Das ist phantastisch! Es ist ein Wunder, daß Sie ausgerechnet jetzt nach Israel gekommen sind ... und ausgerechnet auf die Station, auf der Ari festgehalten wird! Danke, Vater. Danke! Danke!“
Yakov wischte sich die Tränen der Dankbarkeit aus den Augen. „Sagen Sie mir, wie wir zu Ihrer Wohnung kommen. Ich werde Sie dort absetzen ... aber ich möchte so bald wie möglich mit einem Freund zurückkommen. Wären Sie bereit, auch ihm zu erzählen, was Sie mir gerade gesagt haben?“
„Natürlich. Besonders, wenn es diesem armen Mann hilft, aus dem Irrenhaus herauszukommen!“
Am frühen Abend kam Yakov wieder zu Dmitris Wohnung, diesmal zusammen mit David. Die Gastgeberfamilie des Russen war ins Kino gegangen, so daß sie offen reden konnten.
Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, setzten sich die drei Männer zusammen in das kleine Wohnzimmer. David stellte den Rekorder an, den er mitgebracht hatte. „Also gut, lassen Sie uns ganz von vorn beginnen und berichten Sie mir, was Sie Yakov heute nachmittag erzählt haben.“
„Heute hatte ich meinen ersten Arbeitstag auf der neuen Stelle. Als der Patient Ari Thalberg, den ich zum ersten Mal sah, mich erblickte, bestand er darauf, er habe mich früher schon einmal gesehen. Ich sagte ihm, daß dies unmöglich sei, aber er begann, mir von dem Labor in der Nähe von Moskau zu erzählen, in dem ich gearbeitet hatte ... und er behauptete, er habe mich dort gesehen. Es war ein geheimer Truppenstützpunkt, und ich wußte, daß er nie dort gewesen war. Kein Außenstehender hat jemals Zutritt zu diesem Stützpunkt erhalten. In dem Labor beschäftigten wir uns mit streng geheimer parapsychologischer Forschung. Seine Beschreibung vom Inneren des Labors war korrekt. Er sagte, wir hätten psychische Experimente durchgeführt... und er nannte sogar den Namen des Laborleiters, Dr. Viktor Khorev.“
Bei dem Namen Khorev tauschten Yakov und David vielsagende Blicke aus, und David wurde offensichtlich erregt.
„Sie kannten Viktor?“ fragte Dmitri.
Yakov schüttelte den Kopf. „Vor einigen Monaten war er in den Schlagzeilen meines Landes ... irgendein Kongreß hatte in der Nähe von San Francisco stattgefunden, um über eine neue Weltregierung zu sprechen... und die Delegierten, die aus aller Welt gekommen waren, kamen ums Leben, weil jemand eine Bombe gelegt hatte. Ich sah Viktors Namen auf der Liste der Opfer ..
„Jetzt meint man, er habe die Bombe gelegt“, sagte David.
„Ich kannte Viktor sehr gut. So etwas würde er niemals tun!“ erklärte Dmitri bestimmt. „Es wurde in den Zeitungen angedeutet, daß in der Forschungseinrichtung, die zerstört wurde, parapsychologische Forschung betrieben wurde. Das war Viktors Lebensinhalt. Er hätte niemals etwas zerstört... und ganz sicherlich keine Einrichtung, die mit parapsychologischer Forschung zu tun hat!“
„Wir glauben auch nicht, daß er es tat“, fuhr David fort, „und vielleicht haben Sie die Informationen, die den Namen ihres Freundes reinwaschen könnten. Fahren Sie also fort. Woher wußte der Patient von Ihnen und dem Labor, in dem Sie arbeiteten?“
„Er behauptete, er habe es alles auf einem riesigen Bildschirm in einem Auditorium gesehen ... es sei auf Video gewesen. Er sagte, ein gewisser Del Sasso, ein Mönch, der eine Robe mit Kapuze trug — und das war sehr wichtig für mich —, hätte die Videoaufnahme mit seinem Verstand gemacht ...“
Wieder warfen sich Yakov und David begeistert vielsagende Blicke zu.
„Ich werde nie ein bestimmtes Experiment vergessen“, fuhr Dmitri fort, „in dem ich diesen Mann mit der Kapuze sah ... es muß derselbe sein ... er wurde auf einen Bildschirm in unserem Labor projiziert. Das Bild wurde direkt aus dem Gehirn eines unserer Medien übertragen, der, wie wir meinten, außerhalb seines Körpers war und eine Einrichtung des CIA in Washington erforschte. Der Patient Thalberg schien sogar genau dieses Experiment zu beschreiben ...“
„Das ist unglaublich!“ unterbrach David ihn. „Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Aber fahren Sie fort. Das Medium war außerhalb seines Körpers, sagen Sie, und untersuchte eine CIA-Ein-richtung?“
„Das glaubten wir damals. Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß er seinen Körper gar nicht verlassen hatte, sondern daß ein Dämon die Bilder in seinen Verstand projizierte. Ich glaube, die ganze Sache war dämonisch ... und in diesem Mönch schienen sich unglaubliche satanische Kräfte zu bündeln. Khorev war überzeugt, daß diese Gestalt mit der Kapuze derjenige war, der mehrere unserer Medien getötet hat.“
Yakov stieß David freundlich in die Seite und warf ihm einen Blick zu, als wolle er sagen: Ich hab’s dir ja gesagt! Zu Dmitri sagte er: „Mein Freund hier hat seine Zweifel, was die Dämonen angeht ... aber er wird es schon noch lernen.“ Dann sagte er ein wenig ernster: „Ich fürchte, Ihr Freund Viktor ist ebenfalls ein Opfer des ,Manns mit der Kapuze’ geworden.“
„Ich habe ihn dringend gebeten ... und gewarnt, bevor er nach Paris ging, daß er Gottes Schutz benötigte ... aber es quält mich, daß ich ihm nichts von Jesus gesagt habe. Ich war selber noch nicht lange gläubig und wußte kaum, wie ...“
„Nun zur Flucht“, warf David ein, dem dieses Thema nicht behagte. „Könnten Sie uns etwas darüber sagen?“
„Nun, Viktor, also Dr. Khorev, war überzeugt, daß irgendwelche Außerirdischen ohne Körper den amerikanischen Medien Kräfte verliehen, die unsere Medien nicht anzapfen konnten. In jenen Tagen,
bevor der Marxismus aus der ehemaligen Sowjetunion verbannt wurde, durfte man noch nicht einmal andeumngsweise etwas sagen, was den sogenannten wissenschaftlichen Materialismus’, auf den man so stolz war, in Frage stellen könnte. Aber Viktor war fest entschlossen, in dieser Richtung weiterzuforschen ... und so entschied er sich, während einer Konferenz in Paris in den Westen zu fliehen.“
„Carla Inman sagt, sie habe ihn dort auf den Straßen von Paris vor Chernov gerettet und ihn sicher in die Botschaft der USA gebracht“, ergänzte David, zu Yakov gewandt. „Und Del Sasso sagte, es sei ein abgekartetes Spiel gewesen!“
David wandte sich an Dmitri und fragte: „Sind Sie sicher, daß Oberst Chernov ihm nicht bei der Flucht half? Ich muß das absolut sicher wissen.“
Dmitri sah erstaunt aus. „Ich habe das bereits Yakov gesagt ... Chernov war Khorevs schlimmster Feind. Ich weiß nicht, wie um alles in der Welt Sie auf den Gedanken kommen, Chernov würde Khorev helfen. Das ist verrückt.“
„Also ist Del Sasso der Lügner!“ erklärte Yakov triumphierend. David nickte finster.
„Thalberg hat mich ohne jeden Zweifel in dem Labor gesehen“, fuhr Dmitri verwirrt fort. „Aber es ist mir ein Rätsel, wie das möglich ist. Das Video ... ich verstehe das nicht. Er sagt, er hätte es auf einem riesigen Bildschirm in einem Auditorium gesehen, kurz bevor — und das waren seine exakten Worte — ,die Flölle losbrach’.“
„Das war der Kongreß, an dem Ari teilnahm!“ rief Yakov aus. „Genau“, sagte David, und stellte den Rekorder aus.
„Ich danke Ihnen vielmals!“ sagte er dankbar zu Dmitri. „Vielleicht haben Sie einem Mann das Leben gerettet... mindestens jedoch seinen Verstand. Sagen Sie im Augenblick zu niemandem ein Wort darüber. Können wir in diesem Punkt auf Sie zählen?“
„Absolut. Ich bin im Gulag gelandet, weil ich für meinen Freund Viktor ein Geheimnis bewahrt habe... aber ich würde es wieder tun.“ Als sie wieder draußen waren und in Yakovs Wagen saßen, vertraute David dem alten Mann an: „Ich kann dir mit Bestimmtheit sagen, daß der Chef — und Margolanski und die anderen Psychiater — das nicht hören wollen, selbst, wenn wir es beweisen könnten. Und unsere einzige Chance, es zu beweisen, wäre Dmitris Aussage. Aber ich glaube, selbst dann würden sie es nicht akzeptieren ... und dieser freundliche Mann würde womöglich selbst als Insasse enden.“
„Der Meinung bin ich auch. Und was werden wir jetzt tun?“
„Die Frage, wie wir uns in dieser Situation weiter verhalten werden“, erwiderte David nachdenklich, „ist wirklich ein Problem. Aber ich habe da einige Ideen.“
50. Aus der Nacht heraus
„Kannst du in 30 Minuten im King David in der Lobby sein?“ Die Dringlichkeit in der Stimme, die Yakov am anderen Ende der Leitung hörte, war offensichtlich.
„Ah, David ... ich habe mich gerade fertig gemacht, um Ari zu besuchen. Was ist los?“
„Es hat damit zu tun. Wir sehen uns im King David!“ Die unterdrückte Aufregung in der Stimme seines Freundes war nicht zu überhören.
Als Yakov ankam, sah er David auf der anderen Seite der überfüllten Lobby stehen. Er unterhielt sich mit einem Amerikaner, Ende vierzig, mit rotblonden Haaren. Der Mann war ziemlich groß und gut durchtrainiert, und trotz der Tennisschuhe und des geblümten Sporthemdes, das er trug, war sein militärisches Auftreten nicht zu übersehen.
„Darf ich dir meinen Freund, Don Jordan, vorstellen“, sagte David, als Yakov zu ihnen trat. „Don, dies ist Yakov Kimchy. Er hat seine Wohnung mit Thalberg geteilt... bis zu diesem unglaublichen Skandal, für den ich mich für meine Kollegen im Büro schämen muß.“
„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Yakov“, sagte Jordan freundlich und streckte ihm seine Hand entgegen. „David hat mir schon sehr viel von Ihnen erzählt.“
„Und ich habe nie auch nur ein Wort über Sie gehört ...“ Yakov warf David einen scharfen, mißbilligenden Blick zu. Wie konnte er in Gegenwart eines Fremden nur so offen reden!
„Entspanne dich, du altes Schlachtroß“, sagte David. „Ich kenne Don seit mindestens 25 Jahren. Noch von Vietnam her. Wir waren damals zwei junge Gecken. Ich war Militärattache in unserer Botschaft in Saigon, und er war im Hauptquartier des militärischen Nachrichtendienstes der USA. Wir waren eng befreundet... lernten, einander zu vertrauen. Er ist jetzt beim FBI und ist ein guter Freund von Ken und Carla Inman. Und sie besuchen dieselbe Gebetsversammlung. Na, was sagst du nun?“
Yakovs Gesicht verzog sich zu einem verlegenen Grinsen. „Tut mir leid, Bruder.“ Er streckte die Hand aus und schüttelte Jordan noch einmal die Hand, dieses Mal mit großer Begeisterung.
„Hier gibt es nicht einmal einen freien Platz zum Sitzen“, klagte David entschuldigend. „Also werden wir stehenbleiben. Nun zur Sache. Don ist ,rein zufällig’ hier. Er macht mit einigen Christen eine
Rundreise durch Israel. Wir sind alte Freunde. Deshalb macht es nichts aus, wenn mich jemand mit ihm zusammen sieht. Wir haben gestern gemeinsam zu Abend gegessen und haben die ganze Angelegenheit durchgesprochen. Ich habe ihm von Dmitri erzählt und ihm eine Kopie des Bandes gegeben. Er ist auch der Meinung, daß wir Ari da rausholen müssen — und zwar schnell.“
„Preis dem Herrn!“ rief Yakov aus. „Was kann ich tun?“
„Viel. Aber wie wäre es, wenn du uns erst einmal deine Meinung dazu sagen würdest?“ fragte David und wandte sich dabei an Jordan.
„Es ist fraglich, ob wir Del Sasso jemals stoppen können, aber wir müssen es zumindest versuchen. Als erstes müssen wir uns um Thalbergs Sicherheit kümmern. Er ist ein Hauptzeuge. Unsere beiden Regierungen sind in dieser Sache kompromittiert. Deshalb müssen wir zumindest vorerst außerhalb der Legalität arbeiten. Sowohl beim CIA als auch beim FBI gibt es ein regelrechtes Netzwerk von Leuten, die die Wahrheit kennen und bereit sind, alles dafür zu riskieren. Und soweit ich weiß, gibt es eine Splittergruppe im Mossad ...“- Er sah David fragend an.
David nickte. „Kein Problem. Ich bin nicht der einzige ...“ „Also, meine Aufgabe wird es sein“, fuhr Jordan fort, „dafür zu sorgen, daß Ari — und natürlich auch Miriam — neue Ausweise bekommen und an einem sicheren Ort in den USA Schutz finden. Unglücklicherweise könnte man Ari durch sie finden, wenn sie ihre Identität ändert, und so könnten sie nie Zusammenkommen. Innerhalb einer Woche ... ich glaube nicht, daß ich es schneller schaffen würde ... wird David von mir für jeden der beiden zwei neue Sätze von Dokumenten erhalten: einen amerikanischen Ausweis, einen Führerschein, Sozialversicherungskarte und Kreditkarte sowie Flugtickets. Alles mit genauen Anweisungen und allem, was sie brauchen, um ihr Aussehen den frisierten Photos in ihren Pässen anzupassen. Ari und Miriam werden Set Nummer drei für ihren Flug von Frankfurt nach Chicago nehmen. Sie werden Set Nummer vier nehmen, um von Chicago nach ... nun, im Augenblick weiß ich noch nicht, was ihr endgültiges Ziel sein wird, aber es wird feststehen, wenn ihr die Dokumente erhaltet.“ „Ich werde zwei ähnliche Sets mit israelischen Ausweisen, Papieren und Verkleidungshilfen besorgen“, fügte David hinzu. „Ari und Miriam werden mit einem der Namen und Dokumentensets von Tel Aviv nach Rom fliegen, und unter einem anderen Namen von Rom nach Frankfurt. Vor dort werden sie dann, natürlich mit ihren amerikanischen Pässen, weiterfliegen. Vier verschiedene Namen bei vier un-
terschiedlichen Fluggesellschaften sollten es unmöglich machen, ihre Spur zu verfolgen.“
„Und welche Aufgabe habe ich?“ fragte Yakov.
„Ab jetzt wirst du innerhalb der Klinik nicht mehr mit Dmitri sprechen, selbst wenn ihr euch zufällig bei deinen Besuchen bei Ari treffen solltet. Warte auf ihn, wenn er heute nachmittag Dienstschluß hat und hole ihn mit deinem Wagen ab. Achte darauf, daß niemand euch beobachtet. Erkläre ihm, daß du in der Klinik nicht mehr mit ihm sprechen wirst, daß du ihn aber jeden Nachmittag abholst — und daß er morgen nachmittag eine komplette Liste aller Medikamente erstellen muß, die Ari bekommt, sowie eine genaue Beschreibung der Behälter, in denen jede Sorte aufbewahrt wird... und er soll dir von jeder Pille ein Muster geben. Am nächsten Tag gibst du ihm Duplikate der Behälter mit Zuk-kerpillen, die Dmitri am folgenden Tag austauschen wird. Das wird von heute an gerechnet in drei Tagen sein. Wenn du Ari am vierten Tag besuchst, sollte sein Kopf schon langsam klarer werden. Du erklärst ihm, was geschieht und daß er weiter so tun muß, als sei er desorientiert und unter Drogen. Wir werden etwas in die Placebos tun, damit seine Pupillen erweitert bleiben. Hast du verstanden?“
„Verstanden.“
„Wir haben schon zweimal dafür gesorgt, daß die Geräte für die Elektroschocktherapie ausgefallen sind. Sie werden jetzt repariert. Und ich werde dafür sorgen, daß sie erst fertig sind, wenn Ari schon weg ist“, fuhr David fort. „Das wäre der einfache Teil. Ihn dort rauszuholen, ohne daß jemand Alarm schlägt, bis er schon mindestens fünf Stunden weg ist, wird nicht ganz so leicht sein. Also, wir werden folgendes tun ...“
Jordan hielt Wort und schickte ihnen eine Woche später die amerikanischen Pässe und die anderen persönlichen Dokumente sowie die Flugtickets. Sie gingen per Kuriergepäck an die amerikanische Botschaft in Tel Aviv, und zwar unter dem Namen eines leitenden Mitarbeiters der Botschaft, der zu Jordans Netzwerk gehörte. Der wiederum leitete sie heimlich an einen katsa, Yehuda Cohen, weiter, dem David bereits die gefälschten israelischen Pässe und die Alitalia-Tickets nach Rom sowie die Lufthansa-Tickets für den Weiterflug nach Frankfurt gebracht
hatte. Yehuda würde der Fahrer sein, der Ari und Miriam zum Flughafen brachte — vorausgesetzt, alles lief nach Plan.
Dmitri hatte sich wie ein professioneller Schnüffler verhalten. Auch seine letzte Aufgabe hatte er reibungslos erledigt: Er tauschte die Placebos wieder gegen die richtigen Medikamente aus. David hatte auf dieser zusätzlichen Maßnahme bestanden, um Dmitri zu schützen. Der Austausch der Drogen, der für den Plan von entscheidender Bedeutung war, würde bei der nachfolgenden Untersuchung die einzige Phase der Operation sein, die niemals aufgedeckt werden könnte.
Aus verschiedenen Gründen — einer der wichtigeren waren die Flugpläne der Fluggesellschaften — war entschieden worden, Aris Flucht besser am Tage als in der Deckung der Nacht durchzuziehen. Allerdings nicht während Dmitris Schicht. Dmitri verließ die Klinik gegen 15.10 Uhr. Um 15.30 Uhr betraten zwei verkleidete katsas mit gefälschten Mossadausweisen — Yehuda Cohen und Josef Burg — die Klinik. Sie legten der diensthabenden Schwester eine Anweisung vor, die von Dr. Margolanski, dem Chefpsychiater, unterzeichnet war. Ari sollte für eine besondere Testserie, die etwa fünf Stunden in Anspruch nehmen würde, in sein Büro gebracht werden. Margolanski hatte bereits eine Stunde zuvor angerufen und angeordnet, daß dem Patienten seine normale Straßenkleidung angezogen werden solle. Cohen und Burg legten Ari Handschellen an und gingen unverzüglich mit ihm weg.
Als Ari auf den Rücksitz des wartenden Wagens geschoben wurde, saß zu seiner großen Freude auf der anderen Seite des Sitzes David mit einem Schlüssel, um seine Handschellen aufzuschließen, und zwischen ihnen in der Mitte saß Miriam, die gleichzeitig lachte und weinte. Ihre Umarmung nach einer Trennung von sechs Monaten mußte kurz bleiben. David sorgte dafür. Sie durften keine Zeit verlieren.
„Wie fühlst du dich, Ari?“ fragte David in schroffem Ton.
„Noch lange nicht wieder normal, aber schon viel besser“, war die Antwort. Er sah eifrig zwischen Miriam und den wechselnden Szenen auf der Straße hin und her, als der Wagen eilig abfuhr. „Was für eine Erleichterung, als die Schocktherapie aufhörte! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es da drinnen zugeht. Und dann die Drogen! Es wurde bedeutend besser, als ich Placebos bekam!“
„Großartig! Aber jetzt müßt ihr beiden genau zuhören. In euren Pässen und den anderen Dokumenten sind eure richtigen Photos, aber sie sind verfälscht, um eurem jeweiligen Aussehen zu entsprechen.
Jeder von euch hat vier verschiedene Identitäten — eine neue für jedes Mal, wenn ihr das Flugzeug wechselt — und jedes Set befindet sich in einem Päckchen. Die Päckchen sind von eins bis vier durchnumeriert. Außerdem steht auf jedem der Name der Stadt, von der ihr abfliegt, und das Ziel. Auf eurem letzten Flug von Chicago nach Denver gibt es keine Paßkontrolle oder Zoll. Ihr könnt euch also entspannen. Aber paßt auf, daß ihr euch jedesmal euere neuesten Namen merkt.“
Yehuda, der am Steuer saß, fuhr an den Straßenrand. Josef sprang aus dem Wagen und ging in ein Bürogebäude, während Yehuda weiterfuhr. „Dr. Margolanskis Büro ist dort drinnen im dritten Stock“, erklärte David. „Ari erinnert sich vielleicht an ihn ... er ist der Chefpsychiater ..."
„Und ob ich mich an ihn erinnere!“ rief Ari aus. „Er ist der Teufel, der mich in diese Folterkammer gebracht hat!“
„Er und noch einige andere“, sagte David trocken. „Nun, er wurde ,überredet’ — mit eindr-Pistole am Kopf —, die Klinik anzurufen und dann eine Anweisung zu unterzeichnen, daß Ari die Klinik verlassen und für einige Tests in sein Büro gebracht werden solle. Josef wird den anderen beiden helfen und dafür sorgen, daß die nächsten sechs Stunden alles unter Kontrolle bleibt, bis ihr sicher in Rom seid. Es war etwas kompliziert. Zwei Termine und eine Verabredung zum Abendessen mußten abgesagt werden... Erklärungen gegenüber seiner Frau gemacht werden ... die Empfangsdame und eine Schwester mußten für den Nachmittag durch zwei von unseren eigenen Leuten ersetzt werden ... aber das ist reine Routine.
Er wird gegen 22.00 Uhr freigelassen werden — mit der Drohung, daß weitere Aktionen der Bürgerinitiative folgen werden, wenn er nicht einige der anderen Fälle, die von ihm betreut werden, revidiert. Unsere Leute geben sich als Mitglieder der,Bürgerinitiative gegen den Mißbrauch der Psychiatrie’ aus. Wir haben ein paar Flugblätter und Broschüren drucken lassen, auf denen dieser Name steht, und sie in den letzten paar Tagen in der Stadt verteilt. Das wird ihnen einiges Kopfzerbrechen bereiten ... und wird sie hoffentlich von dem Gedanken ablenken, daß die Leute, die hinter dieser Aktion stehen, hauptsächlich an dir interessiert sind, Ari.“
David legte Ari einen Aktenkoffer auf den Schoß und zeigte ihm, wie sich die beiden Geheimfächer, eines im Deckel und eines im Boden, öffnen ließen. Aus dem Fach im Boden zog er einen flachen Plastikbehälter, auf dem Nr. 1 stand. „Also, hier ist das erste Set. Wie du an den Photos im Ausweis sehen kannst, Ari, mußt du dir diesen
Schnurrbart und diese dichten Augenbrauen ankleben. Stecke dir diese vier Murmeln in den Mund, zwei auf jede Seite, damit deine Wangen dicker werden, und trage ständig diese Brille mit Fensterglas und dem dicken schwarzen Rahmen. Miriam, auch für dich falsche Augenbrauen und Wimpern, eine rote Perücke, Make-up und diese große Brille. Seht euch eure Namen an. In dieser Phase, die die schwerste ist, seid ihr Ygal und Aerni Yaar.
Ich werde nicht mit euch in den Flughafen gehen“, fuhr David fort. „Yehuda ist verkleidet. Also wird er euch mit dem Gepäck helfen und unseren Mann im Zoll auf euch hinweisen, der euch durch die Kontrolle bringen wird — hoffentlich ohne Probleme. Danach seid ihr auf euch selbst gestellt. Das Flugzeug startet in einer Stunde.“
„Wo ist Yakov?“ fragte Ari.
„Er wäre gern hier gewesen, um euch zu verabschieden. Aber das hätte es zu kompliziert gemacht. Jedes zusätzliche Element erhöht die Gefahr einer Entdeckung um das zehnfache. Er bat mich, euch dies hier als Hochzeitsgeschenk zu geben. Er bittet um Entschuldigung, daß er keine Zeit hatte, es schön einzupacken. Aber er wollte sowieso, daß ihr es sofort in Gebrauch nehmt.“
David hielt Ari eine Bibel hin, und der nahm sie dankbar an. „Richte ihm meinen Dank aus!“ sagte Ari. „Ich habe meine erste eigene Bibel nur höchst ungern zurückgelassen. Auch die war ein Geschenk von Yakov. Ich hatte viel darin unterstrichen ... Notizen an den Rand geschrieben ... wurde immer vertrauter mit ihr. Aber ich konnte sie natürlich nicht mitnehmen.“
Ari bemerkte, daß etwas zwischen den Seiten steckte, und öffnete die Bibel an der Stelle. Das Lesezeichen war eine amerikanische 100-Dollar-Note. Auf der Seite waren mit rot diese Worte unterstrichen:
Und du sollst an den ganzen Weg denken, den der HERR, dein Gott, dich diese vierzig Jahre in der Wüste hat wandern lassen, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen «und» um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Und er demütigte dich und ließ dich hungern. Und er speiste dich mit dem Mann, das du nicht kanntest ... um dich erkennen zu lassen, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt. Sondern von allem was aus dem Mund des HERRN hervorgeht, lebt der Mensch.
Ari umarmte Miriam erneut. In seinen Augen standen Tränen. „Ich werde dir später erklären, warum ausgerechnet diese Verse“, sagte er mit erstickter Stimme. „Sie bedeuten mir sehr viel.“
Den Rest der kurzen Fahrt verbrachten sie damit, ihre Verkleidung anzulegen, sich an das neue Gefühl und Aussehen zu gewöhnen und einander mit den neuen Namen anzureden. Es war nicht einfach, sich von David zu verabschieden. „Kümmere dich um Yakov“, wiederholten beide, Ari und Miriam. „Wir möchten, daß er in die USA kommt, sobald es ungefährlich ist.“
„Ich werde gut auf ihn aufpassen ... und hoffentlich läßt sich das eines Tages arrangieren.“
„Und du paß auch auf dich auf“, sagte Ari, als er Davids Hand ergriff und mit beiden Händen festhielt. „Ich schulde dir mehr, als ich je wiedergutmachen kann. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, daß du an den Messias Jesus glaubst ... dann wüßte ich, daß wir uns Wiedersehen werden.“
„Ich habe deine Story nicht geglaubt — aber jetzt glaube ich sie. Bitte vergib mir“, erwiderte David, der seinerseits Aris Hand festhielt. „Und wer weiß ... mit diesem Jesus ... vielleicht ..Er wagte es nicht, mehr zu sagen, aber Ari und Miriam verstanden.
Auf dem Flughafen Lod, dessen Kontrollen für Passagiere und Gepäck die schärfsten auf der ganzen Welt sind, wurden Ari und Miriam alias Ygal und Aerni Yaar nach allen Regeln der Kunst untersucht. Falls sie überhaupt irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zogen, dann war es wegen ihrer offensichtlichen starken Zuneigung zueinander. Die geübten Augen der abgehärteten Zollbeamten, die Menschen aller Art sahen und einen Schwindler auf den ersten Blick erkannten, hatten keine Zweifel daran, daß sich dieses Paar wirklich liebte — und wahrscheinlich auf Hochzeitsreise war.
Die Sorgfalt, mit der die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Flughafen durchgeführt wurden, waren zwar in gewisser Weise beruhigend. Aber sie wußten beide, daß sie sich — trotz ihrer Verkleidung und des Mossadagenten, der sie umsichtig hindurchgeleitete — erst entspannen durften, wenn sie in der Luft waren. „Danke, Herr!“ flüsterte Ari innerlich, als sie an Bord gingen.
Sobald das Flugzeug in der Luft war, hielten Ari und Miriam einander in einer langen Umarmung umklammert. Dann leimten sie sich in ihren Sitzen zurück und Miriam legte ihren Kopf auf Aris Schulter. Ein Pärchen auf Hochzeitsreise, ohne jeden Zweifel — war das Urteil, das in den Augen etlicher wohlwollender Passagiere, die in ihrer Nähe saßen, geschrieben stand.
„Ist Gott nicht gut?“ flüsterte Miriam. Ari konnte nur nicken und ihre Hand drücken. „Ich glaube, Yakov wollte mich abschirmen und hat mir nicht gesagt, wie schlimm es in der Klinik in Wirklichkeit war ... aber ich habe das Schlimmste vermutet und Tag und Nacht für deine Befreiung gebetet. Ich habe wirklich geglaubt, daß Gott es tun würde ... und jetzt sind wir hier!“ Sie kuschelte sich enger an ihn.
Ari brauchte einige Zeit, bis er seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte. „Sie hätten es beinahe geschafft, mich zu brechen“, sagte er leise. „Aber weißt du, ich glaube, selbst dieses grauenhafte Erlebnis war Teil von Gottes Plan. Als ich die Bibel das erste Mal durchgelesen habe, bin ich auf die Worte Jesu gestoßen, wo er sagt: ,.. .wer nicht sein Kreuz aufmmmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.’ Es war wie eine Offenbarung. Ich wußte, mein wirkliches Problem waren nicht die vielen Feinde, mit denen ich in meinem Leben fertigwerden mußte. Ich selbst war mein schlimmster Feind, weil ich immer nur für mich gelebt habe. Und da habe ich gesagt: ,Herr, ich lasse jetzt meine eigenen Pläne, meine Ambitionen ... selbst Miriam — Liebling, das habe ich wirklich gesagt — los. Ich übergebe mich dir. Tue mit mir, was du willst.’ Und von dem Moment an hatte ich einen Frieden und eine Freude, die ich für nichts auf der Welt wieder hergeben würde!“
„Ich habe dich schon immer leidenschaftlich geliebt“, sagte Miriam leise, „aber jetzt liebe ich dich sogar noch mehr. Ich habe vor vielen Jahren dasselbe Gelübde abgelegt, und ich habe gewartet, daß Gott mir den Mann gibt, den er für mich ausgewählt hat — einen Mann, der nichts anderes will, als Gottes Willen tun. Oh, und wie wunderbar hat er dieses Gebet beantwortet, Ari, mein Liebster!“
Aris Herz war so übervoll, daß er nicht sprechen konnte. Er preßte ihre Hand an seine Lippen. Jetzt konnte er sich endlich entspannen, der überwältigenden Erschöpfung nachgeben und neben der Frau, die er liebte, einschlafen. Sie waren gemeinsam in Gottes Hand.
51. Rendezvous
Miriam sah aus einem vollkommen klaren Himmel hinunter auf die bedrohliche Smog-Wolke, die Roms Leonardo da Vinci-Flughafen einhüllte, und dabei fiel ihr wieder ein, was für Gefahren die beiden Flüchtlinge erwarteten, sobald sie landeten. „Was ist, wenn unten die Polizei auf uns wartet?“ fragte sie. „Es wäre gut möglich, daß Tel Aviv inzwischen angerufen hat.“
„Nur ruhig Blut“, mahnte Ari und legte schützend seinen Arm um sie. „Wenn wir nervös wirken ... halten sie uns vielleicht für Drogenschmuggler ... lassen ihre Hunde in unserem Gepäck herumschnüffeln und werden die koschere Wurst finden!“ sagte er lachend.
„Ich werde mich einfach bei dir einhaken und verliebt aussehen. Was hältst du davon?“
„Großartig. Aber gib dir Mühe, daß es auch überzeugend wirkt.“
„Ari! Ich meine es ernst. Angenommen, der Mossad ist wirklich da unten und wartet auf diesen Flug?“
„Vor einem Monat hätte ich mich hauptsächlich auf meine Erfahrung in den Kampfsportarten verlassen, meinen wachen Verstand und was sonst noch alles“, bekannte Ari. „Aber jetzt sind wir in Gottes Hand. Falls man uns festnimmt ... nun, wir werden ihm vertrauen, daß er sich darum kümmert. Aber ich glaube nicht, daß der Mossad auch nur die leiseste Ahnung hat, wo er suchen soll... und sie können nicht auf allen Flughäfen in der ganzen Welt jeden ankommenden Flug abfan-gen. David hat diese Sache zu gut geplant
Und in der Tat, als sie das Flughafengebäude betraten, gab es keinerlei Anzeichen von der Polizei oder dem Mossad. „Sind wir nicht Transitreisende?“ fragte Miriam besorgt. „Wieso gehen wir zum Gepäck und zum Zoll?“
„Du und ich, wir werden nach Frankfurt und Chicago weiterfliegen“, erinnerte sie Ari leise. „Aber Ygal und Aerni Yaar unterbrechen ihren Flug in Rom ... für immer. Wir werden hier jemand anderes, weißt du noch?“
In den Listen würde stehen, daß Ygal und Aerni Yaar ihre Koffer an der Gepäckausgabe abgeholt hatten und durch die Zollabfertigung gegangen waren. „Sie haben Ihre Adresse in Rom nicht angegeben“, bemerkte eine sehr offiziell wirkende Dame mittleren Alters, der sie bei der Paßkontrolle gegenüberstanden.
„Ich dachte, wir mieten uns einen Wagen“, erwiderte Ari locker, „fahren dann zunächst Richtung Florenz und Venedig — vielleicht auch noch in die Schweiz und an die italienischen Seen — und dann später zurück nach Rom.“
„Sie sollten besser sofort Zimmer reservieren“, schlug die Matrone vor, als sie nach einer Kontrolle ihrer Paßfotos die Pässe abstempelte. „Zu dieser Jahreszeit ist alles voll.“
„Danke. Das sollten wir wahrscheinlich tun“, sagte „Ygal“.
Ygal und Aerni folgten den Schildern „Öffentliche Verkehrsmittel“, verließen das Flughafengebäude und gingen auf ein Taxi zu. Dann schien ihnen einzufallen, daß sie etwas vergessen hatten, und sie gingen durch eine andere Tür wieder hinein.
„So, damit wäre diese Scharade beendet“, sagte Ari und sah auf seine Uhr. „Wir haben beinahe drei Stunden Zeit, um uns in den zollfreien Läden umzusehen, uns zu entspannen, neu zu verkleiden und alles zu vernichten, was zu Ygal und Aerni gehört. Wir sind jetzt Yetsak und Deborah Vanunu — bis wir in Frankfurt sind.“
Ari und Miriam setzten sich in eine abgelegene Ecke des Hauptterminals und machten sich mit ihren neuen Identitäten vertraut. Sie redeten einander mit den neuen Namen an, lernten den kurzen, schriftlichen Lebenslauf von Yetsak und Deborah auswendig, der solche Daten und Informationen wie Geburtsdatum und -ort und andere allgemeine Informationen enthielt, sowie weitere allgemeine Informationen, die in Paß, Führerschein und Kreditkarten standen, und fragten sich gegenseitig ab. All diese Dinge fanden sie fein säuberlich verpackt in Paket Nr. 2, das Ari aus dem falschen Boden des Aktenkoffers nahm.
Im Zuge dieser erneuten Veränderung zerriß Miriam die Quittungen für ihre Alitalia-Tickets und bog und drehte Ygal und Aernis Kreditkarten, bis jede aus vier Stücken bestand. Mit einer Rasierklinge, die extra für diesen Zweck im Set war, zerschnitt Ari die Pässe und Führerscheine, die sie nicht mehr brauchten. Dann deponierte er die Überreste in drei verschiedenen Abfalleimern. In der Zeit nahm Miriam die Plastiktüte mit allem, was sie für ihre letzte Maskierung gebraucht hatten, ging zum anderen Ende des Terminals und verteilte den Inhalt der Tüte in drei verschiedene Mülleimer, die dort standen.
Anschließend mieteten sie sich zwei Duschkabinen, in denen sie ungestört ihre zweite Verkleidung anlegen konnten. So, wie schon bei ihrer ersten Verkleidung, waren auch hier die Veränderungen, die von einem Spezialisten des Mossad für sie vorbereitet worden waren, mini-
mal, hatten jedoch große Auswirkung auf ihr Aussehen. Die Verkleidungen, die sie von Don Jordan erhalten hatten und die sich ein Make-up-Experte des FBI ausgedacht hatte, sollten sich als ebenso kreativ erweisen.
Es war eine zermürbende Reise mit zwei Zwischenstops auf dem Weg nach Chicago, die normalerweise nicht nötig gewesen wären, und dort mußten sie noch einmal das Flugzeug wechseln. Aber David und Jordan wollten sicher gehen, daß man ihrer Spur nicht folgen konnte. Es war besser, ein paar mehr Mühen auf sich zu nehmen, aber dafür in Sicherheit zu sein, denn es stand außer Frage, daß Mossad, FBI und CIA eine intensive weltweite Suchaktion nach ihnen starten würden.
„Es ist wie ein Traum“, flüsterte Miriam und legte ihren Kopf auf Aris Schulter, als ihr Jet abhob und Richtung Frankfurt davonflog. „Ich kann immer noch nicht glauben, daß es wirklich passiert!“ „Du kannst es nicht glauben? Stell’ dir doch mal vor, wie ich mich fühlen muß ... nachdem Dämonen ein halbes Leben lang ihre Spielchen mit meinem Verstand getrieben haben! Diese Abteilung in der Psychiatrie war nur der Höhepunkt. Es ist, als ob ich aus einem Alptraum aufwache. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Ich bin wirklich ein neuer Mensch!“
Miriam schwieg einige Momente. Dann setzte sie sich auf, wandte sich auf ihrem Sitz halb zur Seite und sah Ari direkt in die Augen. „Macht es dir überhaupt etwas aus, daß wir jetzt vogelfrei sind ... Flüchtlinge mit falschen Identitäten, die wir beibehalten müssen, vielleicht sogar unser Leben lang?“
„Dir macht es etwas aus, nicht wahr?“
Sie nickte. „Es kommt mir so unehrlich vor.“
„Ich bin auch nicht froh darüber ... aber was für eine Wahl hatten wir? Ich mußte Israel verlassen. Und das ist die einzige Art, auf die wir zusammen sein können. Das weißt du doch.“
„Ja, ich weiß. Aber ich bete zu Gott, daß wir uns nicht für immer vor der Polizei verstecken müssen. Wie können wir eine Familie gründen?“
„Hier kommt die Braut ...“, sagte er ziemlich laut und feierlich. „Still!“ rief Miriam aus. „Du machst mich verlegen.“
Ari lächelte zufrieden. „Ich weiß nicht, wie es sich machen läßt. Aber ich bestehe auf Hochzeitsglocken, sobald wir an unserem Ziel ankommen ... wo auch immer das sein wird.“
„Ich dachte, es ist Denver.“
„Das stimmt. Aber ich glaube, wir fahren mit dem Auto weiter ... vielleicht an irgendeinen Ort in den Bergen.“
„Sie haben uns nicht gesagt, wohin?“ Miriams Stimme verriet ihre Angst vor dem Unbekannten. „Was sollen wir tun?“
„Entspanne dich, Liebste. Sie haben uns bis hierher gebracht. Sie werden uns jetzt nicht im Stich lassen.“
Nach einer weiteren Pause in ihrer Unterhaltung sagte Miriam: „Wo wir gerade von Familiengründung reden ... was ist mit deinem Sohn?“
„Du hast gehört, wie ich David alle Einzelheiten mitgeteilt habe“, sagte Ari sehnsüchtig. „Er wird versuchen, ihn zu finden und sehen, was sich machen läßt. Seine Pflegeeltern sind echte Christen. Wenn sie hören werden, daß ich jetzt ein Gläubiger bin ... ich muß in all diesen Dingen einfach Gott vertrauen“, schloß er mit einem Seufzer.
Wieder änderten sie ihre Verkleidung, vernichteten die vorherigen Ausweispapiere und warfen sie weg und wechselten die Fluglinie. All das geschah ohne alle Probleme sowohl auf dem Flughafen Frankfurt als auch auf Chicagos Flughafen O’Hare.
„Ich bin inzwischen so müde und durcheinander“, sagte Miriam, nachdem sie sicher an Bord der United Airlines waren und von Chicago nach Denver flogen, „daß ich nicht weiß, was ich sagen würde, falls mich jemand nach meinem Namen fragen sollte. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“
„Wh sind jetzt eingebürgerte Amerikaner“, erwiderte Ari und gähnte. „Das bedeutet, daß wir eine Menge Rechte haben. Sag ihnen einfach, du machst von deinem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch
„Deswegen muß man doch trotzdem noch seinen Namen angeben, du Dummerchen!“ Sie sah ihn an und traute ihren Augen kaum. Er war bereits eingeschlafen.
Es war ein müdes Paar, jetzt alias Marty und Sara Berg, das endlich, mehr als 30 Stunden, nachdem es Tel Aviv verlassen hatte, sein Handgepäck über das Flugfeld ins Flughafengebäude des Stapleton International Airports in Denver schleppte. „Wir haben es geschafft!“ rief Miriam leise aus, als sie aus dem Terminal kamen und zum Förderband gingen, um ihre Koffer zu holen. „Ich hoffe, wir haben jetzt nicht auch noch eine lange Fahrt vor uns!“
„Ist egal... das ist es wert, wenn wir dafür endlich an einen sicheren Ort gelangen und nicht mehr weglaufen müssen.“
Sie hatten sich noch keine fünfzehn Meter von ihrem Flugsteig entfernt, als ein großer, breitschultriger Mann scheinbar aus dem Nichts neben Ari auftauchte. Mit seiner tiefen Stimme sprach er leise die gefürchteten Worte: „Ari Thalberg und Miriam Zeira ... Sie sind verhaftet!“
Miriam verkrampfte sich, holte tief Luft und klammerte sich noch fester an Aris Arm, der sofort angespannt war.
„Gehen Sie weiter und verhalten Sie sich ganz natürlich“, fuhr die Stimme fort.
Miriam spürte, wie Ari sich entspannte. Mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung flüsterte er: „Alles okay. Das ist das Losungswort, mit dem sich unser Kontaktmann ausweist.“
„Du ...! Warum hast du mir das nicht gesagt?“
„Ich habe es vergessen. Tut mir leid.“
„Wenn Sie mit Ihrem Gepäck nach draußen kommen“, fuhr die tiefe Stimme neben ihnen eilig fort, „werden Sie gleich vor dem Eingang einen neuen, dunkelgrauen, viertürigen Buick Century mit dem Nummernschild MGJ 148 finden. Die Schlüssel in Set vier passen. Im Handschuhfach ist eine Straßenkarte mit weiteren Anweisungen.“ Mit diesen erfreulichen Worten verschwand der Mann.
Sie fanden das Auto ohne Schwierigkeiten. Als sie den Gepäckbereich verließen, stand es ungefähr 30 Meter von der Tür entfernt am Straßenrand. Wie die Stimme neben ihnen versprochen hatte, war die dunkelgraue Limousine brandneu. Und die Schlüssel in Paket vier, wegen der Ari schon herumgerätselt hatte, paßten in der Tat.
„Karte ... Anweisungen ... alles da“, sagte Miriam glücklich, nachdem sie das Handschuhfach geöffnet hatte. Ari startete den Wagen. „Und hier ist noch ein Schlüssel für ein Haus ... in der Clover Lane in Boulder! Es scheint gar nicht so weit zu sein ... weniger als zwei Stunden Fahrt, denke ich.“
„Du wirst mich wachhalten müssen“, warnte Ari. Er sah aufmerk-
sam in den Rückspiegel, als er langsam in den fließenden Verkehr einbog. „Sieht gut aus. Niemand folgt uns. In welche Richtung muß ich fahren?“
„Folge einfach dem Verkehrsfluß um das Gebäude, dann geradeaus, bis du das Flughafengelände verlassen hast. Nimm die erste Möglichkeit rechts an der großen Kreuzung in Richtung Quebec Street. Bleib auf der Straße bis zur 1-70 nach Westen ... und ab da lotse ich dich auf die gebührenpflichtige Autobahn Denver-Boulder ... das ist der Highway 36.“
Es war ein kristallklarer, sonniger Nachmittag ohne den Smog, der die Gegend um Denver zunehmend plagt. Sie hatten beinahe unbegrenzte Sicht. Sobald sie die Stadt verlassen hatten und auf der Autobahn waren, öffnete sich der Blick nach Westen.
„Nimm deine Nase aus der Karte und sieh dir die schneebedeckten Berggipfel vor uns an!“ rief Ari aus. „Das könnte beinahe in Frankreich oder der Schweiz sein ... oder vielleicht in Süddeutschland. Einfach herrlich! Fahren wir da hin?“
„Es ist sehr schön“, erwiderte Miriam, die von ihrer Karte aufsah. „In Israel gibt es nichts dergleichen! Nein, wir fahren nicht hinauf in die Berge. Boulder scheint direkt am Fuße der Berge zu liegen, auf dieser Seite der Rockies ... so heißen sie. Es ist nicht so weit, wie ich dachte. Vielleicht noch 40 Minuten.“
„Da ist die Nummer, auf dem Briefkasten!“ rief Miriam mit unterdrückter Aufregung aus, als Ari den Wagen endlich in die Clover Lane steuerte und sie langsam die etwas außerhalb gelegene Straße entlangfuhren. Die Häuser standen auf großen Grundstücken und waren von freiem Feld umgeben. Der Blick auf die Stadt Boulder hinunter, die einige Kilometer weiter weg lag und hinter der sich die Rockies erhoben, war herrlich. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte, daß es kurz nach halb fünf war.
„Das ist ein automatischer Türöffner“, sagte Miriam, als Ari in die Einfahrt einbog und das Auto auf die Doppelgarage zurollte, die an das Haus — einen herrlichen großen Bungalow mit einem gepflegten Grundstück — angebaut war. Sie wies auf einen Gegenstand, der an
der Sonnenblende über seinem Kopf klemmte. „Da. Drück den Knopf.“
„Da steht ein Wagen in der Garage!“ murmelte Ari überrascht, als sich das Garagentor langsam öffnete. „Was kann das bedeuten?“
„Vielleicht hat jeder von uns ein eigenes Auto“, meinte Miriam.
„Das glaube ich nicht. Irgend jemand ist schon da. Das gefällt mir nicht! Die Anweisungen sagen, daß das Haus unbewohnt ist.“ Er fuhr rückwärts von der Garage weg und auf die Straße. „Das wäre ein Ding, wenn wir bis hierher gekommen wären ...“
„Jetzt bist du derjenige mit dem Verfolgungswahn“, meinte Miriam. „Vielleicht ist es ein Reservewagen, den die Besitzer hiergelassen haben. Das Haus muß doch jemandem gehören.“
„Bleib du hier“, warnte Ari. „Ich werde das untersuchen.“
Vorsichtig ging Ari den Weg, der von der Auffahrt abging, entlang und stieg die Treppen zu der breiten, überdachten Veranda hinauf. Er ging lautlos an einem großen Fenster vorbei, das offenbar zum Wohnzimmer gehörte, und weiter zur Eingangstür auf der anderen Seite der Veranda. Die Vorhänge waren zugezogen, so daß er nicht hineinsehen konnte. Leise steckte er den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum.
Die Tür wurde von innen aufgerissen und in der folgenden Verwirrung nahm Ari ein paar starke Arme wahr, die seine Schultern packten und hörte, wie zwei irgendwie bekannte Stimmen bedeutungslose Sätze riefen. Sollte es tatsächlich so enden, mit solch einem bitteren Fehlschlag?
„Ari, Mann, ich bin’s — Ken Inman!“
„Ihr seid da! Oh, wie herrlich!“ rief eine andere Stimme. Es war Carla!
Ari war schwindelig von diesem Wechselbad der Gefühle. Er ließ die Umarmungen und Freudenrufe einfach über sich ergehen. „Ist das euer Haus?“ fragte er. „Ich dachte, ihr wohnt in Kalifornien ... in der Nähe der Stanford-Universität.“
„Das stimmt“, erklärte Ken. „Wir sind nur das Begrüßungskomitee.“
„Wo ist Miriam?“ wollte Carla wissen.
„Im Auto“, erwiderte Ari glücklich. „Wir haben euren Wagen in der Garage gesehen ... und ich habe mir ein wenig Sorgen gemacht. Was bin ich froh, euch zu sehen!“
„Na, wir können sie doch nicht da draußen lassen!“ Carla war schon aus der Tür.
„Was für eine wunderbare Überraschung!“ rief Ari aus. „Ich hatte gehofft, daß wir uns irgendwie mit dir und Carla treffen könnten ... aber ich hatte keine Ahnung, daß das schon so bald geschehen würde.“ „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr wir uns schon darauf gefreut haben. Das wollten wir auf keinen Fall verpassen. Wie wir gehört haben, ist es ein Wunder, daß ihr es nach allem, was du durchgemacht hast, geschafft habt! Naja ... Gott erhört Gebet.“
Carla stürmte durch die Tür und schleppte Miriam hinter sich her. „Miriam, das ist mein Mann Ken.“
Miriam wischte sich die Freudentränen aus den Augen. Sie sah benommen aus. „Ich habe Schwierigkeiten zu glauben, daß das alles Wirklichkeit ist.“ Sie umarmte Ari. „Liebling, wir haben es geschafft!“ „Ihr beiden müßt vollkommen erledigt sein!“ sagte Ken mitfühlend. „Wie ist es gelaufen?“
„Perfekt“, erwiderte Ari dankbar. „Von Anfang bis Ende ist alles glatt gelaufen. Und das Auto, und dieses Haus ... wer hat dafür gesorgt ... euer Freund Jordan?“
Ken nickte. „Ein wohlhabender Christ trägt die Miete für beides... und auch alle anderen Kosten ... so lange es nötig ist. Und selbst er weiß nicht, wo sich dieses Haus befindet.“
„Jordan hat sehr gute Arbeit geleistet. Ich hoffe wirklich, daß wir ihm eines Tages persönlich danken können.“
„Das könnt ihr ... er will zu eurer Hochzeit kommen.“
Ari umarmte Miriam. „Hast du das gehört, Liebling? Es wird eine Hochzeit geben. Ich frage mich, wer da wohl heiratet?“
„Okay, jetzt zu den praktischen Dingen“, unterbrach Carla. „Während ihr Männer die Koffer ins Haus bringt, zeige ich Miriam ihr Zimmer ... und den Rest des Hauses.“
„Wir wollen alles von euch hören ... morgen, wenn ihr euch ausgeschlafen habt“, sagte Ken, als sie zusammen nach draußen zum Wagen gingen.
„Es ist so unglaublich, hier zu sein!“ Während er sprach, suchte Ari mit geübtem Blick die Nachbarschaft ab. Trotz seiner Euphorie ließ ihn seine jahrelange Erfahrung nicht die Sorge für ihre Sicherheit vergessen. „Ihr seid garantiert nicht verfolgt worden?“ fragte er Ken.
„Ganz sicher nicht. Einige von Jordans Leuten haben uns die ersten hundert Meilen begleitet, um sicher zu sein, daß uns niemand folgt... und sie waren zufrieden. Seitdem der Senat vor zwei Wochen sein Urteil bekannt gegeben hat, hat uns niemand beobachtet.“
„Ich habe nichts davon gehört.“
„Sie haben uns beide als Lügner abgestempelt ... aber sie werden uns nicht strafrechtlich verfolgen. Sie haben Angst vor dem, was wir in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung sagen würden. Aber durch die Art und Weise, wie die Behörden die Medien getäuscht haben ... und durch die Art der Berichterstattung ... sind wir gründlich in Verruf gebracht worden. Der Feind hält uns nicht mehr für eine Bedrohung. Natürlich hätten sie uns sofort beschattet, nachdem sie erfuhren, daß ihr vermißt werdet“, redete Ken weiter. „Deshalb hat Jordan uns gesagt, wir sollten schon zwei Tage eher herkommen. Und wir werden uns nirgends sehen lassen, bis wir wieder nach Hause fahren. Dann werden uns Jordans Männer wieder decken.“
„Ich kann es kaum erwarten, Carlas Sicht der Geschichte zu hören ... und auch deine. Soweit ich weiß, hast du dich Del Sasso zweimal entgegengestellt und seine dämonischen Kräfte lahmgelegt. Darüber würde ich gern mehr hören!“
„Ich war das nicht... Gott hat es getan. Wir haben uns Unmengen zu erzählen ..."
Als Ari wieder im Haus war und die Koffer im Wohnzimmer abgestellt hatte, legte er seinen Arm um Miriam. „Wann ist die Hochzeit, Liebling?“
„Wie wäre es mit morgen?“ erwiderte sie begeistert.
„Das ist etwas zu früh“, lachte Ken. „Es muß noch zuviel erledigt werden. Morgen holt ihr euch die Heiratslizenz ... leider als Marty und Sara Berg. Aber eines Tages wird sich das klären lassen. Wir haben die Hochzeit für den Samstag geplant... wenn euch das recht ist. Das wäre in vier Tagen. Dadurch haben einige andere Gäste genügend Zeit, um anzureisen ...“
„Andere Gäste?“ sagten Ari und Miriam wie aus einem Munde. „Wen hast du denn eingeladen?“ fragte Ari seine zukünftige Braut. Sie zuckte mit den Schultern und sah Ken und Carla an.
„Es wird einige wenige Gäste geben“, sagte Ken geheimnisvoll. „Vielleicht sogar ein oder zwei Überraschungen ...“
„Also“, sagte Carla bestimmt und übernahm das Kommando, „Ken hilft euch jetzt, euer Gepäck in eure Zimmer zu bringen, und ich mache schnell ein Abendessen. Wir können uns noch etwas unterhalten ... und ich bin sicher, ihr beiden seid total erschöpft und wollt früh zu Bett gehen. Wahrscheinlich könntet ihr rund um die Uhr schlafen. Aber versucht bitte, solange wach zu bleiben, bis ich etwas auf den Tisch gestellt habe, ja?“
Epilog
Die Tage vor der Hochzeit vergingen wie im Flug. Vieles, was sie verwirrt hatte, Härte sich, als die vier Freunde lange Stunden im Gespräch verbrachten — mal in stiller Trauer für die in der Vergangenheit geschehenen und jetzt bedauerten Dinge, mal mit überschwenglichem, freudigem Lachen, als sie sich ins Gedächtnis riefen, auf welchen Wegen Gott sie bis hierher geführt hatte. Mit großem Schmerz redeten sie über Viktors tragischen Tod durch einen Archonten, nachdem Carla ihn schon fast aus dem einstürzenden Auditorium hinausgeschafft und ihn dringend gebeten hatte, Christus als seinen Herrn anzunehmen.
Große Freude gab es, als Carla berichtete, wie sie ihr Leben Christus übergeben und er sie aus den Händen der Neun gerettet hatte. Besorgt diskutierten sie, wie Del Sasso auf so clevere Art und Weise seine Ehrenrettung bewerkstelligt hatte sowie die Wahrscheinlichkeit zunehmender Christenverfolgung schon in naher Zukunft, wenn die Neue Weltordnung aufgerichtet werden würde.
Ein Team von FBI-Geologen folgte Aris Beschreibungen im Gelände und fand so die unterirdische Höhle, die den Felsen unter den Ruinen der Forschungseinrichtung durchzog. Dadurch wurde einerseits Aris Bericht bestätigt, andererseits wurden einige bohrende Fragen beantwortet, die sie gequält hatten. Für alles Übrige mußten sie dem Einen vertrauen, der von alters her der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war, und dessen Verheißungen nicht unerfüllt bleiben würden.
Vor ihnen lag allerdings noch die Anhörung durch einen neu gebildeten Senatsausschuß, vor dem zwei Zeugen auftreten würden, mit denen niemand gerechnet hatte. Der erste war Dmitri Petrekov, der Urlaub von seiner Arbeitsstelle in der Psychiatrischen Klinik von Tel Aviv genommen hatte und direkt aus Israel eingeflogen werden sollte. Er würde bezeugen, daß Viktor Khorev in der Tat geplant hatte, in Paris überzulaufen, daß Oberst Chernov versuchte, dies zu verhindern und nach seiner Rückkehr aus Paris ihn, Dmitri, verhaftete, weil er seine Kenntnis von Viktors Absichten nicht gemeldet hatte. Dadurch würde unwiderlegbar Har sein, daß Chernov Khorevs erbittertster Feind war und die Idee, daß die beiden zusammengearbeitet haben, um das CLA-Labor zu zerstören, vollkommen abwegig war.
Aber der Zeuge, der wirklich das Blatt wenden sollte, würde der
General der Roten Armee a.D. Nikolai Gorky sein, der früher der Vorsitzende des Ausschusses zur Überwachung der Forschung zur parapsychologischen Kriegsführung war. Obwohl er jetzt als Taxifahrer in Moskau arbeitete, konnte Jordan ihn durch einen Tip von Dmi-tri ausfindig machen. Gorky sollte bezeugen, daß er als Chernovs Vorgesetzter angeordnet hatte, Khorev gefangen in die Sowjetunion zurückzubringen und das geheime CIA-Labor, in dem Khorev arbeitete, zu zerstören.
Der Senatsausschuß würde keine andere Möglichkeit haben, als Carla von der früheren Anklage zu entlasten, die besagte, daß sie und Khorev zusammengearbeitet hätten, um die Einrichtung zu zerstören. Die Frage nach der Ursache der erstaunlichen Zerstörung blieb dabei allerdings unbeantwortet. Selbstverständlich konnte sie nicht den Neun zugeschrieben werden, deren Existenz zwar offiziell geleugnet wurde, die aber durch Del Sasso immer noch Kontakt zu einer ganzen Reihe hochrangiger Führungspersönlichkeiten in Washington hatten. Dieser blieb ein Held und konnte trotz der neuen Aussage seine weiße Weste behalten. Seine neu gegründete Schamanen GmbH gewann schlagartig zigtausende von Anhängern in der ganzen Welt, und durch seine „Erfolgsmotivations“-Seminare konnte er Millionen von Menschen unter den Einfluß von Dämonen bringen, indem er ihnen weismachte, sie durch „Bewußtseinstransformation“ zur „Selbstverwirklichung“ zu führen.
Mit der Entdeckung der Höhle war der Mossad gezwungen, zumindest diesen Teil von Aris Bericht als wahr anzuerkennen. Der Umstand, daß er ein Anhänger Jesu und noch nicht israelischer Staatsbürger war, machte allerdings seine Rückkehr nach Israel unmöglich. Das Land, das ein Zufluchtsort für das auserwählte Volk war und in das dieses Volk aus allen Himmelsrichtungen zurückströmte, blieb ihm jetzt verschlossen, weil er an den berühmtesten und einflußreichsten Juden glaubte, der je gelebt hatte. Dieser Widerspruch blieb unverständlich.
Nach Jahrzehnten der Vorbereitung hatten die Neun Ari nach Israel gebracht, um ihre eigenen teuflischen Pläne zu verwirklichen. Von Geburt an war er zu diesem Zweck auserwählt worden. Aber es gab noch einen anderen, der seine eigenen Pläne hatte und Böses in Gutes verwandelte. Als Ari mit Dankbarkeit zurückblickte, konnte er erkennen, wo Gott ungeachtet seiner Rebellion wieder und wieder in sein Leben eingegriffen und ihn geduldig zu sich gezogen hatte. In dem verheißenen Land hatte er endlich zugegeben, zu den Kindern Israels zu
gehören — und wurde schließlich ein Kind Gottes. Dort hatte er auch Miriam kennengelernt. Ganz gewiß gab es für sie eine gemeinsame Zukunft.
Am 20. Oktober wurden Ari und Miriam, alias Marty und Sara Berg, von Don Jordan in einer schlichten Zeremonie im Wohnzimmer ihres Hauses in Boulder getraut, das ihr neuer Zufluchtsort geworden war. Neben Ken und Carla gab es nur noch drei andere Gäste: Dr. Pierre Duclos mit seiner Frau und Klein-Ari Paul, der inzwischen fast fünf Jahre alt war. David hatte Wort gehalten und sie in einem Vorort von Paris ausfindig gemacht. Sie hatten sofort mit den Reisevorbereitungen begonnen. Schüchtern hielt der kleine Junge während der Zeremonie die Hand seines Vaters.
Bei der Hochzeit verständigte man sich darauf, daß das Ehepaar Duclos den Jungen zurückbringen würde, sobald Aris Status geklärt war, damit er als Sohn bei seinem Vater leben könnte.
Am Ende der Zeremonie las Jordan ein besonderes Hochzeitstelegramm vor, das Yakov ihnen geschickt hatte. Es enthielt folgende Worte:
Der Herr erhöre dich am Tag der Drangsal, der Name des Gottes Jakobs mache dich unangreifbar.
Er sende dir Hilfe aus dem Heiligtum, und von Zion aus unterstütze er dich.
Jetzt habe ich erkannt, daß der HERR seinem Gesalbten hilft; aus seinen heiligen Himmeln wird er ihn erhören durch Heilstaten seiner Rechten.
Psalm 20, 2.3.7
Ein weiteres Buch von Dave Hunt:
Die letzte große Verschwörung
Francke-Lesereise Aufwind
392 Seiten
ISBN 3-86122-001-6
In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen sowohl der CIA als auch der sowjetische Geheimdienst, eine alternative Geheimwaffe zu entwickeln - die Kontrolle über den menschlichen Geist. Computerspezialist Ken Inman ist in das böse Spiel verwickelt. Als ihm die Tragweite seiner Verstrickung bewußt wird, ist es für ihn fast zu spät. . .
Starjournalistin Carla Bertelli macht bei ihren Recherchen zu diesem brisanten Thema unglaubliche Entdeckungen. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zur Wahrheit und ihrer Zuneigung zu Ken, entschließt sie sich, den dämonischen Ursprung dieses »Psychoterrors« zu ergründen . . .
Dave Hunt ist ein weitgereister, international bekannter Autor und Redner. In seinen Büchern, die in den Originalausgaben allesamt zu Bestsellern wurden, beschäftigt er sich besonders mit endzeitlichen Themen.
Francke-Lesereise Aufwind
In dieser Reihe erscheinen spannende, zeitgemäße christliche Erzählungen.
Bisher liegen vor:
John Haworth Herz aus Stein
Paperback, 320 Seiten
Axel Graser Lockruf der Freiheit
Paperback, 336 Seiten
John Haworth Fluchtpunkt Beirut
Paperback, 436 Seiten
Michael Buschmann Terrorflammen über Jerusalem
Paperback, 140 Seiten
Axel Graser Flucht ohne Ausweg
Paperback, 144 Seiten
Dave Hunt
Die letzte große
Verschwörung
Paperback, 392 Seiten
Dave Hunt
Im Schatten der Nacht
Paperback, 448 Seiten
Schon von Kindesbeinen an wird Ari Thalberg in der DDR. zur Elite der Partei erzogen. Er soll mithelfen, dem Staat die Dominanz in der zukünftigen Weltordnung zu sichern. Aber was die Partei nicht weiß: Ari führt ein Doppelleben. Das loyale Parteimitglied organisiert heimlich den Widerstand unter Studenten, um den Kommunismus abzuschaffen.
Doch die Verschwörung wird entdeckt, Aris Schicksal scheint besiegelt. Er wird zum Flüchtling ohne Heimatland. Es gibt nur eine Nation, die bereit ist, ihn aufzunehmen.
Bald wird er vor die Entscheidung gestellt: entweder die Führung einer neuen Weltordnung oder das Verderben. Schließlich muß Ari erkennen, daß es ganz andere Kräfte sind, die sein Schicksal lenken . . .
Eine packende und spannende Erzählung vom Autor des Buches »Die letzte große Verschwörung«.
ISBN 3-86122-053-9
FRANCKE
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH