Siegfried Kettling, Unterweissach

5. Juni 1980

24. Ludwig-Hofacker-Konferenz

Wachet

 

(Markus 13, 33-37)

 

Wachen und Schlafen – zwei Bilder

 

„Aufwachen! Aufwachen!“ Zwei kräftige Jüngerhände rütteln verzweifelt an der Schulter des Meisters. „Aufwachen!“ Unbegreiflich, wie er jetzt schlafen kann, jetzt, wo ringsum die Hölle los ist, wo der Sturm den See aufwühlt, dass er brodelt wie kochendes Wasser, sich aufbäumt wie ein Ungeheuer, das mit tausend gierigen Mäulern nach dem Boot schnappt. „Aufwachen! Herr, hilf uns, wir verderben!“ Endlich bewegt sich der Meister. Erleichtert atmet der Jünger auf. Da blicken zwei verwunderte Augen ihn und die elf übrigen an. Verwundert klingt auch die Stimme: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Gibt es denn auch nur den geringsten Grund dazu?“' – Das erste Bild: Die Jünger schreien, doch Jesus schläft.

„Aufwachen!“ Die Hand des Meisters packt den Petrus bei der Schulter: „Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Wie aus weiter Ferne klingt die Frage an des Jüngers Ohr. Noch einmal: „Aufwachen!“ Brummend wälzt sich Petrus auf die andere Seite. Still ist der Garten, lau die Nacht. Schlafen will er, träumen. „Aufwachen!“ ertönt des Meisters Stimme ein drittes Mal. Vergeblich! Die Jünger liegen wie betäubt, wie berauscht oder narkotisiert. Da macht sich der Meister allein auf den Weg. Einsam tritt er in den Gebetskampf ein, der so heiß ist, dass der Schweiß seinen Körper hinabrinnt wie Blut. Laut – schreiend fast – hallt Jesu Stimme durch die Nacht: „ Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch vorüber!“ – Das zweite Bild: Jesus schreit doch die Jünger schlafen.

Zwei Bilder. Ein seltsamer Widerspruch. Wenn wir Menschen auch wir Jünger, wir Christen – vor Entsetzen schreien, dann hält Jesus die Lage für gänzlich harmlos, schließt die Augen, gibt das Signal zur Entwarnung.

Und umgekehrt: Wenn wir uns seelenruhig die Schlafmütze über die Ohren ziehen möchten, ist für Jesus höchste Alarmstufe geboten. Seltsamer Widerspruch!

 

„Ruhet ein wenig …“

 

„Wachet!“ heißt mein Thema. Fanfarenstoß, Weckerrasseln, Sirenengeheul soll es sein. Doch zunächst möchte ich wie Jesus das Signal zur Entwarnung geben, möchte nachsprechen, was Jesus seinen schreienden Jüngern deutlich macht: „Schlafen dürft ihr, Christenleute, schlafen!“ Das meine ich wörtlich, buchstäblich. Wie viele Christen mögen unter uns sein, die des Nachts nur mit Baldrian oder Barbitursäure, mit Valium oder Eusedon, mit Schlaftabletten oder tropfen zur Ruhe kommen. „Das sind meine überreizten Nerven“, sagen wir. Sind unsere Nerven nicht tatsächlich gespannt bis zum Zerreißen? „Denk' ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine. Denk ich an die Weltlage, politisch und moralisch, denk ich an Afghanistan und den Iran, die Ost-West-Spannung, den Nord-Süd-Konflikt, denk ich an Rüstungswettlauf und Energieverknappung, an wachsenden Drogenmissbrauch und schwindenden Glauben, denke ich an Kinder, gar an Enkelkinder … „Denk' ich an morgen in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Hören wir nicht schon den Donner des Weltuntergangs, das Galoppieren der apokalyptischen Reiter? Ist nicht die Hölle los ringsum? Schreien möchten wir: „Herr, hilf uns, wir verderben!“

Doch Jesus schaut uns verwundert an: „Schlaft!“ antwortet er, „ruhet ein wenig (Markus 6, 31). Ihr Kleingläubigen, habt ihr es vergessen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Vertraut mir! Hört: der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht (Psalm 121, 4). Gerade deswegen dürft ihr euch entspannen. Schlaft!“ – In der Tat: Man kann Gott auch durch einen guten Schlaf loben. Ein ruhiger Christenschlaf mitten im Toben der Welt ist ein Glaubenssignal für eine neurotisch werdende Menschheit – und wenn darüber die Welt unterginge? Nun, dann geht das Reich Gottes auf! Dann kommt Jesus, unser Herr, und der ist – wie Blumhardt sagte – nicht der Kaputtmacher, sondern der Neumacher. Noch einmal Blumhardts fröhliche Gelassenheit: „Es muss doch alles gut werden, weil Jesus auferstanden ist.“ „Wer an Ostern glaubt, der kann – in ganz unsicherer Zeit – Kinder kriegen!“, rief Heinrich Giesen einmal aus. Wir fügen hinzu: Wer an Ostern glaubt, kann im Toben der Hölle behütet schlafen. In unser Angstgeschrei tönt Jesu Entwarnungssignal: „Schlaft!“ Schlaft in Gottes Namen; Er wacht!

„Schlaft!“, das ist die Botschaft von der Sturmstillung. Dazu aber gehört die Botschaft von Gethsemane: „Wachet und betet!“ Beides gehört zusammen: Wer geistlich wach sein will, sollte körperlich gut ausgeschlafen haben!

 

Wachet!“

 

(1) Aufwachen! Das ist ein Fanfarenstoß für Tote!

 

Im Epheserbrief stimmt Paulus ein urchristliches Lied an: „ Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten!“ (Epheser 5, 15). Das ist Erweckungsmusik! Steh auf von den Toten! – Ob es hier unter uns Tote gibt? Unsinn! Die Toten liegen doch irgendwo draußen, draußen auf den Friedhöfen! Wir hier drinnen, wir atmen, singen, denken; Herz und Lunge arbeiten, also leben wir doch! – Die Bibel ist da kritischer: „Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht!“ (1. Johannes 5, 12). Wer keinen Kontakt zu Jesus hat – keinen Glaubenskontakt, keinen Gebetskontakt, der ist bei blühender Gesundheit, bei voller Vitalität, bei bester Kondition in Gottes Augen eine Leiche, ist tot trotz allem „Trimm-Dich-fit“! Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht!“ Seltsam, nun gerät die Grenze zwischen Lebenden und Toten in gefährliche Bewegung. Im Zickzackkurs läuft sie durch diese Halle. „Leben Sie schon?“, heißt die indiskrete Frage an jeden. „Leben Sie schon oder sind Sie noch tot?“ Mitten in unsere Versammlung schallt der Weckruf Jesu: „Wache, stehe auf von den Toten!'„ Kann man so etwas einem Toten befehlen? Kann man einem Tauben sagen: Hör zu!, einem Blinden: Sieh her!, einem Lahmen: Los, beweg dich!, – einem Toten: Steh auf!? – Nein, das kann man nicht. Als Kind habe ich meinen verstorbenen Großvater angerührt und angesprochen. Aber da regte sich nichts. Tot ist tot! Tote auferwecken, geistliche Leichen ins Leben rufen, das kann man nicht. Sie nicht und ich nicht. Aber Er – Er kann's! Wenn Jesus ruft, dann vibriert in seiner Stimme die Schöpfermacht Gottes. Seine Befehle suchen die Energie nicht bei uns (wo wäre sie bei einem Toten zu finden?); Sie bringen Gottes Energie mit: „Lazarus, komm heraus!“, hieß es in Bethanien; „Jüngling ich sage dir, steh auf!“, klang es in Nain; „Talitha kumi – Mädchen aufstehen!“, schallte es bei der Tochter des Jairus. Und alle wachten auf! Er spricht, und es geschieht: Tote stehen auf! In diesem Augenblick will Jesus vor jemand hintreten, der vielleicht nur aus Neugier oder den Eltern zuliebe hierher kam, will ihm persönlich in die Ohren und ins Herz rufen: „Aufwachen! Steh auf von den Toten! Leben sollst Du!“' Heute können in dieser Halle Tote zu Lebenden werden. – Aufwachen, das ist ein Fanfarenstoß für Tote.

 

(2) Aufwachen! Das ist ein Weckerrasseln für Träge!

 

Im Sendschreiben an die Gemeinde in Sardes heißt es: „Wache auf und stärke das übrige, das sterben will!“ (Offenbarung 3, 2). Da sind also wir Christen gemeint. Einmal wurden wir von Jesus wachgerüttelt, erlebten „Erweckung“, aber heute (5 oder 25 Jahre später) ziehen wir uns die Decke über die Ohren. Ein kleines Nickerchen natürlich nur, aber daraus wird ein sanfter Schlummer, aus dem Schlummer ein Tiefschlaf wie unter Narkose; der Tiefschlaf aber gleitet über in den Tod. „Aufwachen!“ – Da steht ein Soldat in sibirischer Kälte Wache. Hundemüde ist er, die Glieder werden wie Blei, die Augen wollen ihm zufallen. Aber er weiß: Einschlafen heißt Erfrieren. Da pflanzt er auf sein Gewehr das Bajonett und montiert das ganze zwei Zentimeter unter sein Kinn. Sinkt jetzt der Kopf herab, versetzt ihm die Stahlspitze einen unsanften Stich. – „Aufwachen!“ Der Teufel geht eben nicht nur umher wie ein brüllender Löwe, sondern ebenso gern wie ein sanftes Schmeichelkätzchen mit frommem Augenaufschlag. „Nur selig!“ haben die Väter gesagt. Das war als Weckruf gemeint, das forderte ganze Konzentration. „Und wenn sie mich verlachen, mir die Karriere verbauen … Eins ist not! Nur selig! Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib; lass fahren dahin …“ Nur selig! Das war ein gutes Weckmittel, wirkte besser als Bohnenkaffee und Hallo-wach. Und doch kann dies „Nur selig“ als Schlafpulver missbraucht werden: „Nur selig! Selig werde ich doch allein aus Gnaden. Werke sind eher schädlich dazu. Er allein tut's … Ihn, ihn lass tun und walten … Ich will die Augen schließen und glauben blind …“ So wird die Gnade zur Beruhigungspille, so beginnt der „Kirchenschlaf“. Dabei schlafen wir nicht nur (wie man sagt) ein Loch in den Tag; wir stehlen dem „lieben Gott“ den Tag. – „Aufwachen!“ Gewiss, die Gnade allein! Aber diese Gnade macht lebendig, stellt ans Werk. Wir sind Gottes Mitarbeiter, nicht Gottes „Pennbrüder“! Wissen Sie, was für Paulus der schrecklichste Gedanke war? Er könnte am Ende „nur“ selig werden! Alles, was er gearbeitet, zusammengetragen, aufgebaut, an Kraft investiert hatte – sein ganzes Lebenswerk könnte im Feuer des Jüngsten Gerichts verbrennen wie Stroh und Stoppeln. Gewiss, er würde selig werden, herausgerissen aus dem Feuer, den Brandgeruch in Kleidern und Haaren (1. Korinther 3, 11-15). Selig gewiss, aber eben „nur“ selig: Das ganze Leben vertan, keine Frucht für Gottes Reich, nichts Bleibendes, keine Menschen, die Gott dafür danken, dass sie Glaubenshilfe durch uns bekamen. Schreckliches Wort: „Nur selig!“ – So wird aus dem Weckruf ein Alibi für Faulpelze und Langschläfer, ein Pulver für falsche Bescheidenheit, tödliches Opium. „Aufwachen!“ Wirket, solange es Tag ist! Wie viel Lebensjahre uns noch zur Verfügung stehen, Ihnen und mir? „Auf, denn die Nacht wird kommen, da man nicht mehr kann.“ Das ist Erweckungsmusik, ist Weckerrasseln für Träge!

 

(3) Aufwachen! Das ist Sirenengeheul für Träumer!

 

„Jetzt fliege ich“, schwärmt der Träumer – und fällt unsanft aus dem Bett. „Wie herrlich ich schwebe“, lallt der Betrunkene – und stolpert über die eigenen Beine. Träumer und Trunkene leben in einer Scheinwelt. – „Aufwachen!“ Nüchtern werden! Lasst die bunten Seifenblasen Eurer Fantasie platzen! Werde Realisten! Wer ist ein Realist? Jeder, der wie die ersten Christen ruft: Maranatha, unser Herr, komm! Unsere Welt ist voll von Traum und Rausch. Die einen ergötzen sich an Weltfrühlingsträumen: „Die Welt wird besser mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag …“ Zauberpillen mit seltsamen Namen sollen ins Zauberland Zukunft führen: Weltrevolution, transzendentale Meditation, makrobiotische Naturdüngung … Neue Welt ohne Jesus? Das ist Traum. „Aufwachen!“ – Andere – auch manche frommen Leute – zittern in Angstträumen vor Weltkatastrophen. Nach dem Muster der „Zeugen Jehovas“ kombinieren sie wild Bibelstellen aus Daniel und Markus, aus Hesekiel und der Johannesoffenbarung zu einem fantastischen Einheitspuzzle; sie puzzeln und puzzeln und vergessen dabei den lebendigen Herrn. „Aufwachen!“ Heraus aus den bunten Wunschträumen, heraus aus den grauen Alpträumen. Seid wachsam und nüchtern!

Ein paar probate „Wachmacher“ möchte ich Ihnen empfehlen. Keine neuen Wunderdrogen, sondern solide Hausmittel aus Gottes Apotheke:

 

Aufwachen heißt: die Bibel lesen!

 

Da lernt eine Pfarrfrau sämtliche Verse des Humoristen W. Busch auswendig – für die Fernsehsendung „Alles oder nichts“. Mir imponiert das. Aber ich frage: Wie viele Bibelstellen haben wir im Gedächtnis? Nur was als Schatz tief im Unbewussten gehortet liegt, kann der Heilige Geist im richtigen Augenblick aktiv und lebendig machen, vielleicht bei der Berufswahl, vielleicht in der Sterbestunde.

 

Aufwachen heißt: Fürbitte praktizieren!

 

Soweit meine Fürbitte reicht, soweit geht meine Liebe; soweit meine Liebe reicht, soweit geht meine Fürbitte. Ertappen Sie sich auch dabei, dass Sie die Geiseln in Teheran längst vergessen haben oder den Angefochtenen, der uns bat: Denk an mich!? Wo sind die Familien, die nach der „Tagesschau“ die Hände falten zu konkreter, zu weltweiter Fürbitte?

 

Aufwachen heißt: den Mund regen zum Zeugnis, die Hand zu helfenden Tat!

 

Haben Sie das rechte Wort parat für das Gespräch mit dem todkranken Nachbarn oder den rebellischen Teenager? Können Sie depressiven Menschen Mut machen? Erst wenn wir den Mund öffnen und die Hand reichen, entdecken wir unsere Armut. Und gerade die hält wach, die treibt uns zu Jesus, die lässt uns rufen: Herr, erbarme dich!

Aufwachen – Fanfarenstoß für Tote: Heute dürfen Sie leben!

Aufwachen – Weckerrasseln für Träge: Gott sucht Mitarbeiter!

Aufwachen – Sirenengeheul für Träumer: Werdet Realisten!

„Siehe, ich komme bald“, sagt unser Herr (Offenbarung 3, 11; Offenbarung 22, 7) und „Was ich euch sage, das sage ich allen: Wachet!“ (Markus 13, 37)