Wilhelm Busch

Die Suchaktion Gottes

Kurzgeschichten der Bibel

 

Eine Zukunfts-Kurzgeschichte

 

Offenbarung 7, 17c: „… und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“

 

In den letzten Jahrzehnten ist die Welt überschwemmt worden mit Zukunftsromanen. Die fortschreitende Technik hat phantasievolle Leute gereizt, auszumalen, wie wir einst mit Weltraumschiffen zum Mars fahren werden. Und die ungeheuren politischen Entwicklungen haben angeregt, den totalen Staat der Zukunft oder eine kommende Idealwelt zu schildern.

Diese Zukunftsromane sind meist sehr umfangreich. Eine Zukunfts-Kurzgeschichte habe ich noch nirgendwo gefunden – außer in der Bibel. Unser Text stellt in der Tat eine Zukunfts-Kurzgeschichte dar.

Sie unterscheidet sich allerdings von den Zukunftsromanen entscheidend: Diese Zukunftsbilder haben Menschen mit blühender Phantasie gestaltet. Die biblische Kurzgeschichte aber stammt nicht aus der Phantasie des Schreibers. Vielmehr hat da Gott dem Apostel Johannes gezeigt, was einmal sein wird. Wir bewegen uns hier nicht auf dem Boden luftiger Phantasie, sondern auf dem nüchternen Boden kommender Wirklichkeit.

 

1) Sie erzählt, was sich niemand ausdenken konnte

 

Wer einmal von einem lieben Menschen Abschied genommen hat, der weiß, wie unheimlich das ist: Da ist ein Tor, durch das der andre hindurchging. Was mag sich dahinter verbergen?

Vor ein paar Jahren hat ein Buch von Hermann Kasak Aufsehen erregt: „Die Stadt hinter dem Strom.“ Da versucht dieser Dichter, hinter das verschlossene Tor zu schauen. Er schildert das Totenreich als eine große Stadt, in der die Toten ihr ach so sinnloses Leben noch eine Zeitlang fortsetzen. Es pendelt gleichsam aus. Und dann – dann treten sie einen unheimlichen Weg an, an Abgründen vorbei – in einen rasenden Sturm – in immer grauere Ebenen. Sie werden immer schemenhafter – und verlieren sich endlich – im Nichts. Es ist ein grauenvolles Bild: der Zug der Schatten, der allmählich in Nebel und Grau verschwindet.

So denkt sich der Mensch das aus, wenn er versucht, das Geheimnis hinter dem Tor des Todes zu enträtseln.

Daneben stellen wir nun diese Kurzgeschichte der Bibel: „… und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ Nicht wahr – das klingt anders! Das ist überwältigend schön.

Ich habe Sorgen, ich könnte mit einer Auslegung die Herrlichkeit dieses Wortes zerstören. Als Schüler haben wir im Naturkunde-Unterricht liebliche Blüten zerschnitten, um sie kennen zu lernen. So will ich es nicht machen mit diesem Wort. Ich will nur beglückt auf einiges hinzeigen.

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ Ist so Gott? Der große, schreckliche, verborgene Gott? So, – wie soll ich es ausdrücken? – so lieb? Ja, so muss er wohl sein.

Und – kann er denn den einzelnen so ernst nehmen? Ja, so muss es wohl sein!

Es ist vorher einmal vom „Geschrei“ die Rede, von dem Jammern, das Gott stillt. Nun, dass er auf Geschrei hört, kann man sich noch denken. Aber Tränen sind sehr, sehr still. Es gibt sogar Tränen, die nicht einmal bis in die Augen kommen, sondern in die Seele hineingeweint werden. Achtet der große Gott auf diese stillen Tränen? Ja, so muss es wohl sein.

Welch eine Geschichte! Welch ein Bild, wie sich der ganz Große über ein zerbrochenes Menschenkind beugt in unendlicher Zartheit. Da sind alle Probleme zu Ende. Da ruht man am Herzen Gottes. Welch ein Friede! Da ist alles Kämpfen zu Ende, alle Anfechtung, alles Fragen. Da ist die ersehnte Ruhe. „… und Gott wird abwischen alle Tränen.“

Ich komme von dem Gedanken nicht los, dass er da zuerst – ich wage es kaum auszusprechen – seine eigenen Tränen getrocknet hat. Von Jesus heißt es einmal: „Er weinte über Jerusalem.“ Und ein Lied spricht von Gottes Tränen über „Menschennot und Herzenshärtigkeit“.

Der getröstete Gott, der gewaltig tröstet! Es ist, als schaue man über ein endloses Meer von Trost. Welch ein Bild!

 

2) Sie berichtet von bevorzugten Leuten

 

Jahrelang hat man uns vorgeworfen: „Ihr vertröstet die Leute auf den Himmel!“

O meine Freunde, wie gerne wollte ich das tun! Wie gern wollte ich – allem Spott zum Trotz – unermüdlich rufen: „Es wird am Ende alles gut! Gott wird eure Tränen abwischen.“

Aber – das darf ich nicht. Gottes Wort spricht ja hier gar nicht von aller Welt, von „Krethi und Plethi“. Diese wundervolle Kurzgeschichte erzählt uns von ganz besonders bevorzugten Leuten, denen das widerfährt. Und es ist sehr wichtig, dass wir fragen: Wer sind diese Auserwählten?

Sind es die Großen in der Welt, deren Bilder die Zeitungen füllen? Die Bibel sagt nichts davon. – Sind es die geschickten Leute, die immer obenauf sind, ganz gleich, ob die Welt gerade braun, blau oder rot ist? O nein! Gottes Wort sagt, dass hier alle Geschicklichkeit versagt. – Sind es die Reichen, die überall den Vortritt haben? Oder die Armen, damit endlich einmal alles auf dem Kopf steht? Davon sagt Gottes Wort nichts. – Sind es die edlen Seelen, die großen Vorbilder der Menschheit, die Nobelpreisträger? Davon finde ich nichts in der Bibel. – Sind es die verbissenen Arbeiter, denen über der Pflichterfüllung das Herz fast versteinerte? Ich finde nichts davon in Gottes Wort.

Wer sind denn diese Bevorzugten, die Gott so überschwänglich trösten wird? Unser Textkapitel sagt es: Es sind die, welche „ihre Kleider gewaschen haben im Blut des Lammes“.

Ich weiß: Vor solch einem Satz steht der moderne Mensch fassungslos. Er versteht ihn gar nicht. Das aber ist schlimm. Dann wird dieser moderne Mensch kaum auf diesen Trost hoffen können.

„… die Kleider helle gemacht im Blute des Lammes“. Als mein Vater im Sterben lag, wollte ich in einer Nacht ihn trösten: „Nun, du hast Großes geleistet. Das ist doch ein schönes Gefühl.“ Aber diesen Trost wies er zurück: „Am Rande der Ewigkeit sieht man nur, wie viel Schuld man hat, wie alles unfertig und alles befleckt ist. Da freue ich mich, dass ich einen Heiland habe, dessen Blut mich mit Gott versöhnt hat.“ Seht, das heißt, seine Kleider im Blute Jesu waschen.

 

3) Sie erzählt von Tränen der Kinder Gottes

 

Christsein – das heißt: in Paradoxien leben. Ich kann mit gutem Gewissen singen: Immer fröhlich, alle Tage Sonnenschein. Ich kann aber ebenso gut sagen: Ein Christ lebt beständig unter Tränen; denn Christen sind Leute, denen Gott die Augen geöffnet hat.

Nun sehen sie die unendliche Verlorenheit der Welt. Noch schreien die Trümmer unserer Städte zum Himmel, noch ertönen die Klagen der Flüchtlinge und Kriegsgefangenen. Da weiß man keine andre Hilfe als – neue Waffen!

Nun sehen Christen den unendlichen Jammer der Welt. Wie viele Bittende kommen täglich an meine Tür, wie viel Unerträgliches begegnet mir jede Woche in den Bergmanns-Lagern: Und ich kann nicht helfen.

Und sie sehen die unendliche Verlorenheit des eigenen Herzens. Man ringt darum, gut und wahr und selbstlos und rein und barmherzig zu sein. Aber es gelingt so schlecht.

Das verursacht die Tränen der Christen. Wie könnten sie in all dem Jammer leben ohne Jesus! Jesus! – ja, in ihm haben wir täglich Trost. Und er wird uns gewiss dahin bringen, wo „Gott wird abwischen alle Tränen von unsern Augen“.