Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Gießen (BERG) Wortverkündiger: Dr. Jürgen-Burkhard Klautke (15.04.2022, Karfreitag) Wortverkündigung: Psalm 22 Thema: Golgatha: Christi Leiden und Sterben - sein herrlichster Sieg Lieder/Psalmen: 57, 1-4.7; 60, 1-4; Psalm 22a, 1-5; Psalm 22a, 6-9 Gesetzeslesung: Galater 5, 24 - 6, 10 Erste Schriftlesung: Markus 15, 16-41 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! Das Wort Gottes bringe ich Ihnen heute, am Karfreitag, aus Psalm 22. Wir hören den gesamten Psalm. Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus! Die Frage, mit der dieser Psalm beginnt, Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, gehört zum Geschehen von Golgatha. Jesus Christus betete dieses Wort am Kreuz (Markus 15, 34; Matthäus 27, 46). Die Botschaft dieses Ausrufs lautet: Gott der Vater hat Jesus Christus am Kreuz verlassen. Im 20. Jahrhundert, in den Jahrzehnten, in denen ich aufwuchs, hatte der Begriff "Gottverlassenheit" eine ganz bestimmte Einfärbung. In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sprach man viel von unserer Gottverlassenheit. Und in diese Geisteshaltung schien der Ausspruch aus dem Mund Jesu ausgezeichnet zu passen. Die Gedankenführung verlief folgendermaßen: Wir Menschen leben - wie der Titel eines Hörspiels aus der Nachkriegszeit es formulierte: "Draußen vor der Tür". Wir Menschen sind getrennt von Gott, denn: Wo warst du, Gott, ... in Stalingrad, in Auschwitz, in Hiroshima? Wir könnten diese Reihe fortsetzen bis hin zu den gegenwärtigen Katastrophen und Kriegen und den dadurch ausgelösten Migrationsströmen. In jener Zeit war es üblich, in der eigenen vermeintlichen Gottverlassenheit zu schwelgen. Man litt. Aber ich behaupte: Es war ein genießendes Leiden. Ich warne davor, die Frage Jesu am Kreuz, warum Gott ihn verlassen habe, mit dem Leben von gottlosen Menschen in der Neuzeit gleichzusetzen. Ich warne davor, und zwar keineswegs nur deswegen, weil Christus ausrief: Mein Gott, mein Gott... Das heißt doch: Der Sohn Gottes hatte auch am Kreuz eine Beziehung zu Gott seinem Vater. Jesus Christus war in seinem Leiden also keineswegs gott-los. Man darf die Frage Jesu, Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, nicht so verstehen, wie der verweltliche, der säkularisierte Mensch seine Gottlosigkeit verstanden wissen wollte und will. In unserer Zeit ist vermutlich eine andere Fragestellung im Blick auf dieses Wort aktueller: Jesus Christus, der Sohn Gottes: Soll er wirklich von Gott dem Vater getrennt gewesen sein und ist er tatsächlich gestorben? Die meisten von Ihnen wissen, dass meine Frau und ich das Vorrecht haben, momentan Fatemeh bei uns zu Gast zu haben. Sie kommt aus dem Iran, und das heißt, sie ist in einem islamisch geprägten Land aufgewachsen. Von diesem Hintergrund war es für sie zunächst einmal keineswegs einfach zu verstehen, dass Gott einen Sohn hat. Und nachdem sie das verstanden hat, war es vermutlich noch schwerer zu verstehen, dass dieser Sohn Gottes gestorben sein soll. Für Muslime ist Jesus ein Prophet. Jesus ist nach Mohammed der höchste Prophet. Aber es ist für diese Religion eine undenkbare Vorstellung, dass der zweithöchste Prophet, "Isa", am Kreuz gestorben sein soll. Im Koran heißt es: Als Jesus Christus am Kreuz hing, öffnete sich erneut der Himmel über ihm und die Stimme des Heiligen erklang: "Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe"1 Noch einmal: Im Islam wird noch nicht einmal geglaubt, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Aber selbst der Prophet "Isa" starb nicht am Kreuz, geschweige denn, dass er von Gott verlassen wurde. Mit ähnlichen Verstehensschwierigkeiten hatte sich bereits die Frühe Kirche zu beschäftigen. Sie bemühte sich intensiv darum, die Vielschichtigkeit des Geschehens am Kreuz von Golgatha bekenntnishaft zum Ausdruck zu bringen. So unterschied sie zwischen den beiden Naturen Christi. Sie bezeugte, dass Jesus Christus starb "gemäß seiner menschlichen Natur", aber diesen seinen Tod hat "seine göttliche Natur mitgetragen". Und selbstverständlich bekannte sie, dass Jesus Christus durch sein Sterben und durch seinen Tod den Tod besiegt hat. In einer Karfreitagspredigt vor Jahren machte ich darauf aufmerksam, dass die Frühe Kirche mit solchen Formulierungen das Geschehen von Golgatha nicht durchsichtig machen wollte. Das wiederhole ich auch heute. Eher ist das Gegenteil der Fall: Es sind verhüllende Aussagen. Aber diese Formulierungen bemühen sich, die Darlegungen der Heiligen Schrift über das Geschehen am Kreuz von Golgatha nachzusprechen. Tatsächlich werden wir auf diese Weise davor bewahrt, allzu schnell in die Meinung zu verfallen, wir hätten das Geschehen von Golgatha durchschaut. Nicht erst heute, sondern schon seit längerem sind Schriftausleger davon überzeugt, dass die vier Evangelien, in denen uns das Leiden und Sterben Jesu verhältnismäßig ausführlich geschildert ist, mitteilen, dass Jesus Christus in seinem Todeskampf am Kreuz nicht nur den ersten Vers von Psalm 22 gebetet hat, sondern den gesamten Psalm. In der Zeit vor 2000 Jahren, in der Papyrus oder Pergament kostbar waren, und die Leute sowieso ihre Bibel weitestgehend im Kopf hatten, sicher die Psalmen, war es gang und gäbe, dass man lediglich den ersten Vers eines Abschnitts zitierte. Der Schreiber setzte dann voraus, dass den Lesern klar war, dass damit auch die sich anschließenden Aussagen gemeint waren, also in diesem Fall der gesamte Psalm 22. Ich teile diese Auffassung, und zwar nicht nur wegen der damals üblichen Zitierweise. Zur Untermauerung verweise ich auch auf Psalm 22, 16. Dieser Vers ist ein Hinweis auf das Kreuzeswort: Mich dürstet! (Vergleiche dazu Johannes 19, 28.) Aber vor allem wird dies deutlich am letzten Vers von Psalm 22: Sie [Nationen] werden kommen und seine Gerechtigkeit verkündigen. Dem Volk, das geboren wird, dass er es vollbracht hat. (Psalm 22, 29). Gerade diese letzte Aussage erinnert natürlich an den Ausruf Jesu: Es ist vollbracht! (Johannes 19, 30). Nicht zuletzt deutet auch die Reaktion der Menschen unter dem Kreuz darauf hin, dass Jesus den gesamten Psalm betete. Der Evangelist Markus berichtet, dass die Umherstehenden auf den Ausruf Jesu, Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? mit gewolltem Unverständnis reagierten, ja mit Spott: Er ruft Elia (Markus 15, 35). Natürlich begriffen die Dabeistehenden, was Jesus Christus hier betete. Unter diesen Leuten waren auch Vertreter des obersten Gerichts und Schriftgelehrte (Markus 15, 31). Warum standen diese Männer beim Kreuz? Dahinter stand keineswegs nur die Befriedigung von Sensationslüsternheit. Vielmehr war es so, dass die jüdische Geistlichkeit gerade bei Pseudopropheten (Lügenpropheten) bis zum Schluss darauf hofften, dass diese Männer ihre Schuld in letzter Minute bekennen werden. In einem solchen Fall hätten sie den Abfallprediger noch lossprechen können, sodass er wenigstens selig in die Ewigkeit eingeht. Wie groß muss da das Erschrecken gewesen sein, dass Jesus von Nazareth anstatt dass er noch in seinen letzten Atemzügen ein Schuldbekenntnis ablegt, einen Psalm betet. Und zwar betete Jesus nicht irgendeinen Psalm, sondern einen, der im damaligen Judentum im Blick auf die Erwartung des Messias eine entscheidende Rolle spielte. Für diese Theologen musste das Beten dieses Psalms die denkbar provozierendste Gotteslästerung gewesen sein. Denn wohlgemerkt: Hier betete ein am Fluchholz Verdammter einen messianischen Psalm. Daraufhin quasseln sie dazwischen: Er ruft wohl den Elia. Und um ihre Hilflosigkeit vollzumachen, reichten sie ihm außerdem auf einer Stange ein in Essig getauchtes Tuch. Aber auf die historischen Umstände will ich jetzt nicht eingehen. Vielmehr geht es mir heute darum, Ihnen anhand von Psalm 22 zu zeigen, also anhand dieses berühmten Leidenspsalms, dass die schmachvolle Kreuzigung und dann der Tod Jesu Christi nicht von seinem Triumph über den Tod abgetrennt werden darf. Ich verkündige Ihnen das Wort Gottes unter dem Thema: Golgatha: Christi Leiden und Sterben - sein herrlichster Sieg 1. Die Unvergleichlichkeit der Kreuzesleiden Christi 2. Das Kreuzesleiden steht im Horizont des Triumphes Christi über den Tod 3. Der Triumph Christi am Kreuz hat Konsequenzen für unsere eigenen Leiden 1. Die Unvergleichlichkeit der Kreuzesleiden Christi Aus der Überschrift von Psalm 22 erfahren wir, dass wir es mit einem Psalm Davids zu tun haben. Wenn wir diesen Psalm unter dem Blinkwinkel hören, dass er von einem Menschen wie du und ich stammt, dann ist es durchaus möglich uns in mancher Hinsicht in den Leiden, die hier geschildert werden, wiederzufinden. Ich nenne einmal folgende Aspekte: Da ist zunächst einmal der Eindruck, dass Gott weit weg ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Warum bleibst du fern von der Rettung, von den Worten meiner Klage (Psalm 22, 2). Gleiches lesen wir in Vers 12: Sei nicht fern von mir. Denn Drangsal ist nahe und kein Helfer ist das! Dann erneut in Vers 20: Du aber, o Herr, sei nicht fern! O meine Stärke, eile mir zur Hilfe! David fühlt sich von Gott verlassen. In allem aber ist das Schlimmste sein Eindruck: Ich kann mich nicht auf Gott verlassen. Das scheint mir sogar ein Hauptaussagepunkt des Psalms zu sein. Es geht dem Psalmisten gar nicht so sehr darum, dass in seinem Leben alle Probleme gelöst werden. Aber es ist diese lähmende Vorstellung, dass ihm gegenüber Gott in Schweigen verfallen ist. Auch bei uns ist das Problem ja wohl nicht eigentlich, dass wir leiden oder dass Dinge in unserem Leben schieflaufen. Vielmehr ist es das Gefühl, dass unsere Leiden uns sinnlos vorkommen. Eine weitere Weise des Leidens besteht darin, dass David sich in den Dingen, die ihm widerfahren, als eine große Ausnahme empfindet. David blickt zurück in die Geschichte. Er schaut zurück auf die bisherigen Erfahrungen seines Volkes: Auf dich haben unsere Väter vertraut. Sie vertrauten, und du hast sie errettet. Zu dir riefen sie, und haben Rettung gefunden. Auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden. Du bist doch Gott, der du wohnst unter der Lobgesängen Israels (Psalm 22, 4-6). Demgegenüber erhebt sich für David die Frage: Warum leide gerade ich, während doch die anderen...? Wenn David bezeugt, dass Gott unter den Lobgesängen Israels wohnt, dann will er damit nicht sagen, dass Gottes Thron zusammenbricht, wenn das Volk Gottes aufhören würde, ihm Psalmen oder andere Lobgesänge zu singen. Nein, Gottes Thron ist keineswegs wackelig und schon gar nicht von uns abhängig. Für sein Herrschen steht Gott allein ein. Aber in dieser Welt gehört der Lobgesang über Gottes Erlösungstaten zur Proklamation seiner Herrschaft. Und dafür ist das Singen in den Gottesdiensten unverzichtbar. Insofern thront Gott unter den Lobgesängen seines Volkes. Und darum darf sich das Volk Gottes bei seinen Zusammenkünften das Singen der Psalmen und auch anderer Lobgesänge von niemandem nehmen lassen. David stellt hier seine eigenen Erfahrungen den Betern früherer Zeiten gegenüber: Ich aber ... (Psalm 22, 7a): Einst hatte Gott den Vätern geholfen. Er hatte sie errettet, befreit. Auf mich aber, so empfindet David, achtet Gott nicht. Entsprechend kann es uns auch ergehen: Wenn wir unsere eigenen Erfahrungen mit den Biographien großer Gottesmänner aus der Kirchengeschichte vergleichen, dann kann es sein, dass wir uns selbst erfahren wie ein Wurm und nicht wie Mensch (Psalm 22, 7a), also als ein sich windendes Etwas, das lediglich noch dazu geeignet ist, zertrampelt zu werden. Vergleichen wir dazu auch das, was David in Vers 15 über sich sagt: Ich bin dahingeschüttet wie Wasser. Das dritte, worüber David hier klagt, ist der Spott seiner Umgebung: Es geht David schlecht, sehr schlecht. Und seine Mitmenschen reagieren darauf höhnisch: Alle die mich sehen, spotten über mich. Sie reißen den Mund auf und schütteln den Kopf. Er soll doch auf den Herrn vertrauen, der soll ihn befreien. Der soll ihn retten, wenn er denn Lust an ihm hat (Psalm 22, 8.9). Da vertraust du auf Gott. Du erzählst anderen von deinem Vertrauen auf Gott. Und dann läuft alles in deinem Leben schief. Hinter deinem Rücken strecken sie die Zunge gegen dich heraus und lästern über dich. Aber du merkst es trotzdem. Dann bohren sich Fragen in dich hinein, wie: Hätte ich nicht zurückhaltender sprechen und auftreten sollen? Bin ich nicht selber schuld an meiner Situation? Habe ich mir das alles nicht selber eingebrockt? Schließlich (viertens) werden die Daumenschrauben noch weiter angezogen. Während sich David in den Versen 5 und 6 im Vergleich zu den Vätern noch als Ausnahme sieht, blickt David nun auf sein eigenes Leben zurück. Er erinnert sich an seine Kindheit. Wie idyllisch, wie geborgen war einst sein Leben, und wie kalt und grauenhaft kommt es ihm jetzt vor: Du hast mich aus dem Leib meiner Mutter gezogen. Du warst meine Zuversicht schon an meiner Mutter Brust. Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an. Vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott (Psalm 22, 10.11). Das war damals. Demgegenüber ist seine Erfahrung in der Gegenwart das Isoliertsein. Jetzt ist Davids Leben bestimmt von Einsamkeit und von Angst: Sei nicht fern von mir. Denn Drangsal ist nahe und kein Helfer ist da (Psalm 22, 12). Tatsächlich finden zahlreiche der Bedrängnisse, die uns in Psalm 22 geschildert werden, in unserem eigenen Leben ein Echo. Wir erkennen entsprechende Situationen in unserem eigenen Leben wieder oder auch bei Menschen, die uns nahestehen und die wir ein stückweit auf ihrem Lebensweg begleiten. Aber bei allen Anknüpfungen an das eigene Leben erschöpft sich Psalm 22 nicht in diesen Aussagen. Das, was uns insgesamt hier an Leiden geschildert wird, passt nicht für uns. Es ist qualitativ und damit unendlich anders als das, was wir Menschen an Leiden durchmachen. Somit weist Psalm 22 weit über die eigene menschliche Situation hinaus. Ja, auch du hast manchmal den Eindruck, von Gott verlassen zu sein und dich als einziger in einer unvergleichlich schwierigen Lage zu befinden. Auch kann es sein, dass du dich dem Spott der Gottlosen ausgeliefert siehst und dass du dein jetziges Leben als ein chaotisches Sammelsurium von Zerrissenheiten erfährst. Aber der Psalm sagt viel, viel mehr. Ich will das einmal aufteilen in körperliche Leiden und seelische Leiden. Beginnen wir mit den körperlichen Leiden. Da lesen wir in Vers 17: Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben. Das ist natürlich ein Hinweis auf die Kreuzigung. Oder nehmen wir Vers 14: Alle meine Gebeine sind ausgerenkt. Das war bei David niemals der Fall. Bereits vor etlichen Jahrzehnten wurde einmal medizinisch-ärztlich untersucht, wie und woran ein Gekreuzigter eigentlich genau starb. Zunächst macht ein daran beteiligter Arzt darauf aufmerksam, dass es natürlich wahnsinnig schmerzhaft ist, wenn die Nägel in die Hand- und Fußwurzelknochen getrieben werden. Vielfach verlor der Gekreuzigte schon dadurch das Bewusstsein, zumindest zeitweilig. Aber an den Nägelmalen starben Gekreuzigte nicht. Die eigentliche Todesursache war das Ersticken. Ich zitiere: Der Körper wird mit erhobenen Armen in Einatmungsstellung des Brustkorbes befestigt. Bei solchem Hängen sind die Rippen unbeweglich, und die Atmung ist schon dadurch erheblich eingeschränkt. Der Gekreuzigte hat das Gefühl einer fortschreitenden Erstickung. Das Herz muss mehr arbeiten, seine Schläge werden schwächer. Daraus folgt ein Blutstau in den Gefäßen des Körpers. Andererseits ist die Sauerstoffaufnahme in den unzureichend arbeitenden Lungen erschwert, sodass die Überladung mit Kohlensäure eine Überreizung der Muskelfasern hervorruft. Die Folge ist eine Art tetanischer Krampfzustand des gesamten Körpers [...] Die Krämpfe beginnen im Vorderarm, erfassen dann die ganzen Arme und dehnen sich schließlich auf alle Gliedmaßen und den Rumpf aus. Auch die großen Atemmuskeln werden davon ergriffen, sodass sich die Lungen mit Luft vollsaugen, sie jedoch nicht mehr herauslassen können. Die Ausatmungsmuskeln, die dann auch betroffen werden, sind schwächer als die Einatmungsmuskeln. So bleiben die Lungen ständig in Einatmungsstellung und können sich nicht mehr entleeren. [...] Der Leidende gelangt in einen Erstickungszustand, wie jemand im schwersten Asthmaanfall. Der Brustkorb des Leidenden weitet sich im Übermaß, sein Gesicht wird rot, fast violett, der Schweiß fließt in Bächen vom Körper... Denken wir in diesem Zusammenhang an die Aussage aus Psalm 22, 15: Mein Herz ist geworden wir Wachs, zerschmolzen in meinem Innern. Oder achten wir auf die Aussage in Psalm 22, 3: Auch bei Nacht finde ich keine Ruhe. Wir können bei dem Ausdruck bei Nacht an die dreistündige der Finsternis denken, die sich über Golgatha lagerte, also von der sechsten bis zur neunten Stunde. In einem anderen ärztlichen Bericht dazu heißt es: Wenn dieser Krampfzustand überhaupt mehrere Stunden dauern konnte, so war das nur dadurch möglich, dass der Gekreuzigte von Zeit zu Zeit seine angenagelten Füße als Stützpunkt benutzte, um daran den Körper aufzurichten. Dadurch schwand zwar die Atemnot, Sauerstoffaufnahme war wieder möglich. Doch diese Haltung, bei der das gesamte Körpergewicht auf dem Nagel in den durchbohrten Füßen ruhte, konnte wegen der unzureichenden statischen Stütze und der unerträglichen Schmerzen nicht lange aufrechterhalten werden, sodass der Gekreuzigte oft schon nach wenigen Sekunden wieder an den Armen hängen musste. Auf diese Weise bestand der Todeskampf in einem abwechselnden Sich-Senken und Sich-Heben, aus Atemnot und Atemschöpfen [...]. Aus ihrer Erfahrung wussten die Henker um diesen Zusammenhang, und sie verfügten über ein sicheres Mittel, um bei den Gekreuzigten das Ende schnell herbeizuführen: Sie brachen ihnen die Beine. Dann konnten sich die Gekreuzigten nicht mehr abstützen, und dann trat bald der Tod durch Erstickung ein. Mit anderen Worten: Es war Barmherzigkeit, wenn Soldaten einem Gekreuzigten die Beinknochen brachen. Aber über Christus lesen wir, dass seine Gebeine nicht gebrochen wurden. Achten wir dazu auf Psalm 22, 16: Meine Kraft ist vertrocknet wie ein Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen... Es ist deutlich ist: Das, was uns hier in Psalm 22 geschildert ist, weist über David weit hinaus. Das was uns hier geschildert wird, waren eindeutig nicht mehr Davids Erfahrungen, sondern hier sprach David als Prophet Gottes. Nachdem wir die körperlichen Leiden beachtet haben, die uns hier in Psalm 22 geschildert werden, kommen wir nun zu den "seelischen" Leiden. Aber ich zögere, in diesem Zusammenhang von "seelischen Leiden" zu sprechen. Denn das könnte zu sehr nach Kummerkasten klingen. Worum es sich hier am Kreuz handelte, das waren höllische Leiden. Es waren Leiden, die Dimensionen hatten, sodass das Wort Gottes davon nur in Bildern, in Vergleichen sprechen kann. Da ist davon die Rede, dass der, dessen Hände und Füße durchgraben wurden, von großen Stieren aus Baschan umringt war (Psalm 22, 13) Die Stiere von Baschan waren bekannt durch ihre Mächtigkeit. Das waren andere Gestalten als ostfriesische Kühe. Ferner ist die Rede von einem reißenden, brüllenden Löwen, der sein Maul gegen ihn aufsperrt (Psalm 22, 14). Ferner ist hier zu lesen, dass er von Hunden umringt ist (Psalm 22, 17). Dabei sollten wir nicht an irgendwelche Schoßhündchen aus unseren Breiten denken, sondern an umherstreunende, bissige Straßenköter, die sich kaum von Hyänen unterscheiden. Ich muss bei diesen Vergleichen immer denken an Gemälde des Renaissancemalers Hieronymus Bosch. Er stellte die Gestalten brutaler Menschen wie auch von Dämonen, von denen Menschen aufgejagt und gehetzt werden, als Bestien dar. Auch Petrus etwa vergleicht den Teufel mit einem brüllenden Löwen, der auf seinem Beutezug umherstreift, um zu verschlingen (1Petr. 5, 8). Das heißt: Hier am Kreuz stand der Sohn Gottes in einem totalen Kampf gegen die Mächte der Finsternis und gegen den, der die Macht des Todes hat, den Teufel (Hebräer 2, 14). Hier auf Golgatha ging es darum, dass hier der Same der Frau den Kopf der Schlange zertritt. Es ging um das Gericht an dem Fürsten dieses Kosmos (Johannes 16, 11). Es ging darum, dass Jesus Christus in seinem Sterben und Tod die Werke des Teufels vernichtete (1. Johannes 3, 8). Wenn wir das einmal verstanden haben, dann begreifen wir den Ausruf Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? besser. Es ging hier nicht um ein "Gefühl" des Verlassenseins, sondern um das totale Gottesgericht an seinem Sohn. Am Kreuz von Golgatha machte der heilige Gott den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde, auf dass wir die Gerechtigkeit Gottes werden (2Kor. 5, 21). Dort durchlitt Jesus Christus die totale, die absolute Gottesferne. Er durchlitt sie in einer Weise, die wir Geschöpfe überhaupt nicht aushalten könnten. Und schon von daher ist es gar nicht möglich, die Dimensionen der Passion Christi etwa in einem Film abzubilden, wie es Mel Gibson in The passion of Jesus Christ versuchte. Was uns Psalm 22 lehrt, ist, dass es zwar bis zu einem gewissen Grad auch bei uns Leiden gibt, die wir in diesem Psalm wiederfinden. Aber in seiner Gesamtheit passt das, was hier geschrieben steht, auf keinen Menschen. Psalm 22 verweist prophetisch auf Christi Kreuzesleiden. Christi Leiden am Kreuz sind unvergleichlich. 2. Das Kreuzesleiden steht im Horizont des Triumphes Christi über den Tod Aber das ist nicht alles, was uns der Psalm 22 sagt. Psalm 22 ist eben keineswegs nur ein Leidenspsalm. Es handelt sich auch um einen Psalm des Triumphes. Übrigens hat die Schriftkritik daraus die Folgerung gezogen, dass hier zwei Psalmen ineinandergeschoben worden seien. Aber das ist Unsinn. Lesen wir noch einmal aus Psalm 22 die Verse 22 und 23: Errette mich aus dem Rachen des Löwen. Und dann gleich darauf: Ja, du hast mich erhört und gerettet von den Hörnern der Büffel, so will ich meinen Brüdern deinen Namen verkündigen, inmitten der Gemeinde will ich dich loben. Was für ein Einschnitt! Was für ein Wechsel: von der Bitte um Rettung aus dem Rachen des Löwen hin zum Loben Gottes für sein Werk und der Proklamation des Sieges. Wenn wir die Frage stellen, warum Jesus Christus trotz des an ihm am Kreuz von Golgatha vollzogenen totalen Gerichts der Gottesferne nicht ohne Trost war, dann deswegen, weil Jesu Christus auch in dem totalen Zorngericht Gott als seinen Vater kannte. Ich lese dazu noch einmal Psalm 22, 3: Mein Gott, ich rufe bei Tag und du antwortest nicht und auch bei Nacht und ich habe keine Ruhe. Doch dann heißt es weiter: Aber du bist heilig (Psalm 22, 4). Selbst in der trostlosesten Lage wirft Sohn Gottes sein Vertrauen nicht weg, sondern bekennt dem Vater: Aber du... Hören wir noch einmal auf das Ende dieses sogenannten Leidenspsalms. Ich beginne bei Vers 23: So will ich meinen Brüdern deinen Namen verkündigen; inmitten der Gemeinde will ich dich loben! Die ihr den Herrn fürchtet, lobt ihn! Ihr alle vom Samen Jakobs, ehrt ihn; und scheue dich vor ihm, du ganzer Same Israels! Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut das Elend des Armen, und hat sein Angesicht nicht vor ihm verborgen, und als er zu ihm schrie, erhörte er ihn. Von dir soll mein Loblied handeln in der großen Gemeinde; ich will meine Gelübde erfüllen vor denen, die ihn fürchten! Die Elenden sollen essen und satt werden; die den Herrn suchen, werden ihn loben; euer Herz soll ewiglich leben! Daran werden gedenken und zum Herrn umkehren alle Enden der Erde, und vor dir werden anbeten alle Geschlechter der Heiden. Denn das Königreich gehört dem Herrn, und er ist Herrscher über die Nationen. Es werden essen und anbeten alle Großen der Erde; vor ihm werden ihre Knie beugen alle, die in den Staub hinabfahren, und wer seine Seele nicht lebendig erhalten kann. Ein Same wird ihm dienen, wird dem Herrn als Geschlecht zugezählt werden. Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkündigen dem Volk, das geboren wird, dass er es vollbracht hat (Psalm 22, 23-32). Ohne diesen jubelnden Triumph, ohne diesen Lobpreis Gottes wäre Golgatha nicht vollständig. Dann wäre Karfreitag ein abgrundtiefes, finsteres Loch, so wie dieser Tag vielfach auch verstanden worden ist. Aber zum Karfreitag gehört keineswegs nur das Klagen, sondern auch das Loben. In dieses Lob dürfen wir einstimmen. Wie heißt es in unserer Abendmahlsliturgie? "Er [Christus]wurde unschuldig zum Tod verurteilt, damit wir vor dem Gericht Gottes freigesprochen werden. Er ließ seinen gesegneten Leib an das Kreuz nageln, damit die Anklageschrift, die gegen uns verfasst worden war, weggenommen ist. Er ließ sie ans Kreuz nageln. Durch dies alles hat er den Fluch, der auf uns lag, auf sich genommen, um uns mit seinem Segen zu erfüllen. Ja, bis zur allertiefsten Verworfenheit und Angst der Hölle hat er sich mit Leib und Seele am Kreuz erniedrigt, als er mit lauter Stimme ausrief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, damit wir von Gott angenommen und niemals von ihm verlassen werden." In seinen unsagbaren Leiden am Kreuz jubelt der Sohn, weil er die Frucht seiner Todesleiden kennt, und von der Herrlichkeit weiß, die ihn erwartet. Das Kreuzesleiden steht von Anfang an im Horizont des Sieges Christi über den Tod. Und damit komme ich zum dritten Punkt der Wortverkündigung: 3. Der Triumph Christi am Kreuz hat Konsequenzen für unsere eigenen Leiden Was heißt das alles nun für uns, also praktisch? Zum einen können wir heute nach Hause gehen in dem Wissen, dass das Kreuz von Golgatha nicht die Ohnmacht Gottes zeigt, sondern seine Allmacht. Dort am Kreuz hat sich Christus dem Teufel, dem Fürsten der Finsternis, dem der die Macht des Todes hat, ausgeliefert. Aber gerade in seinem Sterben und in seinem Tod hat er den Tod verschlungen in den Sieg. Am Kreuz hat Christus gelitten. Er hat dort in einer Weise gelitten, wie es uns Menschen überhaupt nicht möglich wäre: in dem totalen Getrenntsein von Gott, in der absoluten Gottesferne. Aber Christus hat dies erlitten im Wissen, dass er dadurch dem Teufel die Macht nimmt, dass sein Opfertod vom Vater angenommen werden wird und aus seinem Sterben viel Frucht erwächst. Das heute am Karfreitag zu wissen ist gut und notwendig. Aber es geht um mehr als lediglich um das zur Kenntnisnehmen von Sachverhalten. Es geht um Trost. Denn das Evangelium ist nicht in erster Linie ein interessantes, logisches Gedankengebäude, sondern es ist für den, der glaubt, eine Kraft, die seinen Alltag bestimmt. Du liegst auf der Intensivstation, angeschlossen an einen Haufen von Schläuchen und Kabeln, die zu irgendwelchen Instrumenten oder Apparaten führen. Du hast Schmerzen. Dich plagt ein fürchterlicher Brechreiz. Dann rückt der Zeitpunkt der Operation näher. Du weißt: Es wird eine schwere Operation. Du hast Angst: Was ist, wenn ich nicht aus der Narkose aufwache? Der Pfleger/die Krankenschwester kommt und macht dich fertig. Du bekommst einen grünen Kittel umgehängt. Dann wirst du in den Raum vor den OP-Saal gekarrt. Du weißt: Gleich kommt der Anästhesist und verpasst dir eine Injektion, sodass du dann hinwegdämmerst. Vielleicht ziehen noch einige für dich entscheidende Momente deines Lebens an dir vorüber. Ein paar Minuten hast du noch. Nutze sie zum Gebet! Wende dich still an den, der viel schlimmer gelitten hat und in einen viel grausameren Tod gegangen ist, als du jemals gehen könntest und der deinen Tod in seinem Tod besiegt hat. Wende dich im Gebet an den Fürsten des Lebens, der dein einziger Trost ist im Leben und im Sterben! Damit ist die Operation nicht weg. Aber du schläfst in wenigen Minuten nicht ungetröstet ein, sondern du weißt dich von Christus gehalten. Ja, du hast Angst. Aber du wendest dich an den, der diese Angst in seinem Sterben und in seinem Tod überwunden hat. Dem vertraust du dein Leben an. Ein anderes Beispiel: Du stehst am Grab eines von dir sehr geliebten Menschen und blickst in die Gruft, in die der Sarg gerade hinabgelassen wird. Es überfällt dich ein tiefer Trennungsschmerz. Im Buch der Sprüche heißt es einmal: Das Herz allein kennt seinen eigenen Kummer (Sprüche 14, 10). Ja, gerade in solchen Situationen kennst nur du deinen tiefen Abschiedsschmerz. Da kommt keine menschliche Nettigkeit oder Freundlichkeit an dich heran. Aber was ist, wenn du dich gerade in diesen Augenblicken im Glauben an Christus klammerst?! Der Apostel Paulus schreibt, dass wir Christen nicht so betrübt sind, wie die übrigen, die keine Hoffnung haben (1. Thessalonicher 4, 13). Ja, auch uns Christen tut der Abschied von einem geliebten Menschen weh. Aber du weißt in deinem Schmerz von dem, der den Tod überwunden hat. Das heißt für uns im Blick auf die kommenden Tage: Ja, auch Christen werden leiden. Aber sie leiden nicht ohne Hoffnung auf die Herrlichkeit. Darum suhlen sie sich nicht in den Stories ärztlicher Diagnosen. Sie sind auch keineswegs der Meinung, dass sie alle Details jedem unterbreiten sollten. Bitte versteht das nicht falsch: Wir beten füreinander, gerade auch in Krankheiten und sicher dann, wenn jemand von uns auf dem Sterbebett liegt. Aber wir tun das in der Gewissheit, dass Jesus Christus in seinem Leiden unsere Leiden auffängt und dass in unserem Sterben er nicht von uns scheidet. Darum ist für einen Christen sein Leiden nicht das Thema Nummer eins. Stattdessen darfst du wissen, dass angesichts der ewigen Herrlichkeit, die wir erwarten, alle Leiden der Jetztzeit "schnell", "vorübergehend" und "leicht" sind (2. Korinther 4, 17). Unsere Leiden sind nicht eine Illusion, wie es fernöstliche Religionen suggerieren. Sie sind real. Aber du darfst sie im Glauben an den gekreuzigten, gestorbenen und in seinem Tod siegreichen Christus überwinden. Denn gerade Psalm 22 verkündet uns, dass Jesus Christus in seinem abgrundtiefen Leiden am Kreuz seinen herrlichsten Triumph gefeiert hat. Ehre sei Gott dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist! Amen. 1 Sure 4,157.158. --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 9 1