Hans Brandenburg In die Entscheidung gestellt Hänssler Verlag Neuhausen-Stuttgart Bildnachweis: Umschlag: Daniel Dolmetsch Seite 6: Delphin-Verlag, München Seite 2i, 22: Holder-Mauritius, Mittenwald Seite 37, 38: Lachmann, Düsseldorf ISBN Nr. 3 7751 0378-3 Edition C-Taschenbuch Nr. 9 © Copyright 1978 by Hänssler-Verlag Neuhausen- Stuttgart Umschlaggestaltung Daniel Dolmetsch Gesamtherstellung: Ebner, Ulm Inhalt Wer ist Jesus Christus?............................ 7 Was ist Wahrheit?..................................23 Was macht einen Christen aus?......................39 Kapitel 1 Wer ist Jesus Christus ? Wir sind heute alle vor die Entscheidung gestellt. Große Krisen und Erschütterungen haben deutlich gemacht, daß der Lauf unseres Lebens nicht in unseren eigenen Händen liegt und daß unser Geschick von Kräften und Mächten abhängig ist, über die wir nicht verfügen können. Aus diesem Grunde finden viele Menschen den Sinn ihres Lebens nicht mehr! Resignation oder Lebensüberdruß ist die Folge. Wir sind von Rätseln umgeben, die wir nicht lösen können. Wir suchen die Schuldigen und wissen gleichzeitig, daß es nicht der oder jener sein kann, sondern daß auch die Angeklagten selber vor den gleichen Rätseln stehen. Dann begegnen uns Menschen, die behaupten, in diesem Dunkel Licht und Weisung gefunden zu haben. Und zwar durch die Erkenntnis Jesu Christi und seines Evangeliums. Vielleicht zucken wir enttäuscht die Achseln, wenn wir das hören. Vielleicht belächeln wir diese »Gläubigen« als Schwärmer und Narren. Aber es sind doch zuviel vernünftige Leute dabei, als daß wir uns so schnell und so bequem davon abwenden könnten. Gerade die Gegenwart bringt unter den Denkenden und Fragenden ein neues starkes Interesse für Jesus von Nazareth. Dichter und Philosophen, Ärzte und Naturforscher bekennen sich in steigender Zahl zum Glauben an Christus. Mit Achselzucken und Lächeln ist es also nicht getan. Wir müssen uns schon gründlicher mit der Person Jesu Christi beschäftigen. Die Glaubenden bezeugen, daß sie die tiefsten Fragen des Lebens nicht beantwortet bekamen, bis sie den Weg zu Je- sus gingen. Die Fragen um Sorge und Zuversicht, um Trauer und Trost, um Krieg und Frieden, um Schuld und Sühne, um Gebundenheit und Freiheit, ja schließlich um Leben und Tod sind ihnen erst unter dem Wort und Wirken Jesu Christi erhellt worden. Wer ist dieser Jesus? Es ist eigenartig, daß jeder Spießer meint, über diese rätselhafteste aller Gestalten der menschlichen Geschichte gut Bescheid zu wissen. Für unzählige unserer Zeitgenossen ist Jesus längst »erledigt«. Der im neunten Jahrzehnt seines Lebens nach fast sechzigjähriger wissenschaftlicher Bemühung um das Neue Testament und die Botschaft Jesu verstorbene Professor Adolf Schiatter gab dem letzten Buch am Ende seiner Gelehrtentätigkeit den überraschenden Titel: »Kennen wir Jesus?« Er wollte mit dem Titel zweifellos darauf hinwei-sen, daß die meisten unter den sogenannten Anhängern und erst recht seine Gegner Jesus überhaupt nicht kennen. Wir sind der irrigen Meinung, von Jesus so viel zu wissen, daß wir uns ein Urteil über ihn erlauben dürften. Es gibt erschreckend viel »scheinbares Christentum«, aber auch sehr viel völlig unbegründete Gegnerschaft, die ihr Urteil durch keinerlei Kenntnis abgesichert hat. Wir sollten daher immer wieder die Gelegenheit suchen, vor dem Rätsel der Person Jesu stille zu stehen, und nicht ermüden, ehe sich auch uns so viel Erkenntnis erschließt, daß wir seine Lebenswirkungen für unser Leben erfahren. Keine Gestalt der Weltgeschichte beschließt in sich so viel Widersprüche wie Jesus. Er ist der bis in den Tod Gehaßte und anderseits so sehr geliebt wie keiner. Er ist entehrt und erniedrigt - und doch voller Hoheit und Majestät. Er ist der Unerbittliche, Kompromißlose und gleichzeitig bis ins Unverständliche Barmherzige. Von allen Seiten wird er verleumdet und steht doch makellos und ohne Sünde da. Man wollte ihn durchs Kreuz vernichten und auslöschen — und er ist gerade dadurch Lebensbringer für Unzählige geworden. Es entspricht der Bedeutung der Person Jesu Christi, daß diese Gegensätze nirgends so kraß aufeinan-derprallen wie bei ihm und in seiner Geschichte. Jesus ist schon immer gehaßt worden. Man hat ihn in seiner Heimatstadt verlacht. Die Führer seines Volkes haben ihn verfolgt. Aus seinem nächsten Freundeskreis heraus wurde er verraten. Sein Volk hat ihn aus seiner Volksgemeinschaft ausgestoßen. Er wurde als ein gemeiner Verbrecher schmachvoll hmgerichtet. Mit seinem Tode hörte dieser Haß nicht auf. Seine Anhänger wurden jahrhundertelang verfolgt. Das Römische Reich war grundsätzlich religiös duldsam. Es hat alle Religionen der Völker geachtet. Die israelitische Religion bekam, trotz gelegentlich aufflammendem Antisemitismus, wichtige Privilegien und durfte ungehindert ihren Kultus ausüben. Ja, sie hatte sogar ihre eigene kirchliche Gerichtsbarkeit. Aber diese Duldsamkeit hörte den Christen gegenüber auf. Wenn die Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten auch nicht ununterbrochen andauerten, so hat der römische Rechtsstaat den Anhängern Jesu doch nie einen Rechtsschutz gewährt. Der Christ blieb vogelfrei bis in das vierte Jahrhundert, wo das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt wurde, - eine Wendung, die keineswegs als ein Glück für die Kirche bezeichnet werden kann. Wenn auch Jesus nun sozusagen hoffähig geworden war, gab es im Laufe der Jahrhunderte in fast ununterbrochener Kette immer neue fanatische Bewegungen gegen Jesus. Wer die Geschichte des Islam kennt, der weiß, daß er weithin eine Bewegung des Hasses gegen Christus war und blieb. Wie oft »politische« Gesichtspunkte zur Verfolgung der Glaubenden führten, oft unter »kirchlichen« Vorzeichen, weiß gleichfalls jeder Geschichtskenner. Und auch unsere Generation kann davon ein Lied singen. Aber als Gegenstück zu dem fanatischen Jesushaß, der sich wie ein blutiger Faden durch die Geschichte der Menschheit zieht, wissen wir von ebenso tiefer Liebe zum Gekreuzigten. Sein Lieblingsjünger Johannes rief die Gemeinden auf: »Laßt uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.« Und der gelehrte Paulus von Tarsus, der wohl Ursache gehabt hätte, sich seiner Wissenschaft zu rühmen, schreibt: »Jesus lieben ist besser, als alles Wissen.« Ungezählte Märtyrer haben ihre Liebe zu Jesus mit dem Tode besiegelt und sind seiner Aufforderung gefolgt: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.« Auch die neue Geschichte der Kirche ist voll von Beispielen davon, daß die Verehrung Jesu und die Liebe zu ihm zu größten Opfern bereit machten. Die ersten Missionare der Herrnhuter, die nach Westindien gingen, um den Sklaven auf den Kaffeeplantagen die Jesusbotschaft zu bringen, wurden scharenweise das Opfer des Schwarzwasserfiebers. Aber die Gemeinde kam dadurch nicht auf den Gedanken, die Arbeit abzubrechen. Es entzieht sich aller chronikartigen Aufzählung, was im Alltag alles aus Liebe zu Jesus geschieht. Es gibt auch heute noch Millionen von Menschen unter allen Völkern, die ihre Kraft zur Treue im täglichen Beruf, zur Hilfe an Leidenden und Hungernden, zum Dulden eigener Not und körperlicher Schmerzen, zu Opfern und Selbstverleugnung jeder Art aus der Liebe zu Jesus beziehen. Es sollte in diesem Zusammenhang weniger an die großen Werke der Inneren Mission und der Diakonie erinnert werden als an die unzähligen kleinen Bewährungen in Geduld und Treue, die der Alltag von den Menschen fordert. Es sind oft die Namenlosen, über die die große Welt mit einer Handbewegung hinwegzugehen sucht, unter denen diese Helden des Glaubens zu finden sind. Fast jeder von uns hat die Möglichkeit, sich in seiner Umgebung umzusehen, um zu erkennen, daß die Liebe zu Jesus auch heute noch eine Macht ist. Im Krankenhaus begegnete mir einmal der weithin beliebte Einwand gegen die Christusbotschaft: »Das ist ja alles ausgedacht!« Wir haben eine längere Debatte darüber geführt. Gewiß haben wir das Recht, diesen Einwand zu erheben. Aber als logisch denkende Menschen sind wir verpflichtet, solch eine Kritik zu begründen mit der Erklärung, von wem und aus welchem Grunde denn das alles »ausgedacht« sein sollte. Die Juden können es nicht ausgedacht haben, was die Evangelisten erzählen, denn sie kommen selbst zu schlecht weg dabei. Auch die Römer sind durch den Prozeß Jesu bloßgestellt. So bleiben also nur die Jünger. Aber auch diese sind weithin die Blamierten: Der Verräter kommt aus ihrem Kreise, ihr Wortführer Petrus verleugnet, Thomas zweifelt, und die übrigen müssen zugeben, Jesus weithin nicht verstanden zu haben. Aber selbst wenn es nur um die Verherrlichung ihres Meisters gehen sollte, hätten sie ihre Aufgabe herzlich schlecht erfüllt: denn Jesus ist gar nicht der menschlich Großartige, der uns zu imponieren vermag! Nicht nur wir Deutschen haben uns vor nicht langer Zeit massiv gegen ihn aufgelehnt, weil er unserem Ideal nicht entsprach — so geht es ja allen Völkern! Es ist an Jesus so viel Anstößiges, was nicht menschlicher Phantasie entspringen kann, die ihn verehren möchte. Alle diejenigen, die die christliche Botschaft verkündigen, wissen davon zu sagen, wie schwer die Kreuzesbotschaft den Menschen eingeht. Jesus ist der Erniedrigte. Nicht erst in seinem Prozeß. Hier zwar in besonderer Weise. Dabei lehnt er es offenbar ab zu fliehen, obwohl ihm die Möglichkeit dazu offenstand. Wie erschütternd ist sein Gebet in Gethsemane: »Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir!« Welche Zumutungen enthalten seine Worte in der Bergpredigt: »Widerstrebt nicht dem Übel! Liebt eure Feinde! Wenn dich jemand schlägt auf die rechte Backe, so reiche ihm die linke auch dar!« Schon diese Worte zeigen, daß die Evangelien unausdenkbar sind. Es geht alles auf den einen zurück, von dem wir reden. Die Evangelisten berichten in aller Offenheit, daß seine nächsten Verwandten sich absicherten und sagten: »Er ist geisteskrank.« Aber gegenüber dieser unfaßbaren Niedrigkeit vor seiner Umwelt steht unübersehbar das Hoheitsvolle seines We- sens. Wenn er den Worten heiliger Schrift von jahrhundertelanger Autorität machtvoll entgegenhält: »Ich aber sage euch . . .«, so haben seine Hörer unter dem unwiderstehlichen Eindruck gestanden: Dieser redet wie einer, der göttliche Vollmacht hat, und nicht wie jene anderen, die aus Büchern gelernt haben. Als Soldaten ausgesandt wurden, um ihn zu verhaften, kamen sie ergebnislos und erschüttert wieder und sagten: »Nie hat ein Mensch so geredet wie er.« Man muß diese geistige Macht seines Wortes zuerst auf sich wirken lassen, um dann zu ahnen, wieso er auch über Kranke und Besessene, ja sogar über die Kräfte der Natur Macht hatte. Aus unserer Froschperspektive ist dieser Einzigartige nicht zu verstehen. Mit eiserner Unerbittlichkeit steht er für die Sache seines himmlischen Vaters. Gewinnsucht, Gedankenlosigkeit und Gewöhnung hatten Teile des Tempelplatzes zu einem Jahrmarkt gemacht. Und das unter Einwilligung der Tempelpolizei und unter den Augen des Hohenpriesters. Die frommen Pharisäer fanden nichts dabei. Da geht dieser einzelne, der aus Galiläa stammende Zimmermannssohn, mit ein paar kurzen Stricken in der Hand über den Tempelplatz und fegt mit einigen Rufen und Handbewegungen die Händler mit ihrem Vieh und die Börsianer mit ihren Geldtischen und Bankgeschäften aus dem Tempel hinaus. Man muß sich diese Szene vergegenwärtigen, um etwas vom Geheimnis der Person Jesu zu begreifen. Wenn auch die Pharisäer sich entrüsten und der Tempelhauptmann energisch nach der Vollmacht Jesu fragt, so bleibt das Geheimnis letztlich doch ungelöst. Jesus hat seinen Jüngern keineswegs goldene Berge versprochen und ihnen nicht verheimlicht, daß die Welt ihnen kein besseres Los bereiten werde als ihm. In großer Unerbittlichkeit stellt er die Menschen vor die Entscheidung. Dem Reichen mutet er zu: »Nimm dein Geld und gib’s den Armen und komm und folge mir nach!« Er ist zu keinem Kompromiß bereit. Als einer die Entscheidung aufzuschieben sucht durch den Vorwand, er müsse zuvor seinen Vater beerdigen, bekommt er die erstaunliche Antwort: »Laß die Toten ihre Toten begraben, du aber komm und folge mir nach!« Der Kampf gegen die Sünde und gegen das Unrecht wird mit aller Rücksichtslosigkeit geführt:» Verführt dich deine Hand oder dein Auge, so reiß lieber ein Glied von dir, als daß du das Böse tust. Es ist besser, du gehst als Krüppel ins Himmelreich, statt daß du mit allen Gliedern verlorengehst!« Bei solchen Worten wundern wir uns nicht, wenn viele seiner Anhänger sagten: »Wir können seine harten Reden nicht mehr anhören.« Viele verließen ihn. Aber so rücksichtslos Jesus gegen alle Heuchelei und Halbheit ist, so überraschend barmherzig und liebevoll ist er gegenüber allen, die ihre Schuld erkennen und bekennen. Für Jesus ist kein Fall aussichtslos und unheilbar. Er hat in solchen Fällen immer ein ermutigendes Wort: »Glaube nur! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt! Dir hilft dein Glaube!« Er begegnet dem Irrenden nicht mit einer moralischen Ermahnung, sondern stets mit vergebender Güte, die wir Christen Gnade nennen. Vor ihm steht eine Ehebrecherin. Ein aussichtsloser Fall! Was kann der wilden Triebhaftigkeit des Menschen entge- gengesetzt werden? Das alte Gesetz kennt keine andere Hilfe als das Todesurteil. Aber Jesus weiß etwas anderes. Unter ihren Richtern hat nicht einer eine ganz saubere Weste. Daran erinnert er sie zuerst eindrücklich. Dann aber hebt er das Todesurteil auf, weil er der einzige gewesen wäre, der zu diesem Urteil ein Recht gehabt hätte. Aber seine Barmherzigkeit reicht weiter als menschliche Nachsicht. Er löst den Menschen von seiner starken Gebundenheit, indem er der Ehebrecherin sagt: »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!« Dahinter steckt die Gewißheit, daß seine vergebende Liebe als erneuernde Macht in das Menschenleben eingreift. In dieser Vollmacht geht er in das Haus des Oberzöllners und Gauners Zachäus, denn: »Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und zu retten das Verlorene.« Darum hat er zu der übel beleumdeten Frau, die in das Haus des Pharisäers Simon eindringt, um Jesus ihren Dank zu sagen, ein völlig anderes Verhältnis als der Moralist Simon. Dieser weidet sich am stolzen Gefühl, besser zu sein. Für ihn ist daher jene Frau ein wertloser Mensch, der nur verachtet werden kann. Jesus aber traut der Macht seiner rettenden Liebe zu, daß dieses gesunkene Menschenkind in der Vergebung der eigenen Schuld die Kraft zur Umkehr und Erneuerung findet. »Gehe hin mit Frieden!« Wo Jesus den Frieden Gottes schenkt, da schafft er neue Lebensmöglichkeiten. Er liebt nicht in jenem weichen Mitleid, das den Kampf gegen Sünde und Leid aufgibt und einen Kompromiß mit den »Realitäten des Lebens« schließt. Er kommt als Retter zu dem Verlorenen und Verirrten, wie ein Arzt zum Kranken. Wer sich nicht krank weiß, verlangt nicht nach dem Arzt. Wer nichts von Sünde weiß, fragt nicht nach dem Heiland. Hier sind die Grenzen der Wirkung Jesu. Aber sie liegen nicht in ihm, sondern in uns. Er selbst ist in seiner Liebe zum Sünder so radikal wie in seinem Haß gegen die Sünde. Daß er dabei von der Welt dauernd mißverstanden wurde und heute noch mißverstanden wird, ist eigentlich kaum erstaunlich. Sie haben ihn nicht nur für geisteskrank, sondern sogar als vom Teufel besessen erklärt. Man hat alles versucht, um Jesus unmöglich zu machen. Nicht nur in seinem Prozeß wurden falsche Zeugen aufgestellt. Bis in die Gegenwart hinein ist man bemüht, sein Wort und sein Handeln zu verharmlosen. Einst haben seine Verkläger behauptet, er wäre ein Revolutionär und wollte dem römischen Kaiser die Herrschaft streitig machen. Dadurch sollte Pilatus zum Todesurteil gezwungen werden. Man hat auch immer wieder versucht, seine Zielsetzung zu verwässern. Jesus als Lebensreformer, als Sozialpolitiker, als Ethiker, als Philosoph oder gar als Schwärmer ist jedenfalls ungefährlicher, als wenn er in der Vollmacht Gottes für Zeit und Ewigkeit über unser Schicksal entscheidet. Aber so schnell werden wir nicht mit ihm fertig. Er steht einerseits in seltsam menschlicher Nähe bei uns. Er weiß von der Versuchung in der Stunde des Hungers und von der Versuchung zu Ehrgeiz und Machtgier. Er ist, wie das Neue Testament sagt: in jeder Hinsicht so versucht wie wir, aber - ohne Sünde! Das ist eben das Einzigartige an diesem Menschensohn. Er ist im entscheidenden Punkt völlig anders als wir. Auch der Beste unter uns hätte nicht den Mut, vor seine Gegner zu treten mit dem Wort: »Wel- eher von euch kann mich einer Sünde anklagen?« Der Mann, der diese Frage auszusprechen wagt, hat aber ein so scharfes Gewissen wie keiner von uns. Bei ihm gilt schon Haß als Mord und der verlangende Blick nach der Frau eines anderen schon als Ehebruch. Er, der demjenigen den Zugang zu Gott sperrt, der nichts von Reue und Umkehr wissen mag, geht selbst ohne Widerspruch durch dieses Leben. Er begann seine Predigt mit den Worten: »Bekehrt euch und glaubt«, und brauchte als einziger sich selbst nicht zu bekehren. Selbst in derTodesstunde bittet er zwar um die Vergebung der blutigen Schuld seiner Mörder, aber nicht um Gottes Barmherzigkeit für sein eigenes Herz. Manch einer im Umkreis Jesu, der noch nicht vom Fanatismus des Hasses vergiftet war, erkannte das. Pilatus sagt: »Ich finde keine Schuld an ihm.« Seine abergläubische Frau warnt ihn: Sie hätte um dieses Gerechten willen schon angstvolle Träume ausgestanden. Der heidnische Hauptmann, der die Hinrichtung mit seinen Soldaten vollzieht, ist erschüttert. Der Verräter selbst aber, der mit dem scharfen Auge des Hasses den Fehler an Jesus wohl entdeckt hätte, muß am Ende verzweifelt bekennen: »Der von mir Verratene war unschuldig.« Man könnte sagen: gerade wegen dieser Einzigartigkeit war Jesus unerträglich. Hat er recht, dann haben wir alle unrecht! Das wäre nicht zu tragen gewesen. An seiner Hoheit wird der Mensch erniedrigt. An seiner Heiligkeit werden wir alle zu fluchbeladenen Sündern. Dagegen wehrt sich der Mensch solange wie möglich. Selbst wenn es auf Kosten der Wahrheit geht. Die Politik seines Volkes verlangt seinen Tod. Die eingebildete Frömmigkeit des Pharisäers aller Tage mag ihn nicht sehen und hören. Die Weltklugen, die mit der Macht dieser Welt ihre Kompromisse schließen, fühlen sich von ihm gestört. Nicht nur das Judenvolk hat ihn hinausgestoßen, sondern wir alle, die wir die Wahrheit Gottes über unsere Schuld nicht gelten lassen wollen. Jesus wurde gekreuzigt. Damit sollte nicht nur sein Mund gestopft und sein weiteres Wirken verhindert werden. Damit sollte er auch moralisch unmöglich gemacht werden. Die jüdische Hinrichtungsart war die Steinigung. Für den römischen Bürger war es die Enthauptung. Der Foltertod am Kreuz aber war nur dem ehrlosen Verbrecher zugedacht, dem Unfreien und Sklaven. Jesu Vermächtnis sollte besudelt werden. Seine weitere Wirkung sollte unmöglich gemacht werden. Jesus starb am Kreuz. Nun war es aus mit ihm. »Gott hat die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht«, so bezeugt später ein Pharisäer, der Jesus und seine Anhänger bis in den Tod haßte, aber vor den Toren von Damaskus eine völlige Umkehr erlebte. Ausgerechnet das Kreuz, das Jesus unmöglich machen sollte, wurde zum Siegeszeichen der Gemeinde Jesu. Die Predigt vom Kreuz heißt heute die Christusbotschaft. Das Kreuz steht als Zeichen der Hoffnung auf den Gräbern und leuchtet als Sinnbild der Verheißung auf den Türmen der Kirchen. »In diesem Zeichen wirst du siegen«, lautet die Verheißung für jeden, der dem Gekreuzigten Vertrauen schenkt. So wurde durch den Justizmord des Karfreitags gerade das Gegenteil erreicht von dem, was die Verkläger beabsich- tigten. Es war nicht aus mit Jesus, sondern nun fing erst seine eigentliche Wirksamkeit an. Das hängt mit dem tiefen Geheimnis des Ostertages zusammen. Ist schon die einzigartige Persönlichkeit Jesu dem menschlichen Verstand nicht zugänglich, so stehen wir bei der Auferstehungstatsache erst recht vor einem einmaligen Ereignis. Wir Menschen von heute, die nur das gelten lassen wollen, was wir durch experimentelle zahllose Wiederholungen belegen können, versperren uns das Verständnis für jedes einmalige Ereignis. Wenn wir hier auch zu keinerlei Erklärung fähig sind, so müssen wir doch widerspruchslos anerkennen, daß kein Ereignis der Weltgeschichte solch weitgehende Folgen hatte wie jener Sonntag nach dem Tode Jesu. Die Jünger Jesu, die bei der Hinrichtung ihres Meisters fast ausnahmslos in alle Winde flohen und sich dann im kleinsten Kreise bange hinter verschlossenen Türen hielten, aus Furcht, das Schicksal Jesu teilen zu müssen, sind nach diesem Tage wie verwandelt. Wenige Wochen später treten sie ihren Feldzug zur Eroberung der Welt an und sind bereit, jede Folge ihres Bekenntnisses zu Jesus zu tragen. Am deutlichsten können wir diese Verwandlung am Pharisäer Saulus beobachten. Und jeder, der sich die Mühe macht, die Apostelgeschichte und die Briefe des Paulus zu lesen, steht nicht nur vor der Tatsache der plötzlichen Bekehrung jenes Christushassers. Er sieht auch mit immer neuem Staunen, wie die unerhört »erfolgreiche« Wirksamkeit dieses Mannes, dessen Wirkung auch heute noch nicht entfernt erschöpft ist, seine Wurzel und Kraft in der Gewißheit hat, daß Jesus auferstanden ist. Es muß auch zugegeben werden, daß lange nicht alles, was sich im Laufe der Jahrtausende »christlich« nannte, diesen Namen mit Recht trug. Aber um so erstaunlicher bleibt es, daß in der Geschichte der Kirche und der Christenheit sich die lebendige Wirkung Jesu stets erneuerte, sobald mit dem Glauben an seine Auferstehung ernst gemacht wurde. Immer wieder wird im Leben einzelner Menschen deutlich, daß die Wandlung zum Christen sich nicht durch die Annahme gewisser sich christlich nennender Grundsätze vollzieht. Es geht immer um das erschütternde Erlebnis: Jesus lebt! Er lebt wirklich! Sein Wort gilt heute noch so wie damals, als er es sprach. Er hat heute noch Gewalt, zu erlösen von Sünde und Schuld. Er sorgt für die Seinen heute noch wie einst. Er herrscht in der Vollmacht Gottes. An ihm entscheidet sich unser Geschick sowohl in dieser Zeit wie in der Ewigkeit. Auch in unseren Tagen bezeugen Unzählige, daß ihnen durch die Hinwendung zu Jesus Licht in die dunkelsten Situationen geschenkt wurde. Daß sein Wort und die Botschaft von seinem Tode ihnen den Frieden der Vergebung Gottes brachte, und daß in der Glaubensverbindung mit ihm immer neue Kräfte in ihr Leben kommen. Mag um die Person Jesu von Nazareth noch so viel Dunkel und Geheimnis liegen - dem Glaubenden öffnet sich das Geheimnis, und er lernt mit Thomas sprechen: »Mein Herr und mein Gott!« Kapitel 2 Was ist Wahrheit? Die alte Pilatusfrage, die der römische Statthalter Jesus gegenüber aussprach, scheint heute wieder besonderes Gewicht zu bekommen. In der Welt wird viel gelogen. In der Politik wie in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft. Das macht uns alle vorsichtig und mißtrauisch. Besonders die gegenwärtige Generation ist sehr skeptisch geworden. »Nichts ist wahr. Es gibt überhaupt keine Wahrheit.« Das ist der Weisheit letzter Schluß für viele Zeitgenossen. So verkündet es der moderne Nihilismus. Ich glaube überhaupt nichts mehr. Es gibt kein Festes, kein Gewisses. Alles ist im Gleiten. Kein Fundament hält stand. Und weil es keinen Halt gibt, sind wir haltlos. Eigentlich ist diese Lage nichts Neues. Schon seit über hundertfünfzig Jahren ist das Abendland vom Skeptizismus, vom Bazillus des Zweifels, befallen. Die Frage: was ist Wahrheit? wird seitdem nicht mehr eindeutig beantwortet. Die Not, die daraus dem Menschen entsteht, ist im vergangenen Jahrhundert wesentlich durch die Naturwissenschaft verdeckt worden. Diese machte ihre großen Entdeckungen, die das moderne Weltbild schufen. Die Welt wurde sozusagen in Atem gehalten. So spürte sie den Verlust der Wahrheitsgewißheit nicht so deutlich, zumal Dichter und Philosophen bemüht waren, diese Wunde zu bepflastern und zu verbinden. Ästhetische Träume und romantische Gefühle trösteten die Menschen über den leeren Raum, der in ihren Herzen entstand. Und wenn ein Goethe oder ein Beethoven die Not des unbefriedigten Menschenherzens bekannte, berauschte sich der Zuhörer an der schönen Form, in der es geschah, und pries die Not der Menschenseele als Urquell alles künstlerischen Schaffens. Und die Philosophen schufen immer neue Erklärungen dafür, warum es so sein müßte. Die Schüler widerlegten jedoch ihre Meister, und das große Publikum wußte trotz aller Popularphilosophie doch nicht, was richtig und bleibend war. Aber man war trotz allem beruhigt und voller Hoffnung. War es nicht deutlich, daß die Menschheit enorme Fortschritte machte? Die Naturwissenschaft erweiterte das Wissen. Sie war bereit, weithin die »Welträtsel« zu lösen. Und da »das Wissen Macht« bedeutete, so konnte sich mit der Wissenschaft ja doch nur das Richtige, Wahre durchsetzen. Die Menschheit schien besser werden zu wollen. Man hoffte ernsthaft, durch diese einseitig naturwissenschaftliche Bildung sich langsam einen Kulturhimmel auf Erden schaffen zu können. Denn die Tochter der Naturwissenschaft ist die Technik. Sie verstand, die neuen Erkenntnisse dem Alltag dienstbar zu machen. Hinz und Kunz sollten es merken, daß die Erde immer schöner wurde. Statt der blakenden Öllampe gehorcht nun die elektrische Glühbirne dem Druck auf den Knopf. Die Hausfrau braucht sich mit dem rauchenden Herd nicht mehr zu bemühen. Die Mikrowellentechnik ist jederzeit bereit, das Wasser zum Kochen zu bringen. Wie sollte da nicht die Technik im stillen als die Erlöserin aus all den Nöten und Bedrängnissen des Alltags gepriesen werden? Besonders gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts war der Optimismus der Geschichtsbetrachtung in bürgerlichen Kreisen aufs höchste gestiegen. Dann kam der erste Rückschlag mit den Jahren 1914 bis 1918. Es schien peinlich genug, daß der kulturselige, arbeitsfrohe und friedliche Bürger nun jahrelang der Kriegspsychose verfallen war. Statt des Aufbaus Zerstörung? Schon damals bekam der Optimismus, jener rosenrote Zukunftsglaube, einen merklichen Stoß. Freilich meinten wir, es wäre doch nicht so schlimm. Nur ein peinlicher Rückschlag ins dunkle Mittelalter. Aber nun hätte die Menschheit gewiß genug davon und sei endgültig kuriert von diesen Methoden des Faustrechts. Völkerbund und Abrüstungskonferenzen würden schon dafür sorgen, daß solch eine Unordnung nicht noch einmal ausbräche. Aber dann kam ein weiterer Weltkrieg, es kam der Vietnamkrieg und Pakistan, Biafra, Kambodscha und vieles mehr. Wir sind Zeugen des Bürgerkrieges in Nordirland und hören die Zeitbombe im Nahen Osten ticken. Unsere Generation kann sich einem sorglosen Zukunftsglauben nicht mehr hingeben. Zu furchtbar erlebten wir, wie die vielgepriesene Technik in den Dienst der Zerstörung trat. Noch so große Fortschritte wecken oft neue Angst. Einst brachten wir der Technik großes Vertrauen entgegen. Doch je größere Kräfte sie entfaltet, um so unheimlicher wird sie uns. Und manchmal kommt uns dann der Zauberlehrling in Goethes Gedicht in den Sinn: »Die Geister, die ich rief, die werde ich nun nicht los.« Wir hofften durch die Technik zu Reichtum und Wohlstand zu kommen - und wer wollte leugnen, daß viel von dieser Hoffnung in Erfüllung ging! Aber es ist, als wandelten wir am Rande eines Abgrundes. Manch einer wünscht sich, unsere Erfinder wären nicht so tüchtig und hätten uns nicht jene Einblicke gebracht in die unheimlichen Kräfte, die die Atome Zusammenhalten. Ist etwa das Selbstmordmittel der Erde gefunden? Mit Herzklopfen stehen die Völker einander gegenüber in Angst, wer denn nun als erster dieses furchtbare Mittel der Zerstörung zur Anwendung bringen werde. Und nun erwacht aufs neue in der Menschheit die Frage: gibt es in diesem Fluß der Entwicklung einen festen Halt, ein Bleibendes? Warum konnte das menschliche Wissen um die Geheimnisse dieser Schöpfung der Wahrheitsfrage nicht Genüge tun? Wo steckt der Denkfehler? Warum ist die Rechnung nicht aufgegangen und hat einen peinlichen Rest hmterlassen? Ja, was war der Denkfehler? An der Naturwissenschaft kann es nicht gelegen haben. Sie ist gut und gottgewollt. Nach dem alten Bericht der Bibel hat Gott den Menschen gesagt:»Macht euch die Erde untertan.« Das konnte ja nur heißen: Nehmt ihre Schätze in euren Dienst, holt euch das Gold und die Kohle, fangt den Funken des Blitzes ein, daß die Kraft der Elektrizität für euch arbeitet, durchforscht die Geheimnisse dieser Welt, um sie euch nutzbar zu machen. Und Generationen auf Generationen haben diesem Befehl gehorcht. Riesen wie Kepler und Kopernikus, Helmholtz und Röntgen und die unzähligen andern Großen haben gearbeitet. Und Zwerge sind auf die Schultern der Riesen geklettert und haben Stein um Stein zueinandergestellt, um in einem riesigen Mosaikbild die Gestalt dieser Welt wiederzugeben. Dabei standen nicht immer die einzelnen Steine an der richtigen Stelle. Die Wissenschaft von heute mußte das Ergebnis von gestern korrigieren. Und gewiß ist das Bild von heute auch noch nicht das letzte, endgültige Ergebnis des Forschens. Das weiß der wahre Gelehrte nur zu gut. Und darum ist er auch stets bescheiden und zurückhaltend. Er weiß: Fertig sind wir nie. Unsere Instrumente werden schärfer, unser Auge aufmerksamer. Aber ist selbst bei diesen Wahrscheinlichkeitswerten, die wir erreichen, die Wahrheitsfrage überflüssig geworden? Hier steckt der große Irrtum der Vergangenheit. Wahrheit ist mehr als die bloße Wiedergabe der Wirklichkeit, zumal dieses Abbild der Wirklichkeit nicht irrtumsfrei ist. Wird uns nicht mehr gesagt, so bleiben wir stecken im sogenannten »Relativen«, d. h. dem nur vergleichsweise Richtigen. Wir können höchstens sagen: »Was wir heute erkannt haben, hat höheren Wahrscheinlichkeitswert als das, was unsere Väter erkannt hatten.« Aber Gewißheit ist dies noch nicht. Die Wahrheit verträgt kein Wenn und Aber. Sie muß zu allen Zeiten und an allen Orten die gleiche sein. Die Wahrheit zeigt uns nicht nur das Wirkliche, sondern auch das Richtige, d. h. sie zeigt uns das Rechte und Gute. Die Wahrheit ist nicht nur ein überaus scharfer Fotoapparat, sondern der Maßstab aller Dinge. Sie ist die Richterin über Gut und Böse. Der Gegensatz nicht nur zu allem Schein, sondern auch aller Lüge. Darum kann die Wahrheit nicht das Resultat menschlichen Wissens sein. Denn das menschliche Wissen ist nicht nur getrübt durch die Kurzsichtigkeit unserer Organe, sondern auch gehemmt durch die Unlauterkeit unserer Beweggründe. Weil wir nie sicher sind, ob nicht Ehrgeiz oder Eigensinn den Erkenntnisvorgang hinderte und trübte, weil Bosheit das Auge unscharf macht. Eitelkeit und Selbstsucht sind ebensolche Hindernisse wie Angst oder Menschenfurcht. Goethe hat nicht so unrecht, wenn er für die Erkenntnis des Lichtes das »sonnenhafte Auge« fordert. Haben wir es? Ist dazu nicht mehr nötig als eine technische Begabung, eine mathematische Schulung, eine akademische Bildung? Wer nach der Wahrheit fragt, stellt sich zugleich unter ihr Gericht und darf sich vor ihr nicht verstecken. Die Wahrheit steht über uns und kann darum nicht das Resultat unserer Bemühung sein. Die Wirklichkeit können wir erforschen. Die Wahrheit dagegen durchforscht uns. Sie ist nichts anderes als das Auge Gottes, das auf uns ruht. Haben wir diesen Lichtstrahl aufgefangen, dann fanden wir den ewigen Halt mitten in der Vergänglichkeit der Dinge und der Zeiten. Nun können wir mit dem Psalmi-sten sprechen: »Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.« »Seine Wahrheit währet für und für.« »Seine Wahrheit ist Schirm und Schild.« An der Wahrheit Gottes werden wir zu Sündern. Daß wir uns nicht von ihr beherrschen lassen, ist die Quelle aller unserer Not. Seine Wahrheit bringt uns Licht über uns selbst. Sie leuchtet in die verborgensten Winkel unserer Gedanken. Sie überführt uns von unsern falschen Beweggründen. Indem sie uns richtet, reinigt sie uns und weckt in uns die Einsicht in unsere Fehler und Verkehrtheiten. Darum wirkt Gottes Wahrheit immer persönlich. Es geht hier nie um Fragen, die nur sachlich oder formal richtig sind. Wir sind immer vor die Entscheidung gestellt, ob wir der Wahrheit nachgeben, uns ihr beugen, oder ob wir ihr widerstehen und uns gegen sie auflehnen wollen. Deshalb ist die Frage nach der Wahrheit so gefährlich. An ihr sind wir immer mit dem ganzen Menschen beteiligt, nicht nur mit dem Kopf, mit dem kühlen Verstand, sondern auch mit dem Herzen, nämlich mit unserem Willen. Wer das nicht sieht, findet die Wahrheit nie. Das ist aber auch der Grund, warum wir uns ihr zu entziehen suchen. Es mag leichter sein, sachliche Kenntnisse zu registrieren, als sein Leben nach der Wahrheit Gottes auszurichten. Die Bibel hat darüber entscheidende Worte zu sagen. Paulus schreibt den Römern: »Gottes Zorn vom Himmel offenbart sich über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit unterdrücken.« Das Unrecht der Menschen steht also im Gegensatz zur Wahrheit. Zwischen beiden ist der Kampf auszutragen. Wo Unrecht geschieht, da antwortet Gottes Wahrheit in »Zorn«, d.h. seine Gerichte entladen sich über uns als Reaktion. Kommt nicht von hierher Klarheit in manche Situation der Geschichte? Ist nicht immer wieder Krieg geführt worden gegen Gottes Wahrheit? Steigt nicht das menschliche Unrecht wie ein Hochwasser, das das Land überschwemmt? Wird Gott schweigen? Oder wurden wir klug durch Gerichte, die über uns kamen? Aber die Wahrheit Gottes sagt nicht nur Nein zu unserer Gottlosigkeit. Als etliche der Zuhörer Jesu sich seiner Rede öffneten, sagte er ihnen: »So ihr bleiben werdet in meinem Wort, so seid ihr wahrhaft meine Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.« Die Wahrheit hat also eine befreiende Wirkung. Sie schützt uns vor den Mächten der Lüge, die wahrhaft satanische Mächte sind. Sie bringt uns in die Gemeinschaft Gottes, weil dort, wo seine Wahrheit geliebt und geehrt wird, der Mensch nicht mehr vor ihm flieht. Ein anderes Wort Jesu sagt: » Das ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Werke waren böse. Wer Arges tut, der haßt das Licht und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan .« Die Wahrheit Gottes ist seine uns befreiende Liebe. Sie ist der Fels, auf dem wir uns gründen dürfen in aller Ungewißheit der Zeit. Sie ist das Bleibende inmitten alles Vergänglichen. Darum kann Jesus von sich sagen: »Ich bin die Wahrheit.« In ihm verkörpert sich Gottes Gesinnung uns Menschen gegenüber. Er bringt uns nicht nur die Aufklärung über uns, wie ein Arzt die Diagnose bei einem Kranken stellt, sondern er bringt uns auch die heilende Hilfe und nimmt uns in seine ärztliche Kur. Diese Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus bleibt unabhängig vom Stande der Forschungsarbeit. Sie ist zu allen Zeiten die gleiche. Sie ist für jede Generation geladen mit den Kräften göttlicher Befreiung. Das macht die Einheit der Gemeinde Jesu aus, daß die Wahrheit des Evangeliums zu allen Zeiten und an allen Orten die gleiche Wirkung auf den Menschen hat. Sie hat in der Zeit der Antike ihre umgestaltende Kraft an den Menschenherzen bewiesen. Sie hat den Menschen des Mittelalters ebenso unter die Gnade Gottes gestellt, wie sie den modernen Menschen unter die helfende Hand Gottes birgt. Sie ist auch unabhängig von der jeweiligen menschlichen Kultur. Sie spricht zum Menschen des gesättigten amerikanischen Kontinents mit derselben Überzeugungskraft wie zu den Proletariern in der weiten russischen Ebene. Gewiß können wir uns ihrer Überzeugungskraft entziehen - aber wir gewinnen dadurch nichts. Hier ist ewige Wahrheit, die nicht nur vergleichsweise richtig ist; oder die nur etwa für den einen gilt und für den andern nicht. Hier allein ist das Fundament, von dem gesagt werden kann: »Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, nämlich Jesus Christus.« Es sollte dem modernen, der Zweifelsucht verfallenen Menschen doch zu denken geben, daß im Laufe der vielen Jahrhunderte das »längst überwundene«, umkämpfte und abgelehnte Evangelium von Jesus Christus immer wieder neu als Lebenskraft erfahren wird, während die sogenannten bleibenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sich stets aufs neue eine Korrektur gefallen lassen müssen. Es liegt tief in unserer menschlichen Natur begründet, daß wir uns der biblischen Botschaft im Zweifel verschließen. Warum sollte denn dieses Buch einen andern Anspruch erheben dürfen als die andern Bücher der Weltliteratur? Aber wir übersehen, daß im Mittelpunkt der Bibel eben Jesus steht, in dem Gott uns seine Wahrheit verdeutlicht. Als im Jahre 1945 ein Berliner Junge, der sich vorher mit knabenhaftem Trotz gegen die entschlossen christliche Haltung seiner Eltern aufgelehnt hatte, die Überwinderkraft des Christenglaubens in der schreienden Not des Alltags sehen konnte, kam er eines Tages schluchzend zu seiner Mutter mit den Worten: »Und ausgerechnet ihr Christen habt recht gehabt!« Ist diese Stimme des Kindes nicht vielleicht ein stärkeres Zeugnis für die Wahrheit der Christusbotschaft als allerlei gelehrte Apologie? Dieser Ruf des Berliner Jungen wird sich in der Stunde der großen Scheidung der Geister millionenfach wiederholen! Wir haben daher allen Grund, mit ganzer Aufmerksamkeit nach dem Buch der Wahrheit zu greifen. Nach dem Gesagten besteht kein Zweifel, daß damit nur die Bibel gemeint sein kann. Mag diese ein gefährliches Buch sein, sie ist doch ein helfendes, heilendes Buch. In letzten Krisensituationen des Lebens haben Menschen immer wieder nach der Bibel gegriffen und aus ihr Kraft und Orientierung erfahren. Man meint, dem biblischen Zeugnis das Ohr verschließen zu dürfen, weil dieses Buch seine irdische Geschichte hat. »Das Wort ward Fleisch.« Das gilt nicht nur vom Meister und Heiland, das gilt auch vom Buch. Die Offenbarung der Wahrheit Gottes schwebt nicht raum- oder zeitlos über der Geschichte der Menschen, sondern sie ist wie ein goldener Faden hineingewebt in das Geschehen auf Erden. Wie vom ewigen Christus gesagt wird: »Er schämte sich nicht, unser Bruder zu heißen«, so gilt dasselbe auch vom Zeugnis des Heiligen Geistes: Gott spricht mit uns auf menschliche Weise. Gerade darum verstehen wir ihn auch. Es sind nicht Lehrsätze und Dogmen, die in der Bibel aufgezählt werden, aber es ist eine Geschichte der Selbstmitteilung Gottes, die aus den Zeiten der Urväter her bis zu der großen Stunde von Bethlehem sich immer deutlicher kundtut. Auch im Alten Testament. Mag auch um die Botschaft des Alten Bundes eine zähere Schale gelegt sein - wem das Auge für Christus aufgegangen ist, der hört ihn auch durch den Prophetenmund reden: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« Der weiß, daß auch die Psal-misten keinen anderen Gott angebetet haben als den Vater Jesu Christi, wenn sie beteten: »Sei mir ein starker Hort, dahin ich immer fliehen möge, der du zugesagt hast, mir zu helfen.« Sie wissen, mit wem ein Jakob gerungen hat und im Blick auf wen der König David beten konnte: »Schaff in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist.« Zwar gleicht das Alte Testament einem gotischen Bauwerk, das unvollendet blieb, weil der Eckstein des Gewölbes, der den Druck der Mauern und des Daches aushält und in dem der ganze Bau zusammengefaßt ist, noch nicht vorhanden war. Das Alte Testament ist voller Zielsetzungen und Hinweise auf den kommenden Bringer der Gottesherrschaft. Weit über jene geringe Zahl der Worte, die eindeutig vom kommenden Christus sprechen. Auch das Alte Testament ist nur zu verstehen vom Standpunkt der Erfüllung, nämlich von Jesus her. Aber um so größer ist die heilige Gottesfreude, die das Neue Testament über ein Menschenherz bringt. Es ist wie ein strahlender Frühlingstag nach sonnenlosen, naßkalten Winterwochen, wenn ein Mensch unserer Zeit jene Erfahrung macht, die in der Geschichte des Saulus von Tarsus mit den Worten umschrieben wird: »Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.« Ein führender Gelehrter unserer Zeit bekannte mir im Blick auf dieses Wort: »Ich habe einen weiten Umweg gemacht; ich bin die langen Straßen des Liberalismus gezogen; ich habe mich an Nietzsche zu orientieren versucht, ich habe mich gründlich mit der Geschichte der Menschheit befaßt. Aber erst seit ich zu Jesus kam, habe ich recht sehen gelernt.« Es gibt von Gottes Seite kein Hindernis, daß nicht jedem von uns dieses Grunderlebnis christlichen Glaubens gewährt werden könnte. Jesus sagte zur Stadt Jerusalem: »Wie oft habe ich eure Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt.« Soll es auch bei uns an unserem Willen liegen? Gottes Wahrheit wird uns nicht aufgezwungen. Jesu Botschaft ist nicht ein Lesestoff, den man lernt wie das kleine Einmaleins. Sie ist ein Ruf, bei dem man sich entscheiden muß. Wir können den Ruf und die Einladung /Christi überhören. Wir können sie, ohne sie kennen gelernt zu haben, als wertlos beiseiteschieben. Aber wir handeln dann nicht ehrlich, weder vor Gott noch vor uns selber. Es scheint so, als ob die meisten Menschen nicht bereit sind, sich dem Worte Gottes offen zu stellen. Erst dann folgt der entscheidende Kampf. Alles andere sind nichts als leichte Vorhutgefechte. Es sollte nicht schwer sein, als gebildeter Mensch nach dem Buch der Bibel zu greifen und sich ihren Inhalt zu vergegenwärtigen. Aber schwerer, wesentlich schwerer ist der Kampf um die letzte Bastion: Wenn das stolze und eitle Menschenherz nicht nur seine ganze Hilflosigkeit erkennen muß, sondern vom Geiste Gottes innerlich überführt wird von seiner Schuld. Dann falten sich die Hände, weil alle Menschenphilosophie zu Ende ist. Es bleibt nur die Bitte: »Herr, sei mir Sünder gnädig.« Da ist dann die Wahrheitsfrage aus den kühlen Regionen logischer Denkarbeit in die heißen Zonen der Gewissensentscheidung versetzt. Hier geht es nicht mehr um sachliche Erkenntnisse, sondern um einen inneren Erneuerungsprozeß, der nicht ohne Schmerzen verläuft. Jesus nennt diesen Vorgang eine Geburt von oben oder eine Wiedergeburt. Die geht nicht ohne Schmerzen ab. »Ein Weib, wenn es gebiert, hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß der Mensch geboren ist.« Es geht nicht nur ein Bußernst durch das Neue Testament, sondern auch die Freude derer, die sich nun Kinder Gottes nennen dürfen, weil die Wurzeln ihres Lebens in der erneuernden Gnade Gottes ruhen, die in Christus geschenkt ist. »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung-denn was ich jetzt lebe, das lebe ich im Glauben an den, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.« Kapitel 3 Was macht einen Christen aus? Es ist erstaunlich, daß wir bei aller Bildung über die notwendigsten Dinge oft herzlich schlecht orientiert sind. Unsere Frage ist darum keineswegs überflüssig. Und es ist gewiß, daß fast jeder Leser dieser Zeilen unsere Frage anders beantworten würde. Das wäre auch keine Schande. Denn der Stoff ist groß genug, daß er auf ganz verschiedene Weise angefaßt werden könnte. Wichtig aber ist, daß wir überhaupt über diese Frage nachdenken und eine hieb-und stichfeste Antwort finden. Bei vielen Menschen besteht darüber eine große Verlegenheit. Was hat man aus dem Christenglauben schon alles gemacht! Eine Religion. Eine Weltanschauung. Eine Moral. Einen Haufen unverständlicher Dogmen. Ja, was macht denn nun eigentlich einen Christen aus? »Christentum« ist leider zu einer Inflationsware geworden. Und darum erkennt man weithin seinen Wert nicht mehr. Hier gilt es nun anzusetzen. Es sollen Fragen gestellt werden, wie sie das tägliche Leben aufwirft. Verbindliche Antwort wollen wir uns dann an der allein zuständigen Stelle holen: beim Wort Gottes. Leichter, vielleicht auch unterhaltsamer wäre es, auf die Frage zu antworten: »Was macht noch keinen Christen aus?« Dann könnte man mit bissiger Ironie jene lächerlich machen, die sich in der Nähe des Christenglaubens ansiedeln - oder mit einer gewissen Schutzmarkenfälschung »christlich« nennen, was diese Bezeichnung zu tragen gar nicht das Recht hat. Was nennt sich heutzutage nicht alles christlich! Vom »christlichen« Abendland bis zu irgendeinem unverbindlichen Verein. Aber so billig wollen wir nicht vorgehen. Wirklich helfen tut kein Spott. Dazu ist die Frage auch zu ernst. Es geht nicht um billige Kritik, es geht um Hilfe für den, der Klarheit und Hilfe sucht. Was gäbe mir das Recht, mich einen Christen zu nennenf Wodurch werde ich Christ? Was macht also den Christen aus? Es ist wohl nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß Christenglaube es mit Christus zu tun hat. Es kann also nicht ein allgemeiner Glaube an eine Gottheit schon Christenglaube genannt werden. Keiner kann ein Christ werden ohne Christus. Niemand kann gezwungen werden, ein Christ zu sein. Aber wenn er es sein will, darf er Christus nicht ausklammern. Wer Christ sein will, der lerne zuerst einmal Christus kennen, und zwar sehr genau. Jeder andere Weg ist völlig unmöglich. Christus kann man nur durch die Berichte seiner Jünger kennenlernen. Nur durch die Evangelien des Neuen Testamentes. Diese müssen sehr aufmerksam und gründlich gelesen werden. Aber nicht nur die Evangelien, sondern auch die übrigen Teile des Neuen Testamentes: die Apostelgeschichte, die Apostelbriefe und schließlich auch die Offenbarung des Johannes. Denn sie alle zeigen in klassischer und grundlegender Weise, wie Jesus als der Christus wirkt, seine Gemeinde sammelt und regiert. Wir werden dann bald erkennen, daß wir uns auch mit dem Neuen Testament nicht begnügen können. Es spricht fortwährend vom Alten Testament. Dabei sind die 150 Psalmen, die 5 Bücher Moses und der Prophet Jesaja am öftesten erwähnt. Das alles hat nämlich eine starke Beziehung zu Christus. Es tut nicht not, jetzt schon in allen Einzelheiten zu wissen, wieso und warum. Das wird sich uns im Laufe der Zeit recht deutlich zeigen. Ja, wollen wir wissen, was einen Christen ausmacht, so werden wir nicht nur im Buch der Bibel lesen. Wir werden auch gespannt sein, ob diese Christus-Nachricht weitere Wirkungen gehabt hat. Darum werden wir Umgang mit Christen suchen. Wer diese meidet und nur dort zu finden ist, wo der Christenglaube verspottet oder zum mindesten nicht ernst genommen wird, der wird wahrscheinlich vergeblich nach der Antwort auf unsere Frage suchen. Dabei ist es gar nicht so einfach, wirkliche Christen zu finden. Und wenn man sie findet, lernt man bald, daß sie keine fehlerlosen Musterexemplare sind. Aber immerhin haben sie ihre Erfahrungen mit Christus gemacht. Darum gibt es immer reichen Gewinn, ihnen zuzuhören, besonders, wenn es uns gelingt, bewährte Christen kennenzulernen. Auf keinen Fall darf übersehen werden, daß wir nicht die ersten sind, die nach dem Christenglauben fragen. Durch fast 2000 Jahre hindurch zieht ein Strom von Menschen, die ihr Leben nicht ohne Jesus leben wollten. Ein reicher Schatz von Lebensbildern aus alter und neuer Zeit berichtet uns noch lebendiger als die üblichen Kirchengeschich- ten von der Wirkung Christi, aber auch davon, wie man ihn findet und unter seinen bleibenden Einfluß gerät. Die Darstellungen in den Geschichten der Kirche erzählen zuviel von Kirchenpolitik und -Verfassung, von Kirchenverwaltung und Kirchenkunst. So wichtig das alles an seinem Platz sein mag, so finden wir dort keine reiche Ausbeute, wenn wir fragen: Was macht denn eigentlich einen Christen aus? Sind wir aber entschlossen, uns diese Frage an maßgebender Stelle beantworten zu lassen, dann werden wir bald feststellen: Christen sind Menschen, die keinen andern Gott kennen wollen als allein den Gott Jesu Christi. Das mag sehr selbstverständlich klingen. Aber die Geistesgeschichte Europas zeigt deutlich, daß gerade hier die Weichen oft falsch gestellt waren. Man machte sich einen Gott zurecht, man stellte sich nach seinen eigenen Maßstäben oder in Anlehnung an den jeweiligen Zeitgeist einen Gott vor — und meinte, dann schon ein Christ zu sein. Aber gerade Jesus und seine Boten haben, wie das Neue Testament zeigt, stets einen erbitterten Kampf gegen eine falsche Frömmigkeit geführt. Mit dem Frommsein langt es also bei weitem nicht. Auch nicht mit einer allgemeinen Feld-, Wald- und Wiesenreligion! Ja, überhaupt nicht mit »Religion«. Denn diese wächst stets von unten nach oben. Jesus aber kommt von oben nach unten. Er ruft uns nicht auf, einen Turm zum Flimmel zu bauen oder fromme Fleldentaten zu tun. Er bringt uns vielmehr Gottes entscheidendes Wort an uns. Denn er ist selbst das verkörperte Wort des unsichtbaren Gottes. Das mag für man- chen ein fremder Begriff sein. Wir werden uns aber an ihn gewöhnen und ihn verstehen lernen. Der Atheist Feuerbach hat das Bibelwort:»Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde« in bitterem Spott umgekehrt: »Der Mensch schuf sich einen Gott nach seinem Bilde.« Wir nehmen mit Recht Anstoß an solcher Blasphemie. Aber der Gegner des Glaubens hat in seiner Kritik einen scharfen Blick bewiesen. Wir sind immer in Gefahr, uns einen Gott nach unserem Geschmack vorzustellen, d.h. zu erdichten. Gerade vor diesem Irrweg werden wir bewahrt, wenn wir unserer frommen Phantasie den Abschied geben und auf Jesus achten. Nicht umsonst lesen wir in den Evangelien seine Aufforderung: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Das ist eine Kunst, die gelernt werden will. Aber wer sie lernt, hat den ersten Schritt zum Christsein gemacht. Er kommt endlich aus dem Teufelskreis seiner eigenen Gedanken heraus. Er tut die Tür auf, daß Neues in sein Leben eintritt und er nicht immer nur das Alte wiederkaut. Er hört auf, auf der Stelle zu treten oder im Kreise umher zu laufen. Wer hören kann, hat eine große Chance und eine verheißungsvolle Aussicht. Dabei geht es uns nicht um den allgemeinen Bildungsdrang, sondern um die Frage nach Christus. Er tritt an uns mit einem Ausspruch heran, wie er es einst gegenüber seinen Zeitgenossen tat. Damals sagte er: »Niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will« (Ev. Matthäus 11, 27). Vielleicht entziehen wir uns diesem Anspruch. Dazu können wir uns gewiß das Recht nehmen. Aber damit schlagen wir auch die Tür zum Christus Gottes, d.h. zum entscheidenden Zeugen und Boten Gottes, zu. Dann sollten wir folgerichtig sagen: ich will kein Christ sein! Oder aber wir lassen dieses Wort Jesu auch für unser Fragen und Suchen gelten. Dann öffnen wir uns seinem Einfluß. Es kann dann zu einer Entscheidung und Entwicklung kommen, die uns zu wirklichen Christen und Nachfolgern Jesu macht. Ist Jesus uns die Quelle der Erkenntnis Gottes geworden und lassen wir uns seinen Dienst gefallen, dann bekommt jedes Wort von ihm, das seine Jünger uns überlieferten, für uns den allerhöchsten Wert. Mit immer größerer Erwartung lesen und suchen wir nun in seinem Wort. Dann wird uns ein ähnliches Wort, das Johannes uns überlieferte, weiterhelfen: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als durch mich« (Ev.Johannes 14, 6). Sprach das erste Wort vom Kennenlernen Gottes, des Vaters, so spricht dieses davon, wie wir zu Gott kommen, d. h. in seine Nähe, sogar in seine Gemeinschaft, geraten. Weg - Wahrheit - Leben! Drei entscheidende Stichworte. Der Weg zeigt uns Richtung und Ziel unseres Handelns. Die Wahrheit gilt nicht nur unserem Denkvermögen, sondern auch unserem Gewissen. Leben! Das faßt eigentlich alles zusammen. Darum geht es uns ja, daß wir leben wollen. Im vollen Sinne leben, d. h. die Gabe empfangen und bewahren, die der Schöpfer seinen Menschen zugedacht hat. Alle drei Worte gehören zusammen und sind nicht voneinander zu trennen. Weg und Wahrheit: wir wollen ja eben nicht den Weg der Unwahrheit und Lüge gehen. Und eine Wahrheit, die nur gedacht oder nur angeschaut wird, hilft uns nichts. Sie muß Maßstab unseres Weges werden, denn sie will getan werden. Weg und Leben: Den Weg ins Leben wollen wir ja wirklich beschreiten. Was hilft es, wenn wir ihn uns bloß beschreiben lassen. Und auch die Wahrheit will gelebt sein, wenn wir sie wirklich erkennen und erfahren wollen. Hier greift alles ineinander. Trotzdem wollen wir jetzt die drei Worte nacheinander beleuchten. Wir tun es um unserer Überlegung willen: Was macht denn einen Christen aus? Obwohl also Weg, Wahrheit und Leben in Wirklichkeit gar nicht zu trennen sind, tun wir es hier um der Klarheit unserer Gedanken willen und befassen uns zunächst mit den einzelnen Begriffen. Ein Weg ist immer eine Möglichkeit. Er ist ein Angebot an uns, ihn zu benutzen und zu beschreiten. Er ist dazu da, daß er gegangen wird. Auch wir können es tun. Wenn Jesus sich selber einen Weg nennt, nämlich den Weg zu Gott, so macht auch er uns ein Angebot. Er öffnet uns eine Möglichkeit und ruft uns in seine Nachfolge: »Folge mir!« Das heißt zuerst: Handele so wie ich! Nimm mich zum Vorbild und Beispiel! In den Gesprächen Jesu mit den Menschen, wie die Evangelisten sie schildern, begegnen wir immer wieder seiner Seelsorge. Da ist jener junge reiche Mann, der Jesus fragt: »Was muß ich tun, daß ich auch das Heil finde?« Jesus antwortet ihm: »Folge mir!« Oder er sammelt seine Jünger und schildert in seiner sogenannten Bergpredigt die neue Existenzform und den Lebensstil des Erlösten, der mit Gott in Gemeinschaft getreten ist. Immer steht sein eigenes Verhalten zu den Menschen beispielhaft hinter seinen Worten: Folgt mir und meinem Vorbild! Es ist ja nicht nur ein schönes, aber unerreichbares Dek-kengemälde, das er uns vor Augen stellt. Es ist vielmehr ganz praktisch. Alles steht unter der Überschrift dienender, selbstverleugnender Liebe. Wer in ihr lebt, tut was Gott will. Gott hat seinen Willen im Gesetz des Mose offenbart. Wie haben die Frommen sich gemüht, dies Gesetz zu erfüllen! Nun zeigt Jesus, daß alles ganz einfach ist. Er ruft uns Menschen auf, das Wagnis der dienenden Liebe zu verwirklichen. Aber das alles ist nicht von der Person Jesu zu lösen. So dachten sich’s die großen Moralisten des Ostens, ein Kon-futse, ein Gautama Buddha, ein Leo Tolstoi oder Gandhi. Ihnen genügte das moralische Gesetz. Es war wie ein Rezept, das man erfüllen mußte. Aber Jesus sagte nicht: Ich will euch den Weg oder eine Methode zeigen. Er sagte vielmehr: »Ich bin der Weg.« Nachfolge Jesu ist nicht nur »lmitatio Christi«, Nachahmung seiner Art. Es geht vielmehr immer um die Drangabe des Willens an ihn. Nachfolge Jesu ist Unterwerfung unter seine Person. Es geht um einen Gehorsam, der uns in die Gemeinschaft mit dem führt, der selbst der Weg ist. Jesus zeigt uns nicht nur eine neue Lebensweise, um uns nach der Unterweisung wieder zu entlassen. Er ist immer zugleich die Kraftquelle für das, was er von uns fordert und befiehlt. Darum kann er auch Unmögliches verlangen, ohne daß er ein Heldenstück von uns erwartet. »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« Wer wollte diesen Weg gehen, wenn er nicht ein tiefes Vertrauen oder gar eine starke Liebe zu der Person Jesu hat? Immer ist die Stellung zu ihm selbst entscheidend. Darum sagt er mit starker Betonung: »Ich aber sage euch.« Er steht als die letzte Autorität vor uns. Er hat das Recht, des Gesetz Moses zu deuten oder gar zu übertreffen. Bei Jesus gibt es auch nicht jene oberflächliche Fragestel- lung, wie sie bei uns üblich ist: Was tue ich, wenn . . .?Bei aller Bindung an seine Person macht er uns doch mündig. Er überschüttet uns nicht mit Ratschlägen und Antworten für alle möglichen Fälle. Jesus ist kein Kasuist, der das Leben in viele Einzelfälle zerlegt. Bei ihm ist unser Leben vom Zentrum her geordnet. Er ruft uns in die Liebe zu Gott und in das Vertrauen zu ihm. Ist dieser Punkt klar, so ordnet sich alles andere. Denn in der Liebe zu Gott ist auch die Liebe zu den Menschen eingeschlossen. Diese Verbundenheit beider, der Menschenliebe mit der Gottesliebe, ist charakteristisch für Jesus. Das ist das Besondere der Jesusnachfolge. Die Menschenliebe wird der Gottesliebe nicht untergeordnet. Beides, die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen, ist nebeneinander und zueinander gestellt. Das eine ist nicht ohne das andere. In der Menschenliebe bewährt sich die Gottesliebe. Diese entfaltet sich in jener. Es ist so, wie später sein Jünger Johannes geschrieben hat: »Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott ! - und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehtI« Derselbe Jünger schreibt: »Wir wissen, daß wir vom Tode zum Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder.« Für ihn ist die neue Lebensform ein Zeichen dafür, daß auch die neue Lebensquelle gefunden wurde. Jesus wies mit göttlicher Autorität den neuen Weg. Ja, er versprach, diesen Weg in Glaubensanschluß an ihn zu ermöglichen. Das erweckte viel Widerspruch. Zu allen Zeiten. Damals wie heute. Helfende Liebe läßt sich jedermann gerne gefallen. Aber nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit sind wir bereit, diese Liebe zu üben und sie andern zu schenken. Indem aber Jesus sich selbst als die Wahrheit bezeichnet, nennt er sich den göttlichen Maßstab schlechthin. In ihm verkörpert sich der unerbittliche Wille Gottes. An der Wahrheit ist nichts abzumarkten. Sie ist ja nicht das Produkt unseres Urteils. Sie wird nicht von uns geformt. Sie ist schon vor uns da. Darum wird die Wahrheit zu unserer Richterin. Auch das ist eine ungemein praktische Angelegenheit. Gott will die Gerechtigkeit. Er will die Reinheit. Er will ganze Wahrhaftigkeit. Er will den Dienstwillen und die Hilfsbereitschaft der Liebe. Und wir? Wer kann sich seiner eigenen Gerechtigkeit rühmen? Wer wollte behaupten, rein »in Gedanken, Worten und Werken«, wie Luther sagte, geblieben zu sein? Wer kennt sich selbst so schlecht, daß er behaupten wollte, ein Mensch selbstverleugnender Liebe zu sein? Hier beginnt der Konflikt. Hier stoßen wir mit der Wahrheit zusammen. Es geht nicht an, daß wir etwa in spießiger Entrüstung sagen: »Hier wird von mir Unmögliches verlangt, also überhöre ich den Anruf.« Ehrlicher wäre es, wenn wir unsern eigenen Bankrott erklärten. Es bleibt uns nichts, als daß wir uns schonungslos dem Gericht der Wahrheit stellen. Weil Jesus selbst die Wahrheit ist, werden wir alle an ihm schuldig. Mit der Wahrheit kann man nicht verhandeln. Wir haben einfach den Anspruch Jesu zu hören. Er spricht nicht als schwärmerischer Moralprediger. Um so mehr erleben wir an ihm in Wahrheit, was unsere Sünde ist. Er spricht zu uns als einer, der unser Dasein deutet und trotz aller Not und unserer Schuld zur Erfüllung bringt. Die Wahrheit in ihrer Größe und Kraft weckt den Widerspruch des Menschen. Dieser Widerspruch ist so wild und entschlossen, daß Jesus dem Kreuzestod überantwortet wurde. Sein Kreuz ist die Kriegserklärung des Menschen gegen Gottes Wahrheit. Wie sehr wir im Widerspruch gegen Gott stehen, zeigt uns die Passionsgeschichte Jesu. Auch für seine Nachfolger rechnet Jesus mit blutigen Konflikten: »Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe.« Das Geschick solch hilfloser Wesen ist eindeutig. Die Geschichte der Gemeinde Jesu kennt genug Belege dieser Verheißung. Jesus als Wahrheit hat also sehr verschiedene Wirkungen für uns. Es geht hier nicht nur um die Behauptung: Alles, was er sagt, ist richtig und wahr! So sachlich können wir über die Wahrheit nicht hinweggehen. Jesus verkörpert Gottes Wahrheit vielmehr so, daß wir ganz von Gott in Anspruch genommen sind und uns ihm nicht entziehen dürfen. Es geht hier also nicht nur um Gottes Wirklichkeit, sondern um seine Richterstellung über uns. Wir finden im Neuen Testament eine eigenartige Geschichte. Jesus hat den Fischer Simon gebeten, ihm sein Boot als Kanzel zu überlassen. Von hier aus will er zur Menschenmenge sprechen, die am Ufer steht. Zum Dank für diesen Dienst gibt Jesus dem Fischer den Auftrag, auf dem offenen Meer seine Netze auszuwerfen, um damit einen überraschend reichen Fischzug zu tun. Dieser unerwartete Reichtum hat auf Simon eine seltsame Wirkung. Er fällt vor Jesus auf die Knie und ruft: »Geh weg von mir! Ich bin ein Sünder!« Von Sünde und Schuld war vorher gar nicht die Rede gewesen. Aber die Art und Weise Jesu, sein Wort und seine Machttat wirken auf Simon so, daß er sich erkannt und beschämt fühlt. Er ist wie von einem hellen Scheinwerferlicht getroffen. In der Nähe Jesu und unter der Wirkung seines Flandelns erkennt der Mensch sein Versagen und seine Verkehrtheit, allen Ungehorsam und alle Halbheit. Jesus als die Wahrheit überführt uns von der Fragwürdigkeit unserer Existenz. So wirkt Jesus als ein Gericht über uns und unsere Haltung. Wir können zwar widersprechen, aber es hat eigentlich keinen Sinn: Er behält doch recht. Wenn wir aber nicht widersprechen und uns von seiner Wahrheit überzeugen lassen, dann kommt es zu einer echten Umkehr. Was keine Moralpredigt erreichte, das erreicht Jesus durch sein Ganz-anders-Sein. Jetzt verstehen wir, daß wir Sünder sind. Und wenn wir der Wahrheit die Ehre geben, so bekennen wir unsere Schuld. Petrus meinte, um seiner Schuld willen sich von Jesus trennen zu müssen: »Geh fort von mir!« Aber alle, die sich ihre Sünde zeigen lassen, erfahren die herrlichste Seite der Wahrheit Jesu: sie erfahren, daß Jesus nicht gekommen ist zu verurteilen oder gar zu vernichten. Er ist gekommen, dem Sünder Vergebung und dem Schuldgebundenen Erlösung zu bringen. Das ist die Zentralerfahrung, die wir in der Begegnung mit Jesus machen können. Der Evangelist Lukas berichtete darüber am schönsten im siebten Kapitel seines Evangeliums. Jesus ist bei einem Pharisäer zu Gaste geladen. Während sie mit vielen Gästen zu Tische sitzen, drängt sich eine übel beleumdete Frau in den Saal. Sie sucht mit den Augen nach Jesus, fällt schluchzend zu seinen Füßen nieder, netzt küssend seine Füße mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihrem langen Haar und salbt sie. Die Szene ist dem Gastgeber sichtbar peinlich. Er denkt: wenn Jesus prophetisch begabt wäre, würde er sich diese Berührung nicht gefallen lassen, denn diese Frau gilt als »unrein« in den Augen eines Frommen. Jesus merkt die Gedanken seines Gastgebers und erzählt ihm eine Geschichte von zwei Schuldnern. Der eine war zehn Mark schuldig, der andere tausend Mark. Keiner von beiden konnte die Schuld zurückzahlen. Doch der Gläubiger erließ sie beiden. Die Frage lautet nun: Welcher von den beiden Schuldnern wird dem Gläubiger dankbarer sein? Der Gastgeber antwortet: Eine einfache Sache! Natürlich jener, dem tausend Mark geschenkt sind. Jesus aber erklärt daraus die verschiedene Haltung der Menschen zu ihm. Die einen halten ihre Versäumnisse und ihr Versagen für harmlos. Höchstens zehn Mark! Eine Lapa-lie! Und wenn sie auch die zehn Mark nicht haben, so meinen sie, man sollte um der Sache willen nicht viel Sturm machen. Die andern stehen vor einem Berg ihrer Sünde. Darum ist die Befreiung von ihrer Schuld für sie wie eine Erlösung aus gräßlicher Gefangenschaft. Sie sind darum in Dank und Anbetung Jesus verbunden. Sie wissen sich mit allem, was sie sind und haben, für immer ihm verpflichtet. Mag ihr Verhalten so ungeschickt sein wie bei jener Frau, so gilt doch für sie alle das Wort, was Jesus aussprach: > Wem viel vergeben ist, der liebt viel.« Es geht hier gar nicht um die Frage, wer moralisch besser oder schlechter ist. In der Unterscheidung großer und kleiner Sünden ist das Neue Testament erstaunlich zurückhaltend. Jesus sagt einmal: »Wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel gefordert.« In seinem Licht kann auch kleine Untreue uns sehr quälen. Und ein längst vergessener Fehltritt uns anklagen. Aber nicht das Vergessen, sondern die Vergebung brauchen wir. Nirgends wird Jesus so sehr als die Wahrheit erfahren wie in seinem Leiden und Sterben. Darum wird der Gekreuzigte in seiner Gemeinde nicht vergessen. Das Kreuz ist nicht nur Sinnbild der Leiden, sondern ist Gericht und Gnade in einem. Darum konnte Paulus später schreiben: »Das Kreuz ist für uns, die wir gerettet werden, eine Gotteskraft.« Wer aufmerksam die Matthäuspassion Bachs hört, kann hier eine Zuführung zum Geheimnis von Golgatha erfahren. Am Kreuz hat Jesus bewiesen, wie ernst er die Sünde nimmt und wie unerbittlich er als der Mensch Gottes im Gehorsam seines Vaters stand. Aber nirgends wird auch so überwältigend die rettende Liebe Gottes offenbar wie im Kreuzestod des Heilandes. Hier wird ja deutlich, daß Jesus nicht nur als der Menschensohn stellvertretend für die ganze Menschheit gerichtet wird. Es wird zugleich erkennbar, daß er als der ewige Sohn Gottes an Gottes Statt dem Schuldiggewordenen die Vergebung schenkt. Was er dem Schächer am Kreuz sagte, der ihn um seine Hilfe bat, gilt jedem, der bei ihm als Sünder die Gnade erbittet: »Du wirst mit mir im Paradiese sein.« Wer so Jesus als Wahrheit über die Sünde und als Wahrheit von der Vergebung erfuhr, der hat eine Entscheidung fürs Leben getroffen. Hier fängt Nachfolge Jesu erst richtig an. Und wem es ernsthaft um die Frage geht: Was macht denn einen Christen aus ? - hat hier die entscheidende Antwort. Die moralische Entscheidung: Ich will so sein, wie Gott es mir vorschreibt! reicht nicht aus. Denn der Erfolg dieser Entscheidung ist mehr als bescheiden. Wenn wir uns damit begnügen wollten, wie leider ein Großteil jener, die sich Christen nennen, so kommen wir nicht aus unserer Halbheit heraus. Entweder wir geraten in pharisäische Heuchelei und wollen besser scheinen, als wir sind. Oder wir verfallen einer quälenden Schwermut. Wo aber der Mensch durch Jesus zur unerbittlichen Selbsterkenntnis und durch ihn zur befreienden Gotteserkenntnis in aller Wahrheit geführt wird, da beginnt ein neues Leben. Jesus spricht im Bezug auf diese Nahtstelle unseres Lebens von einer Wiedergeburt. Und der Apostel Paulus schreibt:« 1st jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte verging, ein Neues ist geworden.« Gott selbst schafft Neues in Herz und Gewissen. Der neu entstehende Glaube ist nun nicht ein bloßes Wissen über Gott, sondern der Beginn eines neuen Lebens. Nicht nur in meinem Denken, auch in meinem Wollen, Hoffen und Planen bin ich nun neu begründet. Gott ist nun nicht mehr bloß Nothelfer in letzten Randsituationen, sondern der Auftraggeber und Inhalt meines Lebens, der Kleines und Großes regiert. Wir leben oder sterben, so gehören wir ihm. Weil diese existentielle Entscheidung so selten echt und ehrlich geschieht, darum scheint die Zahl der echten Christen nicht groß zu sein. Aber nun verstehen wir auch, daß die oft so unkritische und unbedenkliche Anwendung des Chnstennamens in den alten »christlichen« Ländern viel Verwirrung anrichtet. Wir verstehen, daß manch ein Glied aus den jungen Kirchen Asiens und Afrikas, das zur Ausbildung oder zum Studium nach Europa kam, entsetzt und enttäuscht ist über das, was er hier unter den »christlichen« Völkern erlebt. Wir sollten unsere Verantwortung kennen und saubere Grenzen ziehen. Jesus - das Leben. Nun verstehen wir auch besser, was es heißt, daß sich Jesus nicht bloß der Weg und die Wahrheit nennt, sondern auch das Leben. Die Person Jesu ist nun für alle, die durch ihn zum Glauben kamen, der Quellort ihres neuen Lebens. Nicht eine wenn auch noch so kirchliche Lehre über Jesus, kann uns helfen. Es geht hier weder um Ideen noch um Meinungen, die wir fassen. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß die Gedanken, die wir uns machen, uns helfen könnten. An diesem Rationalismus krankt die alte Christenheit weithin. Darunter leidet auch ein großer Teil der modernen Theologie. Es ist uns mit Klugheit noch nicht geholfen. Jesu Wort ist von seiner Person nicht zu trennen. Aber Jesus sagt nicht: Ich will euch Lehrsätze über das Leben geben, sondern: »Ich bin das Leben.« Auch seine Worte wenden sich nicht nur an unser Denkvermögen, sondern immer zugleich an unsern Gehorsam. Dringen seine Worte uns nicht »ins Herz«, d. h. in unser Willenszentrum, so erfahren wir nie, was es heißt: »Du hast Worte ewigen Lebens.« Je nachdem, wie wir uns zu Jesus stellen, haben wir das Leben oder haben es nicht. Johannes schreibt: »Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.« Daran ist nichts abzumarkten. Diese Sätze stehen ehern fest. Sie dürfen nicht umnebelt werden, weder von klugen noch von frommen Menschen. Jeder, der hier widerspricht, setzt sich selbst ins Unrecht. Darum hat Luther mit ganzer Kraft betont: Allein der Glaube rettet uns! Glaube aber ist die Um- Schreibung unseres Vertrauensverhältnisses zu Jesus. Noch einmal sei an dieser Stelle betont: Begnügen wir uns nicht mit einigen guten Eigenschaften! Streben wir nicht nach irgendeiner eitlen Frömmigkeit! Rühmen wir uns nicht unserer bürgerlichen Ehrbarkeit und schützen wir nicht unsere sittliche Haltung vor! Das alles ändert im Grunde nichts. Es geht hier um Leben und Tod. Wir sind keineswegs gefragt, ob wir der gleichen Ansicht sind. Diese überschätzen wir ohnehin meist in ihrer Wichtigkeit. Nur Jesus ist das Leben. Und darum gibt nur er das Leben dem, der sich ihm anschließt. Weil wir Gott als Schöpfer kennen, darum ist eine Existenz ohne Gott nicht wirkliches Leben. Es wundert uns darum nicht, daß die meisten Menschen mit dem, was sie ihr Leben nennen, unzufrieden sind. Sie sind ja eigentlich zu etwas ganz anderem geboren. Sie vegetieren erst und haben im Vollsinn das Leben noch nicht gefunden. Deshalb ist die Botschaft von Jesus eine »Frohbotschaft«, ein Evangelium. Denn in ihm tut sich das Tor zu erfülltem Leben auf. Er sagt: »Ich bin die Tür, wer durch mich eingeht, wird die Lebensweide finden, denn ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben.« Wenn Jesus sich das Leben nennt, so heißt das nicht, daß er uns über das Leben unterrichtet oder uns Lebensgesetze verkündet. Es war schon davon die Rede, daß wir durch Jesus zu einer Wiedergeburt, zu einem Neuanfang im Leben kommen, wenn wir den Anschluß an Jesus finden. In einem Gespräch mit dem Pharisäer Nikodemus, das uns Johannes im dritten Kapitel seines Evangeliums berichtet, hören wir Jesu Wort zu diesem entscheidenen Einschnitt in unserem Leben. Er sagt: »Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, sonst kann er nicht ins Reich Gottes kommen.« Hüten wir uns vor der allzu einfachen Erklärung, daß mit der Taufe, die die meisten von uns im frühen Kindesalter erhielten, alles erledigt sei. Diese Auffassung ist nichts als eine harmlose Beruhigungspille. Nirgendwo in der biblischen Auffassung wird die Taufe als ein mechanisch wirkendes opus operatum geschildert. Das heißt: hier wirkt nichts automatisch. So hoch wir von der Kindertaufe denken und so ungern wir für unsere eigenen Kinder drauf verzichtet hätten, so wartet sie doch darauf, von uns in vollem Lebensgehorsam ernst genommen zu werden. Gott gibt uns in der Taufe seine Zusage: Ich bin dir ein gnädiger Gott! Aber wir betrügen uns um das Beste, wenn wir diese Zusage uns nicht im persönlichen Glauben aneignen. Nie handelt Gott am Menschen so, daß er in völlige Passivität zurückgedrängt wird. Sein Taufwort an uns wartet auf unsere Antwort. Wer sie verweigert, geht des Taufsegens verlustig. Das ist die Not unserer Großkirchen: Wir haben viel Getaufte- aber wenig Glaubende. Führt die_Taufe nicht zum Glauben, so hat sie ihr Ziel nicht erreicht. Darum sagt Jesus: durch Wasser und Geist! Der heilige Geist aber ist die Gegenwart Christi in unserm Leben. Er weckt unser Gewissen, daß wir unsere Sünde erkennen. Er zieht unsere Aufmerksamkeit auf Jesus, daß wir uns für ihn und sein Wort interessieren. Er weckt in uns nicht nur das Verlangen nach Vergebung, sondern schenkt uns auch die Ge- wißheit, daß der Gekreuzigte und Auferstandene unsere Schuld für uns getragen und uns die Vergebung Gottes gebracht hat. »Niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Aberwer Jesus und seine Vergebung aufnimmt, den nimmt Jesus in die Gemeinschaft mit dem Vater auf und macht ihn zum Kinde Gottes. So haben wir das Wort des Johannes zu verstehen: »Wie viele ihn, Jesus, aufnahmen (nämlich als ihren Herrn und Heiland), denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden« (Johannes 1, 12). Jetzt gilt es nur, im Vertrauensverhältnis zu Jesus zu bleiben. Er selbst benutzt den Vergleich mit dem Weinstock und seinen Reben: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun « (Johannes 15, 5). Wo wir so mit Jesus den Weg gehen, wird unser religiöses Leben nicht nur ein Teil unseres Lebens neben vielen anderen. Bei den meisten Menschen ist es allerdings so. Sie haben ein Familien-interesse, sie haben wirtschaftliche Interessen, sie interessieren sich für Sport, Kunst und Wissenschaft. Und daneben haben sie auch Religion. Aber eben doch nur daneben. Wem aber Jesus Weg, Wahrheit und Leben wurde, dem ist er Anfang und Ende. Das heißt : Er geht in den Tag im Vertrauen auf Jesus, er leidet und freut sich, er arbeitet und ruht, er erlebt die Einsamkeit und die Gemeinschaft, alles mit Jesus. Es kommt alles in das Licht Jesu. Es wird nichts vor ihm versteckt. Es bekommt erst durch ihn alles Sinn und Bedeutung. Selbst die kleinsten Dinge des Alltags haben Beziehung zum ewigen Ziel. Wir gingen von der Frage aus: Was macht einen Christen aus f Fanden wir eine Antwort? Wir sagten: Es geht nicht ohne Jesus. Denn er ist der Christus. Wir lernen ihn kennen, indem wir das Neue Testament aufmerksam lesen. Darüber hinaus aber wurden wir gefragt, ob wir bereit sind, uns unter den Einfluß des Jesuswortes zu stellen. Tun wir das, so wird Jesus unser Zeitgenosse, d. h. wir erleben ihn als den Gegenwärtigen. Wir kommen ins Gespräch mit ihm. Wir fangen an, ihn im Gebet anzureden, und wir hören auf seine Antwort. Erst da, wo wir uns vor Jesus beugen und seinem helfenden und befehlenden Willen offenstehen, fangen wir an, Christen zu werden. Nicht ein besonderes religiöses Wissen macht den Christen. Nicht einmal eine besondere moralische Haltung. Eher ist das Besondere, daß der Christ in Jesus den letzten Maßstab hat. Keinesfalls aber hält sich der glaubende Christ für »besser« als andere. Schon gar nicht hat er »die Frömmigkeit gepachtet«, wie man so gerne sagt. Das Umgekehrte wäre richtiger: ein Christ ist einer, der um seine Unzulänglichkeit weiß, weil er seine Sünde und Schuld drückend erkennt. Darum verlangt er nach der göttlichen Hilfe des Heilandes. Das Verlangen allein, der Wunsch nach Erlösung, macht den Christen auch nicht aus, sondern erst die Erfahrung dieser Hilfe, die er an Jesus erlebt. So wird der Christ dann auch zu einem Zeugen. Er ist in seinem Leben und Dasein ein Hinweis darauf, daß von Jesus lebendige Wirkungen ausgehen. Solch ein Zeuge braucht nicht unbedingt zu predigen und zu reden. Er vermittelt auch nicht gleich ein verborgenes Wissen, das andere noch nicht haben. Der Christ ist ein Zeuge, indem er durch sein Leben beweist, daß Jesus wirklich lebt und wirkt. Insofern fordert der Christ durch sein Dasein jeden, dem er begegnet, auf, es auch mit Jesus zu versuchen. Man kann sogar sagen: Der Christ ist ein Stück Christi selbst, weil dieser ja in seiner Gemeinde lebt. Vielleicht liegt es daran, daß die Christen vielen Menschen unsympathisch sind und auf viel Ablehnung stoßen, ohne daß sie viel sagen oder tun. Für den Ungläubigen ist der Glaube immer eine stille Anklage. Er ist immer eine Erinnerung an den lebendigen Gott, an dem niemand vorbeikommt. Andererseits ist die Begegnung mit einem lebendigen Christen immer auch eine Möglichkeit, dem lebendigen Christus zu begegnen. Denn er redet nun einmal durch seine Gemeinde. Ob wir selbst teilhaben an den Segnungen und Lebenswirkungen, die von Jesus ausgehen, wird weithin von uns selbst abhängen. Die Frage ist, ob wir auf solche Zeugnisse achthaben, und ob wir bereit sind, uns helfen zu lassen. Das Angebot ist da. Gezwungen ist niemand. Eingeladen sind wir alle. Um das Wagnis kommt keiner von uns herum. Aber es lohnt sich. EDIÜIOIK C = Allgemeine Themen 1 Friedrich Hauß, Die uns das Wort Gottes gesagt haben 2 Curtis C. Mitchell, Jesus als Beter 3 Martha Pampel, Wer in der Liebe bleibt 4 Erich Schnepel, Wie sieht die Zukunft der Menschheit aus? 5 Martin Schacke, Der Brief an die Kolosser 6 Paul Humburg, Keiner wie ER 7 Richard Kriese, Hand in Hand durchs Leben 8 Hellmuth Frey, Handkommentar Jesaja, Bd. II 9 Anny Wienbruch, Adelheid, Königin und Kaiserin 10 Erich Schnepel, Gemeinde aktuell 11 Gerald S. Strober, Ein Tag in Billy Grahams Leben 12 Eckart zur Nieden, Mit anderen Worten 13 Arno Pagel, Er weiß den Weg T = Taschenbücher 1 Dietrich Bonhoeffer, Das Gebetbuch der Bibel 2 Michael Green, Neues Leben - neuer Lebensstil 3 Margaret Johnson, 18 Jahre und keine Zeit zu verlieren 4 Hans Joachim Eckstein, Laß uns Liebe lernen 5 Jörg Erb, Dichter und Sänger des Kirchenliedes, Bd. IV 6 Fritz Schmidt-König, Als der Wald brannte 7 Elisabeth Ohlig, Gottes Fügen - mein Genügen 8 Fritz Schmidt-König, Weihnacht feiern heißt nach Hause kommen W = Werkbuchreihe »Wege zum Dienst« 1 Marie Jürgenmeyer, Frohes Feiern um die Bibel 2 Hermann Traub, Zum Leben eingeladen 3 Ada Lum, Befähigt zu lehren 4 Marie Jürgenmeyer, Weihnachten IN DIE ENTSCHEIDUNG GESTELLT Hans Brandenburg Der rote Faden dieses Taschenbuches ist die Frage: Was macht eigentlich einen Christen aus? Bei manchem unter uns besteht darüber eine große Verlegenheit. Was hat man aus dem Christenglauben schon alles gemacht! Eine Religion. Eine Weltanschauung. Eine Moral. Einen Haufen unverständlicher Dogmen. Ja, was macht denn nun eigentlich einen Christen aus? »Christentum« ist leider zu einer gewissen Inflationsware geworden. Und darum erkennt man weithin seinen Wert nicht mehr. Gerade an solche Leser wendet sich diese kleine Schrift. Sie möchte dem Unsicheren und Fragenden helfen. Sie möchte nicht alle Fragen beantworten (wie könnte sie das!), wohl aber zum Fragen und Weiterforschen anregen. EDITION C T - 9