Wilhelm Busch

Aaron zwischen den Toten und Lebendigen

 

„Und Aaron stand zwischen den Toten und Lebendigen. Da ward der Plage gewehrt."                                  4. Mose 16, 48

 

Vor kurzem sah ich in einer Zeitung ein Bild: Treibeis auf dem Main bei Frankfurt. Dies Bild hat Jugenderinnerungen in mir geweckt: Wie manches Mal bin ich zu spät zur Schule gekommen, wenn der Main Treibeis führte! Dann stellte ich mich gern über einen der starken Brückenpfeiler. Und nun kamen die Eisschollen in dichtem Gewimmel heran, als wollten sie den Pfeiler überfahren. Aber der stand fest. Und an ihm schieden sich die Schollen. Das wurde mir zu einem Gleichnis für das Kreuz Christi. Das steht wie so ein Pfeiler in der Menschenwelt. Die Menschen wollen es überrennen. Aber es steht fest. Und es scheidet die Menschen. Am Kreuz Jesu scheiden sich die Geister.

 

 

Das Kreuz – die große Scheidung

 

1. Das Kreuz steht zwischen Mensch und Mensch

Mit starker Hand hat der Herr Israel aus Ägypten erlöst. Und nun zieht das Volk durch die Wüste nach Kanaan. Es geht durch tausend Nöte und Gefahren. Aber — das ist das Herrliche dabei — der Herr selbst zieht mit „des Tages in einer Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule". Der Herr selbst sorgt für Sein Volk. Er „trägt es auf Adlerflügeln".

Wie wunderbar hätte diese Zeit sein können, wenn das Menschen­herz nicht so verkehrt wäre! Israel widerstrebt dauernd seinem Gott. Und so wird diese Wanderung eine trübe Zeit. O wie oft hat Gott Wohltat und Segen für uns bereit! Und wir ver­derben sie uns selbst durch unsre Verkehrtheit.

Da war ein Mann namens Korah. Der machte einen Aufruhr gegen den Hohenpriester Aaron. Er griff damit die ganze göttliche Heils­institution an. Aber „Gott lässt sich nicht spotten". Die Erde tat ihren Mund auf und riss den Korah mit seiner Rotte von 250 Mann hinab. Ganz Israel floh entsetzt: „...dass uns die Erde nicht auch ver­schlinge."

Aber am nächsten Morgen ist der Schreck verflogen. Und nun rottet sich alles Volk zusammen gegen Mose und Aaron: „Ihr habt des Herrn Volk getötet."

Die beiden Angegriffenen tun das, wozu sie in solchen Fällen immer ihre Zuflucht nehmen: Sie suchen Gottes Angesicht. Da sagt der Herr: „Hebt euch aus dieser Gemeinde, ich will sie plötzlich vertil­gen!" Erschrocken fallen die beiden nieder. Aber Mose, „der ein schnelles geistliches Auffassungsvermögen hat" (Spurgeon), fühlt, dass Gottes Gericht schon begonnen hat. Und so ist es. An den Gren­zen des Lagers beginnt das Sterben. Da rafft sich Mose auf und ruft dem Aaron zu: „Schnell! Nimm dein Räuchergefäß und versöhne die Gemeinde. Eile! Es gilt ihr Leben!"

Und nun läuft der ehrwürdige Hohepriester mit dem dampfenden Räucherfass. Er denkt nicht daran, was das Volk ihm Böses antat. 14700 sind schon gefallen vom Zorne Gottes. Da tritt Aaron auf die Todeslinie. Er schwingt sein Räucherfass. Versöhnend steht er auf der Grenze zwischen Toten und noch Lebendigen. „Da ward der Plage gewehrt."

So steht der große Hohepriester Jesus in der Menschenwelt. Er hat ein besseres Versöhnungsopfer als Aarons Räucherwerk: Sein eige­nes Blut, das Er am Kreuze vergießt.

Seht den Aaron an: Er ist eine seltsame Grenze geworden zwischen Mensch und Mensch. Es gab Familien, wo die Eltern diesseits, die Kinder jenseits von Aaron standen. Nun waren sie endgültig ge­schieden. Da waren Zeltkameraden. Nun gehörte der eine auf diese Seite, der andere auf jene Seite Aarons. Der Hohepriester trennte sie endgültig.

Das ist ein Bild für das Kreuz Christi: Es ist die große Scheidung zwischen Mensch und Mensch. Und es ist die große Frage unseres Lebens: Auf welcher Seite des versöhnenden Hohenpriesters stehe ich?

 

2. Das Kreuz ist die Grenze des Zornes Gottes

In einem modernen Roman las ich einen Satz, den man so oder ähn­lich heute oft hören kann: „Sie wussten, dass es keinen Gott gab, der ihr Leben nach Gut und Böse abwägte."

Ich weiß es anders. Ich weiß, dass „Gottes Zorn entbrennt über alle Ungerechtigkeit der Menschen". Und zwar weiß ich das aus dem Worte Gottes, das sicher besser Auskunft gibt als irgend so ein moderner Phantast.

Gottes Zorn! Der ist schrecklich. Ja, der ist schrecklich! Haben wir Grund, ihn zu fürchten? Ich meine: Ja!

Es war Mitte März im Jahre 1522, als Luther die schützende Wart­burg verließ und nach Wittenberg zurückkehrte, um der eingerisse­nen Verwirrung zu wehren. Er tat dies, indem er nach dem Sonntag Invokavit eine Woche lang seine berühmt gewordenen Invokavit-Predigten hielt. Die erste begann er so: „Wir sind allesamt zum Tode gefordert, und muss ein jeglicher für sich selbst sterben; ich werde dann nicht bei dir sein, noch du bei mir; in die Ohren können wir einander wohl schreien; aber es muss ein jeglicher für sich auf die Schanze treten..." Auf die Schanze vor das Angesicht des heiligen Gottes. Kannst du das? Bist du vor Ihm gerecht?

Ich kann es nicht. Ich muss Seinen Zorn fürchten. Und ich fürchte ihn gewaltig.

Und darum ist mir die Textgeschichte so wichtig. Da entbrennt Got­tes Zorn. Aber auf einmal findet er eine Grenze. „Da ward der Plage gewehrt." Diese Grenze des Zornes Gottes ist der versöhnende Hohe­priester.

Welch eine Bedeutung bekommt der versöhnende Hohepriester Jesus! Welch eine Bedeutung bekommt Sein Kreuz! Es ist die Grenze des Zornes Gottes.

Was nicht unter Aarons Versöhnung stand, verfiel dem Zorn und Gericht. Was nicht unter Jesu Versöhnung steht, bleibt unter Gottes Zorngericht. Wer aber zu dem versöhnenden Hohenpriester gehört, der hat Gnade, Leben, Vergebung. Wer im Glauben zum Kreuze Jesu findet, ist der schrecklichen Todeszone des Zornes Gottes ent­ronnen, der ist gerettet.

Das Kreuz ist die haarscharfe Grenze zwischen ewigem Tod und ewigem Leben.

Im Ersten Weltkrieg hatten unsere Kanonen Schutzschilde. Da kamen wir einmal in furchtbares MG-Feuer. Es prasselte nur so auf die Schilde. Das war unheimlich: Eine Handbreit neben uns wütete der Tod. Aber hinter den Schilden waren wir sicher geborgen. So ist der Glaubende vor Gottes Zorn geborgen unter dem Kreuze unseres Hohenpriesters Jesus.

 

3   Das Kreuz trennt nicht Böse und Gute, sondern Verlorene und Gerettete

An unserer Textgeschichte wird uns das Unerhörte des Evangeliums klar Wir wollen uns im Geist neben Mose stellen. Er schaut über das erschrockene und aufgestörte Lager hin. Und da sieht er einen Bekannten hinter dem Aaron stehen, der war ein tapferer und feiner Kerl. Aber — er steht nicht unter der Versöhnung. Nun wird Mose entsetzt Zeuge davon, wie der Zorn Gottes ihn wegrafft. Und einen anderen trifft sein Blick: Dessen Züge zeigen noch den häss­lichen Zorn, mit dem das Volk gegen Gottes Ordnungen sich auf­lehnte. Aber — er steht unter der Versöhnung. Der Zorn Gottes macht Halt vor ihm. Was will das sagen?

Versöhnte Christen werden nie den Anspruch erheben, dass sie bes­sere Leute seien als die Weltmenschen. Und sie werden niemals behaupten, dass sie wegen ihrer Frömmigkeit oder wegen ihres Kamp­fes gegen das Böse gerettet seien vor dem Zorn. Nein! Wir wissen, dass wir nach Recht und Gesetz dem Gericht Gottes ebenso verfallen sind wie die Welt.

Was uns rettet, das ist nichts, was in uns ist. Das ist vielmehr der versöhnende Hohepriester, der Heiland am Kreuz. Nur in Ihm sind wir gerettet. Aber in Ihm sind wir wirklich gerettet. Und das meint der Römerbrief, wenn er sagt: „So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben."