Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Zu spät!

 

Gerade will ich zu Bett gehen, da läutet das Telefon: „Hier das B.-Krankenhaus. Herr Pfarrer, können Sie mal 'rüberkommen? Hier ist ein Mann, der einen Pfarrer wünscht. Aber es muß schnell sein."

Ein wenig später sitze ich am Bett eines Sterbenden. Es ist ein Mann in den besten Jahren. Er ist abends in der Dunkelheit auf der Landstraße von einem Auto erfaßt worden. Es war auf dem Asphalt naß und glitschig gewesen. Der Chauffeur hatte den Wagen wohl nicht mehr in der Gewalt gehabt. Der Wagen war gerutscht und in voller Fahrt gegen diesen Mann geprallt. Dem wurden beide Beine zerschmettert. Und das Schlimmste: der Chauffeur fuhr in rasender Fahrt weiter. Der Schwerver­letzte aber blieb liegen, bis man ihn nach Stunden fand.

Und jetzt? Jetzt ist es zu spät. Vor zehn Stunden lief er noch frisch und gesund herum. Jetzt aber ist er ein Häuflein Elend, mit rasenden Schmerzen. Heute Mittag hätte er noch gelacht, wenn ihm einer vom Sterben geredet hätte. Und jetzt?

„O Gott, wenn man doch Frieden hätte! Meine Sünden! Meine Sünden! Wie kriege ich Vergebung . . ."

Ich will mit ihm reden. Ich sage ihm Gottesworte. Ich nenne ihm den Jesusnamen. Aber er vernimmt's nicht. Die Schmerzen überkommen ihn wie Fluten. Dann sinkt er in Bewußtlosigkeit. So stirbt er. Erschüttert stehe ich noch an seiner Leiche.

Am liebsten möchte ich die Fenster aufreißen und über die rauschende Großstadt hinschreien: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist! Bekehret euch zeitig! Es gibt ein Zuspät! Auf dem Sterbebett seid ihr zu schwach! Heute, so ihr seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht."