45. Bibelkurs                                                                                                                            BK 45

 

        

                     Bei den Psalmen beten lernen - III

 

I.    Die Bilder und Metaphern in den Psalmen.

 

Die Psalmen sind voll von Bildern und Metaphern (= bildlichen Vergleichen). Schon im Psalm 1 lesen wir: „Der Gerechte ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen...“ Es sind Bilder und Vergleiche, die aus der Schöpfung genommen sind. Der Schweizer Reformator Johann Calvin sagte oft: Die Schöpfung ist „ein Schauspiel der Herrlichkeit Gottes“. Dieser Punkt wird heu-zutage zu wenig beachtet. Die Christen sollten mehr erfüllt sein von der Größe ihres Gottes, die sich in der Schöpfung zeigt. Die Psalmen sind dafür ein großartiges Modell. Immer mehr Natur-wissenschaftler erkennen, dass hinter unserem komplizierten Universum ein “Architekt“, ein Schöpfer stehen muss - dass Zufall und Evolution nicht zur Erklärung ausreichen. Das neue Buch von Prof. John Lennox, der schon mehrmals auf der Pfingsttagung in Bobengrün sprach, „Hat die Wissenschaft Gott begraben?“ (2002 im R. Brockhaus-Verlag erschienen) hat großen Anklang gefunden. Drei bekannte Naturwissenschaftler Englands, darunter der führende Gen-Forscher des Landes, haben zugesagt, für den Umschlag der englischen Ausgabe drei kurze Referenzen zu schreiben.

      

Alles in der Welt ist von Gott geschaffen. Selbst Craig Venter, der Pionier unter den Gen-Wissenschaftlern, der kein Christ ist, sagte in einem Interview, nachdem ihm im Jahr 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gelungen war: Nach seiner Sicht ist das Leben Information. Information entsteht aber nicht durch Zufall. Information vermitteln kann nur ein „Designer“, ein „Wissender“. - Alles in der Natur, ob Menschen, Tiere, Pflanzen oder die Materie, trägt in Form und Aufbau die Handschrift des Schöpfers. Jede Zelle enthält das Copyright des Allmächtigen. Nichts im Universum ist unabhängig von Gott entstanden. Nirgendwo im Weltall ist etwas, das vom Teufel geschaffen wurde. Die Schöpfung ist der Ort, wo wir unserem Gott begegnen und wo wir mit Ihm sprechen können. Die Stimme, die die Sterne ins Leben rief, ist dieselbe Stimme, die zu mir sagt: „Deine Sünden sind dir vergeben“ und die mich einlädt, meine Lasten bei Ihm abzuladen. Wenn wir beten, nehmen wir Logenplätze in der Schöpfung ein, - sind wir als Seine Kinder Ehrengäste des Allmächtigen in dem Schauspiel Seiner wunderbaren Schöpfung.

      

Sicherlich sind auch manche Schatten in der Welt und einiges ist schwer zu verstehen. Wir kennen die schädliche Wirkung der Mosquitos und vieler Bakterien. Zehn Prozent der lebenden Kreatur sind Parasiten, die vom Leben anderer Kreaturen zehren. Wir hören in der Natur nicht nur Hallelujas sondern auch das Stöhnen der Kreatur (Römer 8). Und doch ist die Schöpfung eine großartige Darstellung der Herrlichkeit Gottes. Alle Psalmen sind in Verbindung mit der Natur gebetet. David lebte als Hirte jahrelang mitten in der Schöpfung Gottes. Wer die Materie und das Geschaffene gering achtet, driftet ab in die Bereiche der Esoterik und der Sentimentalität. Jesus wurde Materie, wurde „Fleisch“, sagt die Bibel - nicht eine Idee. Um eine heilige Handlung einzu-führen, wählte Er Brot und Wein. Die Materie ist für Gott heilig, - weil sie Gott geschaffen hat. Die ersten Sätze der Bibel berichten von Gott, der durch Sprechen Energie und Materie ins Dasein ruft: Licht, Sterne, Mond, Vegetation, Vögel, Fische, Mann und Frau. Die Bibel beginnt nicht mit einer Rede Gottes über Liebe, Glauben, Rettung, Hoffnung, Gericht - obwohl das alles noch früh genug kommen wird. Die Eingangszeilen der Bibel klingen mehr wie der Bericht aus einem physi-kalischen Laboratorium als über eine Gebetsversammlung. - Wenn wir die Natur um uns herum mehr als Werk unseres großen Gottes sehen, kann uns das sehr helfen, die Größe unseres Gottes uns richtig vorzustellen, - was sehr notwendig ist, damit die Größe unserer Probleme kleiner wird.

Weil die Schöpfung das Werk Gottes ist, deshalb studieren auch die Psalmisten darin so fleissig und benützen dieses „Bilderbuch“, um uns mit Hilfe des Sichtbaren in die Welt des Un-sichtbaren zu führen. Es gibt keinen Psalm ohne bildliche Vergleiche. Es ist eine Eigenart der Psalmen, mit diesen Metaphern uns große göttliche Wahrheiten klar zu machen. - Der Psalm 18, den David am Ende seines Lebens verfaßte - gleichsam eine Rückschau auf bewegte Jahr-

zehnte - enthält eine Fülle von Bildern, die voller Kraft sind: Fels, Burg, Hort, Schild, Berg; Hagel, Blitze, Donner, Erdbeben, Feuerflammen. Die Summe dieser Erfahrungen ist für David: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ David hat in der Natur die Macht Gottes gese-hen und sagt sich: diese Kraft schenkt Gott auch mir. Psalm 18 lehrt uns: unsere Gebete sol-len nicht geistig-abstrakt sein sondern sie sollen gefüllt sein mit Bildern aus der Natur und unserer täglichen Erfahrung.

     Es gibt auch andere Menschen, die viel über das Gebet sprechen - aber nicht in dieser erdver-bundenen Weise: das sind die Esoteriker (in den ersten Jahrhunderten der Christenheit waren es die „Gnostiker“). Man trifft sie heute überall. In den Buchhandlungen füllt ihre Literatur mehrere Regale, oft einen ganzen Raum. Unter Musikern ist sie stark vertreten. Was ist kennzeichnend für die Esoterik?

·      Diese Leute meinen es sehr ernst, sie neigen zur Askese und sind an allem Mystischen sehr interessiert. Aber sie verachten die Materie. Das Irdische ist für sie das Niedrige, sie trachten nach Höherem, nach dem Geistigen. Es fehlt ihnen manchmal der „gesunde Menschenverstand“.

·      Die Esoteriker lieben das Geheimnisvolle. Sie sind „Insider“. Sie meinen, zum Ewigen nur mittels eines „Kennworts“ zu gelangen - und sie besitzen dieses Kennwort.

·      Sie fühlen sich als „Elite“, als „Erleuchtete“, die über dem allgemeinen Volk stehen. Die mit

  der Schöpfung verbundene Bildersprache des Psalters paßt nicht in ihr Konzept.

Die Metaphern der Psalmen bringen uns näher an die Materie - und bringen uns damit auch nä-her zu Gott, dem Schöpfer der Materie. Nichts verbindet uns mehr miteinander beim Beten als die normale Sprache des Alltags; nichts wirkt mehr Cliquen bildend als der „Jargon“, - als die Sprache der „Eingeweihten“. Wer mit den Psalmen lebt, sieht die Natur mit anderen Augen. Wir sehen Vielfalt, Kraft, Schönheit und Ordnung in der Schöpfung. Das hat die Psalmisten zum geistlichen Denken inspiriert: Gott will mich erfreuen und in Seiner Schöpfung mir zeigen, wieviel Kraft und Weisheit ER hat. Die Schöpfung will uns nicht nur zum Jubilieren bringen son-dern auch zum Nachdenken. Seine Kraft ist nicht nur in der Natur sondern auch in meinem Leben wirksam, - Seine Weisheit, die alles so großartig erfunden und geformt hat, weiß auch in meinem Leben einen Weg.

Diese Linie findet ihre Vollendung in Jesus Christus. ER verband sich mit der Materie, ER wurde Fleisch und Blut. „Wir haben IHN gesehen, gehört und betastet mit unseren Händen.“ (1. Johannes 1, 1). Damit wurde die Materie geheiligt. Jesus war nach der äußerlichen Erscheinung ein ganz normaler Mensch. „Das ist doch der Sohn vom Joseph!“ sagten die Leute von Nazareth, „der ist doch nichts Besonderes!“ (Lukas 4) Jesus wusste, dass alle Materie von Seinem Vater stammt. ER sah sie als etwas Geheiligtes an. Die Schöpfung hat einen Ehrenplatz in Seinem Denken und Reden. Alles bringt ER in Verbindung mit Gott, alles benützt ER, um zu Gott hinzuführen: das Sausen des Windes in Jerusalem (Johannes 3), die Wellen des Sees Genezareth, die Wasserkrüge in Kana, den Leichnam des Lazarus. - Im Psalm 29, der an jedem Sabbat in der Synagoge mit noch 5 anderen Psalmen (95-99) eingangs gelesen wird, wird die Herrlichkeit und Kraft Gottes nur mit Bildern aus der Schöpfung geschildert: das Donnern des Wasserfalls, - der Sturm, der Zedern zerschmettert, - das Erdbeben, das die Wüste erschüttert, - die Feuerflammen, - der Libanon, der wie ein Kalb hüpft. - Diese kraftvollen Bilder sollten den Gottesdienstbesuchern die Macht ihres Gottes vor Augen malen.

 

II.  Die Psalmen erziehen uns zur Gemeinschaft.

 

Viele Psalmen werden in der Stille der Einsamkeit gelesen - aber eigentlich gehören sie in die Gemeinschaft der Gläubigen hinein. Der Mensch neigt sehr dazu, nur nach seinen eigenen Vor-stellungen zu leben und fügt sich nicht gern in Ordnungen ein. Aber gleich am Anfang sagt die Bibel: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei...“ Auch Jesus hat sehr die Notwendigkeit der Gemeinschaft betont, wenn ER sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ - Der Tempel in Jerusalem war der Treffpunkt für Israel, um Gott zu begegnen. 38.000 Leviten waren beauftragt, die Gottesdienste zu gestalten. Die Psalmen waren dabei das Gebetbuch und das Gesangbuch für das Gottesvolk. - „Sela“ - dieses Wort er-scheint 71 mal in den Psalmen, - oft mittendrin. Es war ein Hinweis für die Gemeinde - und wird verschieden gedeutet (weil der wörtliche Sinn nicht bekannt ist): eine Pause zum stillen Gebet -

oder: das Folgende kräftig singen und beten. 55 mal steht am Anfang eines Psalms der Vermerk:

Für den Chorleiter“. Das bedeutet, dass für das Beten eine Leitung nötig ist. Auch die Jünger baten eines Tages Jesus: „HERR, zeige uns, wie wir richtig beten können.“ Wir brauchen Unterweisung auch im Gebet. Wir sollen zuerst auf die Stimme Gottes hören - und dann beten. Was uns innerlich bewegt, darf nicht tonangebend sein. Eugene Peterson schreibt: „Gott hat das erste Wort. Gefühle dürfen nicht dominieren, denn sie sind oft ein Hindernis. Gefühle lügen und täu-schen; sie führen uns in die Irre. Gefühle sind keine Himmelseingebungen. Sie sind nicht geist-licher als unsere Muskeln. Sie sind wichtig, genau so wie unsere Finger und Ohren. Aber sie er-zählen uns nichts über das Leben mit Gott.“ Wie bekommen wir diesen schwierigen Bereich in den Griff? - durch gemeinschaftliches Beten, indem jemand (der „Chormeister“) uns leitet. Wir verlieren nichts von unseren Gefühlen - außer ihre Tyrannei. Die Psalmen enthalten die ganze Tonleiter der Gefühle von der Verzweiflung bis zum Halleluja. Aber bei den Psalmen haben die Gefühle nicht das erste Wort. Sie sind eingebettet in göttliche Botschaften. Wenn man sich beim Beten nur von den Gefühlen leiten lässt, laden wir uns eine psychische Last auf, die uns am Ende zur Erschöpfung führt.

    

     Noch ein Wort zur Musik im Psalter. Die Psalmen wurden in der Regel im Tempel gesungen. 29 mal ist bei den Psalmen ein Instrument (zur Begleitung) erwähnt - oder eine Melodie, nach der der Psalm zu singen war. Im Tempel wurde viel gesungen (im Gegensatz dazu: in einer Moschee oder einem Hindutempel steigen niemals Lobeshymnen der Versammlung zum Himmel empor!). Singen bringt zwei wichtige Momente in die Gemeinde: Rhythmus und Harmonie. Beides ist für den Einzelbeter nicht von großer Bedeutung - aber der Gemeinde bringt das viel. Die Besucher einer Versammlung kommen aus sehr verschiedenen Familien, Stimmungen, Häusern. Das gemeinsame Singen vermittelt den Besuchern: wir gehören zusammen, auch wenn wir sehr bunt gemischt sind. - Auch in den Psalmen selbst begegnen uns mannigfaltige Stimmungslagen der Beter. Wer die Psalmen serienweise liest (wie das die älteste Tradition der Christenheit ist), merkt das sehr schnell. Durch die Psalmen werde ich auf diese Weise aus meiner Ich-zentriertheit herausgeholt und spüre, dass ich zu einer großen, bunt gemischten Beterschar gehöre, auch wenn ich allein die Psalmen bete. - Beim Einzug Jesu in Jerusalem sangen auch die Kinder den Psalm 118 mit; als Jesus sich zum letzten Mahl mit seinen Jüngern versammelte, sangen sie miteinander das „Kleine Hallel“ (Psalm 113-118). Gemeinsames Singen und Beten bewahrt uns vor zwei großen Gefahren für das Gebet: vor der Tyrannei der Gefühle und vor der isolierenden Macht des Stolzes und der Ichbezogenheit.

 

III. Die Feinde - ein Hauptthema in den Psalmen

 

     Es gibt Beter, die vor allem die Harmonie betonen und Spannungen möglichst aus dem Weg gehen. - Die echten Gebete sind von anderer Art. Der Psalter erteilt uns da eine kräftige Lektion.

Beten ist in den Psalmen ein Kämpfen. Die Gebete bringen uns zu Gott - und je mehr wir in die Nähe Gottes kommen, desto mehr bekommen wir es zu tun mit der Macht der „Konkurrenz“, - mit den „ Herren der Welt, die in der Finsternis herrschen“, - mit den „bösen Geistern unter dem Himmel“ (Epheser 6, 12). Der Gebetskampf Jesu im Garten Gethsemane ist dafür das beste Beispiel. Gott ist selbstverständlich das Hauptthema in den Psalmen, aber das Thema Nummer 2 sind die Feinde. Das schockiert uns zunächst. Man meint, die überwältigende Macht Gottes müsste doch alle Schwierigkeiten beseitigen, so dass die Gläubigen in Frieden und Liebe leben können. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Wenn wir die Psalmen lesen, finden wir, dass die Menschen, die beten, eine Menge Feinde haben und sie verbringen viel Zeit, mit den Feinden fertig zu wer-den.

     Am deutlichsten wird das im Psalm 137, den manche einen Skandal-Psalm nennen. Er beginnt: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten...“ und schließt mit unbegreiflich harten Worten: „Tochter Babel, du Verwüsterin, ... wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert.“ Das „wohl dem“ (= glücklich, gesegnet) ist das erste Wort von Psalm 1: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen...“ - Diese Verfluchung in Psalm 137 ist blanker Hass! Manche haben schon vorgeschlagen, solche Psalmen besser herauszunehmen. Aber das wäre keine Lösung. Denn unser Hass muss gebetet werden und darf nicht unterdrückt werden. Das Böse in der Welt ist eine unheimliche Macht. Wie können wir damit fertig werden? Die Psalmbeter sagen uns: schreit die Not in das Ohr Gottes! - denn die Welt, die zerstört wird, ist die von Gott geschaffene Welt, - die Menschen, die grausam

getötet werden, sind Menschen „nach dem Bild Gottes geschaffen“. Wer betet, unternimmt die ersten Schritte in die richtige Richtung, - zu Gott hin. Gott ist der einzige, der eine Änderung bewirken kann. Besser schlecht beten als überhaupt nicht beten! Wenn wir beten, meinen wir meistens, wir müssten so beten, dass es Gott gefällt. Es ist besser, ganz ehrlich zu beten und unsere negativen Emotionen nicht zu unterdrücken. Wir sollen beten, so wie wir sind - und nicht so, wie wir sein sollten. Psalm 137 ist der stärkste Hassausbruch in den Psalmen, - aber er ist nicht die Ausnahme. Es gibt kaum eine Seite im Psalter, auf der nicht ähnliche Töne anklingen. Die wichtigsten Belege dafür sind:

      „Zerbrich den Arm des Gottlosen und Bösen und suche seine Bosheit heim...“ (Psalm 10, 15)

      „ER wird regnen lassen über die Gottlosen Feuer und Schwefel ...“ (Psalm 11, 6)

      „... mit Deinem Bogen wirst Du auf ihr Antlitz zielen.“ (Psalm 21, 13)

      „Gott zerstreut die Gebeine derer, die dich bedrängen. Du machst sie zuschanden...“ (Psalm 53, 6)

      „Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul ...“ (Psalm 58, 7)

      „Tilge sie aus dem Buch des Lebens ...“ (Psalm 69, 29)

      „Verfolge sie mit Deinem Sturm und erschrecke sie mit Deinem Ungewitter.“ (Psalm 83, 16)

      „Der Fluch dringe in ihn hinein wie Wasser ...“ (Psalm 109, 18)

      „ER wird viele erschlagen, wird Häupter zerschmettern auf weitem Gefilde.“ (Psalm 110, 6)

      „Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.“ (Psalm 139, 22)

Im Deutschen werden diese Psalmen „Rachepsalmen“ genannt, im Englischen (besser) „Verfluchungspsalmen“. Bei diesem ganzen Komplex ist folgendes zu bedenken:

·      Die Psalmbeter haben einen scharfen Blick für die Bosheit der Gottesverächter. Sie verharmlosen das Böse nicht. Sie verlangen, dass Gottes Gerechtigkeit und Gottes Macht offenbar werde. „Richten heißt regieren“ sagt Luther in seiner Psalmen-Vorrede.

·      Erkenne dich selbst!“ setzt Luther als Überschrift über diese Psalmen. Sie wollen uns zeigen, was wirklich in uns steckt. Diese Zorngedanken erfüllen uns häufiger als die meisten denken.

·      Wer diese Psalmen betet, beweist, dass er sich nicht selbst rächen will sondern dass er die Rache in Gottes Hand legt. So denkt auch der Apostel Paulus im Römerbrief: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein, ICH will vergelten, spricht der HERR.“ (Römer 12, 19+20.)

·      Der Beter macht Gottes Sache zu der seinen. Bonhoeffer schreibt: „Die Feinde sind Feinde der Sache Gottes und greifen den Beter um Gottes willen an. Das Gericht Gottes muss ergehen, wenn Gott zu Seinem Wort steht.“

·      Israel ist das Volk unter allen Völkern, das im Laufe der Jahrhunderte die schwersten Schicksalsschläge erlebt hat.

·      Auch der Apostel Paulus verwendet das „Verflucht ist...“ für diejenigen, die ein anderes

     Evangelium verkündigen als es Paulus gepredigt hat. (Galater 1)

 

Eine Welt, die auf Ausgleich, Toleranz und Harmonie bedacht ist, kann diese Gedankenwelt der Bibel nicht verstehen und will sie auch nicht annehmen. - Wenn wir ins Neue Testament schauen, finden wir zwar die Aufforderung Jesu „Liebet eure Feinde!“ - aber das Gericht Gottes bleibt weiter ein Thema, - bis zuletzt. Auch Jesus handelte manchmal in diesem Sinne. Petrus nannte ER einen Satan, die Pharisäer bezeichnete ER mit Schlangen und rief über sie ein siebenfaches Wehe herab. Das grausamste Wort aus Psalm 137 „zerschmettern“ verwendet Jesus beim Weheruf über Jerusalem (Lukas 19, 44). Das Liebesgebot ist uns aufgetragen für alle Menschen, aber wir dürfen nicht erwarten, dass Beten und Lieben die Feinde immer in Freunde verwandelt. Liebe stachelt die Feinde oft erst noch richtig an. Die Feinde, die Jesus liebte und für die ER betete, töteten Ihn.

 

IV. Die Psalmen legen Wert auf Erinnerung: - an die Schöpfung, die Sünde, die Erlösung.

 

     Die Psalmen sind uns nicht in Gruppen geordnet überliefert (Dankpsalmen, Klagepsalmen...) sondern sie sind abwechslungsreich. Sie stammen aus dem Leben und sind für das Leben gedacht. - Wir leben meistens für den Augenblick, das Heute nimmt uns ganz in Beschlag. Aber wir werden auch stark von unserer Vergangenheit geprägt, von unseren Genen, unserer Kultur und

unseren Erfahrungen. Die Psalmisten erinnern uns an drei Bereiche, die vor allem für einen Christen wichtig sind: Schöpfung, Sünde und Erlösung.

1. Schöpfung. Wir müssen eines festhalten: wir sind „nach dem Bild Gottes geschaffen.“     Alles, was Gott geschaffen hat, ist „sehr gut“, heißt es am Ende. Weil so vieles schief läuft im Leben, gerät das leicht in Vergessenheit. Die Psalmen frischen diese Erinnerung auf. Wenn wir uns oft verloren im Kosmos vorkommen, sagt uns Psalm 8: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist Dein Name (= Dein Wesen, Dein Wirken) in allen Landen! Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? - Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott.“ Wir sind in den Augen Gottes wertvoller als die meisten denken. - Oder in Psalm 139 heißt es: „Ich danke Dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.“ In den zehn Schöpfungspsalmen (8; 19; 29; 33; 65; 104; 135; 136; 147; 148) wird ein Loblied nach dem andern angestimmt auf die herrliche Schöpfung, die Gott uns gegeben hat. Diese Erinnerung wollen die Psalmen immer wieder auffrischen. Wenn wir in die Natur und das All blicken, sehen wir Zeichen Seiner Größe. Und wer über Gottes Größe nachdenkt und staunt, bei dem werden die Sorgenberge immer kleiner.

2. Sünde. Wir reden nicht gerne über Sünde, - und wenn, dann meist verharmlosend. Aber die Bibel sieht das ganz anders. Die Psalmen machen deutlich: die Sünde ist etwas Schreckliches, die Sünde ist eine Katastrophe für die Menschheit. Deshalb sind die 7 Bußpsalmen im ganzen Psalter verstreut: Psalm 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143. Wir geben meistens vor, besser zu sein. Aber die Sünde ist eine traurige Realität. Es ist nicht gut, wenn diese Wahrheit in Vergessenheit gerät. Es hilft uns innerlich viel, wenn wir immer wieder auch die          Bußpsalmen lesen. Denn die Wurzel allen Übels in unserem Leben ist letzten Endes die Sünde. Solange wir dies an den Rand schieben und nicht angehen, erfahren wir nicht das Heil in vollem Sinne. Es ist kaum ein Psalm, der nicht so manches Detail unserer Schwächen der Vergessenheit entreißt. Der Pater Brown in den berühmten Kriminalromanen von G.K.Chesterton konnte deshalb so viele Verbrechen lösen, „weil er sie selbst früher einmal begangen hatte“. Wer weiß, wie es im Reich der Sünde ausschaut, der kann auch anderen leichter helfen.

3.  Erlösung. Die Psalmen wollen uns auch an das Wirken Gottes in unserem vergangenen

Leben erinnern. Wenn wir zurückschauen sind es unzählige Wohltaten Gottes, die wir nicht vergessen dürfen. In einer großen Vielfalt berichten die Psalmisten vom rettenden Eingreifen Gottes: „Du hast mich aus der Tiefe gezogen“ (Psalm 30, 4), „Du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet“ (Psalm 30, 12), „ER bewahrt ihm alle seine Gebeine“ (Psalm 34, 21), „ER zog mich aus großen Wassern“ (Psalm 18, 17), „ER zog mich aus der grausigen Grube“ (Psalm 40, 3), „unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netz des Vogelfängers“ (Psalm 124, 7), „der HERR macht die Gefangenen frei“ Psalm 146, 7. Am schönsten ist es im Psalm 103 formuliert: „Vergiss nicht, was ER dir Gutes getan hat!“ - Was unser Leben reich gemacht hat ist das, was Gott in unserem Leben getan hat. Die Psalmen werden nicht müde, uns daran zu erinnern. Der Kirchenvater Augustin hat deshalb die Psalmen immer mit kräftiger Stimme laut gelesen.

 

V.  Das Finale: fünf HALLELUJA - Psalmen

 

     Der Psalter endet mit einem Lobpreis. Das ist gar nicht selbstverständlich, denn die meisten Psalmen sind Klagepsalmen; sie bilden das Rückgrat des Psalters, sagt ein großer Psalmen-Forscher. Der hebräische Titel für den Psalter heißt auf Deutsch: „Buch der Lobgesänge“. Des-halb hat auch Martin Buber seiner deutschen Psalmen-Übersetzung die Überschrift „Preisungen“ gegeben. Ist dieser Titel nun eine fromme Täuschung? Nein, denn alle Gebete, wenn sie lange genug durchgehalten werden, enden mit einem Lobpreis. Es kann sein, dass ein ganzes Leben so durchgestanden wird - aber es endet mit Lob.

     Das Ende unseres Lebens hat eine viel größere Bedeutung als der Anfang. Es bringt uns nicht viel, lange Diskussionen über die Herkunft des Menschen zu führen - viel wichtiger und sinn-voller ist es, sich Gedanken über unsere Zukunft zu machen. - Die Bibel berichtet auf nur wenigen Seiten über die Anfänge der Menschheit - aber mehrere hundert Seiten lang wird über unsere Zukunft geschrieben - und zwar so, dass auch immer unsere Gegenwart dabei berührt wird. Durch die ganze Bibel zieht sich ein Plan Gottes, der eine großartige Vollendung als Ziel hat. Deshalb hat auch das Wort Hoffnung in der Bibel einen positiven Klang. „Alles, was Odem hat, lobe den HERRN! Halleluja!“ Mit diesem Trompetenstoß schließt der Psalter.

     Aber nicht nur am Ende sondern durch den ganzen Psalter erklingt immer wieder die Stimme des Lobes - oft ganz gegen alle Logik, ohne Übergang, - oft wie eine Eruption! - Psalm 13 ist ein

gutes Beispiel. Vier Mal wird am Anfang die bange Frage stellt: „Wie lange, HERR ...?“ Dann folgen drei Bitten. Und plötzlich der überraschende Schluss: „Ich traue darauf, dass Du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass Du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass ER so wohl an mir tut.“ Äußerlich ist nichts passiert. Aber irgendwie überkommt den Beter eine große Freude. Ein Lichtstrahl der Ewigkeit überrascht den Christen. Gottes Geist hat das Herz des Betenden berührt. Die christliche Freude ist meist eine Vorfreude, weil Gott Seine Versprechungen wahr macht. - Ähnliches können wir mehrmals in den Psalmen beobachten. „Schon in diesem Leben bekommen die Gläubigen Lohn“ sagte Therese von Avila (um 1550 in Spanien), die ein sehr schweres Lebensschicksal hatte.

     Die letzten sechs Psalmen sind ein besonderes Zeugnis. Psalm 145, das ist der Psalm, der den letzten fünf Halleluja-Psalmen (dem großen Hallel) vorausgeht, ist künstlerisch gestaltet. Er hat 22 Verse, die nach ihren Anfangsbuchstaben den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets folgen (der Leidenspsalm Jesu ist der 22. Psalm!). Diese 22 Verse enthalten Zitate oder Anspie-lungen aus den 144 vorausgehenden Psalmen. Das Auffallende aber ist, dass in allen (zurück-blickenden) Versen keine Klage, kein Zweifel sondern nur Lob zum Ausdruck kommt. Die vorherigen Psalmen berichten von Höllentiefen und Himmelshöhen. Aber der Abschlusspsalm bringt nicht Variationen dazu - sondern er besteht nur aus Lobpreis. Der Psalm geht das ganze Alphabet von A bis Z durch und hat nur ein Thema bei jedem Vers: „Preist den HERRN!“

     Das überwältigende Finale sind die letzten fünf Halleluja-Psalmen. Die früheren Halleluja-

Psalmen sind Psalm 111, 112, 113. - Psalm 113 bis Psalm 118 werden das „Kleine Hallel“ genannt und sind in Israel in die Passa-Feier aufgenommen worden, - das große Fest, mit dem die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens gefeiert wurde. Die Hallelujas haben da ihren richtigen Platz, weil der Exodus aus der Sklaverei ein großartiger Sieg Jahwes war. Wenn wir das Heilige Abendmahl feiern, dann tun wir es mit dem Ausblick: „Deinen Tod, o HERR, verkünden wir und Deine Auferstehung preisen wir bis Du kommst in Herrlichkeit!“ - Einige Vorsignale für das große Halleluja am Schluss des Psalters erscheinen schon früher - und zwar jeweils am Ende der fünf Bücher des Psalters. Das Ende ist jedes Mal ein kräftiger Lobpreis.

·       „Gelobt sei der HERR, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen! Amen!“ (Psalm 41, 13)

·       „Gelobt sei Sein herrlicher Name ewiglich ... Amen! Amen! (Psalm 72, 19)

·      „Gelobt sei der HERR ewiglich! Amen! Amen!“ (Psalm 89, 53)

·      „Gelobt sei der HERR, der Gott Israels ...und alles Volk spreche: Amen! Amen!“ (Psalm 106, 48)

·      „Alles, was Odem hat, lobe den HERRN! Halleluja!“ (Psalm 150, 6)

Vier Mal steht am Schluss das doppelte Amen, - das bedeutet doppelte Bekräftigung durch den allmächtigen Gott! - so ist es für immer und ewig! - Beim vierten Mal muss sogar das ganze Volk mit seinem doppelten Amen es bestätigen. - Der Psalm 150 beginnt und endet mit einem Halleluja - und zwischendrin acht Mal das „Lobet!“ - E. Peterson schreibt: „Zehn mal donnert im ab-schließenden Psalm das Halleluja über das Erdenrund. Gottes gewaltiges Werk der Schöpfung und der Erlösung wird mit Halleluja-Girlanden gekrönt.“ Ganz gleich, wieviel Leid und Zweifel, Zorn und Verzweiflung, wie viele Warum? und Wie lange?, - das Ende ist der Lobpreis für unseren großen Gott. Alles Beten, wenn es durchgehalten wird - oft durch Jahre und Jahrzehnte - endet im Lobpreis. Dafür ist uns der Psalter ein großer Zeuge. - Die Schriftstellerin Annie Dillard beschreibt ihren Weg als Pilgerin durch Schmerz und Leid zum ewigen Ziel ganz im Sinne der Psalmen mit den Worten: „Ich gehe meinen Weg, und mein linker Fuß sagt <Herrlichkeit>, und mein rechter Fuß sagt <Amen>.“ - Die letzte Strophe in einem bekannten Lob- und Danklied von Johann Jakob Schütz (1675) aus unserem Gesangbuch („Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut...“) lautet:

                                              

                                               „So kommet vor Sein Angesicht

                                               mit jauchzenvollem Springen;

                                               bezahlet die gelobte Pflicht

                                               und laßt uns fröhlich singen:

                                               Gott hat es alles wohl bedacht

                                               und alles, alles recht gemacht.

                                               Gebt unserm Gott die Ehre!“                                           

 

 

15. Juni 2002                                                                                        Pfr. Gerhard Hägel, Bobengrün