Rolf Scheffbuch

Keine falsche Bescheidenheit!

17.08.2003

 

Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und zog fort. Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu. Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern.  

Matthäus 25, 14-30


Liebe Gemeinde!

Nicht ein einziger Christ soll wieder hinaus gestoßen werden müssen in die Finsternis!
D a r u m ging es Jesus – damals.
Uns ist heute diese alte Gleichnis-Erzählung unverzichtbar wichtig, weil kein einziges von uns in die Schrecken einer gottlosen Welt verbannt werden soll, ausgeschlossen vom Heil, von der Erlösung, vom Erbarmen Gottes.

Jesus möchte doch niemanden verlieren!

Jesus möchte niemanden verlieren! - „Ich habe bei den vielen Touren alle wieder mitgebracht, keinen verloren!“, so sagte dankerfüllt, ja geradezu staunend der alte Jugendwerks-Bergführer. Wie verständlich ist solche Dankbarkeit! Weil es alles andere als selbstverständlich ist, dass nicht ein einziges weg gebrochen ist. - Wie gerne würden es viele Eltern und Großeltern sagen können: „Keines ist abgesprungen vom Glauben. Alle sind sie auf dem Weg mit Gott geblieben!“ Es nicht sagen zu können, bleibt bei vielen ein tief sitzender, bohrender Schmerz.

Von Jesus wissen wir: In seinem letzten großen Gebet vor seinem Leiden sagte er aufatmend: „Die du, Vater, mir gegeben hast, die erhielt ich bei dir; ich habe sie bei dir bewahrt. Und keiner von ihnen ist verloren“ – aber dann musste Jesus schmerzerfüllt weiterbeten – „außer dem Sohn des Verderbens“, und er meinte damit den Verräter Judas (vgl. Johannes 17, 9.12. vgl. auch 18, 9) Von ihm wird berichtet: „Als nun Judas den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht“ (Johannes 13, 30). Schrecklich! So wollte doch Jesus niemand von denen verlieren müssen, die doch eigentlich zu ihm gehören! Er will es bis heute nicht! Das ist sogar noch wichtiger, als dass es endlich richtig regnet. Darum wollen wir uns heute dem stellen, was Jesus so am Herzen liegt.

Nicht ein einziges soll zurückfallen müssen in die Nacht unserer Welt. Wie pechrabenschwarz es in ihr aussehen kann, davon berichten sogar die Schriftsteller unserer Tage – und uns stört es noch nicht mal sehr. Wer jedoch selbst drin steckt in den Abgründen der Finsternis, wer hinein gerissen ist in diese Gottverlassenheit, der kann nur noch schreien: „Nein! Nein! Weg damit! Helft mir doch heraus!“ Das miterleben zu müssen, hört sich schlimmer an als Heulen und Zähneklappern. In manchen zeitgenössischen Theaterstücken lässt man aus dem Hintergrund teuflisches Lachen ertönen. Das ist weit grauenerregender noch als Heulen und Zähneklappern. Offenbar ahnen wir Menschen doch mehr, als wir oft zugestehen wollen, von der schrecklichen Wirklichkeit: Hinaus gestoßen in die Finsternis! Davor möchte Jesus jedes einzelne von uns bewahren.

Jesus möchte doch Menschen herausholen aus dem Machtbereich der Finsternis. Dazu hatte ihn der Vater im Himmel beauftragt. Gott hatte ihm klar gemacht: „Verliere doch bitte niemand von denen, die ich dir anvertraut habe“ (vgl. Johannes 6, 39)! Herausgerettete sollen heimisch werden im Machtbereich von Jesus (vgl. Kolosser 1, 13). Dort soll es ihnen wohl sein. Dort sollen sie gerne – ach, was heißt schon „gerne“!? – sie sollen selbstverständlich mit schaffen wollen, Mitverantwortungen übernehmen wollen, es als Vorrecht ansehen, dass sie zu sinnvollen Zielen gebraucht werden.

Die ganzen Jesusberichte in den biblischen Evangelien sind geprägt von dieser lockenden Einladung: „Komm doch zu mir! Komm! Komm! Folge mir nach!“ Das ist der erklärte Wille von Jesus: Jeder darf kommen, jeder soll kommen, es gibt keines, das Jesus abwimmeln wird. Das einladende Werben ist geradezu über-deutlich eindeutig. Es ist so vorherrschend, dass wir - die wir Christen sein wollen – nur zu unserem eigenen Schaden das andere überhören: „Leute, aufgepasst, schließlich gibt es auch „Risiken und Nebenwirkungen“.

Von ihnen wird nun am Schluss des Matthäus-Evangeliums geredet. Am Schluss, nach all dem Schönen über und von Jesus – und bevor dann die Berichte vom Leiden des Jesus beginnen. Drei eindrückliche Warnungen sind es. Viele überlesen sie einfach. Sie haben auch nur einen speziellen Adressatenkreis. Nämlich Leute, die Christen sein möchten. Die Warnungen sind also gemünzt für uns. Sie sind kein Thema für einen „Impulse-Gottesdienst“, auch kein Thema für einen „Gästegottesdienst“. Vielmehr sind sie „Informationen zum ausschließlich internen Dienstgebrauch“!

Der Inhalt des dreifachen Nachtrages lautet: Seid bloß richtig bereit, mit Jesus zu rechnen, so wie die fünf klugen Brautjungfern mit dem Kommen des Bräutigams rechneten; sonst ist alles Eingeladensein zu ihm umsonst! Und: Vergesst doch bloß nicht, Barmherzigkeit so weiterzugeben, wie ihr sie auch empfangen habt! Und hier in dem Bibelabschnitt für heute geht es im Nachtrag um den Weckruf: Bloß eine falsche Bescheidenheit! Sonst verspielst du all die herrlichen Vorrechte der Gemeinschaft mit Jesus! Sonst koppelst du dich von Jesus ab! Sonst katapultierst du dich selbst zurück in die Finsternis!

Das ist es, was Jesus uns wissen lassen muss; denn er möchte doch niemanden von uns verlieren!

Bloß keine falsche Bescheidenheit!

Jesus erzählt ja vor allem von einem bescheidenen Menschen. Zwar hat auch er ein Kapital bekommen; aber eben „zu treuen Händen“, zum Verwalten. Mit „Zentner“ übersetzte Luther, was auch „Talente“ heißen könnte. Aha! Die Verständnisbrücke vom Gleichnis zur Wirklichkeit ist rasch geschlagen.

Dieser Bescheidene hat sich nicht beschwert, dass die anderen mehr als er anvertraut bekommen haben. Er hat ja auch geistliche Gaben bekommen. Ich fantasiere: Er hat eine fromme Großmutter bekommen, einen tröstlichen Konfirmationsspruch, gute Erinnerungen an die Freizeiten mit der Evangelischen Jugendarbeit, eine wunderbare Bewahrung damals bei der Massenkarambolage, nicht wenige Predigten, die ihm „wirklich etwas gegeben haben“, eine Heimat in einem Hauskreis, die hilft, dass er nicht ganz „abhängt“. Die Erinnerung an die Großmutter ist ihm wert, den Konfirmationsspruch sagt er sich immer wieder vor, die beinahe vergilbten Fotos von den Freizeiten haben in seinen Alben einen guten Platz, wenn er der Schramme am Handgelenk gewahr wird, die er von dem Unfall davongetragen hat, dann spricht er immer wieder so etwas wie ein dankerfülltes Stoßgebet, auf die Gottesdienste freut er sich, weil doch auch die Freunde vom Hauskreis mit ihm rechnen („wo ist er denn?“).

Faul, aber nein, das ist er nicht! Er hat dies alles rechtschaffen „versorgt“, sorgfältig und verantwortlich „gesichert“ – wie einen wichtigen Textbestand im Computer, der nicht „abstürzen“ darf. Es mag ja sonst im Leben durchaus eine Gefahr sein, dass man in allen Bereichen immer lauer wird, dass man die Zügel hängen lässt. Aber nein, dieser Mensch (den Jesus uns so vor Augen malt, dass wir ihn richtig anschaulich uns vorstellen können) möchte nichts von dem missen, nichts von dem verlieren, was ihm anvertraut wurde an wertvollem Religiösen. Er macht keine Rückschritte. Aber er ist so bescheiden, wie eigentlich nur ein Schwabe bescheiden sein kann. Er spielt sich nie in den Vordergrund. Er macht vielmehr Platz, dass andere nach vorne können.

Denn von dem allem – von der eindrücklichen frommen Oma und von der Bewahrung auf der Autobahn - anderen erzählen und sie damit zum Aufmerken auf Gott reizen, o nein! Das kann ich nicht! Da bleibt mir die Spucke weg! Wie sehe ich denn da aus! Den tröstlichen Konfirmationsspruch auch einmal einem Kranken in einem Brief oder Telefonanruf zusprechen, zum Hauskreis auch die neu zugezogenen Nachbarn einladen und mitnehmen, in einem Sonntagsbrief auch wichtige Gedanken aus der Predigt weitergeben – o nein! Das kann ich nicht! Wer bin denn ich!? Da gibt’s doch genug andere, die können das viel besser! Ach du lieber Gott! Dem großen Gott kann ich doch höchstens im Wege stehen, seine Sache kann ich doch höchstens so belasten, dass er mit mir blamiert ist.

„Ich fürchtete mich“, so ließ Jesus den kleinen Mann sagen. Der große Gott kann doch „ernten, wo er nicht gesät hat, der sammelt, wo er nicht ausgestreut hat“. „Licht im Osten“ hatte sich Jahrzehnte lang gemüht, ein bisschen Evangelium hinter den Eisernen Vorhang zu bringen. Aber dann hat Gott den Gorbatschow dazu benützt, dass in der weiten ehemaligen marxistischen Welt niemand mehr auf Schmuggelbibeln angewiesen sein muss. Wo ein fanatischer Islam die Christengemeindlein in Indonesien schrecken und auslöschen will, da benützt Gott diese Notlage, um „sein Kapital draus zu schlagen“. Dieser Gott braucht doch nicht mich kleines Würstchen!

Das klingt so demütig, so bescheiden, dieses „ich bin nichts, ich kann nichts!“ Es ist ja auch nicht alles dumm oder falsch, was sich dieses bescheidene Menschenkind zurecht gelegt hat. Aber es ist eine falsche Bescheidenheit. „Der Herr sprach: Du böser und fauler Knecht!“

Im Machtbereich von Jesus sollen wir doch n i c h t d a s losmachen, was wir als unsere eigenen Stärken ansehen. Vielmehr sollen wir das unter die Leute bringen, was Jesus an Talenten anvertraut hat: an Erkenntnissen, an Bewahrungen, an Eindrücken, an menschlichen Vorbildern (an deren Vorbild man sich selbst entlang hangeln konnte), an überzeugenden Beispielen und Formulierungen (das war früher der Sinn von Bibelwochen und von Evangelisationen, dass Menschen „Stoff“ bekommen sollten zum Weitergeben in Familie und Freundeskreis, das war der Sinn von Freizeiten, dass man etwas berichten und dabei Geistliches mit einpacken konnte), an Begegnungen mit Menschen, die von Gott überzeugend geprägt waren. Das soll Zinsen tragen! Was Gott uns anvertraut, das ist - auch wenn es durchaus weniger sein sollte als bei den scheinbar großen und wortgewandten Könnern – kapitalträchtig, versehen mit den zuverlässigsten Wachstumsprognosen Gottes. S e i n e Talente haben es „in sich“! Sie sind auch wirklich mehr wert, als wir ahnen (ein Zentner, ein Talent, von dem Jesus sprach, entsprach im Wert mehreren Jahresgehältern). Wir brauchen keine Angst haben, uns damit zu blamieren.

Es ist nicht „im Sinn des Erfinders“, wenn Christen d i e Talente nicht schaffen lassen, die Christus ihnen anvertraut hat. Christen stehen Christus im Wege, sie hindern ihn, wenn sie diese anvertrauten Werte dem Wachstum aussetzen. Darum muss Jesus dann auf sie verzichten. Er kann es nicht dulden, dass mit seinen Gaben so umgegangen wird. Er kann es nicht mit ansehen, wie das „totes Kapital“ bleibt, was anderen Menschen Leben bringen sollte.

Die Apostel des Christus Jesus haben diesen ernsten Ton aufgenommen, der uns – vielleicht – befremdlich und unpassend vorkommen mag. „Nicht die Gnade Gottes wegwerfen“ (vgl. Galater 2, 21)! „Schaffet, dass ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“, gerade weil gilt, „dass Gott in euch wirkt.“
(vgl. Philipper 2, 12f)! „Weil wir wissen, dass der Herr zu fürchten ist, suchen wir Menschen zu gewinnen“ (2. Könige 5, 11)! Wir dürfen uns doch wirklich „um Gottes Willen“ nicht an eine Soft-Christlichkeit gewöhnen.

Es war am Ende meines Theologiestudiums. Ich war voll getankt mit Erkenntnissen, voll gepumpt mit theoretischem Wissen. Zuhause lag nach langem Krebsleiden die schwer geprüfte Großmutter mit ihrem zerfressenen Gesicht. Als ich an ihr Bett trat, streckte sie mir die gefalteten Hände entgegen, wie eine Bitte: „Bete mit mir, bete für mich!“ Mir aber war der Mund verschlossen. Kein Gebetssatz war abrufbar, keine der vielen einst auswendig gelernten Liedzeilen. Schrecklich, unvorstellbar schrecklich! Seit jenem Augenblick weiß ich: Es kann die ganze Quintessenz meiner Frömmigkeit null und nichtig sein! Unbrauchbar. Gesperrtes Konto.

So soll keines von uns dastehen müssen, wenn Jesus Rechenschaft von uns fordert. Erst recht will es Jesus nicht, dass er auch nur eines von uns Kleinen verlieren muss. Darum hat er uns heute diesen Ernst zugemutet. Er möchte doch, dass er einmal über uns Kleinen sagen kann: „Recht so, du Tüchtige und du Treuer, du bist über wenigem treu gewesen, gehe ein zu deines Herrn Freude!“
Das wollen wir nicht verspielen, - ja?
Ja, Amen.