Wilhelm Busch

Der Gnadenstuhl

 

„Gott hat Christus vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut."

Römer 3, 25

 

Auf einer meiner Fahrten sah ich irgendwo eine zerstörte Kirche. Eingestürzt waren die Mauern, verbrannt Orgel und Altäre. Nur ein riesiges Steinkruzifix überragte die Trümmer. Es geht einem ja manchmal so, dass man ein Bild flüchtig aufnimmt. Und erst später merkt man, dass es sich im Bewusstsein festgesetzt und als bedeut­sam erwiesen hat.

So ging es mir mit diesem Kreuzesbild über den Trümmern. Welch ein großartiges Symbol ist das! Die ganze Erde ist ja im Grunde ein großes Trümmerfeld. Wie viel Kulturen, Städte, Länder und Völker sind untergegangen! Wie viel Firmen, die einst einen großen Namen hatten, haben ihren Bankrott erlebt! Wie viel Weltanschauungen und Religionen, die einst die Menschen fanatisch hoffen und glauben hießen, sind verschwunden, zertrümmert, vergangen! Aber über den Trümmern ragt unversehrt das Kreuz Christi als das einzige Heils­zeichen. Gott schenke uns einen hellen Blick auf dies Kreuz! Wir lassen es uns wieder deuten durch eines der Vorbilder, die wir im Alten Testament finden.

 

 

Das Heilszeichen

 

1. Der Mittelpunkt der Gemeinde

Welch packende Bilder hat doch die Bibel! Wenn sie z. B. das Wesen der Kinder dieser Welt ohne Gott darstellen will, spricht sie von ihnen als von „Schafen, die verirrt und auf den Bergen zerstreut sind".

Wenn sie aber die Gemeinde des Herrn schildern will, zeigt sie ein ganz anderes Bild: Israel zieht aus Ägypten, errettet durch eine ge­waltige Tat Gottes. Es zieht wohl durch eine schreckliche Wüste, be­droht von tausend Nöten und Gefahren. Aber der Herr selbst geht mit in der Wolkensäule. Und vor dem Volk Gottes leuchtet das Ziel, das herrliche Kanaan.

Ich weiß kein schöneres Bild für die Gemeinde Jesu auch in unsern Tagen.

In 4. Mose 24 wird uns erzählt, wie der moabitische König Balak mit großem Gefolge auf dem Berge Peor steht und auf Israels Lager hinabsieht.

Was stellte sich seinen Augen dar? Er sah die Stämme Israels, ge­lagert im Kreis um einen Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt war ein großes Zelt, ein transportabler Tempel, die „Stiftshütte". Schnee­weiße Leinwand umschloss einen weiten Vorhof. Große Vorhänge führten in die leuchtende Pracht des Heiligtums. Jeder Israelit aber wusste, was Balak nicht sah, dass der eigentliche Mittelpunkt im „Allerheiligsten" war. Hier stand die Bundeslade, ein länglicher Kasten, den ein massiv-goldener Deckel zudeckte. Auf dieser Platte erhoben sich zwei gewaltige goldene Engelgestalten. Dieser goldene Deckel hieß der „Gnadenstuhl". Hier war Gott gegenwärtig unter Seinem Volke.

Wenn sie zogen, dann wurde die Bundeslade von Priestern an Stan­gen getragen. Hoch ragte inmitten des Volkes der Gnadenstuhl. Wenn sie sich lagerten, bauten sie ihre Zelte um diesen Gnadenstuhl auf.

Nicht der gewaltige Führer Mose hielt das Volk zusammen. Es waren auch nicht die gemeinsamen Interessen, welche die Leute verbanden. Der Gnadenstuhl war der Mittelpunkt, um den Israel sich sammelte.

Das heißt: Die Gemeinde des Neuen Bundes lagert sich um das Kreuz. Das Kreuz hält die Gemeinde zusammen. Das Kreuz ist ihr Panier.

Das ist eigentlich verwunderlich und der Vernunft unfassbar. Die Vernunft sagt: „Das Kreuz Jesu ist doch eine einmalige geschichtliche Tatsache. Es ist längst vermodert." Der Glaube aber weiß: Dieses Kreuz hat eine überzeitliche Gegenwärtigkeit. Und wo rechte Chri­sten sind, sind sie um das Kreuz gelagert.

 

2. Die Wohnung Gottes unter Menschenkindern

Wir müssen die Frage aufwerfen: Wo wohnt Gott? Ein schlichtes Gemüt zeigt auf eine Kirche und sagt: „Das ist Gottes Haus." Wenn es so ist, kann man am Sonntag Gott in Seinem Hause besuchen und dann in sein eigenes Haus zurückkehren und eine Woche lang gott­los leben. Da stimmt doch etwas nicht. Ich kannte einen Mann, der war ein großer Jäger. Über seinem Schreibtisch hing ein Wandspruch, der hatte etwa folgenden Inhalt: „Nicht in dumpfen Kirchenhallen kann ich Gott begegnen. Nein, der Waldesdom ist Seine herrliche, weite Wohnung." Das klang ja ganz nett. Aber ich habe mich doch immer darüber gewundert, dass der Mann sich in seinem Gotteshaus damit vergnügte, Gottes Kreaturen totzuschießen. Da stimmt doch auch etwas nicht!

Wo wohnt Gott? Salomo betete: „Aller Himmel Himmel vermögen dich nicht zu fassen." Das ist die Wahrheit! Es gibt eine hübsche Anekdote: Ein Spötter traf ein Kind. „Was machts du?" fragte er. Das Kind antwortete: „Ich denke über Gott nach." Da zog der Atheist einen Apfel heraus: „Den bekommst du, wenn du mir sagst, wo Gott ist." Da zog das Kind zwei Äpfel heraus: „Die bekommst du, wenn du mir sagst, wo Gott nicht ist." Ein kluges Kind!

Aber diese Allgegenwart verbirgt uns auch wieder Gott. Wo kön­nen wir Ihn fassen? Wo in Sein Herz und Angesicht sehen? Wo können wir Seine Hand ergreifen? So muss der fragen, dem es ernst­lich um Gott zu tun ist.

Die Gemeinde in der Wüste wusste es: Dort ist der Gnadenstuhl. Es hat Gott in Seiner Herablassung gefallen, ihn zu Seinem Thron zu erwählen. Hier wohnt Er unter Menschenkindern.

 „Gott hat Christus vorgestellt zu einem Gnadenstuhl... in seinem Blut", jubelt die Gemeinde des Neuen Bundes. Wir wissen, wo wir Gott finden, wo uns Sein Angesicht leuchtet und wo Sein gnädiges Herz offenbar wird: im Kreuze Christi. Hier ist Sein Thron, Seine Wohnung unter Menschenkindern.

 

3. Das Gerät, das zudeckt

„Gnadenstuhl" — die hebräische Bibel hat hier das Wort „kapporet", d. h, wörtlich „ein Gerät, das zudeckt". Ja, was deckte denn der Gna­denstuhl zu? Die Bundeslade! In der lagen die zwei steinernen Tafeln, auf denen die Zehn Gebote standen.

Und nun kann ich nur weiterreden mit Leuten, die etwas wissen von der Macht des unruhigen Gewissens. Man spricht heute so viel von der Stumpfheit der Menschen. Schlimmer als die Stumpfheit der Herzen ist die Stumpfheit der Gewissen. Warst du schon einmal be­unruhigt darüber, wie wenig dein Leben Gottes Geboten entspricht? O wie kann dies unwandelbare Gesetz Gottes uns verklagen! Wie wird es gegen uns zeugen am Jüngsten Tage!

Wer um die Not des Gewissens weiß, der horcht auf bei der Bot­schaft : Der Gnadenstuhl deckt das anklagende Gesetz zu. Das Kreuz Christi bringt das anklagende Gesetz zum Schweigen. Jesus hat das Gesetz erfüllt bis zum Tode. Seine Gerechtigkeit darf ich mir im Glauben aneignen. Das Gesetz spricht mich vor Gott schuldig. Aber Christi Blut spricht mich Sünder frei.

„Kapporet", d. h. „das Gerät, das zudeckt". Es steckt in dem hebrä­ischen Wort ein geheimnisvoller Sinn. Es ist nicht nur daran gedacht, dass die Bundeslade zugedeckt wird. Der Sinn ist tiefer: das Gerät, das die Schuld zudeckt. Daher übersetzte die griechische Bibel: „Sühnegerät". Das heißt: Meine Schuld wird hier zugedeckt, weil sie gesühnt ist.

Wenn der Hohepriester vor dem Gnadenstuhl stand, sah er kaum noch das Gold. Es war ganz bedeckt mit Blut. Hier wurde nämlich am Versöhnungstage das Blut des Versöhnungsopfers ausgegossen. Und dies Blut deckte Sünde und Schuld zu.

Das Kreuz Jesu ist unser Gnadenstuhl. Sieh dir Jesus am Kreuze an! Da leuchtet nichts mehr vom Gold Seiner Herrlichkeit. Du siehst nur das Blut. Das Blut, das zudeckt, was uns in die Hölle bringt. Das Blut, das meine Sünde zudeckt. Wir singen oft im Jugendkreis: „Sein Kreuz bedeckt meine Schuld, / sein Blut macht hell mich und rein."

O wie sehr kann Gott mir gnädig sein, wenn meine Schuld zugedeckt

ist!

Wenn unser Gewissen erwacht ist, dann können wir in Zeit und

Ewigkeit nicht aufhören, den Gnadenstuhl des Kreuzes zu preisen.