Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Unterm Gestein

 

Mein Freund Josef X nimmt es mir nicht übel, wenn ich hier eine Geschichte von ihm wiedergebe. Erzählt er sie doch selbst gern. Und er ist, wie ich, der Überzeugung, daß manch einer dadurch Wichtiges lernen kann.

Ich war damals Pfarrer in einem Bergarbeiter-Bezirk. Eines Morgens verlangt ein Mann mich zu sprechen. An den feinen blauen Narben an Gesicht und Händen erkenne ich sofort den Bergmann. Das sind die Spuren, die die unterirdische Arbeit an der Kohle hinterläßt.

„Herr Pfarrer", sagt er zu mir, „darf ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen?"

„Gewiß! Bitte!"

„Sehen Sie, ich bin Bergmann. Dann noch Familienhaupt und Vater von drei Kindern. Sonst ist von mir nicht mehr viel zu sagen, als daß ich ein ganz gottloser Mensch bin. Um Gott und die Religion habe ich mich seit meiner Konfirmation nie mehr gekümmert, außer wenn ich fluche.

Sie wissen ja, wie die Bergleute fluchen können. Sie fluchen, wenn sie einfahren; sie fluchen, wenn sie ausfahren . . .

Dann ist noch zu sagen, daß ich auch gern eins trinke und in den Kneipen sitze.

So! Und nun kommt die Geschichte:

Also: Ich bin eines Tages „vor Ort". Es war an der Stelle furchtbar eng und niedrig. Während ich arbeite, höre ich plötz­lich ein merkwürdiges Knirschen und Knacken. Erschrocken schaue ich auf. Aber ehe ich noch recht überlegen kann, bricht das Gestein über mir zusammen.

Erschrocken rufe ich noch laut: ,Ach Gott . . .!' Dann ist es dunkel, und ich weiß nichts mehr.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich schwer verbunden in einem Krankenhausbett. Langsam besinne ich mich und bin sehr verwundert, daß ich hier liege. Denn so 'ne Sache geht in den meisten Fällen mit 'nem Todesfall aus.

Ein paar Tage später kommen dann meine Kumpels zu mir ins Krankenhaus und erzählen, wie alles gegangen sei. Einer in der Nähe hätte noch meinen Schrei gehört, schnell Hilfe ge­holt, dann hätten sie mich herausgegraben, schwer zerschunden, aber doch lebendig.

Wie meine Kumpels mich wieder einmal besuchen, meint einer lachend: ,Du bist mir ein schöner Idiot! Weißt du, was du im „Pütt" unten gerufen hast, als das Gestein herunterkam? ,Ach Gott . . .!' Das habe ich deutlich gehört. Ha — ha —ha! Gott hat dich aber nicht retten können. Aber wir, wir, deine Kum­pels, wir haben dich rausgebuddelt und gerettet!'

Alles lacht. Ich auch.

Und ich wurde in meiner Gottlosigkeit bestärkt.

Ich wurde auch wieder gesund und fing wieder an zu arbei­ten. Aber wenn ich nun von der Morgenschicht komme, geges­sen habe und ein wenig im Bett liege, dann — ja, sehen Sie — dann fängt in meinem Hirn ein merkwürdiger Gedanke an zu bohren."

Bis hierher hat er erzählt. Jetzt aber stockt die Rede. Er gerät in tiefes Nachsinnen.

„Was ist denn das für ein Gedanke?" unterbreche ich die Stille.

Er fährt raus: „Ja, das ist so! Meine Kameraden haben ja ganz recht: sie haben mich rausgebuddelt. Aber das ist ja gar nicht alles. Wenn einer unter das Gestein kommt wie ich, dann ist er in den meisten Fällen tot. Und — ich bin nicht tot. Wie durch ein Wunder bin ich am Leben geblieben. Und nun quält mich die Frage: ,Wer hat mich so lange unter dem Gestein am Leben erhalten?'"

Fragend schaut er mich an.

Da muß ich lachen. Ich schlage ihm auf die Schulter. „O Mann", sage ich, „das wissen Sie ja ganz genau. Sprechen Sie es nur ruhig aus. Das war Gott. Seine gnädige Hand hat Sie gerettet.

 

. . . In wie viel Not

Hat nicht der gnädige Gott

Über dir Flügel gebreitet?! . . ."

 

„Ja", meint er, „das habe ich mir auch gedacht." „Aber das ist nun nicht alles", sage ich. „Meinen Sie denn, Gott habe Sie erhalten, damit Sie Ihr altes Leben weiterfüh­ren? O nein! Diese Errettung ist ein Ruf Gottes an Sie. Den sollten Sie auf keinen Fall überhören!"

Da springt er auf: „Das ist es ja, worüber ich immer nach­denken muß. Aber — ich weiß nicht, wie das weitergeht."

Nun darf ich ihm zeigen, „wie das weitergeht". Wir nehmen die Bibel vor, und ich zeige ihm Jesus.

Und als ein anderer Mensch ging er von da an durch die Welt.