Wilhelm Busch

Die Suchaktion Gottes

Kurzgeschichten der Bibel

 

Christenstand ernst genommen

 

2. Timotheus 4, 13: „Den Mantel, den ich zu Troas ließ bei Karpus, bringe mit, wenn du kommst, und die Bücher, sonderlich die Pergamente.“

 

„Nun, was kommt denn am nächsten Sonntag für eine Kurzgeschichte dran?“ fragte mich jemand in dieser Woche.

„Die Geschichte von dem zurückgelassenen Mantel“, antwortete ich.

„Wo kommt denn die in der Bibel vor?“ – „In einem Brief des Paulus“, erwiderte ich. „Paulus schrieb von Rom an seinen jungen Freund Timotheus: „Bring mir den Mantel und die Pergamente mit, die ich bei Karpus in Troas zurückließ.“

Darauf lachte der Frager und meinte: „Da bekommen wir also eine Predigt über die Vergesslichkeit. Wie schön, dass es sogar solch einem großen Mann wie dem Paulus passiert ist, dass er seinen Mantel bei der Abreise vergessen hat!“

Da musste ich auch lachen. Mir fielen all die Ferien-Reisenden ein, die eine halbe Stunde nach der Abfahrt aufschreien: „O! Jetzt habe ich doch etwas vergessen!“ Mir fielen alle Regenschirme, Aktentaschen und Mäntel ein, die im Laufe der Jahrhunderte vergessen wurden oder hängen blieben.

Gehört da hinein des Paulus Mantel? O nein! Als ich dieser kleinen Briefnotiz nachforschte, ging mir auf: Hier bekommen wir einen tiefen Einblick in einen wirklichen Christenstand.

 

1) Das deponierte Gepäck

 

Zunächst: Es handelt sich nicht nur um einen Mantel, sondern auch um Pergamente. Im Allgemeinen schrieb man damals auf Papyrus. Pergamente waren wertvoll. Ich nehme nicht an, dass es sich bei diesen Pergamenten um Briefe oder Notizen und Aufzeichnungen des Paulus handelte. Ich bin überzeugt, dass er von Kostbarem spricht, wahrscheinlich von biblischen Büchern des Alten Testaments.

Den Mantel und die Pergamente hatte Paulus nicht in Vergesslichkeit liegen lassen – so wie wir einen Regenschirm stehen lassen. Nein! Er hatte dies Eigentum bei seinem Glaubensbruder Karpus in Troas deponiert.

Die Apostelgeschichte gibt uns Hinweise darauf, wann das geschah. Paulus hatte seine dritte große Missionsreise fast vollendet. Auf dieser Fahrt merkte er, wie die Feindschaft gegen das Evangelium zunahm. Als er in Griechenland ein Schiff zur Heimfahrt besteigen wollte, musste er umkehren, weil er erfuhr, dass man ihm dort nach dem Leben trachtete. So machte er einen Umweg über Mazedonien und Kleinasien.

Auf dieser Reise nun geschah etwas Seltsames: In irgendeiner Weise hat der erhöhte Herr Jesus ihm deutlich gemacht: „Paulus, du kannst dem Leiden jetzt nicht mehr ausweichen, wenn du mich nicht verleugnen willst. Jetzt wird es ernst. Jetzt musst du mir das Kreuz nachtragen. Jetzt geht es ins Gefängnis und in den Tod!“ Paulus hat seinen Freunden in Milet davon berichtet: „Der Heilige Geist bezeugt in allen Städten, dass Bande und Trübsale auf mich warten.“

Was nun? Ich erinnere mich, wie mich in Kanada einmal ein Farmer einlud, mit ihm zu fahren. Und dann kam er mit einer Karre an, die mich erschreckte. Zuerst sah ich zwei halbwilde Pferde. Hinter denen hing ein Klappergestell das jeden Augenblick auseinander brechen konnte. Damit sollte es über die Prärie gehen, wo es keine Straßen gibt?! Der Farmer winkte mich auf den hohen Bock. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte hinten am Wagen einen kleinen Tritt entdeckt. Auf den stellte ich mich mit einem Fuß. Wenn die Karre zusammenbrach, konnte ich vorher abspringen.

Ist so nicht unser Christenstand? Wenn's ernst wird, springen wir ab.

Wie anders der Paulus! Als er sieht: Jetzt geht es ins Leiden für Jesus – macht er sich bereit. Wie ein Soldat vor dem Sturm deponiert er Mantel und Pergamente in Troas. Dies deponierte Gepäck redet erschütternd von der Bereitschaft eines Jesus-Jüngers. Kurz nachher sagt er das Wort: „Ich achte der keines; ich halte mein Leben auch nicht selbst teuer, dass ich vollende meinen Lauf mit Freuden.“ Der Herr Jesus, sein Heil, seine Versöhnung, die Kindschaft bei Gott – all das war ihm wichtiger und lieber als sein Leben.

Hier drängt sich jedem die Frage auf: „Wie viel ist mir Jesus wert?“ Daran können wir ermessen, wie es um unseren Christenstand bestellt ist.

 

2) Das ersehnte Gepäck

 

Drei Jahre sind vergangen, seitdem Paulus Mantel und Pergamente in Troas zurückließ. Es liegt viel in diesen drei Jahren: Die tumultuarische Verhaftung in Jerusalem, unheimliche Mordanschläge, zwei Gefängnisjahre in Cäsarea, Verhöre vor Königen und römischen Statthaltern, Schiffsreise nach Rom, Schiffbruch und wunderbare Rettung. Und nun sitzt Paulus schon ein Jahr im Kerker in der Weltstadt. Sein erstes Verhör vor dem Kaiser ist vorüber. Kerker! Warten! Warten!

Da schreibt er diesen Brief. Er lässt uns hineinsehen in viel Herzensnot: „Demas hat mim verlassen und die Welt lieb gewonnen.“ „Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses bewiesen.“ „Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei.“ Hinter solchen Sätzen stehen viel Einsamkeit und Enttäuschungen. In diesem Zusammenhang ist ergreifend unser Text. „Bringe mir meinen Mantel. Es ist kalt. Mich friert.“ Und: „Bringe mir meine Pergamente. Mein Geist quält sich in der Einsamkeit. Ich brauche geistliche Nahrung.“

Versteht ihr? Die kleine Briefnotiz lässt uns ahnen, wie dieser Jesus-Jünger an Leib und Geist Not leidet. Zwar sagt sie es nicht offen. Aber sie lässt es uns ahnen.

Ein Jesus-Jünger in großer Dunkelheit! Geht der Herr so mit seinen Leuten um? Ja, so geht er mit ihnen um.

Ich glaube nicht, dass es Jesus-Jünger geben kann, denen die dunklen Einsamkeiten, die finsteren Nächte, die tiefen Täler, die Kreuzeswege erspart bleiben. Jesus-Jünger kennen die Stunden, wo es uns friert – und kein Mantel kann uns wärmen; wo man sich sehnt nach einem einzigen Wörtlein aus den Pergamenten der Bibel – und es will keines sprechen.

Seht, in diesem Zusammenhang ist mir ein kleines Wort in der Umgebung unseres Textes aufgefallen: „Der Herr Jesus sei mit deinem Geiste.“ Das ist aus der Tiefe geschöpft. Da weiß man in der Dunkelheit: Jesus lebt, ist Wirklichkeit. Da weiß man: Er lässt sich seine erkauften Schafe nicht rauben. Da fühlt man seinen Frieden wie einen Strom. Da lacht man heimlich doch über Welt und Teufel, weil deren Macht durch die Vergebung der Sünden gebrochen ist. Da schaut man durch den Horizont und sagt: „Der Herr wird mir aushelfen zu seinem himmlischen Reich.“ Jesus-Jünger sind auch in der dunkelsten Nacht nicht verloren. Das ist ihr tiefstes Geheimnis, in das der Teufel nicht eindringen kann

 

3) Das überbrachte Gepäck

 

Kein Brief des Paulus spricht so viel von der Enttäuschung an Christen wie dieser zweite Timotheus-Brief. Das macht ihn so beunruhigend.

Aber gerade darum ist unser Text so schön. Denn er bezeugt: Da sind doch Brüder. Die Gemeinde Jesu Christi ist doch eine Wirklichkeit in dieser verlorenen Welt. Da ist ein Karpus in Troas, der dem Paulus sein Eigentum treu bewahrt. Wie, wenn man bei ihm Haussuchung machte? Die Christen sind nun doch alle verdächtig in dem totalen römischen Staat. Und da ist der junge Bruder Timotheus, der den Paulus im Kerker besuchen und ihm sein tröstliches Gepäck bringen wird. Weiß er denn nicht, wie er sich damit gefährdet? Er weiß es und sagt: „Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht.“

Bekehrt euch nur zum Herrn Jesus! Dann werdet ihr entdecken: Die Gemeinde Jesu ist eine Wirklichkeit. Sie ist nicht eine Organisation, sondern eine geistliche Wirklichkeit. Und alle Kinder Gottes singen mit Tersteegen: „O wie lieb ich, Herr, die Deinen, / die dich kennen, die dich meinen, / o wie köstlich sind sie mir. / Du weißt, wie mich’s oft erquicket, / wenn ich Seelen hab erblicket, / die sich ganz ergeben dir.“