WILHELM BUSCH Variationen übet ein Thema Kleine Erzählungen Dritte folge QUELLWERLÄGSTUTTGART Auslieferung für die Schweiz: Christliches Verlagshaus Bern (g) 1947 by Quell-Verlag Stuttgart 10. Deutschsprachige Gesamtauflage, 90.—97. Tausend Satz und Druck: Hochwacht-Druck Stuttgart-Vaihingen 1966 Umsdilagentwurf: Robert Eberwein Der tjecclidjc Vormurf Zwei Männer standen am Straßenrand, offenbar Bergleute, wie man an den blauen Narben in ihren Gesichtern sehen konnte. Als ich vorbei ging, grüßte der eine: „’n Tag, Herr Pastor!“ Ich trat auf ihn zu: „Kennen wir uns?“ Er lachte: „Na klar! Habe Sie oft sprechen hören.“ Und nun wandte er sich an den andern: „Das ist also der Jugendpfarrer! Ein ganz ordentlicher Mann! Nur — er hat leider einen Vogel!“ Ich denke, meine Leser kennen diesen Ausdruck. Die Engländer sagen „Spleen“; die Schwaben erklären: „Der hat einen Sparren!“; die Berliner nennen’s einen „Tick“ — und im Ruhrgebiet und in anderen Gegenden heißt man’s einen „Vogel“, wenn jemand an einer Stelle nicht ganz zurechnungsfähig ist. Als der Mann das nun so gelassen erklärte, ging’s mir doch gegen die Ehre, obwohl man als Pfarrer im Ruhrgebiet „hart im Nehmen“ wird. Also fuhr ich empört auf: „Was habe ich? Einen Vogel?“ Aber der Bergmann beachtete meinen Einspruch gar nicht, sondern wiederholte ganz gemächlich: „Also — ein ordentlicher Mann — nur eben — er hat ’nen Vogel. Er spricht immer von Jesus.“ „Mann!“ rief ich erfreut. „Was Sie da sagen, das ist für mich, als wenn Sie mir einen Orden verliehen hätten! Ja, den Ruhm möchte ich haben: Er spricht immer von Jesus! Nur — leider — habe ich diesen Orden gar nicht verdient. Wie oft habe ich dummes Zeug geschwatzt. Aber — wissen Sie! Jesus ist es tatsächlich wert, daß man immer von Ihm spricht. Sagen Sie mir: Kennen Sie Jesus?“ Da wandte sich der Bergmann lachend an den andern: „Siehst du, nun fängt er schon wieder an!“ . . . Wenn man von Jesus spricht, erlebt man allerlei. Und man trifft dann andre, die auch von Jesus sprechen und dabei ihre Geschichten erleben. Von solchen Erlebnissen soll in diesem Büchlein die Rede sein. Und wenn dabei das Wörtlein „ich“ ungebührlich oft erscheint, so soll man doch wissen, daß es darauf gar nicht ankommt, sondern nur auf den Namen Jesus. Kürzlich kam ich in mein Wohnzimmer. Da saß meine Tochter am Klavier. „Was spielst du?“ fragte ich. Sie antwortete: „Variationen über ein Thema.“ Da dachte ich, dies sei der richtige Titel für mein Büchlein. Meine Geschichten sind Variationen über das Thema Jesus. Denn: „. . . an mir und meinem Leben Ist nichts auf dieser Erd. Was Christus mir gegeben, Das ist der Liebe wert.“ Dae Tl)ema Eine biblische Geschichte Erschrocken blieben die Männer stehen. Die beiden letzten, die sich noch am Ufer aufgehalten hatten und eben das Boot festmachen wollten, fuhren so zusammen, daß ihnen das Tau aus der Hand glitt und klatschend ins Wasser fiel. Nun hörte man nur noch das leise Plätschern der Wellen, die sich am Ufer brachen. Sonst war es ganz still, unheimlich still. Da — die Männer zuckten zusammen — da kam er wieder — dieser grauenvolle Schrei! War es ein Tier? Ein Mensch?! Ein wildes Heulen, ein irres Gelächter . . . Wieder blieben die Männer stehen, sahen sich ratlos an . . . Nur der vorderste, den sie „Meister“ nannten, ging ruhig weiter, als habe er nichts gehört. Da kam um die Felsenecke ein Junge gerannt — schreckensblaß. Er sauste an dem Meister vorbei — mitten in die Schar der Männer hinein. „DerBesessene!“ schrie er. „DerBesessene!!“ Und dann lief er mit keuchendem Atem weiter. Nun war es wieder still geworden. Die Männer sahen dem Jungen nach. Der lief am Ufer des Sees entlang — bis zu einem kleinen Eichenwäldchen, wo eine Herde Schweine sich in den sumpfigen Stellen suhlte oder laut schmatzend der Eichelmast sich hingab. „Was gibt’s?“ fragte der alte Hirte, der reglos auf einem Felsblock saß. „Der Besessene!“ schrie der Junge — noch atemlos. Der Hirte sagte nichts, aber er faßte nach seinem Stock . . . Die Männer, die eben mit dem Boot gekommen waren, sahen auf ihren Meister. Der ging immer weiter auf den Felsen zu, hinter dem man das fürchterliche Geschrei gehört hatte. Und jetzt — die Männer fuhren zurück — jetzt kam da eine Gestalt hervorgestürzt, die in dieser unheimlichen Umgebung wie ein schreckliches Gespenst wirkte. Es war ein nackter Mann. Wirr flatterten ihm die langen Haare um den Kopf. In der rechten Hand schwang er einen großen Stein, als wenn er jeden zerschmettern wollte, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Am linken Handgelenk baumelte eine zerrissene Kette. Aber das alles sahen die Männer kaum. Es zwang sie etwas, dem wilden Mann ins Gesicht zu sehen. Teuflisch war dies Gesicht! Unmenschliche Wut, unsagbare Qual, tierische Lust sprachen aus diesen wirren Augen. Jetzt stürzte der Besessene auf den Meister zu — er hob die Hand noch höher, um den Stein zu werfen — die Jünger schrien auf . . . da . . . geschah etwas Seltsames: Der Meister war ruhig stehengeblieben. Der Besessene faßte sein Ziel ins Auge — da stutzte er . . . ließ den Stein fallen . . . und im nächsten Augenblick lag er wie ein gefällter Baum zu den Füßen des Meisters und winselte wie ein gequälter Hund. Jetzt bekamen die Männer Mut und traten näher. Der wilde Mann lag auf den Knien vor dem Meister und rang jammervoll bittend die Hände. Sein Mund war geschlossen. Aber — es war gräßlich und unheimlich — aus dem geschlossenen Mund schrie es heraus: „Nein! Nein! Quäle mich nicht! Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesu, du Sohn Gottes! Geh weg! Laß mich in Ruhe! Gehe doch! Quäle mich doch nicht so!!“ Einer der Männer faßte erschrocken in seinen grauen Bart: „Die Dämonen schreien aus ihm. O Gott! Die Hölle ist mitten unter uns!“ „Die Hölle ist mitten unter uns . . .“ murmelten die andern. Und nun geschah auf einmal alles furchtbar schnell. Der Meister fragte streng: „Wie heißt du?“ — „Wir sind namenlos. Aber wir sind viele! O so viele!“ schrien die Dämonen. „Wir sind eine Legion!“ Und dann wimmerte es: „Wir brauchen eine Behausung, wir Unbehausten!“ Und „Die Säue! Die Säue!“ schrie es schrill. „Es sei!“ sagte der Meister majestätisch. Da brach der schreckliche Mann mit einem Schrei zusammen. Wie tot lag er zu den Füßen des Meisters. Im nächsten Augenblick hörte man aus dem Eichenwäldchen ein erschrockenes Rufen. Als die Männer aufblickten, sahen sie: Wie irrsinnig rannten die Säue durcheinander, rasten gegen Bäume, stürzten übereinander, schrien unheimlich . . . und dann . . . es ging so schnell — rasten auf einmal ein paar auf die Uferböschung los. Die gab nach. Es war fast komisch zu sehen, wie die Schweine in den See purzelten. Und als habe der nun auf einmal eine magische Anziehungskraft, stürzten alle andern Schweine hinterher. Wildes Klatschen, schäumende Wellen . . . dann wurde es ganz still. Nur in der Ferne hörte man den Jungen entsetzt schreien, der hinter dem alten Hirten her dem nahen Dorf zulief . . . Erschrocken standen die Männer. Dann sagte der mit dem Bart noch einmal: „Die Hölle ist unter uns!“ Aber da fiel ihm ein junger Mann ins Wort: „Ja, aber Er . . .“ — er zeigte auf Jesus — „Er ist stärker als die Hölle!“ „Er ist stärker als die Hölle“, murmelten die andern. „Ja, und Er entlarvt den Teufel!“ sagte der junge Mann fröhlich. „Wieso?“ brummte der mit dem Bart, den es ein wenig ärgerte, daß der Junge mehr verstehen wollte als sie alle. „Wieso? Verstehst du vielleicht, was hier geschah?“ „Aber ja!“ rief munter der junge Mann. „Der Teufel kann nur zerstören. Aber unser Meister — der kann heilen!“ Und damit zeigte er auf den wilden Mann, der sich eben vom Boden erhob und um sich schaute wie einer, der lange in einem bösen Traum gelegen hat. Und ehe der mit dem Bart etwas sagen konnte, lief der Junge zu dem nackten Mann hin und legte ihm mit einer unendlich behutsamen Gebärde sein Obergewand über die Nacktheit. Dankbar und beschämt hüllte der sich in das Tuch . . . Eine Stunde später saßen sie im Schatten des Felsens und verzehrten die mitgebrachten Vorräte. Der Geheilte hockte dicht neben dem Meister. Er sprach kein Wort. Er schaute ihn nur immer an. Und in dem völlig veränderten Gesicht lag eine unendliche Freude. Da hörte man Stimmen. Und dann kamen sie gestürzt — die Leute aus dem Dorf. Voran rannte der Hirtenjunge. „Der da!“ schrie er und zeigte auf den Meister. Hinter ihm lief keuchend ein dicker Gutsbesitzer und jammerte immerzu: „O meine Schweine! Meine guten, fetten Säue!“ Und hinter den beiden kam das ganze Dorf gelaufen — schreiend — gestikulierend — lachend — heulend. Plötzlich blieb der Junge stehen: „Der Besessene!“ flüsterte er betroffen. „Der ist ja . . . der ist ja . . .“ Mehr bekam er nicht heraus. Aber da stürzte schon der dicke Gutsbesitzer heulend zu den Füßen des Meisters nieder: „Ich weiß nicht, wer du bist. Aber ich bitte dich — geh weg! Geh weg!“ Er drängte ihn richtig von seinem Platz: „So geh doch! Geh! Du Verderber meiner Habe! Geh weg!!“ Der Hirtenjunge zog ihn am Gewand: „Herr! Aber sieh doch! Der Besessene ist geheilt!“ — „Ach was! Meine Säue! O meine Säue!“ brüllte der Mann wütend und stieß den Jungen weg .. . Als das Schiff mit den Männern schon lange abgefahren war, stand der Hirtenjunge immer noch am Ufer und blickte dem langsam kleiner werdenden Boot nach: „Was ist das für ein Mann?!“ Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er fuhr herum und sah den Geheilten neben sich stehen: „Komm, mein Junge!“ sagte der, „wir wollen durch die Dörfer gehen und erzählen, daß Gott einen Helfer gesandt hat.“ Damit gingen sie Hand in Hand. Und wieder breitete sich tiefe Stille über dem Uferplatz . . . „Wie fidi ein Vatec übet Kfnöet erbarmt.. Die Vergebung Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, wird mein Herz fröhlich. Wir hatten die besten Eltern, die je gelebt haben. Und gerade darum tut es mir heute noch weh, wenn mir eine böse Geschichte in den Sinn kommt. Andererseits habe ich gerade damals meinen Vater erst richtig lieben gelernt. Aber nun will ich ordentlich der Reihe nach erzählen: Damals war ich ein Junge von zwölf Jahren. Außerdem war ich Quartaner in einer höheren Schule. Aber nur sehr ungern! Ich glaube, ich war ganz einfach — faul. Jungen haben manchmal so Zeiten, in denen ihnen der „Ernst des Lebens“ höchst zuwider ist. Ich weiß gar nicht recht, wie es kam — auf einmal war ich in ein richtiges Lügennetz verstrickt. Es fing wohl so an, daß ich eine schlechte Arbeit geschrieben hatte. Bekümmert sah ich Unheil auf mich zukommen. Nun würde man diese schlechte Note zum Anlaß nehmen, meine Schularbeiten zu kontrollieren; ich würde Fehlendes nachholen und schrecklich arbeiten müssen. Dazu hatte ich einfach keine Lust. Und so verschwieg ich die schlechte Note. Die nächste Arbeit wurde noch schlimmer. Wie- der beichtete ich zu Hause das Unglück nicht. Sondern vielmehr, als eines Tages mein Vater nach den Arbeiten fragte, log ich ihm mit klopfendem Herzen etwas vor. Er wollte das Heft sehen. Da habe ich mich des Nachts hingesetzt und habe neue Hefte angefertigt. Dann mußte ich mir Geld verschaffen, um rote Tinte zu kaufen, mit der ich die Unterschrift des Lehrers fälschte. Mein Vater bekam ein Heft mit den herrlichsten Zensuren zu sehen. Damals habe ich gelernt, daß aus jeder Lüge wenigstens zehn neue herauswachsen. Schließlich war mein ganzes Jungenleben nur noch ausgefüllt damit, zu vertuschen und zu schwindeln. Das Lügennetz wurde immer verworrener. Mich hatte eine Art Panik gepackt. Ich hätte es jetzt viel bequemer gehabt, wenn ich nur meine Schulaufgaben hätte machen müssen. Nun aber saß ich nachts und schrieb doppelte Hefte oder fälschte Entschuldigungen. Und dabei ging es auf Weihnachten zu. Meine Eltern zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie uns erfreuen könnten. Und ich . . .! Wenn meine Geschwister fröhlich spielten, dann packte mich der ganze Jammer eines verpfuschten Daseins. — Wie sollte ich je herauskommen?! Aber eines Tages brach die drohende Katastrophe herein. Deutlich — als wäre es erst gestern gewesen — sehe ich im Geist die Szene vor mir. Meine Schwestern spielten im Flur mit dem Ball. Und ich saß finster brütend auf der Treppe. Dann schellte es — der Briefträger gab die Post ab . . . Wenige Minuten später ging die Tür des Studierzimmers auf, mein Vater erschien, und ruhig forderte er mich auf: „Komm doch mal herein!“ Mir klopfte des Herz bis zum Halse. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen eben geöffneten Brief. Ich erkannte sofort die Schrift meines Klassenlehrers. Was enthielt der Brief?! Ich bemühte mich vergeblich, ihn zu entziffern. Da reichte mein Vater mir ihn schon. Und während ich zitternd las, setzte er sich in den Sessel. Es waren nur zwei Zeilen, in denen der Lehrer meinen Vater um eine Aussprache bat. „Komm, setz dich“, sagte mein Vater, „und erzähl mir, was denn da los ist!“ Nun mußte ich bekennen, und aus meinem Herzen brach es heraus, all dies ganze Geknäule von Schwindeln und Betrug und Lüge und Faulheit und Schmutz. Ich war selber entsetzt, als ich es nun alles so ausgebreitet vor mir sah. Oh, ich hätte mich anspeien mögen! Da saß nun mein lieber Vater, der uns täglich seine Liebe bewies, und es war, als wenn ein dunkler Schleier von abgründiger Traurigkeit sich über ihn legte. Endlich war ich fertig. Mein Vater war ganz in sich zusammengesunken. Eine schreckliche und tiefe Stille lag zwischen uns. Nur von draußen hörte man das fröhliche Lachen meiner Schwestern. Dann richtete mein Vater sich auf und sagte aus tiefster Seele: „Du wirst ein Nagel an meinem Sarge werden! Nun geh!“ Und ich ging. Die Tränen flössen mir über das Gesicht, als ich die dunkle Treppe hinaufstieg zu meinem Zimmerchen. Erschrocken sahen die Schwestern mir nach. Mechanisch zog ich mich aus und legte mich ins Bett. Keiner rief mich zum Abendessen. Ich hatte auch kein Verlangen danach. Später hörte ich, wie meine Mutter mit den Geschwistern Weihnachtslieder sang. Da heulte ich los. Ich begriff dunkel, daß Sünde ausschließt und einsam macht. Ich war maßlos verzweifelt — über mich selbst! Kein Hund würde mehr ein Stüde Brot von mir annehmen können! Mein Vater würde nie mehr fröhlich lachen können! Kein Mensch würde mich jemals mehr lieb haben!-------— Es war tief in der Nacht. Alle außer meinem Vater waren schon zu Bett gegangen. Ich hatte die gewohnten Geräusche gehört. Einsam saß der Vater wohl noch über der Arbeit in seinem Studierzimmer. Jetzt hörte ich seine Tür gehen. Jetzt stieg er zu seinem Schlafzimmer im ersten Stock hinauf . . . Da! Mir stockte der Herzschlag — ich hörte deutlich, wie er auf der Treppe weiterstieg — herauf zu mir in den zweiten Stock! Ganz langsam — Stufe für Stufe! Als wenn er eine schwere Last trüge! Meine erschrockenen Gedanken jagten sich: Ich konnte mich nicht erinnern, daß mein Vater je in meine kleine Bude gekommen wäre. Was wollte er jetzt! Kam jetzt die große Abrechnung? Wies er mich aus dem Hause? Schon war er vor meiner Tür angelangt. Ich merkte, wie er einen Augenblick stockte . . . dann ging die Tür auf ... er trat in das dunkle Zimmer . . . Ich hielt den Atem an. Er stand ganz still. Dann fragte er leise: „Schläfst du schon?“ Mir stieg ein unbändiges Schluchzen hoch. Sagen konnte ich nichts. Da kam er auf mein Bett zu . . . unendlich zart legte er mir die Hand auf den Kopf und sagte: „Nun bist du froh, daß alles im Licht ist, mein lieber Sohn!“ Ich spürte, wie er sich herabbeugte und mir einen Kuß gab. Dann ging er. Ich lag wie gelähmt. Und doch — am liebsten wäre ich herausgesprungen ... ich hätte ihm um den Hals fallen mögen: „Mein lieber Vater!“ Aber ehe ich dazu die Kraft fand, hörte ich seine Tür gehen. Ich lag allein im Dunkel. Selten habe ich eine solche unendliche Seligkeit gefühlt. Vergebung!! Vergebung!! Ja, nun würde alles, alles neu werden! . . . Am nächsten Tag ging mein Vater zum Lehrer. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Mit gewaltigem Eifer setzte ich mich auf die Hosen und brachte Ostern ein gutes Zeugnis nach Hause. Niemals aber hat mein Vater wieder diese Geschichte erwähnt. Sie war ganz und gar abgetan. Die Schuld war vergeben — „in des Meeres Tiefe geworfen“ — wie die Bibel sagt . . . Viele Jahre später lernte ich die Vergebung der Schuld kennen, die der lebendige Gott uns im Herrn Jesus, dem Gekreuzigten, schenkt. Da fiel mir wieder die alte Geschichte aus meiner Jugendzeit ein: Das ist die Vergebung, daß unsre Schuld gar gar nie mehr zur Sprache kommt und wirklich und wahrhaftig abgetan ist. Und hier — in der Vergebung — liegt alle Kraft zu einem neuen Leben. Wer sie erfährt und glaubt, dem quillt das Herz über vor Liebe zum Vater. Der Einsame Es war ein wundervoller Maiabend. Mir aber war das Herz schwer, wie ich da als blutjunger Rekrut am Kasernentor stand. Vor drei Tagen erst hatte ich zu Hause Abschied genommen — mit großer, romantischer Begeisterung. Und in diesen drei Tagen waren mir alle Illusionen zerschlagen worden. Wie einen „Helden“ und Heiligen hatte ich jeden Soldaten bisher angeschaut. Aber nun sah ich hinter die Kulissen: Da waren der rohe Wachtmeister, der jede Laune mit sinnlosem Gebrüll an uns ausließ; der dicke Möbelhändler, der sich mit Bestechung die besten Druckposten verschaffte; der Hauptmann, der in uns Menschenmaterial, aber nicht lebendige Herzen sah; die Kameraden, die vom Morgen bis zum Abend keine andre Unterhaltung kannten als Zoten und schmutzige Geschichten. Und nirgendwo ein Herz —! Traurig stand ich am Kasernentor — und vor mir lag die fremde Stadt — kalt und abweisend. Mich fror. Ich hatte Heimweh. Das Elternhaus stand vor meinem Geist auf: Wie schön war es da! Nichts als Liebe und Herzlichkeit und Sauberkeit! Ich sah meinen Vater vor mir, wie er mich beim Abschied einen Augenblick in die Arme geschlossen und gesagt hatte: „Mein lieber Sohn! Gott bewahre dich an Leib und Seele!“ Und dann — das fiel mir jetzt erst ein, denn in der Hochspannung meines Abschieds war mir das sehr unwichtig erschienen: „In den ersten drei Wochen werde ich dich nicht besuchen können, weil mein Dienst mich festhält.“ Hinter mir aus der Wachstube drang brüllendes Gelächter. Oh, wie midi das anwiderte! Da hatte sicher wieder jemand einen der üblichen „Witze“ erzählt, die zwar nicht witzig, aber dafür um so schmutziger waren. Eine wehmütige Dämmerung legte sich über die fremde Stadt. Ich fühlte midi unsagbar allein! Wenn ich mich nicht geschämt hätte — ich hätte geweint in meiner trostlosen Verlassenheit. . . Da brauste eine Taxe heran. Sie hielt vor dem Kasernentor — und ich traute meinen Augen nicht — heraus stieg mein lieber Vater. Mit einem Jubelruf warf ich mich ihm in die Arme. Er bezahlte den Chauffeur. Und dann zogen wir miteinander los. Glüddidi nahm ich seinen Arm: „O Papa, du hast doch gesagt, du könntest mich in den ersten drei Wochen nicht besuchen!“ „Es ist eigentlich auch so“, erwiderte er, „ich muß in einer Stunde schon wieder zurückfahren. Laß uns die Stunde recht ausnützen!“ „Und du bist für diese eine Stunde extra hergefahren?“ Er nickte. Mir ging durch den Sinn, wie mühselig jetzt im Krieg das Reisen war: die überfüllten Züge und das zermürbende Warten, weil nichts mehr recht klappte. „Papa“, fragte ich, „warum hast du das getan?“ Da antwortete er — und es war, als öffnete er mir sein ganzes Herz: „Ich habe gefühlt, daß mein Junge mich braucht.“ Viele Jahre später saß ich mit einem Mann zusammen, der das Evangelium verachtete. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: „Sehen Sie!“ erklärte er spöttisch, „da sagt Ihr Jesus: ,Ich bin bei euch alle Tage*. Es ist ja komisch, wie er den Menschen richtig nachläuft. Er ist wohl auf uns angewiesen! Der braucht uns wohl! Der ist fertig, wenn keiner sich um ihn kümmert.“ In diesem Augenblick, fiel mir das Erlebnis mit meinem Vater ein, und ich erwiderte: „Jawohl! Jesus läuft uns nach. Aber nicht darum, weil Er uns braucht. Sondern — weil Er weiß, daß wir Ihn brauchen; weil Er weiß, wie unsagbar einsam und verloren wir ohne Ihn sind.“ Da schwieg er still. Ob ihn ein Strahl der unendlichen Liebe getroffen hatte? Wie ich zuc Jugendarbeit ham „Heute nachmittag wird der neue Vikar mit den Mitgliedern des Jünglingsvereins einen Ausflug machen! Treffpunkt um vierzehn Uhr am Pfarrhaus.“ Als der Pfarrer nach der Predigt dies ankündigte, sahen viele neugierige Augen zu mir herüber. „O Schreck!“ dachte ich und schaute mich verzweifelt in der kleinen Kapelle um. „Wie macht man das — einen Ausflug mit dem Jünglingsverein? Und — wohin denn?“ Am Tage vorher erst war ich angekommen in dem ländlichen Vorort der westfälischen Industriestadt. Und nun sollte ich schon gleich . . . Mir war bänglich zumute, zumal ich von einem Jünglingsverein nur ziemlich undeutliche Vorstellungen hatte. Und es wurde noch schlimmer, als ich es gefürchtet hatte . . . Zehn Minuten vor der angegebenen Zeit stand ich vor dem Pfarrhaus auf der großen Landstraße, die still und verlassen im heißen Sommer-Sonnenschein dalag. Von dem Jünglingsverein war noch keine Spur zu entdecken. Fünf Minuten verstrichen — zehn Minuten —, dann sah ich einen jungen Mann näher kommen. Mit der freundlichsten Miene ging ich auf ihn zu. Vielleicht konnte ich von ihm erfahren, wie man so einen Ausflug gestaltet. Aber — welch eine Enttäuschung für mich! — er ging an mir vorbei und steuerte zielbewußt auf das Wirtshaus zu, das dem Pfarrhaus gegenüber lag. Dort verschwand er — und ich war wieder allein . . . Jetzt fing auch meine Kriegsverwundung an zu schmerzen. Die Franzosen hatten mir einige Jahre vorher ein Stück Eisen in den Rücken gejagt. Und wenn ich lange stand, tat das sehr weh. So setzte ich mich an den Straßenrand ins Gras und wartete . . . Es wurde 14 Uhr 10 — es wurde 14 Uhr 15 —. Niemand erschien. — Doch! Dort näherten sich zwei! Hurrah! Die brachten sogar Hörner mit. Hell blinkten die Posaunen in der Sommersonne! Aber — auch die zwei gingen vorüber und — ich ließ meine Blicke nicht von ihnen — in die Wirtschaft hinein! Weiter saß ich verlassen am Straßenrand. Jetzt hatte ich keine Angst mehr, wie ich den Ausflug gestalten sollte. Das wäre schon irgendwie in Ordnung gegangen. Aber — wenn doch nur überhaupt jemand erschiene! Wie, wenn ich den ganzen Nachmittag in dieser Verlassenheit verbringen sollte —! Wohl kamen immer wieder alte und junge Männer — aber sie gingen in die Wirtschaft. Endlich fragte ich einen, was denn dort los sei. Da lachte er und erklärte: „Wir sind die Feuerwehr!“ Und sein Begleiter setzte mit einer Handbewegung zum Mund hinzu: „Wir löschen innere Brände.“ Na, nun wußte ich Bescheid. Offenbar blühte die Feuerwehr im Orte sehr viel mehr als der Jünglingsverein, von dem immer noch nichts zu sehen war. In der Wirtschaft wurde es allmählich lebhaft. Die Musik spielte einen munteren Marsch, der mich aber nicht erheitern konnte. Dann flogen die Fenster auf. Die wackeren Feuerwehrmänner erschienen da mit Biergläsern in der Hand, prosteten mir vergnügt zu und fragten, wo denn mein Jünglingsverein bliebe. Nun, ich wußte es doch auch nicht! Offenbar war der längst ausgestorben. Als die Männer mein Elend sahen, trösteten sie mich hohnvoll und rieten mir, in die kühle Kneipe zu kommen. Schließlich waren alle Fenster besetzt, und ich war die Zielscheibe eines allgemeinen Spottes. Ja — da saß ich nun! Mir war elend zumute. Sollte ich nicht einfach die ganze Sache aufgeben und in meine Wohnung zurückkehren? Doch beim Anblick der hohnlachenden Gesichter dort drüben in den Fenstern der Kneipe packte mich ein Grimm: War dieser kümmerliche Jünglingsverein nicht eine Blamage für die Sache des Reiches Gottes!? Wurde nicht die Ehre meines Königs Jesus in den Staub gezogen, wenn Sein Bote jetzt schmählich den Rückzug antrat vor diesen Zechbrüdern? Und auf einmal wurde mir klar, was ich zu tun hatte: Wenn hier keine christliche Jugendschar kam, dann mußte ich eine solche zusammensuchen. Also — ich stand kurz entschlossen auf und wanderte los — die große, lange, heiße Landstraße entlang, die zur Stadt führte. Damals gab es noch wenig Autoverkehr, und so lag diese Landstraße sehr still da. Es sah nicht so aus, als wenn ich hier viel Erfolg haben sollte. Aber dann kam ich an ein Brücklein. Auf dem Geländer saßen drei junge Burschen von etwa sechzehn Jahren und versuchten, mit Zigaretten und großspurigen Reden sich ein männliches Ansehen zu geben. Ich blieb stehen und fragte, ob ich mich zu ihnen setzen dürfe. Sie hatten nichts dagegen. Ich schwang mich auf das Geländer, und langsam entwickelte sich ein Gespräch: Was sie denn jetzt vor hätten? — Nichts! Es fehle an Geld zu allen männlichen Vergnügungen... Pause! — Es war offenbar: Diese Burschen hatten Langeweile. Also wagte ich jetzt meinen Vorschlag: „Wollen wir nicht ein wenig in die Berge gehen?“ Schweigen. Dann fragte einer: „Und?!“ „Nun —“ erwiderte ich zaghaft, „wir könnten ja etwas spielen, zum Beispiel Räuber und Gendarm.“ Bei diesem Vorschlag wurde auf einmal deutlich, daß die Jungen ihre gewaltige Männlichkeit schon leid waren. Sie warfen ihre Zigarettenenden fort. Zwei rannten los und holten noch drei weitere Freunde. Alle waren Feuer und Flamme. So zog ich nun mit diesen sechs Jungen los in die Berge und Wälder. Es wurde ein herrlicher Nachmittag. Zwar schmerzte mich meine Kriegsverwundung, und ich will es gern gestehen, daß ich mich deshalb immer schnell in einem Graben versteckte und mich mit Laub zudeckte, daß midi nie jemand fand. Aber — über mir und um mich tobte die Schlacht zwischen Räubern und Gendarmen in unvorstellbarer Weise. Die jungen Männer waren wieder zu Jungen geworden. Als die Sonne sank, setzten wir uns am Bergabhang nieder, sahen über das herrliche Land hin und . . . ja, was nun? „Jungens!“ versuchte ich es. „Wir könnten ja ein Lied singen. Könnt ihr eins?“ „O ja! Wir können: ,1m Krug zum grünen Kranze / da kehrt ich durstig ein . . .‘“ Na schön! Also — wir sangen schallend dies Lied. Als wir fertig waren, erklärte ich, ich wüßte ein noch viel schöneres. Es hieße: „Schönster Herr Jesu . . .“ Das kannten sie nun nicht. Aber — man konnte es ja lernen. Und es gefiel ihnen. Es ließ sich in Variationen singen — mal leise — und wieder lauter. Kurz, bald „saß“ dies Lied. Und dann kam das Gespräch ganz von selbst auf den Herrn Jesus. Ich erzählte von Ihm, und sie hörten gern zu. Singend zogen wir nach Hause. Es war schon ein wenig wunderlich, wie da abwechselnd ihr Lied vom „Krug zum grünen Kranze“ und das ganz andere „Schönster Herr Jesu“ erschallte. Und es war mir recht, daß uns kein kritischer Geist auf den Feldwegen begegnete. Doch meine Jungen waren von Herzen fröhlich. Und ich war es auch. Als wir vor dem Pfarrhaus ankamen, da stach mich — wie man so sagt — der Haber. Nun sollten die Zechbrüder gegenüber doch sehen, daß ich einen Jünglingsverein hatte. Die Jungen allerdings brauchten nicht zu wissen, um was es ging; vielleicht waren ihre Väter dort dabei. So stellten wir uns vor dem Pfarrhaus auf und sangen zum Abschluß des schönen Tages noch einmal laut, fröhlich und aus Herzensgrund: „Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden...“ Bei den ersten Tönen schon waren die Fenster in der Kneipe dicht besetzt. Aber keiner der Männer sagte mehr ein Wort. Andächtig hörten sie zu. Man sah es ihnen an, daß ihnen auch ganz feierlich zumute wurde . . . Dieser Tag wurde der Anfang einer reichen, gesegneten und blühenden Jugendarbeit an jenem Ort. . . Ach so — nun will der verehrte Leser wissen, was denn aus dem eigentlichen Jünglingsverein wurde? Lieber Leser — ich weiß es auch nicht . . . Die oerhradite Ofterfeier „Also, Herr Pastor, Sie müssen uns helfen!“ so bat mich die Sekretärin des Jungmädchen-Werkes. Das ist jetzt fast dreißig Jahre her. Ich war damals ganz junger Hilfsprediger. Und darum fühlte ich mich hochgeehrt, als die bekannte Jugendleiterin so zu mir sprach. Und nun entwickelte sie ihre Pläne: Am Ostermorgen, wenn die Sonne aufgeht, sollte ein Gottesdienst für die Mädels gehalten werden. „Denken Sie nur, wie schön das wird!“ rief sie begeistert. „Zur gleichen Stunde, wo der Heiland aus dem Grabe erstand, versammeln wir uns weit draußen auf einer blühenden Wiese. Wir singen, und Sie predigen uns die Osterbotschaft. Das muß ein unvergeßliches Erlebnis für die Mädels werden!“ Ich war ebenso begeistert wie sie und stimmte freudig zu . . . Ja, wie schön hatten wir uns das alles gedacht! Aber es wurde — kurz gesagt — eine ganz große Pleite. Schon als ich mit dem Rade hinausfuhr, wurde ich ein wenig bedenklich. Denn ein schneidend kalter Wind fegte mir entgegen und dämpfte ein wenig meine Hochspannung. Die Wiese, die wir ausgesucht hatten, blühte auch in keiner Weise. Sie war vielmehr nur recht feucht und naß. Und die kleine Schar, die gekommen war, stand fröstelnd umher. Trotzdem fingen wir mit frohem Mut an. Aber es ging alles schief. Der Chor fand nicht den rechten Einsatz — versuchte capfer noch ein paar Töne — aber schließlich gab er’s auf. Etliche Mädel kicherten. Und als ich anfing zu predigen, stieß der Wind eine der großen Vasen um, in denen einige herrliche Blumen den Altar schmückten. Laut glucksend lief das Wasser heraus. Die Unruhe wurde größer. Als die Gluckserei endlich zu Ende war, kippte die zweite Vase um. Und nun ging’s wieder los. Da war’s mit der Andacht aus. Und ich machte, daß meine Predigt auch bald aus war. — Seitdem habe ich immer nur mit Lächeln oder Unbehagen an jenen Ostermorgen zurückdenken können. Aber — als er mir in diesem Jahr wieder einfiel, da ging mir auf — endlich — nach 30 Jahren — was ich in jener unglückseligen Situation hätte predigen sollen. Nämlich dies: Die Auferstehung des gekreuzigten Gottessohnes ist nicht eine Angelegenheit für erhabene und festliche Stunden. Der Herr ist vielmehr auferstanden in eine Welt hinein, in der den meisten Leuten alles schief geht; in der lauter Enttäuschungen auf uns warten; in der uns immer wieder ein Strich durch unsre Rechnungen gemacht wird; in der wir durch große und kleine Traurigkeiten hindurchgehen. In diese Welt hinein ist Er auferstanden. Und wir, die wir in einer solch gefallenen und traurigen Welt leben müssen, wir dürfen fröhlich werden, weil wir in dieser armen Welt und in ihrem Alltag einen lebendigen Heiland haben, der uns am Kreuze erkauft und zu Gotteskindern gemacht hat. Und nun würde ich mich freuen, wenn noch jemand von damals diese verspätete Predigt hören wollte! Der Kampf eines Gottlofen Ich sah ihn zuerst in einer Bibelstunde, die ich hielt. Die wilden schwarzen Haare, das verbitterte Gesicht. „Aha“, denke ich, „da haben sie mir einen hergeschickt, der Material gegen die Kirche sammeln soll.“ Der junge Mann paßte mächtig auf. Fast zu gut für einen, der nur mal spionieren will. Am nächsten Tag sitzt er in meinem Zimmer: „Herr Pastor, ich will wieder in die Kirche eintreten.“ Ich winke ab: „Freund, warum denn? Das ist zunächst eine ganz äußerliche Sache, die Ihnen und uns wenig nützt. Wir haben in der Kirche schon so viele Mitläufer, daß es uns nicht darauf ankommt, noch einen dazu zu bekommen.“ Da fährt es fast wild heraus: „Herr Pastor, ich will Frieden mit Gott. Ich strecke die Waffen vor Ihm. Ich kapituliere. Ich will jetzt Frieden mit Gott!“ Das kommt so gewaltig heraus, daß ich ahne: Hier hat ein Ringen stattgefunden, ein mächtiger Kampf zwischen Gott und Mensch. „Freund, erzählen Sie mir: Wie kommen Sie zu diesem Bekenntnis?“ Und er erzählt. Da darf ich hineinschauen in einen kleinen Kreis junger Männer, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, „den Aberglauben der Religion auszurotten“. Es war ein Höhepunkt in seinem Leben, als er in einer großen Massenversammlung vor Tausenden eine große Kampfrede gegen Gott hielt. Mit „wissenschaftlicher Sachlichkeit“ machte er den Gottesglauben lächerlich. Es machte ihm Freude, in die aufhorchenden Gesichter zu sehen und zu merken, wie die Hörer ihm zufielen. Das war sein großer Tag. Kaum zwei Wochen sind seitdem vergangen. Und nun sitzt er hier und sagt: „Ich will Frieden mit Gott.“ „Ja, wie ist denn das?“ frage ich. „Sie haben doch bewiesen, daß es keinen Gott gibt.“ Erregt fällt er mir ins Wort: „Herr Pastor, gegen meine Vernunft hat der lebendige Gott sich mir bewiesen.“ Und er berichtet von den letzten zwei Wochen. Von der Unruhe seines Herzens, die ihn verzweifelt macht. „Herr Pastor, Gott steht gegen mich! Ich strecke die Waffen vor Ihm! So kann ich nicht weiterleben!“ Ich denke, es kennt jeder die Geschichte vom verlorenen Sohn. Die erzählte ich ihm. Darüber kam ein wenig Licht in sein Herz, und er fing langsam an, zu glauben an die Barmherzigkeit Gottes. Aber blasser noch und erschrockener steht er am nächsten Tage vor mir: „Ich finde keine Ruhe. Ich habe ja eine schreckliche Schuld auf mich geladen. Ich habe Menschen durch meine Rede zum Unglauben verführt. Wie soll ich nur das gutmachen? Raten Sie mir!“ Ich überlege: „Ja, vielleicht ist es am besten, Sie gehen zu den Zweitausend hin und sagen: ,Ich habe gelogen. Gott lebt doch.'“ Er schüttelt den Kopf. „Wie kann ich das! Ich kenne doch die zweitausend Menschen nicht!“ „Dann machen Sie es doch so, daß Sie in die Zeitung eine Bekanntmachung setzen des Inhalts: ,Ich habe mich geirrt. Ich weiß, daß Gott lebt.*“ Wieder winkt er ab. „Auch das ist nichts. Die Zeitung nähme das doch nicht auf. Und wenn nur einer meine Notiz nicht läse, dann hätte es keinen Wert gehabt. Wie soll ich das nur gutmachen?!“ „Das ist allerdings schlimm, Freund. Der Herr Jesus hat gesagt: ,Wer einem anderen Schaden an der Seele zufügt, dem wäre besser, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer“ (Lukas 17, 1 und 2).“ Da fängt der starke junge Mann an zu zittern: „Also, dann bin ich ewig verloren.“ Mir geht das Wort durch den Sinn: „Meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden“ (Psalm 38, 5). Aber nun springe ich auf: „Freund, Sie haben recht. Sie kön- nen nicht wieder gutmachen. Aber wie, wenn nun ein anderer, Stärkerer käme und machte es für Sie gut?“ „Unmöglich“, sagte er verzweifelt. „Nein, nicht unmöglich! Der andere ist da! Er heißt Jesus Christus, der Sohn Gottes.“ Und nun lese ich ihm vor aus Jesaja 53: „. . . der Herr warf unsere Sünde auf Ihn . . . Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten . . .“ Man erlasse es mir, jene herrliche Stunde zu schildern, da dieser junge Mensch innerlich voll Licht wurde und an seinem Herzen erfuhr: Es ist eine Ruhe gefunden Für alle fern und nah: In des Gotteslammes Wunden Am Kreuz auf Golgatha. Dd8 Kreuz In Der Pfütze „Bumm! Bumm! Bumm!“ Ein Hagel von schweren Steinen prasselte gegen die Fensterläden. Ein paar Frauen schrien erschrocken auf. Ängstlich duckten sich die Kinder. Mein Blick flog über die kleine, ärmliche Versammlung: In einem elenden Sälchen drängten sich etwa 50 Leute, alte Großmütterchen, ein paar Kinder, eine Handvoll kümmerlicher Lehrlinge, einige Bergleute und müde, abgekämpfte Frauen. Rings um unser Sälchen erhoben sich endlose Reihen von Mietskasernen, in denen Tausende von Menschen wohnten. Dagegen war unsre kleine Schar wirklich belanglos. Und doch — diese armselige Bibelstunde bedeutete einen Einbruch in das riesige Reich der Finsternis. Wenn das Evangelium einbricht, wehrt sich der Teufel. Das bekamen wir nun sehr handgreiflich zu spüren. In der Dunkelheit draußen sammelten sich jedesmal Rotten von Bur- sehen und Männern. Und dann gingen die Störungen an: Entweder stellten sie sich vor der Türe auf und sangen gemeine Schlager. Oder sie spielten mit Blechdosen Fußball, daß man im Sälchen kein Wort verstehen konnte. Wir stimmten dann meistens ein Lied an und sangen so lange, bis es wieder stille wurde und wir weitermachen konnten. Ich bewunderte immer den Mut der Leute, die trotz aller Feindschaft kamen. Aber — wenn der Hunger nach dem Evangelium aufbricht, dann kann nichts die Herzen aufhalten. — — An jenem Abend aber war es nun besonders schlimm. Es war, als sei wirklich „der Teufel los“. Jetzt riß einer die Tür auf, die unmittelbar ins Freie führte, schrie etwas Dummes und Unflätiges herein und verschwand hohnlachend in der Nacht. Dann wieder wurden Steine gegen die Fensterläden gefeuert. Wieder einmal hatte ich die Bibelauslegung unterbrochen. Um den Krach zu übertönen, sangen wir ein Lied . . . Und dann wurde es still draußen — — überraschend still . . . Wir atmeten auf . . . Offenbar waren unsere Widersacher abgezogen . . . Wieder nahm ich das Wort, um die Bibelstunde zu Ende zu bringen . . . Da! Auf einmal trappelnde Schritte draußen . . . flüsternde Stimmen . . . die Aufmerksamkeit meiner Hörer ist hin . . . einen Augenblick lang herrscht erwartungsvolle, bange Stille . . . Plötzlich kracht etwas gegen die Tür, etwas Schweres poltert zu Boden . . . man hört jemand mit eiligen Schritten weglaufen . . . Was ist das gewesen? Ich reiße die Tür auf — da liegt — halb in einer Regenpfütze — ein großes eisernes Kruzifix. Ich erkenne es gleich: Es hat in der Nähe vor einem katholischen Männerheim gestanden. Nach all dem Lärm ist es auf einmal unheimlich still geworden. Hinter mir die erschrockenen Leutlein wagen kaum zu atmen. Nur ein paar Männer haben sich neben mich gedrängt. Vor mir liegt der dunkle, häßliche, kahle Platz, trübe beleuchtet von ein paar Gaslaternen, naß und schmutzig. Und da in der Pfütze das Bild des Heilandes! O wir verstehen wohl die Geste: „Da habt ihr euren Jesus!“ heißt das. „In den Dreck mit ihm!“ Ein dumpfer Zorn glüht in mir. Jetzt muß doch ein Blitz vom Himmel fahren! Jetzt muß doch Gott eintreten für die Ehre Seines Sohnes! Ich ringe nach Luft. „O diese Menschen! Diese Bestien! Da zerreißt Gott nicht nur den Himmel, sondern auch Sein Herz und gibt uns das Herrlichste und Beste — Seinen Sohn! Und der Mensch? ,In den Dreck damit!“ brüllt er. O nun muß doch Gott reden . . .“ Aber alles blieb still. Leise rauschte der Regen. Trübe glitzerten die Gaslaternen in den Wasserlachen. Und jämmerlich lag das Bild der größten Liebe, des göttlichen Erbarmens, in der Pfütze. Und — der Himmel schwieg! Ganz in der Ferne hörte man höhnisches Lachen . . . Mir kam ein Vers in den Sinn: „Er will hier seine Macht und Majestät verhüllen . . .“ Ja, das ist wahr! Jesu Majestät ist verhüllt. O wie verhüllt! Und nur die Augen des Glaubens sehen hindurch. Ich schickte mich an, zu der erschrockenen Herde zurückzukehren. Mein Herz war sehr müde . . . Aber auf einmal ging mir strahlend ein Licht auf: Es wird nicht immer so bleiben, daß der Sohn Gottes verachtet und geschmäht ist. Es kommt der Tag, wo die Schleier zerreißen und der Sohn Gottes aller Welt erscheint in Herrlichkeit. Mein Herz wurde fröhlich. Ich trat an das Pult, schlug Matthäus 24 auf und las: „. . . und sie werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ Über dieser Verheißung wurde auch das verstörte Gemeindlein froh in der Hoffnung. Und ich erkannte: Die Lehre von der Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit wird nur begriffen von der Gemeinde in der Bedrängnis . . . Eingetiolt „Die Palisaden!“ erklärte mein Begleiter und wies aus dem Fenster. Unser Zug donnerte am Hudson entlang. Jenseits des Flusses sah man eine Reihe roter Felsen. „Ah, die Palisaden?! Sind da nicht vor alter Zeit wilde Kämpfe mit den Indianern ausgefochten worden?“ „Das weiß ich nicht“, sagte er, lehnte sich in die Polster zurück und schloß die Augen. O ja, es lag jetzt eine lange Reise vor uns, über „Niagara Falls“ hinüber nach Kanada. Verstohlen schaute ich ihn an: Der Typ eines eleganten, energischen jungen Mannes, der es in den Staaten zu etwas gebracht hat. Ich kannte ihn erst seit zwei Tagen. Aber in dieser kurzen Zeit waren wir Brüder geworden. All die Bilder der vergangenen Tage zogen an meinem Geiste vorüber: New York mit seinen wirbelnden, gewaltigen Eindrücken! Und dann der glutheiße Abend, als ich in einem Drug Store auf dem hohen Hok-ker saß. Ich hatte eben etwas gegessen und überlegte nun, was ich mit dem Abend machen wollte. Da tippte mir jemand auf die Schulter. „Sind Sie Pfarrer Busch?“ Ich fuhr herum. Ein junger Mann, dem schräg ein Strohhut im Genick saß. „Ja, der bin ich!“ „O wie habe ich Sie gesucht! Sie müssen jetzt mitkommen!“ Ich lachte: „Ich denke, hier ist das Land der Freiheit! Wohin muß ich mitkommen?“ „In den deutschen CVJM! Los, es ist eilig!“----- Eine halbe Stunde später befand ich mich in einem kleinen Saal. Wie eine herrliche Oase kam er mir vor in der chaotischen Wüste New Yorks. Um mich her saßen etwa 30 junge Männer. Vor jedem lag ein Neues Testament. Und der junge Mann, der da jetzt neben mir am Hudson entlang fuhr, las die Geschichte aus Johannes 1, wie der Täufer auf Jesus zeigt und ruft: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt.“ Dann begrüßte mich dieser junge „Präsident“ des Kreises und bat midi, ihnen das Wort auszulegen. So hatten wir uns kennengelernt . . . Er merkte wohl, daß ich ihn jetzt ansah, schlug die Augen auf und lachte: „Zum Schlafen ist es noch zu früh.“ Ich legte ihm die Hand auf den Arm: „Sie wollten mir doch erzählen, wie Sie von Essen nach Amerika und in diesen Jungmännerkreis gekommen sind. Jetzt hätten wir gerade so schön Zeit.“ „Gern!“ sagte er und richtete sich auf. „Das ist nämlich eine interessante Geschichte, eine Geschichte mit — Gott.“ Er winkte dem bedienenden Neger: „Bring uns einen kalten Fruchtsaft!“ Dann zog er seinen Rock aus und begann: „Sie wissen: Idi war in Essen in der großen Jugendarbeit von Pastor Weigle als freiwilliger Helfer. Wenn es midi auch zu dem Evangelium hinzog — so richtig bekehrt hatte ich mich noch nicht. Und darum wurde es mir in diesem Essener Jugendkreis allmählich zu eng. Du liebe Zeit! Ich wollte einmal so richtig mein Leben genießen — wie alle meine Kollegen. Ich mußte also heraus. Aber — da war dieser Pastor Weigle! Oh, ich wußte genau, der würde mir immer wieder nachgehen. Der würde mich nicht in Ruhe lassen. Nun überlegte ich: Am besten — so sagte ich mir — gehst du in eine andre Stadt. Aber — war ich da sicher vor P.W.? — so nannten wir diesen geistesgewaltigen Mann. Der war imstande und schrieb an den dortigen CVJM, sie möchten mir nachgehen. Dann saß ich schon wieder in dem .frommen Klub“! . . .“ Der weißgewandete Neger brachte die Getränke. Es gab eine kleine Unterbrechung. Dann fuhr mein Freund fort: „Sehen Sie! Da packte mich allmählich eine gelinde Verzweiflung. Ich wollte unter allen Umständen einmal von dieser Betreuung los. Schließlich kam mir der Gedanke: Du nimmst einfach eine Stelle in USA an! — Das war damals gar nicht sehr schwer. So stand ich eines Tages auf dem Schiff und fuhr los. Als die Schiffsmusik in Bremerhaven spielte: ,Muß i denn zum Städtele hinaus . . .“, da habe ich gelacht und gedacht: Ich muß nicht, ich will! Laut hätte ich rufen können: Ich bin frei! Naja! Wir kamen in New York an, Sie kennen das ja nun — den Rummel, wenn man an Land geht: Paßkontrolle, Zollkontrolle, Lärm, Geschrei, Tempo . . . Ich merke, daß mein armes Schulenglisch mir nicht viel nützte. Hilflos stand ich vor dem Zolltisch, als ein Amerikaner irgend etwas rasend schnell auf mich einredete. Ich wußte nicht, was der Kerl von mir wollte . . . Da stand auf einmal ein junger Gent vor mir, zog den Hut und sagte: ,Auch Deutscher? Ich will Ihnen behilflich sein.“ Der rettete mich aus den Klauen des wilden Mannes und brachte mich glücklich an Land. Dann fragte er mich: ,Haben Sie schon ein Hotelzimmer?“ .Nein!“ ,Nun, ich werde Ihnen helfen.“ Er winkte einer Taxe, wir fuhren durch den atemberaubenden Tumult dieser Stadt. Ich war ganz benommen und glücklich, daß sich jemand um mich Wickelkind annahm. Dann hielt die Taxe — wir stiegen aus-------. Und was sehe ich? Groß steht an diesem Hotel: ,YMCA“. Das war ja ein .Christlicher Verein Junger Männer“!!! Dem hatte ich doch gerade weglaufen wollen! Aber — dies war ja so ein Riesenbetrieb. Da konnte man gewiß verschwinden! Doch schon sagte mein Begleiter: ,Wir Deutschen haben heute abend eine Bibelstunde. Wenn es Ihnen recht ist, dann werde ich Sie dazu abholen. Sie werden da Freunde, Hilfe, Anschluß und alles finden, was Sie brauchen.“ Damit hatte er bereits meinen Koffer ergriffen und ging voran in das YMCA-Hotel. Ich aber stand da, als wenn ein Blitz vor mir eingeschlagen hätte. Und in dem Augenblick verstand ich alles. Ich hatte Gott weglaufen wollen. Und — Er hatte mich eingeholt. Ich begriff das Wort aus dem 139. Psalm: Wo soll ich hingehen vor dei- nem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht?... Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten . . Dann schwieg er still. Donnernd fuhr der Zug den unendlichen Prärien entgegen . . . Der Ruf Wir hielten unsern Männerabend. Um mich herum saßen etwa 35 Bergleute. Und das Gespräch ging munter hin und her. Da wurden alle Fragen aufgeworfen, die man sich nur denken kann. „Herr Pastor!“ meinte einer, „Sie sagen, Gott sei allmächtig. Nun, dann frage ich Sie: Kann Gott einen Stein schaffen, der so groß ist, daß Er ihn selbst nicht mehr auf-heben kann?“ Ehe ich noch antworten konnte, rief ein andrer: „Warum hat denn Ihr Gott die Menschen geschaffen, wo Er doch in Seiner Allwissenheit genau wußte, daß es schief geht mit diesen Menschen?“ Ein dritter drängte sich zum Wort: „In der Bibel steht, daß das erste Menschenpaar zwei Söhne hatte. Der eine schlug den andern tot. Dann ging er in ein fremdes Land und nahm ein Weib. Wo kam denn das Weib her?“ So ließen die Männer eine Flut von Fragen auf mich herniederprasseln. Versuchte ich aber zu antworten, dann hörten sie gar nicht zu, sondern kamen sofort mit neuen Fragen. Da meldete sich der alte Vater Böhnke zum Wort. Er war der Älteste im Kreise. Ich kannte ihn gut. Wir beide hatten schreckliche Stunden miteinander erlebt, als ihm das Gewissen erweckt wurde und er weinend bei mir saß und unter Tränen immer nur stammeln konnte: „Ich gehe verloren! Ich gehe verloren! Gott habe ich verachtet!“ Aber dann war die Gnade des Herrn Jesus Christus wie eine helle Sonne in seinem Leben aufgegangen, und er hatte sich dieser Sonne rückhaltlos erschlossen. Darüber war er ein sehr stiller Mann geworden, der in den Männerabenden meist ruhig dabei saß und aufmerksam zuhörte. Also — der meldete sich unter allgemeinem Erstaunen nun zum Wert. „Jungens!“ sagte er, „was ihr da fragt, ist ja dummes Zeug. Mit solchen Fragen habe ich früher auch mein Gewissen beruhigt, wenn ich dem lebendigen Gott weglief. Aber . . .“ Er überlegte einen Augenblick, strich sich nachdenklich über die Stirn und fing dann neu an: „Ich will euch mal eine Geschichte erzählen!“ Alle hörten aufmerksam zu. Denn es war ungewöhnlich, daß Vater Böhnke so ausführlich das Wort ergriff. Der Alte erzählte: „Ich bin in Ostpreußen zu Hause. Auf dem kleinen Gütchen meines Vaters konnte ich nichts werden. Damals kam das Gerücht zu uns, im Ruhrgebiet läge das Geld auf der Straße. Man brauchte es nur aufzuheben. So machte ich mich auf. Aber es gab eine große Enttäuschung. Im Ruhrgebiet lag auch nur Dreck auf der Straße. Und so kam ich in bittere Not. Mein Geld war bald verbraucht, Arbeit fand ich nicht. Schließlich landete ich in einem üblen Quartier, wo einige Fechtbrüder mir zuredeten, ich solle mit ihnen einen Einbruch machen. In mir sträubte sich alles gegen diese böse Möglichkeit. Aber — was blieb mir denn andres übrig? So ging ich an einem Abend bedrückt durch die Straßen von Bochum. Um mich her drängten sich die Menschen. Die Läden waren hell erleuchtet. Überall war Leben, Lärm, Eile. Mich beachtete kein Mensch. Verzweifelt und hungrig schlich ich durch die Menge. Wenn ich jetzt keine Hilfe fand, dann mußte ich den schlechten Weg mitgehen. Da — auf einmal — hörte ich meinen Namen rufen: ,Heinrich!!' Ich wollte mich schon umdrehen. Da fiel mir ein: Mich kennt ja kein Mensch in Bochum! Wer sollte mich schon rufen! Bestimmt gab es noch viele Heinrichs in der großen Stadt. So ging ich weiter. Aber wieder riefs’: ,Heinrich!“ Und wieder ging ich weiter. Was ging das mich an?! Da rief es zum drittenmal über den Großstadtlärm hin: ,Heinrich!!‘ Nun fuhr ich doch herum. Und da sah ich einen Bierkutscher, der mit seinem großen, schweren Fuhrwerk gerade in eine Nebenstraße einbog. Der winkte mit seiner Peitsche und guckte zu mir herüber. Und jetzt erkannte ich ihn. Er war mit mir zur Schule gegangen und schon vor längerer Zeit von Ostpreußen nach dem Ruhrgebiet ausgewandert. Schnell lief ich zu ihm hin. ,Komm auf meinen Bock!“ rief er. ,Ich darf hier im Verkehr nicht halten.“ Und als ich bei ihm saß, machte er mir erst mal Vorwürfe: ,Ich habe dich so laut gerufen! Warum hast du dich denn nicht umgesehen? Ein paar Sekunden später — und ich wäre um die Ecke gewesen? Dann hätten wir uns wahrscheinlich nie mehr getroffen! Aber nun erzähl mal, wie es dir geht!“ Ja, da habe ich ihm alles erzählt: In welchem Elend ich stecke und wie die Ganoven mich verführen wollten, daß ich ein Dieb würde. Darauf hat der alte Schulkamerad ein großartiges Mitleid bekommen und hat mich mit nach seiner Wohnung genommen. Er hat mir zu essen gegeben und mir mit seinen Kleidern ausgeholfen. Und schließlich hat er mir sogar Arbeit vermittelt. Kurz: dem Kameraden verdanke ich es, daß ich nicht unter die Räder gekommen bin. Und nun paßt mal auf! . . .“ Der alte Vater Böhnke wurde auf einmal ganz feierlich, als er das sagte: „Habt ihr das begriffen, daß mein Leben in den paar Sekunden auf des Messers Schneide stand? Den ersten Ruf habe ich überhört. Den zweiten auch! Wenn ich den dritten überhört hätte, dann wäre mein ganzes Leben vor die Hunde gegangen. Es hing alles daran, ob ich den Ruf hörte und ihm folgte.“ Atemlos saßen die Männer. O ja, diese Geschichte konnten sie begreifen. Sie waren doch alle miteinander Leute, deren Leben immer am Abgrund entlang ging. Das verstanden sie alle gut, was der Alte da erzählte. Feierlich fuhr der nun fort: „Alles hing daran, ob ich den dritten Ruf nicht überhörte. Und genau so ging es mir mit Gott. Er hat mich gerufen, als ich getauft wurde. Aber das habe ich noch nicht begriffen. Dann hat Er mich gerufen, als ich konfirmiert wurde. Da habe ich mir aus dem Ruf nichts gemacht. Aber — als Er das dritte Mal rief, da wußte ich: Jetzt mußt du hören! Sonst fährt Gott für dich um die Ecke und du hörst Ihn nie wieder. Und seht, da habe ich mich zu Ihm gekehrt. Und das wollte ich euch nur sagen: Es geht gar nicht um so dumme Fragen, wie ihr sie hier immer stellt. Es geht darum, ob ihr den Ruf Gottes hören wollt, und ob ihr Ihm folgen wollt!“ Der Alte setzte sich. Im Saal herrschte eine große Stille. Dann sangen wir noch ein Lied und gingen nachdenklich nach Hause. Die zerlptungene Glocke Wirklich! Das Herz konnte einem wehtun bei dem Anblick: ganz verzweifelt saß der junge Mann vor mir auf dem Sofa. Wie er die Schultern und die Arme hängen ließ, der traurige Zug im Gesicht, die gebeugte Haltung — alles drückte unendliche Verzagtheit aus. Dabei war er ein „Kerl wie ein Baum“ — groß und stark, mit einem wilden, schwarzen Haarwuschel. Aber selbst die Haare hingen ihm nun betrübt ins Gesicht. Endlich ermannte er sich wieder und berichtete weiter: „Ja, das können Sie gar nicht glauben, was wir für einen Idealismus hatten, als wir heirateten. Mit Verachtung haben wir auf alle die trüben Durchschnittsehen herabgeschaut. Wir hatten uns ja so lieb! . . .“ Ein tiefer Seufzer unterbrach seine Rede. „Und dann?“ ermunterte ich ihn. Er sah mich an: „Nur langsam! Wenn ich an die erste Zeit zurückdenke, dann . . . o das kann ich gar nicht beschreiben, was ich für ein Glück hatte. Wissen Sie, meine Frau ist eine hübsche Person. Und gescheit! Wir wollten den Leuten einmal zeigen, wie eine richtige Ehe aussieht. Ja, das wollten wir . . .“ Wieder versank er in dumpfes Brüten. Damit das Schifflein wieder flott wurde, gab ich ihm noch einmal einen Stoß. „Was geschah dann?“ Ärgerlich fuhr er auf: „Was soll ich viel sagen! Vorgestern war es soweit — da habe ich mich vergessen und habe sie geschlagen ... Sie wrar ja auch so frech — —. Ja, ich habe sie geschlagen . . . dann lief sie weg . . . das Kind nahm sie mit, das war krank — — und gestern hat sie mir mitteilen lassen, das Kind sei gestorben . . . Nun ist alles aus!“ Lange Stille. Dann wagte ich leise zu fragen: „Flaben Sie zusammen gebetet?“ Verständnislos glotzte er mich an. So fuhr ich fort: „Also eine Ehe ohne Gott! Ich wundere mich über nichts. Das kann ja gar nicht anders ausgehen!“ Wild schaute er mich an: „Und unser Idealismus?“ Ich wehrte ab: „Mensch! Idealismus zerbricht vor dem Leben. Leben ohne Gott ist ein Rennen ins Unglück.“ — —-------- Und nun will ich ganz einfach ein paar Stationen der weiteren Geschichte berichten. Die Beerdigung des Kindes: Es war furchtbar. In der Mitte der kleine Sarg. Rechts stand die junge Frau mit ihren Angehörigen. Sie hatte verweinte Augen. Links stand er, ganz allein und sehr trotzig. — — Die beiden schauten sich nicht an . . . Die Bibelstunde: In einem kleinen, armseligen Saal legte ich die Bibel aus. Da saß mit hungrigen Augen der junge Mann vor mir und nahm mir jedes Wort vom Munde, wenn ich von Jesus sprach, der die zerbrochenen Idealisten und Sünder errettet. Nachher bat er mich um eine Bibel. Und dann begann das Ringen eines jungen Menschen um Gott: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Wieder auf meinem Sofa: Ganz verändert saß der junge Mann vor mir. „Herr Pfarrer, jetzt hat mich Jesus gefunden. Ich weiß, daß Er mit Seinem Sterben auch mich versöhnt hat mit Gott. Ich habe Frieden mit Gott! . . .“ Seine Augen leuchteten auf. Dann fuhr er fort: „Ich wollte auf keinen Fall zu meiner Frau zurück. Aber heute morgen las ich in meiner Bibel, wie Jesus sagt: Wer sich von seinem Weibe scheidet, der bricht die Ehe. — Jetzt weiß ich, daß ich wieder mit meiner Frau in Ordnung kommen muß. Wollen Sie mir helfen?“ Ich versprach es gerne. Die junge Frau: Nervös und erregt fuhr sie auf: „Zu meinem Mann zurück? Nie! Der Kerl hat mich geschlagen! Lassen Sie mich in Ruhe . . .“ Hysterisch fing sie an zu weinen. Ich ließ ihr Zeit. Dann sagte ich: „Sie sind völlig herunter mit Ihren Nerven. Ich werde Sie zu einem Bauern aufs Land schicken, damit Sie sich erholen. Ich will Ihnen gleich sagen: Der Bauer ist ein Christ. Und in dem Hause geht es christlich zu!“ Der Gedanke, aus allem heraus in eine stille, ländliche Gemeinde zu kommen, belebte sie. Freudig stimmte sie zu . . . Der junge Mann: Er ist sehr bedrückt. „Es wird doch nichts mehr!“ klagt er. „Es war einmal eine schöne Glocke, und sie hatte einen feinen Klang. Aber sie ist nun hoffnungslos zersprungen.“ Ich tröste ihn: „Vertrauen Sie Jesus und sagen Sie ihm die Not. Er kann auch eine hoffnungslos zersprungene Glocke so heilen, daß sie einen besseren Klang bekommt.“ „Glauben Sie das wirklich?“ „Ja.“ Ein Brief von dem Bauern: „...und was die junge Frau betrifft — na, da haben Sie mir ja eine nette Großstadtpflanze geschickt! Erst fragte sie immer, ob denn kein Kino da sei. Jetzt ist sie ruhiger und hört zu, wenn wir Andacht halten und die Bibel lesen. Aber die Leute aus der Großstadt sind doch schrecklich nervös! . . .“ Eine Karte von der jungen Frau: „. . . und heute ist Karfreitag. Mein ganzes Leben ist gestorben. Aber es muß wohl so sein! Heute hörte ich in der Predigt, daß Jesus für uns gestorben ist. Wenn ich nur begreifen könnte, was das bedeutet. . .!“ Noch eine Karte von der jungen Frau: . . Ostern ist heute! Ja, wirklich—Auferstehung! Jesus lebt, und ich lebe mit Ihm. Ich bin so schrecklich froh! Nun kenne ich Jesus! Wie danke ich meinen lieben Gastgebern, daß sie mir den Weg zum Leben gezeigt haben. Ich bin mit Jesus zu einem neuen Leben auferstanden ------und nun möchte ich nach Hause, zu meinem Mann! Jetzt muß ja alles anders werden, weil wir jetzt unsere Ehe mit Jesus führen werden... Sagen Sie doch meinem Manne, ob er mich nicht abholen will. Ich freue mich auf ihn . . .“ Ende der Geschichte? Nein! Nun fing sie erst wirklich an. Jesus hat die zersprungene Glocke geheilt. Und sie gab einen neuen Klang. Krad) Im Voröer= unö Hlnterfiaus Als junger Mann lebte ich ein paar Monate in einem entzückenden kleinen Städtchen. Wenn man vom Schloßberg auf die grauen Dächer, die alten Türme und efeuumrankten Mauern hinunter sah, dann meinte man, hier müsse der Friede wohnen. Aber . . . Schon bald luden mich einige Familien zu sich ein. Wenn man gut und reichlich gegessen hatte — dann ging’s los. Dann kam der Tratsch! Und ich merkte, daß hier endlose Streitigkeiten die Leute ausfüllten. Ich wußte manchmal nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Meiers hatten Krach mit Schulzes und Müllers mit Krauses. Der schlimmste Brandherd aber — das wurde mir allmählich klar — war der Streit, der in einer weit verzweigten Familie ausgebrochen war. Von ihr lebten mehrere verheiratete Geschwi- ster in der Stadt. Jede dieser Familien lud midi ein und bewirtete mich liebevoll. Dafür mußte ich dann geduldig ausführliche Berichte von den Schlechtigkeiten der Schwäger und Nichten über mich ergehen lassen. Ich war damals jung und von glühendem Idealismus beseelt. Kein Wunder, daß ich mich entschloß, hier als rettender Engel aufzutreten. So lud ich alle Beteiligten an einem schönen Sommerabend zu einer Aussprache ein in eine große Gartenlaube vor der Stadt. Und sie kamen, ja, sie kamen wirklich! Es war ein wonniger Abend. Die Sonne versank langsam hinter den Bergen. Ein unendlicher Friede lag über der Welt. In meiner Laube aber focht ich einen heißen Kampf aus. Du liebe Zeit! Wie ging es da zu! Sie überfielen sich mit Vorwürfen. Oft redeten alle zu gleicher Zeit, und ich hatte Mühe, Tätlichkeiten zu verhindern. Aber allmählich versiegte auch bei der geschwätzigsten Frau der Redestrom. Ich konnte eingreifen, Zureden, ausgleichen. Und endlich — nach langen Reden hatte ich es erreicht: Man gab sich die Hand, sang noch ein friedliches Abendlied. Und friedevoll ging ein jedes nach Hause. Mir war das Herz so voll! Ich war so glücklich! Wie beschwingt kehrte ich durch die buckligen Straßen nach Hause zurück . . . Am nächsten Morgen führte mich mein Weg über den Markt. Dabei stieß ich auf eine der beteiligten Frauen. Glücklich eilte ich auf sie zu. Aber ehe ich noch ein Wort sagen konnte, fiel sie über mich her: „Haben Sie gehört, was meine Schwägerin gestern abend auf dem Heimweg gesagt hat?“ Und dann folgte eine endlose Schimpfrede. Mir schwindelte: „Ja, aber hören Sie! Es ist doch Friede geschlossen worden!“ „Frieden!“ kreischte sie. Und dann lachte sie höhnisch: „Jetzt geht’s erst richtig los!“ Damit wandte sie sich an den Marktstand: „Was kosten die Möhren?“ Da stand ich nun, ich armer Tor. Ach ja! Nun ging’s erst richtig los. Die Frau hatte recht gehabt. Und ich hatte meine erste Enttäuschung als junger Christ erlebt. Damals habe ich es gelernt, daß man den Jammer der Welt nicht mit ein paar guten Worten beseitigen kann, sondern daß es erst da neu wird, wo Jesus einzieht, der gesagt hat: „Siehe, ich mache alles neu.“ * Da saßen sie vor mir, meine 80 Konfirmanden. Es waren die ersten, die ich als ganz junger Pfarrer in der Großstadtgemeinde unterrichtete. Ich hatte noch wenig Ahnung, wie es in den großen Mietshäusern aussah, aus denen diese Kinder kamen. Heute wollten wir das Gebot besprechen: „Du sollst nicht töten.“ Etwas blöde schauten mich die 80 Gesichter an. Man sah es auf den ersten Blick, daß sie nicht die Absicht hatten, Mörder zu werden. Ich mußte versuchen, ihnen klarzumachen, daß vor Gott ein Streit ebenso schwer wiegt wie ein Mord. Aber — wußten diese Kinder viel von Streit? Ich wollte erst einmal die Lage klären, und so fragte ich: „Kinder, bei wem ist Krach im Hause?“ Darauf gingen so viele Finger hoch, daß ich es gar nicht mehr überschaute. „Halt!“ rief ich. „Wir machen es umgekehrt! Jetzt sollen mal die aufstehen, bei denen kein Krach im Hause ist!“ Vier Kinder standen auf. „Wie? Bei euch ist kein Krach? Offenbar gehört das doch hier zum täglichen Brot! Warum ist denn bei euch kein Krach?“ Antwort — wie aus einem Mund —: „Wir wohnen allein!“ In diesem Augenblick ging mir etwas auf von der grenzenlosen Einsamkeit Jesu, der gesagt hat: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen.“ * Und dann passierte noch die Geschichte mit meinem Freunde Karl. Er war Bergmann und lebte in wildem Streit mit seinem Flurnachbarn. Wie oft hatte ich schon vermittelt und geschlichtet! An einem Sonntagabend traf ich Karl. „Na, woher?“ fragte ich. „Oh, Sie hätten dabei sein sollen!“ rief er begeistert. „Wir hatten im Nordparksaal eine gewaltige Kundgebung!“ „Eine Kundgebung? Um was ging es denn?“ „Wir haben protestiert gegen die Ausbeutung der Kulis in Shanghai!“ „Potztausend!“ rief ich. „Die Kulis in Shanghai! Sogar dafür interessieren Sie sich?“ „Und ob“, rief Karl erregt. „Mit denen sind wir auch solidarisch! Völlig solidarisch! Alle sind unsre Brüder!“ Man merkte noch den stürmischen Atem jener herrlichen Kundgebung. „Alle eure Brüder“, rief ich beglückt. „O Karl! Dann werden Sie heute abend noch zu Ihrem Nachbarn gehen, ihm die Hand geben und ,Bruder“ zu ihm sagen.“ Da wich der Glanz aus seinem Gesicht. Er wurde finster. Und dann: „Was? Dieser Kerl! Dieser Schuft! Dieser . . . denken Sie, was er jetzt wieder angestellt hat . . . aber den werd ich auf die Birne hauen . . .“ „Alle, alle Brüder!“ dachte ich und ging davon. Und wieder einmal wurde mir klar, wie groß es ist, daß in der Bibel steht: „Liebe deinen Nächsten!“ Den Fernen zu lieben, das ist nicht schwer. Aber — den Nächsten! Da hapert’s! „Id) Kann nid)t mel)c!" Zur Ermutigung für müde Streiter Christi will ich hier ein kleines Erlebnis erzählen. Wir Christen haben es ja alle nötig, uns gegenseitig Mut zu machen nach dem alten Verslein: „Sollt’ wo ein Schwacher fallen, So greif der Stärkre zu. Man trag, man helfe allen . . .“ „Der Stärkere“, der am besten zugreifen kann, ist ja freilich der Herr selbst. Ich war damals in einem Zustand großer Verzagtheit. Heiße Kämpfe lagen hinter mir, die Kraft war aufgebraucht. Und doch schien es mir, als ob noch viel größere Schwierigkeiten sich vor mir auftürmten. Dazu kamen allerlei Anfechtungen von innen. Das lag wohl daran, daß ich keine Zeit und Stille mehr zu Gebet und Bibellesen fand. In diesem verzagten und müden Zustand besuchte ich eine Glaubenskonferenz. Da sprach zuerst ein Redner ganz herrlich von Gebetserhörungen. Es war wirklich wunderbar und gewiß eine große Stärkung für die versammelte Gemeinde, wie er von Durchhilfen Gottes berichtete. Mir aber wurde nur noch schwerer ums Herz. Ach, meine ganze innere Armut ging mir bei diesem Vortrag immer mehr auf. Vor Verzagtheit im Blick auf den elenden Zustand der Kirche und auch auf mich selbst konnte ich gar nicht mehr recht den Kopf heben. Da trat ein anderer Redner aufs Podium. Ich kannte ihn. Es war ein Mann, der viel, viel Schweres tragen mußte. Der fing so an: „Jetzt will ich noch ein Wort sagen für die, denen Gott nicht alle Gebete erhört, für die müden und verzagten Jünger Jesu .. Ich horchte auf. Das war offenbar etwas für mich. Und der Redner nahm seine Bibel und las aus dem Alten Testament die Geschichte von Amram und Jochebed, den Eltern des Moses. Wir kennen die Erzählung gewiß auch, wie Pharao den Befehl gegeben hatte, alle neugeborenen Knäblein ins Wasser zu werfen, wie aber Amram und Jochebed ihm im Glauben trotzten. Sie versteckten bekanntlich ihr Kind und verbargen es drei Monate. Aber dann steht in der Bibel der Satz: „Und da die Mutter ihr Söhnlein nicht länger verbergen konnte . . .“ Bei diesen Worten ließ der Redner die Bibel sinken, schaute die Versammlung an und sagte: „Was mag das doch für eine schwere Stunde gewesen sein, als Jochebed sagte: ,Ich kann nicht mehr . ..!' Und doch war es eine gute Stunde. Denn jetzt war freie Bahn für den Herrn. Nun, da Jochebed nicht mehr konnte, nun nahm sich der Herr dieses Kindes an. Als Jochebed sagte: ,Ich kann nicht mehr“, da begann die Serie der Wunder Gottes.“ Als der Prediger so ungefähr dies gesagt hatte, mußte ich denken: „So ist’s ja bei mir. Ich kann auch nicht mehr.“ Was er sonst noch viel gesprochen hat, hörte ich kaum noch. Ich hatte für diesen Tag genug. Ich warf alle meine Last dem Herrn hin — und mich selbst dazu. Und ich erlebte es wie Jochebed: Nun fing Gott an! Und was Er anfängt, das führt Er auch herrlich hinaus. So wiederholte sich in meinem Leben die uralte Erfahrung der Gemeinde Jesu, von der schon Jesaja bezeugt: „Die Knaben werden müde und matt. Die Jünglinge fallen. Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler . . .“ (Jes. 40, 31). Der Mann, der die Schrecken und Lasten des Dreißigjährigen Krieges getragen hat, Paul Gerhardt, drückt das gleiche so aus: „. . . wenn mein Können, mein Vermögen Nichts vermag, nichts helfen kann, Kommt mein Gott und hebt mir an, Sein Vermögen beizulegen . . .“ Die ftarhe Hanö Engadin! — Der Name klingt wie ein Gedicht. Wir hatten einen Sommertag lang die Schönheit dieses herrlichen Landes genossen. Nun war es Abend. Wir bummelten noch ein wenig durch die Straßen von Pontresina. Kurgäste aus aller Herren Länder, Hotelburschen, Sennen, Alte und Junge, Reiche und Arme belebten die Straßen. Auf einmal schritten zwei kräftige Männer an uns vorbei, die aller Blicke auf sich zogen: straff, braungebrannt, keine Unze überflüssiges Fett am Leib — gingen sie mit langen, federnden Schritten gleichmütig durch die Menge. „Das sind zwei berühmte Bergführer“, sagte jemand. Wir sahen ihnen nach. Ein Hauch von Abenteuern lag über ihnen. Und dann kam die Rede natürlidi auf die Bergführer. Während des Gespräches gingen meine Blicke immer wieder hinüber zu den weißen Schneegipfeln der Bernina, die, leise im Abend verdämmernd, über die dunklen Tannenwälder herübergrüßten. Mein Schweizer Freund folgte meinen Blicken. „Ja, sieh dort den scharfen Grat! Das ist der Biancograt. Da hat ein Bergführer es einmal erlebt, daß es einem Amerikaner schwindlig wurde. Der kauerte sich nieder und war durch alles Zureden nicht zu bewegen weiterzugehen. Bis der Führer drohend seinen Eispickel erhob und schrie: „Ich schlag’ Sie jetzt über den Grat hinunter, wenn Sie nicht sofort weitergehen!“ Da erschrak der Amerikaner so fürchterlich, daß er aufsprang und — um sein Leben zu retten — die beängstigende Gratwanderung fortsetzte. Als sie wieder im Tal waren, gab der reiche Mann dem Führer einen Extra-Dollarschein. Denn er hatte begriffen, wie prächtig ihm der Führer mit seiner Gewaltkur geholfen hatte.“ „Von dem Biancograt weiß ich noch eine feine Bergführergeschichte“, sagte jetzt ein anderer Freund. „Da geht es steil bergauf durch harten Schnee, rechts und links aber schauerlich hinunter in endlose Tiefen, immer weiter bis an eine Stelle, wo der Grat ausgebrochen ist.“ „Da hört es einfach auf?“ frage ich erschrocken. „Nun ja, es ist nicht so schlimm. Aber man muß eben doch etwas über einen Meter springen zu der Stelle hin, wo es auf dem Grat weitergeht.“ Uns, die wir aus der Ebene kommen, schaudert ein wenig bei dieser Vorstellung. Aber mein Freund fährt fort: „Nun, für geübte Leute ist es nicht gefährlich. Also — dort ist nun die Geschichte passiert. Da geht eine Gesellschaft über den Grat. Sie kommen an diese Stelle. Der Führer springt voran. Der Nächste zögert. Helfend streckt der Führer ihm die Hand hin. Der Ängstliche sieht nachdenklich auf die Hand — er über- legt, ob er es wagen kann. Darauf schüttelt der Bergführer nachdrücklich diese seine sehnige, braungebrannte Hand und ruft: ,Sie können es getrost wagen. Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen!'“-------- Was nun noch weiter gesprochen wurde, habe ich nicht mehr gehört. Denn meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Ich sah im Geist diese starke Hand vor mir und hörte das unendlich stolze Wort: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Aber vor meinen inneren Augen änderte sich das Bild der Hand. Die Hand, die ich sah, war durchbohrt. Mein Leben mit Jesus ist auch eine Gratwanderung. Seitdem ich mich an Ihn angeseilt habe, ging es oft über steile und gefährliche Wege. Und immer wieder wollte mir schwindlig werden. Immer wieder sagte das verzagte Herz: „Man kann nicht einfach gegen alle Berechnung nur auf Jesus hin leben.“ Aber dann war es immer so, wie dort am Biancograt. Er streckte mir Seine Hand, die für mich durchbohrte, entgegen und machte mir Mut: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Ja, so ist es. O diese starke Hand Jesu! Man kann sich ihr getrost anvertrauen. Jesus verheißt im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Niemand soll die Meinen aus meiner Hand reißen.“ Und ich bin gewiß, daß niemand und nichts Ihn zum Lügner machen wird. „Wenn öetn Wort nicht mehr toll gelten .. „. . . freue dich, freue dich, o Christenheit!“ Die letzten Töne des rauhen Männergesanges waren verklungen. Unsere Weihnachtsfeier war zu Ende. Noch einmal trat ich auf das Podium. Sofort wurde es wieder still. Mein Blick überflog die Versammlung. Da saßen etwa 500 junge Männer. Sie alle waren arbeitslos. In unserem Jugendheim hatten wir allerlei Kurse für sie eingerichtet, damit sie ihre leere Zeit ausfüllen konnten. So war die „UfE.“, d. h. „Universität für Erwerbslose“, entstanden. Es war eine bunte Schar: alle sozialen Schichten — allerlei Berufe — alle politischen Parteien und auch alle religiösen Richtungen waren vertreten. „Männer und Brüder!“ sagte ich, „zu meiner großen Freude darf ich Ihnen nun mitteilen, daß ich Ihnen ein kleines Weihnachtsgeschenk machen kann.“ Da strahlten die Gesichter. „Ich möchte“, fuhr ich fort, „jedem von Ihnen ein Neues Testament überreichen . . .“ Dumpfes Schweigen. Enttäuscht sahen sie sich an. Dann rief einer aus dem Hintergrund: „Weiter nichts?“ „Weiter nichts?!“ Die Frage stand auf einmal vor mir. Nicht nur der eine Rufer — nein, alle Anwesenden hatten sich vor mich hingestellt. „Doch!“ antwortete ich, „außerdem kann ich jedem von Ihnen ein Taschenmesser, eine Tüte Gebäck und eine Packung Zigaretten schenken.“ Da hellten sich die Gesichter wieder auf. Der Schreck war überwunden. Man befand sich wieder auf dem Boden der richtigen „Weihnachtsstimmung“----------- Armes Wort Gottes! Nein! — armes Volk, das mit dem herrlichen Worte Gottes nichts mehr anzufangen weiß! Kein Wunder, daß du nicht mehr weißt, was gut und böse ist: daß du keine Ahnung hast davon, wer Gott ist und wer du selbst bist, daß du eine Beute aller Verführer und Ideologen wirst!— ----- Als wir nach Weihnachten wieder zusammenkamen, erzählte ich den jungen Männern die Geschichte einer Bibel, die mir einmal irgendwo in Österreich gezeigt wurde: Es war ein dicker, alter Band, in Schweinsleder gebunden und mit schweren silbernen Schließen versehen. Wenn man diese Bibel aufschlug, fiel sie bei den Psalmen auseinander. Und da waren seltsame, schwarzbraune Flecken und Spritzer zu sehen. „Das ist Blut“, erklärte man mir, „Menschenblut!“ Erschüttert hörte ich die Geschichte dieses Bibelbuches: Im 18. Jahrhundert war das Lesen der Bibel in österreichischen Landen streng verboten. Schwerste Strafen hatte jeder zu erwarten, bei dem man dies gefährliche Buch fand . . . Es ist tiefe Nacht. Nur in einem einsamen Bauernhof brennt noch Licht. Allerdings sind die Läden so fest geschlossen, daß kein Schimmer nach draußen fällt. In der großen Stube haben sich die Hausgenossen versammelt. Auch einige Nachbarn haben sich eingefunden. Jetzt beugt sich der Bauer herab, hebt ein paar Dielenbretter auf und bringt die dicke Bibel aus dem Versteck hervor. Bedächtig schiebt er sie nahe zum Licht und schlägt sie auf. Aufmerksam und hungrig nach dem Wort des Lebens drängen sich alle um ihn. Dann liest er: „Herzlich lieb habe ich Dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils und mein Schutz! Ich rufe an den Herrn, den Hochgelobten, so werde ich vor meinen Feinden---------“ Er unterbricht sich . . . alle horchen auf . . . Draußen hört man leise Stimmen. Und dann klopft es auch schon an den Fensterladen. Eine rauhe Männerstimme brüllt: „Aufmachen!“ Einen Augenblick lang stehen alle erschrocken. Aber ehe sie einen Entschluß fassen können, wird die Tür krachend aufgebrochen, und herein quillt eine wilde Meute: Soldaten, angeführt von einem höhnisch grinsenden Nachbarn. Schon hat der Anführer die Bibel erblickt: „Ha! Bauer! Haben wir dich endlich erwischt?!“ Mit rohen Fäusten greift er nach dem Buch. Da erwacht der Bauer aus seiner Erstarrung. Mit harten Händen faßt er die Bibel und zieht sie zu sich hin. „Bauer, gib die Bibel her!“ brüllt wütend der Sergeant. Der Bauer schweigt. Er ist totenblaß geworden. Aber eisern umklammern seine Finger das geliebte Buch. „Du sollst das Buch loslassen!“ Der Sergeant packt nun auch zu, und es hebt ein stummes Ringen auf dem Tisch an. „Laß los!“ schreit wieder der Sergeant. Der Bauer schweigt. Seine Finger klammern sich um die aufgeschlagene Bibel. Da übermannt den Soldaten der Zorn. Mit einem schnellen Griff schlägt er das schwere Buch zu und quetscht dabei dem Bauern die Finger ein. Als er immer noch nicht loslassen will, da drückt er mit harten Fäusten die Bibel zusammen, daß dem Bauern das Blut aus den Fingerspitzen spritzt. Aber — er läßt nicht los . . . Gebannt hörten mir die jungen Männer zu „Und dann —?“ fragte einer. „Ja, dann wurden diese Bauern vor die Wahl gestellt: entweder die Bibel aufgeben — oder alles zurücklassen und in die Verbannung gehen.“ Und ich schilderte den jungen Männern, wie mir einst die Heimat der Verfolgten, das herrliche Tal, in Österreich gezeigt wurde. Mit seinen großen Bauernhöfen war es wie ein Garten Gottes, eingerahmt und geschützt von den gewaltigen Berghäuptern der Donnerkogeln. „Das alles ließen sie im Stich, ja sogar ihre Kinder mußten sie zurücklassen. Nur mit der Bibel in der Hand zogen sie ,ins Elend“.“ Jetzt war es um die Fassung der jungen Männer geschehen. „Das ist ja wahnsinnig!“ „Überspannt!“ „Religiöser Fanatismus!“ Solche und ähnliche Ausrufe schwirrten durcheinander. Es wurde mir schwer, wieder Ruhe herzustellen. Schließlich ergriff ich noch einmal das Wort: „Waren die wirklich so verrückt? Denkt mal nach! Diese Bauern sagten sich: Wenn wir die Bibel nicht mehr haben, dann können wir nicht mehr wissen, was gut und was böse ist; dann können wir nicht mehr feststellen, wie der Weg zu Gott geht; dann sind wir jedem Verführer ausgeliefert; dann sind wir wie Leute, die in einem fremden, unbekannten Land ihre Landkarte verloren haben. Wenn wir die Bibel aufgeben, dann erfahren wir das Evangelium Gottes von unsrer Rettung nicht mehr; dann werden uns die Menschen ihre selbsterfundenen Evangelien auf- drängen. Dann haben wir keine Richtschnur der Wahrheit und keine Wegleitung mehr . . . Hatten sie nicht recht?“ Da schwiegen die jungen Männer still. Und ich dachte mit Traurigkeit darüber nach, wie sie nun den Verführern anheimfallen mußten, da sie ja längst die Bibel weggeworfen hatten ... Ein Jahr später kam Hitler zur Macht------------- Die Verhaftung Beim Essener Kirchentag traf ich den jetzigen Sekretär des Weltrats der Kirchen, W. A. Visser t’ Hooft. Lachend schüttelte er mir die Hand: „Wissen Sie noch —?“ Etwas verdutzt schaute ich ihn an. Was meinte er nur? Da erklärte er: „Nun — 1937 in Darmstadt! Ich war doch der Mann, der Sie in die Kirche lotste!“ „Sie waren der Mann?“ verwunderte ich mich. Dabei stand eine Erinnerung vor mir auf an ein Begebnis, das nicht wegen der abenteuerlichen Umstände wichtig ist, sondern weil da mitten in unsrer Niedrigkeit und Ohnmacht die Herrlichkeit des Herrn Jesu aufleuchtete. Es war die Zeit, als unsre „Evangelischen Wochen“ Tausende von Menschen zusammenführten. Den Machthabern des „Dritten Reiches“ war das sehr ärgerlich. Sie versuchten, diese Veranstaltungen zu unterbinden, und zwar möglichst wenig gewaltsam dadurch, daß sie uns Rednern Ausweisungen und Redeverbote zustellten. Wir wußten das. Und so kam also alles darauf an, den Beamten der Geheimen Staatspolizei geschickt aus dem Wege zu gehen, daß sie uns diese Schriftstücke nicht zustellcn konnten. Es war ein aufregendes und neckisches Spiel. Eines Abends stand ich vor der vollbesetzten Pauluskirche in Darmstadt. Dort drin sollte ich sprechen über das Thema: „Jesus ist der Herr“. Aber — wie sollte ich hineinkommen? Ich wußte, daß an allen Türen Beamte der „Gestapo“ standen, um mich abzufangen. Da fiel mein Blick auf das Pfarrhaus neben der Kirche. Ob von dort aus nicht eine Möglichkeit bestand? Ich fand die Tür offen. Im dunklen Flur erwartete mich ein Mann, der mich am Arm nahm und durch dunkle Gänge, Kellerräume und Heizungskeller in die Kirche „lotste“. Weil die Polizei jede Unruhe vermeiden wollte, konnte ich nun ruhig meinen Vortrag halten. Auf demselben Wege verließ ich hinterher die Kirche, während die Polizei das herausströmende Volk musterte, um mich zu fangen. Eine Zeitlang schaute ich von außen dem lächerlichen Spiel zu. Die Sache hatte sich herumgesprochen, und es strömte allmählich eine riesige Volksmenge zusammen. Es wurde mir ungemütlich. Und ich machte mich auf den Weg zu einem Auto, das in einer stillen Seitenstraße auf mich wartete, um mich aus Darmstadt hinauszubringen. Der Chauffeur saß regungslos. Schlief er? Ich rief ihn an. In demselben Augenblick kam ein Mann hinter dem Auto hervor: „Sie sind verhaftet!“ Er zeigte die Blechmarke der Gestapo. Aus! Durch die unruhige Menge wurde ich in die Kirche zurückgebracht. Dort standen mehrere SS-Leute in Uniform und ein Kommissar. Der eröffnete mir: „Sie sind ab sofort aus Hessen ausgewiesen!“ Nun galt es zu bekennen, ganz gleichgültig, was daraus wurde. „Ich kann das nicht annehmen, denn ich muß morgen früh hier die Bibelarbeit halten.“ „Dann müssen wir Sie in Schutzhaft nehmen!“ Vor der Kirchentür war ein großer Mercedeswagen vorgefahren. Am Steuer saß ein SS-Mann. Ein zweiter setzte sich neben ihn. Im Fond nahmen der Kommissar und ich Platz. Der Fahrer trat auf den Startknopf. „Rrrrrrr!“ Der Motor sprang nicht an. Es war sicher ein guter Motor. Aber — nun sprang er nicht an. „Fahren Sie doch los!“ schrie der Kommissar aufgeregt; denn es standen sicher zweitausend Menschen um uns her. „Rrrrrrr!“ Der Wagen sprang nicht an. In Psalm 2 steht: „Der im Himmel sitzt, lacht ihrer.“ Mir war zumute, als wenn der starke Gott selber den Wagen blockiere. Da stimmte jemand in der Menge an: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich . . .“ Die Menge fiel ein. Es war ein gewaltiger Gesang. Verlegen saßen meine Begleiter. „Mensch! Fahren Sie!!“ „Rrrrr“-------„Rrrrrrrrrrrrrr“ — Ich bekam Sorge um die Batterie. Aber — der Motor sprang nicht an. Der Gesang war zu Ende. Die Deutschen kennen ja von jedem Lied immer nur den ersten Vers. Dann ist es aus. Schade! Wie schön hätten all die anderen Strophen dieses Liedes hergepaßt —! Nun herrschte eine große Stille. Nur ab und zu das verzweifelte „----rrrrrr“, wenn der Fahrer es wieder einmal versuchte. Mir wurde über all dem das Herz schwer. Gewiß, jetzt trotzte diese Menge noch und wollte das Evangelium hören. Aber nach und nach würden die Machthaber doch die Verkündigung immer weiter drosseln. Und dann würde unser Volk ganz ohne Gott und ohne das herrliche Evangelium sein. Dann — käme -----das Ende — der Kirche! Es war wohl so, daß ähnliche Gedanken auch die Menschen bewegten. Denn die Stille wurde bedrückend. Und da — ja, da geschah das, warum ich diese Geschichte erzähle. Auf einmal stand ein unbekannter junger Mann — ich habe nie erfahren, wer es war — auf der Kirchentreppe. Mit gewaltiger Stimme und einer erstaunlichen Vollmacht rief er über die Menge hin den Vers von Blumhardt: „Daß Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht, Sein wird die ganze Welt. Denn alles ist nach Seines Todes Nacht In Seine Hand gestellt. Nachdem am Kreuz Er ausgerungen, Hat Er zum Thron sich aufgeschwungen. Ja — Jesus siegt!“ Der junge Mann verschwand in der Menge. Der Motor unsres Wagens sprang an. Wir fuhren los. Mein Herz jubelte. „Ja — Jesus siegt!“ War es nicht seltsam, daß uns allen dies gerade in der Stunde so unüberhörbar gesagt wurde, wo es aussah, als siegten die Mächte der Tiefe?! Ich war so voll Siegesfreude, daß ich es nicht lassen konnte — ich wandte mich an den Kommissar und erklärte ihm: „Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen!“ Da sackte der erschüttert zusammen und erwiderte: „Früher — früher war ich auch einmal in einem Bibelkreis für höhere Schüler.“ „Armer Mann!“ sagte ich, der Verhaftete, zu dem, dem Gewalt über mich gegeben war. Und dann fuhren wir zum Gefängnis. Geiftlid) arm Das Frühstück war zu Ende. In rasender Eile hatte ich meinen Becher gespült, war in die enge Zelle zurückgesaust und stand in strammer Haltung neben der Tür. Dabei mußte ich leise lächeln: Warum hatte man eigentlich im Gefängnis bei allem so eine blödsinnige Eile, wo man doch so unendlich viel Zeit hatte? Der Wachtmeister schaute herein: „Alles klar?“ „Jawohl, Herr Wachtmeister!“ Die Tür knallte zu, die eisernen Riegel knirschten. Ich war allein! Nun hatte ich bis Mittag Ruhe. Ich rückte meinen Hocker unter das schmale, hochgelegene Fenster und schlug meine Bibel auf. O diese wundervolle Stille! Ganz allein und ungestört mit dem Worte Gottes! Ich schlug den Epheser-Brief auf. Wie oft hatte ich den schon gelesen! Aber — wie ganz anders sprach er jetzt zu mir! Das lag sicher daran, daß Paulus diesen Brief auch im Gefängnis geschrieben hat. Es gibt Gemälde, die kann man nur recht sehen, wenn man an einer ganz bestimmten Stelle steht, von der her das Licht richtig einfällt. So ist es wohl auch mit diesem Brief. Die Stelle, von wo aus man ihn am besten versteht, ist — das Gefängnis. Ich las — und all das, was mich bedrückte, wurde klein und gering. Was bedeutete die Bedrohung der Kirche und meines Lebens in diesem Nazireich gegenüber der Botschaft schon in den ersten Worten: „Gott hat uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war!“ Stille um mich und Stille in mir. Aber — auf einmal gab es einen Rumor in meinem Herzen. Nämlich als ich beim Lesen an die Stelle kam, wo Paulus schreibt: „Ich bin ein Bote des Evangeliums in der Kette.“ Dies Wörtlein rührte an meine tiefste Not. Draußen war meine wichtige und große Jugendarbeit. Was wurde daraus, wenn ich nun wochenlang festgehalten wurde?! Daß ich ein „Bote des Evangeliums“ sein durfte — das hatte mein Leben ausgemacht. Und das war mir das schwerste, daß ich von dieser Tätigkeit nun ausgeschlossen war. Konnte man denn auch in der Zelle ein Bote des Evangeliums sein? Ich überlegte. Schließlich kam mir der Gedanke, daß ich ja meinen Wachleuten das Evangelium schuldig war. Aber — wie sollte ich es ihnen sagen? Die ließen sich bestimmt in kein Gespräch mit mir ein. Wie sollte ich da „ein Bote des Evangeliums in der Kette“ sein?! Ich überlegte und gelangte zu dem Schluß: Wenn ich jetzt ganz geduldig und ganz still und ganz fröhlich bin, dann müssen die Wärter doch etwas davon merken, daß ich einen anderen Geist habe als die übrigen Gefangenen; dann werden sie mich vielleicht fragen, warum ich so anders sei------- Ich beschloß also, jetzt ein vorbildlicher Gefangener zu werden, der seinem Herrn Jesus Ehre macht „in Wort und Werk und allem Wesen“. In meine Überlegungen hinein krachten draußen Schritte — meine Tür flog auf — ein Beamter der Staatspolizei stand darin und sagte: „Ihre Frau ist gekommen. Es ist genehmigt, daß sie Ihnen Obst bringt. Den Korb Ihrer Frau dürfen Sie nicht bekommen. Nehmen Sie Ihre Waschschüssel mit!“ Aufgeregt sprang ich zu der Waschschüssel. In der Eile griff ich ungeschickt zu — sie rutschte mir aus der Hand — fiel zu Boden — Emaille sprang ab . . . „Mann!“ brüllte der Beamte, „wie gehen Sie mit dem Staatseigentum um!“ Mich packte der Zorn: „Lassen Sie mich doch nach Hause, dann brauche ich Ihre blöden Pötte nicht zu demolieren!“ Jetzt wurde der Mann wild: „Wie? Sie wollen frech werden? Nun bekommen Sie das Obst gar nicht!“ Die Tür flog zu, die Riegel knirschten. Ich war allein . . . „. . . Bote des Evangeliums in der Kette . . .“ Mir war das Herz schwer, wenn ich daran dachte, wie meine liebe Frau nun traurig nach Hause ging. Aber viel, viel schlimmer war’s, daß ich so gründlich versagt hatte. Der Mann hatte bestimmt nichts gemerkt davon, daß ich dem Herrn Jesus gehörte. Der hatte nichts gespürt von einem „andern“ Geist---------- Mittag. „Heraustreten zum Essenempfang!“ brüllten die Wärter und schlossen die Türen auf. Als ich heraustrat, spottete einer: „Machen Sie schneller — aber werfen Sie nicht den staatseigenen Eßnapf auf den Boden!“ Ich schwieg still. Aber der blutjunge Beamte ließ mir keine Ruhe. Mit immer neuen Bemerkungen verspottete er mich vor den grinsenden Mitgefangenen. Da packte mich der Zorn. Sagen durfte ich nichts. Aber — nun machte ich absichtlich ganz langsam — bis auch er in Weißglut geriet. Es wurde ein neckisches Spiel — vorsichtig und gemein . . . Bis ich wieder in der Zelle saß, ein „Bote des Evangeliums in der Kette“. Ich hätte heulen mögen. Sollte es denn wirklich nicht gelingen, freundlich, still und geduldig zu sein? Nein! Es gelang auch weiterhin schlechter als je zuvor. Es war, als wenn der Teufel los wäre. Jede Begegnung mit den Beamten brachte einen Zusammenstoß. Selbst freundlich gesinnte Beamte wurden merklich kühler . . . Verzweifelt saß ich in langen Stunden in meiner Zelle. Und was ich theoretisch längst wußte, lernte ich damals praktisch in abgründiger Not: Der Heidelberger Katechismus hat recht; ja, er hat recht, wenn er sagt: „Wir sind aber dermaßen verderbt, daß wir ganz und gar untüchtig sind zu einigem Guten und geneigt zu allem Bösen.“ Und der schreckliche Satz der Frage 5 klang mir in den Ohren: „Ich bin von Natur geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen.“ Aber dann kam die Befreiung! Niemals in meinem Leben werde ich jenen Sonntagmorgen vergessen. Von einer nahen Kirche hörte ich die Glocken läuten. Weinend hatte ich dem Geläut gelauscht in meiner trostlosen Zelle. Ich war fertig, fertig mit den Nerven. Hunger und Elend hatten mich zermürbt. Aber mehr noch war ich am Ende mit allem Selbstvertrauen und aller Selbstgerechtigkeit. Als idi mein Frühstück abholte, hatte der Wärter einige freundliche Worte gesagt. Aber ich hatte dumpf geschwiegen. Was sollten mir noch Menschen?! Gott hatte Seinen Knecht verlassen . . . Da ging noch einmal die Tür auf. Der Wachtmeister kam herein und brachte ein dickes Buch: „Das hat Ihre Frau gebracht. Es ist genehmigt worden, daß Sie das Buch in der Zelle haben. Der alte Schmöker wird ja wohl nicht staatsgefährlich sein!“ O meine liebe Frau! Ich kannte den Band sofort. Es waren die Predigten des württembergischen Pfarrers Hofacker. Meine Frau wußte, was mir diese Predigten bedeuteten. Ich setzte mich auf meinen Hocker und fing an zu lesen — irgendwo, wo sich der Band gerade öffnete. Es war die Predigt vom 3. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest. Und dann — dann erkannte ich, daß nicht meine Frau, sondern mein himmlischer Vater den Band geschickt hatte. Da stand: „Der Heiland beginnt die Bergpredigt mit den Worten:,Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.“ Was versteht Er aber unter solchen geistlich armen Leuten? Arm ist derjenige, welcher das nicht besitzt, was er zu seinem Unterhalt haben und besitzen sollte. Und geistlich arm ist der, welcher mit Demut und Beugung fühlt und erkennt, daß ihm das fehlt, was zum geistlichen, göttlichen Leben dient, was er sich aber von dem großen Gott erbitten darf und soll . . Ich mußte aufspringen. Mein Herz klopfte wild. Wie konnte denn der Hofacker, der im Anfang des vorigen Jahrhunderts gelebt hat, so genau meine Lage kennen? Ach nein! Nicht Hofacker — der Herr Jesus kannte mein Herz. So las ich weiter: „Solche geistlich-armen Leute stellt der Heiland bei seinen Seligpreisungen oben an und macht damit die geistliche Armut zur Pforte, durch die man in das Himmelreich eindringen kann Als ich die Predigt gelesen hatte, sang ich fröhlich in meiner Zelle: „Mir ist Erbarmung widerfahren / Erbarmung, deren ich nicht wert . . .“ — bis der Wärter kam und brüllte: „Ruhe! Singen ist verboten!“ Das Singen aber meines Herzens konnte niemand verbieten. „Mit Golgatha kann Id) nichts anfangen" „Ja, ja, alles schön und gut! Ich bin auch Christ — wenn auch nicht im Sinne der Kirche. Und überhaupt — Religion muß sein! Darum schicke ich ja meinen Jungen in den Konfirmandenunterricht. Aber nun komme ich eines Tages nach Hause. Da läuft der Bengel auf und ab und lernt ein Lied. ,Was lernst du denn da?' frage ich. Er zeigt mir das Gesangbuch. Und wissen Sie, welchen Vers er lernte? Na, so genau kann ich ihn natürlich nicht wiedergeben. Es heißt da ungefähr so: ,Was du, Herr, erduldet hast, ist alles meine Schuld, das habe ich versiebt . . .‘ So ähnlich hieß es da. Gewiß! Ich habe das Zeug früher auch mal gelernt. Aber — offen gestanden — ich habe nie viel damit anfangen können. Und nun! Ist denn die Kirche noch nicht weiter gekommen, daß sie immer noch mit diesem Kram hausieren geht? Ich meine, die Kirche sollte mehr — na, wie soll ich sagen — mehr praktische Lebensweisheit bringen. Das ist meine Meinung! . . . Rauchen Sie ’ne Zigarette? Nein? Na, dann darf ich mir eine anstecken.“ Befriedigt lehnte sich der elegante, graumelierte Herr im Sessel zurück und blies einige Rauchwölklein in die Luft. Ich schwieg still. Was sollte man auch zu so viel Unsinn sagen?! Da fing er noch einmal an: „Also — Golgatha und so — damit kann ich nichts anfangen.“ Abwehrend hob er die gepflegte Hand: „Nun kommen Sie mir bitte nicht mit Sünde! Ich finde, die Kirche macht einen Bohei um die Sünde! Lachhaft! Sehen Sie — ich war Soldat. Offizier! Na, wenn da mal einer was versiebte, dann gab’s einen Anpfiff — und fertig! Sollte Ihr Gott das wirklich ernster nehmen?“ Wieder Schweigen. Aber dann fiel mir auf einmal etwas ein: Jawohl, der Mann war Offizier gewesen — und zwar Gerichtsoffizier. Ich lächelte. Der graumelierte Herr sah es — nun mußte ich reden. „Sie haben als Gerichtsoffizier ’ne Menge Leute vor sich gehabt. Die haben Sie alle nur mit einem Anpfiff — so nannten Sie das doch? — weggeschickt? Allerhand!“ Er wurde nervös: „Na, wenn einer wirklich was ausgefressen . . ." Ich unterbrach: „Was heißt das?“ „Na, wenn einer die Gesetze übertreten hatte, dann wurde er natürlich verurteilt. Ist doch klar!“ „Warum? Wieso?“ Er wurde aufgeregt: „Nun, weil es ein Recht gibt! Und wer das verletzt, wird verurteilt.“ Ich richtete mich auf: „. . . weil es ein Recht gibt! So! Jetzt will ich Ihnen was sagen: Bei Gott gibt es auch Recht. Also — davon verstehen Sie ja was. Recht bleibt Recht. Und wer die Zehn Gebote einmal übertreten hat — der wird verurteil Gott ist gerecht!“ Der graumelierte Herr horchte auf. Es sah aus, als wenn ihi etwas dämmerte. Aber er schwieg. So fuhr ich fort: „Mein lieber Herr! Sie gehen also Ihrer Verurteilung bi Gott entgegen!“ Der andere lachte nervös: „Na, und Sie?“ „Ich habe meine Verurteilung schon hinter mir“, sagte id Verblüfft schaute er auf: „Schon hinter sich? Na, und freigc sprochen?“ „Nein! Zum Tode verurteilt! Ich habe das Urteil angenorr men und anerkannt. Ich konnte es, weil ein Bürge da war, de für mich einsprang und die Todesstrafe trug — für mich.“ „Ein Bürge? Wer war das?“ „Jesus — auf Golgatha! Und nun: Entweder erkennen auc Sie Gottes Todesurteil an und halten sich an diesen Bürgen -oder — ich möchte nicht in Ihrer Haut stechen. Haben Sie da begriffen?“ „Es ist mir, als sähe ich von fern ein Licht.“ „Na, dann gehen Sie drauf zu!“ Die Hünge=Kanzd Gestern habe ich mit dem Architekten über meine Kanzc gesprochen. Unser Kirchenraum soll umgebaut werden. Un da fragte der Architekt, wie man denn nun die Kanzel aufstel len solle. Wie die Gedanken so wandern--------Auf dem Heimwe zogen auf einmal all die vielen Kanzeln an meinem Geiste vor bei, auf denen ich das herrliche Evangelium verkündigen durfte Da fiel mir auch meine wunderliche Hänge-Kanzel ein. Ich war damals — wohl im Winter 1940 — wieder einma Gefangener der „Geheimen Staatspolizei“ wegen einer Festpre ligt, die ich in einer großen Industriestadt gehalten hatte. Und um saß ich so trübselig in meiner eiskalten Zelle. Ach was! Zelle! Man hatte einfach in dem großen Keller les Polizeipräsidiums einige Räume hergerichtet für besondere :älle. Es war schrecklich da unten. Es war die Hölle! Die schmieri-;en Wände! Die trübselige Dunkelheit! Und vor allem — der Seist! Man hörte nur ab und zu das Knallen von Eisentüren, las Schimpfen der Beamten oder das Fluchen aus den Nach-larzellen. Aber dann — gleich am ersten Abend — kam das Schöne. 57ir hatten unser Essen bekommen, die Beamten hatten noch-nals alle Zellen revidiert. Dann hatte man gehört, wie sie mit hren harten Nagelschuhtritten den langen Gang hinunter weg-;egangen waren. Man hatte gehört, wie die große Gittertür 'or unserm Kellertrakt zugeschlossen wurde —, dann war es tili. Nun lag eine lange, lange, schlaflose Nacht auf der kal-en, harten Holzpritsche vor uns. Da, was war das? Da sprach doch jemand? Ich fuhr auf. ^ber — ich war ja allein! Was war das? — Wieder hörte ich sine Männerstimme ... Sie sprach flüsternd —, aber so deut-idi war sie zu hören, als sei ein Mann in meiner Zelle. „Neuer! He! Neuer!“ rief die Stimme. Anscheinend war ich ;emeint. Denn ich war ein „Neuer“ hier. „Ja!“ antwortete ich unwillkürlich. Aber das hörte der Fremde >ffenbar nicht. Denn er rief immer wieder: „He Neuer!“ und chließlich: „Klettere am Fenster hoch und flüstere zum Fenster aus! Dann können wir uns unterhalten!“ Ich schob das kleine Tischchen unter das Fenster, stieg auf len Hocker, dann auf den Tisch. Wenn ich nun die Arme in die Töhe reckte, konnte ich das hochgelegene Fenstergitter erreichen. Ich zog mich hoch ... Ja, das ist alles sehr einfach gesagt. Aher ich bin nun mal kein großer Turner. So machte die Sache ichon einige Mühe. Aber es gelang. Und so kam ich hinter das ustige Geheimnis dieses trüben Gefängnisses: Die Fenster lagen in der Höhe des Erdbodens. Und in ganz geringer Entfernung vor unsern Fenstern erhob sich eine hohe Mauer. Wenn man nun gegen diese Mauer sprach, wurde das in allen Zellen gut vernommen. Es gibt ja so seltsame akustische Erscheinungen. Irgendein Gefangener hatte das irgend einmal entdeckt. Und nun wurde das Geheimnis von einem zum andern Insassen weitergegeben. Da hing ich also nun mit baumelnden Beinen und lernte meine Leidensgenossen kennen. Was war das für eine bunte Gesellschaft! Schieber und Betrüger, Zigeuner und Juden, politisch Verdächtige und sogar eine Prostituierte, Schuldige und Unschuldige, Alte und Junge. Ich war erschüttert über diesen Blick hinter die Kulissen des Lebens. Schon bald wurde offenbar: Es gab eins, was uns alle verband und einte. Das war die ganz große Angst und Verzweiflung. Wir waren alle „in der Menschen Hände“ gefallen. Und sogar die Bibel sagt, daß dies das Schlimmste ist. Unsere Unterhaltung ging natürlich sehr trocken vor sich. Denn lange konnte man sich so frei schwebend nicht halten. Man mußte immer wieder loslassen und neue Kräfte sammeln. So stand ich wieder einmal auf meinem Tischchen — atemlos und schnaufend. Ein alter Mann erzählte gerade mit klagender Stimme, daß er nun schon zwei Jahre in diesem Keller säße —, das freche Weib machte lästerliche Bemerkungen dazwischen; da — ja, da ging mir auf einmal ein ganz großes Licht auf: Dies hier sind die Mühseligen und Beladenen, die Zöllner und Sünder, von denen der Herr Jesus immer gesprochen hat! Du bist darum hierher geführt worden, um diesen Elenden das Evangelium zu sagen! Aber — was würde geschehen, wenn ich davon anfinge? Würde nicht ein Hohngelächter der Hölle angehen? Und dann — ich konnte ja keine langen Erklärungen abgeben. Nach knapp einer Minute mußte man die Gitter loslassen, weil die Hände wie Feuer brannten. Es war auf einmal, als wenn alle hier anwesenden Dämo- nen —- und hier war ja der Vorhof der Hölle — mir abrieten. Aber — Gott rief. So zog ich midi wieder hoch und sagte in eine Gesprächspause hinein: „Jetzt werde ich euch ein herrliches Wort Gottes sagen. Hört zu!“ Und dann flüsterte ich gegen die Mauer: „Also hat Gott die Welt geliebt — diese Welt!!, daß . . .“ Kaum hatte ich „Gott“ gesagt, da fegte das freche Weib mit einem lästerlichen Fluch dazwischen. Aber schon fuhren die andern ihr über den Mund: „Bist du wohl ruhig, Frieda!“ Und dann hieß es: „Mach nur weiter!“ So sagte ich das Evangelium: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an den glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Ich fügte noch ein paar Worte hinzu vom brennenden Erbarmen Jesu — dann ließ ich mich fallen. Eine große Stille folgte. Keiner sagte mehr etwas. Sie saßen in ihren dunklen Zellen und — Jesus war zu ihnen gekommen — in ihre Verzweiflung, in ihre Schuld, in ihre Gottlosigkeit, in ihre Nacht---------------- Nun hatte ich meine „Hänge-Kanzel“. Jeden Abend, wenn das allgemeine Gespräch zu Ende ging, hielt ich meine „Mehr-als-Kurz-Predigt“. Da hing ich — selber ein Ausgestoßener — lächerlich wie ein Kletteraffe am Gitter. Aber mein Herz war fröhlich. Ich sah keinen meiner Hörer. Ich sah nur dunkel die schreckliche Mauer. Aber man spürte förmlich das gespannte Zuhören. Auch Frieda sagte kein Wort mehr. Wißt ihr, was mich selbst am meisten bewegte bei dieser seltsamen Verkündigung?: Je tiefer man mit dem Evangelium hinuntersteigt in die Abgründe der Menschen, desto heller strahlt die Botschaft von dem Erbarmen des Herrn Jesus. „Ich Kann nidjt...!" „Also — mal alles herhören!“ brüllte der Maat. „Morgen früh fahren wir mit unserm Minensuchboot aus. Und ihr wißt genau, daß wir wenig Chancen haben, wieder zurück zu kommen. Jawohl! Der Krieg ist lebensgefährlich . . .!“ Betroffen sahen sich die jungen Menschen an. Aber der Maat ließ ihnen nicht viel Zeit für trübe Gedanken: „Darum wollen wir heute abend alle nochmal richtig feiern! Wir gehen zusammen an Land! Da gibt’s noch genug Schnaps und Weiber für ein rundes Fest!“ Freudiges Gebrüll antwortete ihm. Aufgeregt malten sich alle die kommenden Freuden aus. Außer einem. Der war sehr still geworden. Einem Kameraden fiel das auf: „Fritz, du machst doch auch mit?“ Fritz schüttelte den Kopf. Die andern wurden aufmerksam: „Was ist da los?“ — „Natürlich machen alle mit!“ — „Hier schließt sich keiner aus!“ hieß es von allen Seiten. Jetzt hatte auch der Maat etwas gehört: „Was?“ brüllte er los. „Wer will nicht mitmachen? Der da? . . .“ Und nun wurde er amtlich: „Also — mal herhören! Wir sind hier ’ne Kameradschaft! Verstanden? Eine verschworene Kameradschaft! Ist das klar?“ „Jawohl!“ rief die rauhe Männerschar. „Also . . .“, fuhr der Maat fort, „machen wir alles gemeinsam! Einer für alle und alle für einen! Verstanden?“ „Jawohl!“ „Na, dann ist das klar!“ endete der Maat die Geschichte. Inmitten dieser Meute stand der junge Fritz. Er fühlte, daß nun die Stunde der Bewährung gekommen war. Und wenn auch sein Herz ein wenig bebte — klar lag doch sein Weg vor ihm: Hier durfte er nicht nachgeben . . . — — — Schon in seinem Elternhaus und später in unserer evangelischen Jugendarbeit hatte er den Herrn Jesus Christus kennengelernt. Auf der Stirnseite des Saales, in dem sich der Jugendkreis versammelte, hatte er jeden Sonntag das Wort des Herrn gelesen: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und laß deinen Augen meine Wege Wohlgefallen!“ Diesen Ruf hatte Fritz gehört, er hatte sich klar für Jesus entschieden und war Ihm gefolgt. Aber er hatte nicht viel Zeit gehabt, innerlich in der Stille zu reifen. Es war ja Krieg, und bald war für ihn der Gestellungsbefehl zur Marine gekommen. Zum Abschied hatte ich meinem jungen Freund eine kleine Taschenbibel mitgegeben und ihn gebeten: „Fritz, bekenne deinen Herrn tapfer!“ Da hatte er mir die Hand fest gedrückt.--------- Und nun war also die Stunde zum Bekennen da! Lärmend verließen die Kameraden das Schiff. „Noch einmal! Willst du nun mit?“ — „Nein! Ich kann eure Sauf- und Unzuchtsfeste nicht mitmachen.“ Wieder erhob sich ein wildes Getümmel: Beißende Spottreden klangen schließlich in die Drohungen aus: „Warte nur, wenn wir zurückkommen! Dann aber . . .!“ Fritz wurde bleich. Es ging roh zu auf solchen Schiffen. Und — wer sollte ihn hier schützen! So blieb der junge Bursche sehr allein und sehr verlassen zurück. Schließlich legte er sich in die Hängematte, nahm seine Bibel vor und bat seinen Herrn Jesus, Er möge ihm jetzt helfen, fest zu bleiben.-------- Es war schon gegen Morgen, als die Kameraden lärmend und betrunken an Bord zurückkehrten. Einer hielt eine Schnapsflasche in der Hand. Damit kam er an die Hängematte von Fritz, der sofort hell wach war. „Also, Kamerad!“ fing der Matrose an. „Wir wollen Geduld haben mit dir, weil du noch so ein Muttersöhnchen bist. Aber — eins mußt du jetzt tun: Du mußt jetzt mit uns einen Schnaps trinken! Dann wollen wir’s gut sein lassen!“ Lauernd standen die andern umher. Einen Augenblick lang überlegte Fritz. Da fielen ihm die Märtyrer der ersten Christenheit ein. Von denen hatte man auch nur eine Kleinigkeit verlangt: „Ein wenig Weihrauch dem göttlichen Kaiser!“ hatte es da geheißen — und alles wäre gut gewesen. Aber diese Christen hatten ein hartes „Nein“ gehabt und waren in den Tod gegangen. Es war dem Fritz klar: Der eine Schluck Schnaps — das war in diesem Augenblick der „Weihrauch“ an den „Gott dieser Welt“. So schüttelte er nur den Kopf. Da wurde die Bande zornig. „Was, du willst mit uns nicht trinken?“ brüllten sie. „Dann werden wir es dich lehren!“ Und nun fielen sie über ihn her: Zwei umklammerten seine Beine, andre seine Arme. Einer hielt ihm die Flasche vor den Mund: „Sauf!!“ Fritz kniff die Lippen zusammen. Wütend versuchten sie, ihm die Flasche zwischen die Zähne zu schieben, sie rissen ihm gewaltsam den Mund auf: „Los! Trink!“ Und während ihm der Schnaps über das Gesicht floß, preßte Fritz zwischen den Zähnen hervor: „Ich kann doch nicht!“ „Was?!“ brüllte der Maat, „Du kannst nicht? Unsinn! Du willst nicht!“ „Nein!“ schrie Fritz, „ich kann nicht!“ Der Maat stutzte. Dann winkte er den rohen Gesellen: „Laßt ihn mal los!“ Und zu Fritz: „Wieso kannst du nicht?“ Ich weiß nicht genau, was Fritz da geantwortet hat. Aber es wird wohl so etwas Ähnliches gewesen sein wie das, was Luther auf dem Reichstag vor Kaiser und Reich gesagt hat: „Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort ... Ich kann nicht anders! Gott helfe mir!“ So etwa wird Fritz geantwortet haben. Der Maat hat nur noch gemurmelt: „Laßt ihn in Ruh!“ und keiner hat mehr gewagt, ihm etwas anzutun . . . Wenige Tage später aber kam der roheste der ganzen Schiffsbesatzung und schüttete dem Jungen sein Herz aus. Und er blieb nicht der einzige. Denn Menschen, die ihrem Gewissen folgen, sind eine große Hilfe für die Welt . . . Was aus Fritz geworden ist, wollt ihr wissen? Nun, er hat den Krieg überlebt und ist heute in einem Industriewerk tätig. Aber viele Freistunden verbringt er als stiller Seelsorger in einem großen Jugendwerk. Aber — das zu erfahren, ist jetzt nicht so wichtig wie dies, daß wir begreifen: Nicht die großen und lauten Ereignisse sind bedeutsam. Im Grunde wird die Welt gewandelt von Menschen, deren Gewissen „gefangen ist in Gottes Wort“. Der Sänget Also der Günter — der war ein famoser Bursche. Wenn wir in unserm Jugendkreis den Mut verloren, dann lachte er und fragte, ob wir etwa den Ehrgeiz hätten, die ersten zu sein, die der Herr Jesus im Stiche ließe? Schon mit 15 Jahren hatte Günter sich für Jesus entschieden. Und nun ist es so: Wenn ein vitaler junger Mann alle die brausenden Kräfte seines Lebens dem Herrn weiht, dann wird etwas Herrliches daraus. Eines Tages — gerade war der Krieg mit Rußland angegangen — griff die schreckliche Kriegsmaschinerie auch nach Günter. Er wurde eingezogen. Damit begann der dunkle Weg, von dem er nicht mehr zurückkehrte. Irgendwo in den Weiten Rußlands liegt er begraben. Ehe er ins Feld rückte, erlebten wir noch ein paar Urlaubstage mit ihm. Und da erzählte er uns ein kleines Erlebnis, über das wir alle herzlich gelacht haben. Günter lag als Rekrut in einem Barackenlager in der Nähe einer Großstadt. Sooft der Sonntag herankam, quälte ihn das Heimweh nach „den schönen Gottesdiensten des Herrn“. Und darum war er überglücklich, als er einen Posten als Melder bekam und mit einem Motorrad durchs Land flitzen mußte. Gleich am ersten Sonntag benützte er die Gelegenheit und richtete es so ein, daß er beim Beginn des Gottesdienstes mit seiner Maschine an einer großen Kirche der nahen Großstadt vorfuhr. Beim Eintritt in die riesige Kirche war er zuerst ein wenig erschrocken: Die paar alten Leutchen, die gekommen waren, verloren sich ganz in dem gewaltigen Raum. Die Orgel dröhnte mächtig. Als Günter sich gesetzt hatte, merkte er, daß die Gemeinde schon mit Singen begonnen hatte. Zu hören war allerdings kaum etwas davon. Nun, singen! — das war Günters liebste Beschäftigung. Er rückte neben eine alte Frau, schaute in deren Gesangbuch hinein und fing nun an — wie er es gewohnt war —, mächtig das Lob Gottes zu schmettern. Dabei hatte er das leise Gefühl, als ob die Leute sich nach ihm umdrehten. Aber das konnte ihn nicht stören. Dies geistliche Lied — das bedeutete ja Heimat für ihn. Da fühlte er sich im Geist verbunden mit den Brüdern zu Hause und mit allen, die den Herrn Jesum lieb haben — ja sogar mit den himmlischen Heerscharen und den Scharen der vollendeten Christen, die vor Gottes Thron anbeten. Also sang Günter fröhlich und von Herzen. Nach dem Gottesdienst wollte er eilig die Kirche verlassen. Aber da hielt ihn ein alter Herr auf. Böse sah der ihn an und schalt: „Junger Mann, Sie haben wohl die Absicht zu stören?!“ Verdutzt schaute Günter in das zornige Gesicht: „Stören? Wieso?“ „Na, solch ein lauter Gesang sollte doch wohl eine Störung sein!“ erwiderte der alte Herr ärgerlich. Günter mußte lachen. „Na, ich meine, aus Ihrer alten Kirche könnte getrost etwas mehr vom Evangelium nach außen dringen. Die Leute draußen meinen ja sonst, sie seien ausgestorben.“ Der alte Herr lief rot an: „Junger Mann! Werden Sie nicht frech! Ich werde Sie wegen Ihres ungebührlichen Benehmens bei Ihrer Truppe melden!“ Der arme alte Herr! Er konnte sich eben gar nicht denken, daß es noch junge Menschen gab, die etwas wissen von der „Freude im Herrn“. Aber jetzt wurde Günter auch ärgerlich: „Melden Sie mich nur!“ sagte er patzig und ging . . . Bis hierher hatte uns Günter die Geschichte erzählt. Nun hörte er auf. Wir aber hatten das Gefühl, als könne die Geschichte doch noch nicht zu Ende sein. Und so fragten wir: „Da bist du natürlich von da ab nie mehr hingegangen?“ „Wie? Nie mehr hingegangen?“ fuhr er auf. „Im Gegenteil! Jeden Sonntag habe ich dort den Gottesdienst besucht. Und da habe ich gesungen, wie es mir ums Herz war. Und was meint ihr, was geschah? Die Kirche wurde jeden Sonntag voller. Die Leute wollten mich alle singen hören!“ Da lachten wir und freuten uns. Denn wir kannten die Macht eines geistlichen Liedes. Der Gelang im Ctiaoe Mein Herz krampft sich zusammen, wenn ich an den Jungen denke. Er war fast ein Kind noch, als sie ihn fort holten zu den Soldaten. Irgendwo in Rußland, bei Leningrad, haben die Russen ihn totgeschossen. Was bedeutete denn auch den Mächtigen damals ein Menschenleben! Wie ein Weizenkorn zwischen harten Mühlsteinen zerrieben wird — so kommt mir der Ausgang seines Lebens vor. Und dabei war er gar nicht geschaffen für den harten Krieg. Er wollte Musiker werden. Seine Seele lebte in der Musik. Und wenn man mit ihm sprach, hatte man oft den Eindruck, als sei sein Geist weit weg und lausche irgendwelchen Klängen, von denen wir nichts vernahmen. Kurz nach Weihnachten im Jahre 1944 kam die Nachricht, daß er gefallen sei. Eine kalte, herzlose und phrasenerfüllte Mitteilung. Wenige Tage vorher aber schrieb er einen Brief. In dem erzählte er, wie er Weihnachten erlebt hatte. Dieser Bericht zeigt so charakteristisch den rohen Geist der Zeit, die Einsamkeit der jungen Menschen und die Herrlichkeit des Evangeliums, daß ich ihn doch weitergeben muß und meine inneren Widerstände überwinde, die mich bisher abhielten, diese Geschichte zu erzählen . . . „Hören Sie mal!“ sagte der Hauptmann kurz vor Weihnachten zu dem blutjungen Soldaten. „Wir werden das Fest hier in diesem russischen Städtchen verbringen. Da könnten wir doch ’ne nette Weihnachtsfeier für die Kompanie arrangieren. Meinen Sie nicht auch?“ „jawohl, Herr Hauptmann!“ „Ich habe gehört, daß Sie Musikus sind. Ist ja allerhand! Komischer Beruf! Na, egal! Da sind Sie jedenfalls der richtige Mann, sowas in die Hand zu nehmen! Nicht wahr?“ „Jawohl, Herr Hauptmann!“ „Sie können das ganz machen wie Sie wollen. Wir haben einen Saal zur Verfügung mit einem Klavier. Stellen Sie einen Chor zusammen, üben Sie was Nettes ein — so was Weihnachtliches — na, Sie verstehen schon! Ich verlasse mich ganz auf Sie! Haben Sie verstanden?“ „Jawohl, Herr Hauptmann!“ Der Junge war restlos glücklich. Welch eine schöne Aufgabe in der grauenvollen Monotonie dieses Etappendaseins! Seine Freude riß die stumpfen Kameraden mit. Ihre Seelen, die erstickt waren in dem tönenden Kreislauf von Drill, unzüchtigen Männergesprächen und Alkohol, begannen sich zu regen------- Als der Heilige Abend kam, erlebte die Komponie eine wunderschöne Feier. Das liebliche Evangelium von dem Gottessohn, der arm in der Krippe lag, von den Engeln, die auf Bethlehems Feld sangen, und von den Hirten, die erschrocken und selig der Botschaft lauschten, stand im Mittelpunkt. Selbst die rohesten Burschen wurden still und bewegt. Es war, als wenn die Seelen, die wie verschüttet gewesen waren, leise zum Licht drängten.. Dann war die Feier zu Ende. Eine tiefe, lebendige Stille lag über dem Saal. Doch wurde die plötzlich unterbrochen von einem Ruf des Hauptmanns. Die Türen flogen auf. Ordonnanzen erschienen, bepackt mit Schnaps- und Weinflaschen. Da war’s, als wenn sich das Geröll wieder prasselnd über die Seelen stürzte: Ein johlendes Geschrei! Die erste Zote knallt in den Saal! Gelächter! Und dann beginnt ein Saufgelage, in dem die Männer all ihren Jammer, ihre Sehnsucht, ihr Heimweh ertränken . . . Traurig schleicht sich der Junge fort. Heiliger Abend! Vor seiner Seele ersteht das Bild der Heimat, der Eltern, der Geschwister. Wie schön, wie himmlisch schön war es, wenn man dort Weihnachten feierte . . .! Er verkriecht sich wie ein krankes Tier zwischen die Decken seines harten Lagers und schläft dort ein. Ein graues Morgenlicht sickert in den Schlafsaal, als er erwacht. Die Kameraden kehren zurück. Betrunken! Taumelnd! Blöde lachend! Schmutzige Reden verpesten die Luft --------- Der Junge wirft seine Decken zurück und geht schweigend hinaus. In seinem Herzen ist ein zerreißendes Heimweh: O wie gemein, wie schmutzig, wie niedrig ist das alles! Und das ist Weihnachten! Ohne zu überlegen, landet er wieder in dem Saal, wo die Feier stattgefunden hat. Wie sieht der aus! Die Stühle sind zerbrochen. Die Tische umgeworfen. Die Fensterscheiben zerschlagen. Überall ist der Fußboden bedeckt mit abscheulichen Lachen von alkoholischen Getränken und Gespieenem . . . Aber — dort steht ja noch das Klavier — unbeschädigt! Erst einige Tage später — bei der Neujahrsfeier — haben ein paar Betrunkene es zum Fenster hinausgeworfen. Aber an jenem Weihnachtsmorgen stand es noch da. Der junge Soldat stürzt darauf zu und . . . Ja, nun hielt er seine Weihnachtsfeier. Da saß der einsame Junge in dem verwüsteten Saal, spielte und sang: „Gelobet seist du, Jesu Christ, Daß du Mensch geboren bist Von einer Jungfrau, das ist wahr; Des freuet sich der Engel Schar . . Ein Lied nach dem andern fiel ihm ein. Wie gut, daß man zu Hause all die schönen Lieder auswendig gelernt hatte! „Er bringt euch alle Seligkeit, Die Gott der Vater hat bereit . . Schließlich zog er sein kleines Testamentchen heraus und las still und gesammelt noch einmal die wunderschöne Geschichte, wie sie im 2. Kapitel des Lukas-Evangeliums berichtet wird. „. . . Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren . . . Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“ Darüber wurde sein Herz so froh, daß er nur anbeten und loben konnte. Und so ging er wieder an sein geliebtes Klavier und sang noch einmal alle Weihnachtslieder durch. Da klang es durch den kalten russischen Morgen — mancher russische Bauer mag erstaunt unter dem Fenster stehengeblieben sein! —: „Sehet, was hat Gott gegeben: Seinen Sohn zum ew’gen Leben! Dieser kann und will uns heben Aus dem Leid zur Himmelsfreud . . .“ Ob er es ahnte, daß das wenige Wochen später geschah: „. . . . aus dem Leid zur Himmelsfreud . . .“? So saß er, allein, verlassen, getröstet im fremden Land, in einem bestialisch zerstörten Saal, und sang das Lob des Kindes in der Krippe. Und auf einmal mußte er mitten im Spiel abbrechen. Denn da ging ihm ein großes Licht auf. Davon schrieb er nach Hause: „Ist das nicht die Lage der Gemeinde Jesu Christi zu allen Zeiten? Inmitten des Chaos dieser gefallenen Welt singt sie fröhlich und unbekümmert die Loblieder ihrem Erlöser und Heiland.“ Nun war er nicht mehr allein. In der großen Gemeinde stand er, die — dem Teufel zum Trotz — singt und lobt: . . Freude, Freude über Freude: Christus wehret allem Leide . . Das Fanal öer Liebe Einen Moment stand ich fassungslos. In der hereinbrechenden Dämmerung war ich über irgend etwas gestolpert. Und als ich näher zusah, erkannte ich eine Leiche, die unkenntlich von Staub und Schutt — mitten auf der Straße lag. Ich rechnete schnell nach: Am Sonntagmittag war der schreckliche Fliegerangriff gewesen. Jetzt war es Mittwochabend. Und noch immer also lagen unbeerdigte Leichen auf der Straße! Ein Wort aus der Bibel fiel mir ein: „Ihre Leichname liegen wie Kot auf der Gasse . . .“ „Wie Kot auf der Gasse . . .“ murmelte ich immer wieder vor mich hin. Plötzlich merkte ich, daß aus einem halbzerstörten Haus ein Mann mich beobachtete: „Kommt Ihnen das schlimm vor?“ fragte er. „Ich will Ihnen etwas Schlimmeres zeigen. Kommen Sie mit!“ Er ging mir voran — durch den Schutt der Straße — um ein großes, zerstörtes Verwaltungsgebäude herum — und nun dort in den Hof . . . „Hier!“ deutete er. Mir blieb ein Schreckensschrei im Halse stecken. Da lagen etwa 80 Leichen. Gewiß, ich hatte so ähnlich schreckliche Bilder auf den Schlachtfeldern gesehen. Aber — dies war noch viel schrecklicher: Hier lagen nicht Soldaten und Kämpfer. O nein! Hier lagen alte Männer, verarbeitete Frauen. Und — und Kinder! Kleine Mädelchen mit dürren Ärmdien und mageren Beinen, denen man den langen Krieg ansah. O Kinder!! Was hatten die mit diesem sinnlosen Krieg zu tun?! Vor meiner Seele stand ein Bild von Hans Thoma: Da sieht man ein blühendes Wiesental. Und auf der Wiese springen fröhliche Kinder im Reigen — mit Blütenkränzen im Haar. Ja, so sollte es sein! Auf solche Wiesen gehören Kinder! . . . Der Mann war weggegangen. Der Abend sank herein. Irgendwo in dem zerstörten Haus schlug monoton ein vom Wind bewegter Balken gegen die Mauer. Sonst Totenstille. Und wie ich so zwischen diesen Leichen stand — so unendlich allein in dem Grauen — in dieser schrecklichen Stille--------- da sprang würgend eine Frage auf — eine furchtbare Frage: „Wo ist denn Gott? Warum schweigt Er? Hat Er uns verlassen? — Ja, wir sind Gott-verlassen!!“ Von Gott verlassen! — — Das ist die Hölle! Mir graute. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Sonst hätte ich vor Entsetzen geschrien. Aber da — ich kann ja nur bezeugen, wie ich es erlebte —, da war es auf einmal, als wenn irgend jemand laut ein Wort aus der Bibel sagte: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Das Wort stand auf einmal da! Der Heilige Geist selber mußte es in meine Verzweiflung hineingerufen haben. Da stand das Kreuz von Golgatha vor mir, an dem der blutende Gottessohn hängt. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen Sohn gab . . .“ Und plötzlich wußte ich: „Hier ist ein ewiges Zeichen der Liebe Gottes! Ein leuchtendes Fanal Seiner unendlichen Liebe.“ Ich verstehe Gott nicht. Nein! Ich werde Seine Wege und Gerichte nie verstehen. Eins aber weiß ich: Er hat uns lieb! „Also hat er uns geliebt, daß er seinen Sohn gab.“ Das Kreuz Jesu ruft es laut in die dunkle Welt: „Gott hat uns doch lieb!“ Getröstet verließ ich den dunklen Hof . . . Die Udftbilöer Es gibt entsetzlich viel langweilige Menschen in der Welt. Niklaus Bolt aber gehört nicht zu ihnen. In Männedorf am Zürichsee lernte ich im Hause des mir unvergeßlichen Inspektors Alfred Zeller den schweizerischen Dichter, Pfarrer und erfolgreichen Schriftsteller kennen. Der schmächtige, weißmähnige Mann erfüllte sofort das ganze Zimmer mit seinem lebendigen Dasein. „Oh, Sie müssen die Schweiz besser kennenlernen!“ sagte er enthusiastisch. „Haben Sie Zeit? Dann werde ich Ihnen morgen vormittag meine Lichtbilder zeigen?“ Dankbar war ich einverstanden. Am nächsten Morgen saßen wir in einem kleinen Kreise im verdunkelten Zimmer beisammen. Ich war maßlos gespannt und erwartete überwältigende Bergaufnahmen. Aber — gleich das erste Bild war eine Enttäuschung. Es erschien der Kopf eines Ochsen — ein wirklich mehr als alltägliches Bild! Dann hörte ich aus dem Dunkel die Stimme von Niklaus Bolt: „Man sagt uns Schweizern nach, wir hätten die Art dieses Muni an uns. Nun, ich will Ihnen mal erklären,wie das ist...“ Und dann folgte eine geistvolle, sprühende Rede über Ochsen, Schweizer und andre Europäer, daß wir bald uns vor Lachen ausschütten mußten, bald still und gefesselt lauschten. Das nächste Bild! Wieder eine Enttäuschung: Eine Bergblume, wie sie auf allen billigen Postkarten dargestellt ist. Aber schon erzählte Bolt, wie er als kleiner Schweizerbub diese Blume zum erstenmal gefunden habe. Wir erlebten seine Aufregung und Freude mit . . . Wieder ein Bild: Ein bedeutungsloser Männerkopf. Nein! Das war zu arg, wie dieser Niklaus Bolt uns mit belanglosen Bildern die Zeit stahl. Aber dann berichtete er uns die Geschichte dieses Mannes. Es war die ergreifende Tragödie eines einfachen Bergführers, der sein Leben hingab, um andre zu retten. Wir waren alle tief ergriffen. Doch beim nächsten Bild bekamen wir schier einen Schock: Ein kleiner Chinesenjunge glotzte uns blöd an. Was sollte das?! Dann tönte Bolts Stimme aus dem Dunkel: „Durch mein Buch ,Svizzero‘ habe ich besondere Beziehungen zu der berühmten Jungfraubahn. Darum muß ich oft Ausländer und Exoten da hinaufführen . . .“ Und nun folgte die erschütternde Geschichte eines großen chinesischen Ministers, dem in der Einsamkeit der Bergwelt das Herz aufgegangen war. Er hatte Bolt die Nöte seines Lebens anvertraut. Der Rahmen „Schweiz“ war gesprengt. Die Weite ostasiatischer Welt tat sich auf. „Der Mann ist mir sehr lieb geworden“, schloß der Vortragende. „Leider habe ich schließlich nur ein Kinderbild von ihm irgendwo aufgetrieben.“ Ach ja, der Chinesenjunge! Wir hatten kaum mehr auf das Bild geachtet. Nun betrachteten wir es mit Teilnahme. Es war interessant geworden . . . Als das Licht wieder anging, habe ich lange den kleinen Mann mit dem großen Herzen, diesen Niklaus Bolt, anschauen müssen und denken: Wie seltsam ist das! Dieser Mann leiht uns seine Augen — und schon werden ein paar armselige Bilder zu einem unerhörten Reichtum. Daneben sah ich im Geist jene mir bekannte reiche Frau, die sich den Genuß aller Schönheiten in der Welt leisten kann und die doch — immer unzufrieden und arm ist. Und mir ging auf: Ob wir reich oder arm sind — das liegt nicht an den Verhältnissen, sondern an unserm Herzen und unsern Augen. Darüber waren wir uns alle einig, als wir nun im Gespräch miteinander unsre Herzen öffneten und dabei feststellten: Nur ein Herz, das der Herr Jesus Christus erlöst und erfüllt, hat solchen Reichtum. Ja, ja, es ist schon so: Christen bekommen reiche Herzen und neue Augen. Da muß ich — da wir nun schon einmal an diesem Thema sind — noch eine kleine Geschichte erzählen, die in einer ganz anderen Umgebung passiert ist. In meiner Arbeitergemeinde war ein Mann von etwa dreißig Jahren zum Glauben an den Herrn Jesus Christus gekommen. Seine Bekehrung bedeutete ein großes Wunder, denn er war ein wilder Geselle gewesen, dessen Leben bisher politische Kämpfe, Erotik und Schnaps ausgefüllt hatten. Nun war alles ganz neu geworden. Weil er alle seine alten Kameraden verloren hatte und doch recht allein stand, nahm ich ihn eines Tages mit auf eine kleine Reise. Ich sollte in einem Dorfe eine Festpredigt halten. Die beiden alten Pfarrersleute versorgten auch meinen Begleiter aufs liebevollste. Es war eine neue Welt, die ihn umgab. Gastfreundschaft hatte er noch nie erlebt. „Und die nehmen nichts dafür?“ fragte er immer wieder erstaunt. „Eigentlich gehe ich die Leute doch gar nichts an!“ Am Sonntagmorgen in der Frühe machten wir beide vor dem Gottesdienst einen kleinen Spaziergang: Eine liebliche Sommerlandschaft! Der Tau glitzerte auf den Gräsern. Von ferne hörte man einen Posaunenchor blasen, der wohl auch zu dem Missionsfest kam. Fröhlich lief der junge Mann neben mir her, während ich meine Predigt überdachte. Auf einmal blieb er stehen: „Wie ist denn das nur zu verstehen? Ich bin doch nun dreißig Jahre alt, und ich bin viel in der Welt herumgekommen. Aber — wie schön die Sonne und der Tau auf den Gräsern und die Berge und Wälder sind — das sehe ich heute zum erstenmal. Man muß wohl Jesus kennen und Frieden mit Gott haben, wenn man das Schöne sehen will!“ Paftor Fcitz So nannten sie in der großen Epileptischen-Anstalt Bethel den Leiter, Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh. Der gehörte zu den ganz seltenen Leuten, die gewinnen, wenn man sie näher kennenlernt. Bei den meisten Menschen ist es ja umgekehrt. Da kann man zunächst fasziniert sein. Aber wenn man sie genauer kennt, kommt die große Enttäuschung. Also — bei Bodelschwingh war es anders. Und das hatte seinen Grund darin, daß man ihm eigentlich nie allein begegnete. Wenn man mit ihm zusammen kam, traf man zugleich den Herrn Jesus. Eigentlich sollte es ja bei allen Christen so sein, daß sie „etwas Heilands-mäßiges“ an sich haben. Von diesem Pastor Fritz hat mir kürzlich ein Freund eine kleine Geschichte erzählt. Die ist so schön, daß ich sie nicht für mich behalten kann. Mein Freund hatte ein herrliches Gut in Ostpreußen. Das Gutshaus war schon seit Generationen der Mittelpunkt frommer und erweckter Kreise. Und gerade für die Anstalt Bethel hatte man dort eine große Liebe. Es sind viele und reiche Gaben nach Bethel gegangen. Und wenn der Gutsherr einmal auf seinen Reisen nach Bethel kam, wurde er als ein einflußreicher Förderer der Anstalt ehrenvoll aufgenommen. Aber dann kamen der große Krieg und der schreckliche Zusammenbruch. Der Gutsherr verlor alles, wirklich alles. Nach entsetzlichen Irrfahrten, bei denen er wie ein Bettler durchs Land irrte, kam er endlich mit seiner Frau und seinen neun Kindern in der Lüneburger Heide an — ein heimatloser Mann. So machte sich der Mann wieder auf, eine Heimat zu suchen. Auf dieser Fahrt kam er eines Abends zwischen 11 Uhr und Mitternacht an das Pförtnerhäuschen der Anstalt Bethel. Schüchtern fragte der Heimatlose, ob er Pastor von Bodelschwingh noch sprechen könne. Der Pförtner runzelte die Stirn: „So spät? Ob das wohl noch geht?“ Aber er rief dann doch an und bekam die Antwort, man möge den Gast sofort zu Bodel-schwingh bringen. Verlegen, zerlumpt, unrasiert und halb verhungert stand der heimatlose Mann dann vor Bodelschwingh und erklärte mit einem matten Lächeln: „Ja, nun bin ich selbst ein ,Bruder von der Landstraße'!“ Und was tat Pastor Fritz? Er schloß den Mann in seine Arme und sagte, demütig bittend: „Erhalten Sie Bethel und uns Ihre Liebe!“ Dem elenden Manne liefen die Tränen über das müde Gesicht, als er sah, wie der Gebende sich zum Bettler machte und den Bittenden zum Geber erhob . . . O ja, Christen dürfen „heilands-mäßig“ sein! „O Ttjeo!" Als ich den Laden verließ, war es gerade 12 Uhr. Um diese Zeit herrschte ein ungeheures Gedränge in der Hauptgeschäftsstraße. Langsam schob sich die Menge an den Schaufenstern vorüber. Ungeduldig suchte ich mich hindurchzuarbeiten. Du liebe Zeit! Es war ja einfach kein Vorwärtskommen! Bumms! Reichlich heftig prallte ich mit einer Frau zusammen, die es offenbar auch etwas eilig hatte. Verlegen wollte ich mich entschuldigen. Da ging ein frohes Strahlen über das Gesicht der einfachen Frau: „O Pastor Busch! Das wird aber den Theo freuen, daß wir uns getroffen haben!“ Ich mußte lächeln. Immerhin war dieses „Treffen“ ja ziemlich unsanft gewesen. Und überhaupt — wer war diese Frau? Etwas unsicher sagte ich, ich könne mich im Moment gar nicht recht erinnern, wer sie denn sei. Sie möge meinem armen Gedächtnis doch nachhelfen. „Na ja!“ meinte sie gutmütig. „Mich kennen Sie auch gar nicht. Wissen Sie — ich bin die Mutter vom Theo!“ Wieder dieser Theo! Ich war genau so dumm wie vorher. Wer war Theo? „Wissen Sie, liebe Frau“, erklärte ich ihr, während wir uns im Gedränge nebeneinander zu halten versuchten, „ich kenne ’ne ganze Menge Theos. Welchen meinen Sie eigentlich?“ „Na, den Großen — mit dem blonden Haar — der immer in Ihr Jugendhaus kommt. Der, wo neulich seine Brieftasche verloren hat. Da haben Sie doch noch . . .“ Nun ging mir ein Licht auf. „So, von dem Theo sind Sie die Mutter? Na, da kann ich Ihnen aber wirklich gratulieren. Das ist ein famoser Bursche!“ Dieser Theo war mir unter den vielen hundert Jungen, die durch das Essener Jugendhaus gehen, seit einiger Zeit aufgefallen. In den Bibelstunden saß er mit gespannter und gesammelter Aufmerksamkeit vor mir. Und wenn gesungen wurde, dann strahlte sein Gesicht, daß man es einfach nicht übersehen konnte. Der sang nicht nur mit dem Munde, sondern mit dem ganzen Herzen. Und besonders eifrig war er im Werbe- und Besuchsdienst. „Ja“, erklärte ich noch einmal, „der Theo, der ist ein Prachtsbursche.“ Nun habe ich es oft erlebt, daß die Gesichter der Mütter glänzen, wenn man ihre Söhne lobt. Und darum wunderte ich mich, als diese Mutter auf einmal sehr ernst wurde. Dann sagte sie leise: „Das können Sie gar nicht ahnen, wie der wirklich ist.“ Wir waren inzwischen in eine stillere Straße geraten. So hatte ich diese Worte noch deutlich gehört, obgleich sie so gesprochen worden waren, als wären sie gar nicht an mich gerichtet. Ich wurde neugierig. „Da steckt ein Geheimnis dahinter! Liebe Frau, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mir verraten wollten. Denn es liegt mir so viel daran, daß ich meine Jungen wirklich kennenlerne.“ Einen Augenblick lang besann sich die Frau. Dann brach’s aus ihr heraus: „Ja, ich muß Ihnen das mal berichten. Sehen Sie, wir waren eine ganz gottlose Familie. Mein Mann will bis heute nichts wissen vom Christentum. Der hat eine richtige Abneigung dagegen. Und darum haben wir alle ganz und gar ohne Gott gelebt . . .“ Die Frau unterbrach sich. Wir mußten die Straße überqueren. Und — ja, wir waren längst aus einem Geplauder heraus. Hier ging’s um ernste Dinge. Das erforderte ihre ganze Sammlung. So bog ich jetzt mit ihr in eine stille Seitenstraße ein. Und da fuhr sie fort: „Es war um die Zeit, als der Theo 17 Jahre wurde. Da fiel mir auf, daß er so anders war. Wenn’s Krach gab, war er ganz still. Und immer suchte er mir Freude zu machen. Mit seiner kleinen Schwester war er so geduldig. Es war, als käme durch den Theo ein völlig andrer Geist in unsre Familie. Und eines Tages sagte er ganz offen, daß er in Ihren Jugendkreis ginge. Ein paar Freunde hätten ihn dorthin mitgenommen. Und nun habe er den Herrn Jesus kennengelernt. Und dem gehöre jetzt sein Leben.“------- Wieder machte die Frau eine Pause. Ich spürte ihr die starke Bewegung an. Es war ergreifend, was sie nun erzählte, daß diese Eröffnung ihrem Mann nur ein zorniges Brummen entlockt habe. Sie selbst aber sei seltsam angeregt worden durch die Eröffnung des Sohnes. Ihr Herz sei ganz unruhig darüber geworden. „Ja, so kam es denn, daß ich seither mit dem Theo in Ihre Gottesdienste gehe.“ Und nun strahlte ihr Gesicht. „Jetzt gehöre ich auch dem Herrn Jesus. Das ist wie ein wundervolles Geheimnis, das mein Theo und ich miteinander haben. Und jeden Tag lese ich ein wenig in der Bibel. Da verstehe ich dann manches nicht . . . und----------“ Jetzt wurde sie richtig rot vor Verlegenheit: „Dann frage ich meinen Jungen. Der versteht viel mehr. Ach, es ist ja eine Schande, daß ich alte Mutter bei meinem Jungen lernen muß. Aber der Theo ist gar nicht hochmütig. Der kann mir das alles so gut erklären.“ Wie die Frau das sagte! Mir standen die Tränen in den Augen. Und durch meinen Sinn ging die alte Verheißung des Maleachi, daß die Herzen der Eltern zu den Kindern bekehrt werden sollen. „Und Ihr Mann?“ mußte ich nun doch fragen. Sie lächelte. „Oh, der will noch nichts von all dem wissen! Aber der Theo und ich — wir beten jeden Tag für den Vater. Wir haben ihn ja auch lieb. Er ist ein guter Vater. Der wird ja eines Tages auch . . . wenn wir so für ihn beten! Da kann er ja gar nicht anders . . .!“ Es war lange still zwischen uns. Dann fing sie noch einmal stockend und wie — ja, wie anbetend an: „Es ist doch seltsam, daß eine Mutter durch ihren Sohn ..." Der Rest des Satzes blieb aus. Aber ich verstand sie.-------- Am Abend traf ich Theo in meinem Jugendhaus. Er spielte gerade Tischtennis mit ein paar jungen Burschen, die er herbeigeschleppt hatte. Ich drückte ihm die Hand: „O Theo!“ Und er lachte mich froh an. Wer puftt Gott öle Sdiulie? Ein amerikanischer Freund erzählte uns eine hübsche Geschichte, die es wert ist, daß man sie weitergibt. „Ich habe eine kleine Tochter“, berichtete er . . . Das kleine Mädchen ist in dem Alter, wo die Kinder ihren Eltern die Seele aus dem Leibe fragen. Und man kann wirklich in Verlegenheit geraten, wenn da zuweilen so wunderliche Fragen auftauchen. Kürzlich war das kleine Mädchen sehr beschäftigt damit, der Mutter im Haushalt zu helfen. Schließlich trug die Mutter ihm an: „Nun kannst du noch Vaters Schuhe putzen!“ Das war dem Kinde nicht gerade sehr lieb. Aber gehorsam machte es sich ans Werk. Eine Zeitlang war es still beschäftigt. Man merkte ihm an, daß ernste Fragen in dem Köpfchen rumorten. Und dann kam es! Der Vater trat ins Zimmer. Aber ehe er noch seine fleißige Tochter loben konnte, wurde er mit der Frage in Erstaunen versetzt: „Pappi, wer putzt eigentlich dem lieben Gott die Schuhe?“ Der Vater war verdutzt. Er konnte sich nicht erinnern, daß irgendein Theologe Maßgebliches zu dieser wichtigen Frage gesagt hätte. Ja, es fiel ihm auch keine Stelle der Bibel ein, die darüber Auskunft geben konnte. So meinte er nur: „Nun, es wird schon irgendein Engel damit beauftragt sein, dem das eine Ehre ist.“ Und dann war der Vater glücklich, daß seine Tochter sich mit dieser Antwort zufrieden gab. Einige Tage später las der Vater still für sich im Neuen Testament. Auf einmal fuhr er auf, rannte aus dem Zimmer und rief aufgeregt nach seinem Kind. Erschrocken kamen Tochter und Mutter gestürzt: „Was gibt’s denn?!?“ „Du hast mich“, wandte sich der Vater an das Kind, „doch kürzlich gefragt, wer Gott die Schuhe putzt. Nun denke nur, gerade lese ich in der Bibel, daß es darum gar nicht geht: Da steht nämlich, daß Gott uns die Schuhe putzt.“ Die Mutter schüttelte den Kopf: „Was sprichst du denn da für einen Unsinn! Gott putzt uns die Schuhe?“ „Ja“, erklärte der Vater, „hört nur! Hier in der Bibel heißt es: ,... darnach hob Jesus an, den Jüngern die Füße zu waschen und trocknete sie mit dem Schurz, damit er umgürtet war . ..‘ “ Er unterbrach das Lesen: „Das seht ihr doch ein, daß das Füße-waschen im Morgenland dasselbe war wie bei uns das Schuheputzen. Nun hört weiter!“ Er las die ganze Geschichte, wie sie der Apostel Johannes im 13. Kapitel seines Evangeliums berichtet. Erstaunt hörten die Mutter und das Kind zu. Und es ging allen Dreien auf, wie tief sich der lebendige Gott in Jesus herabgelassen hat. „Er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an . . .“, sagt die Bibel an einer anderen Stelle. Und das ist anbetungswürdig! Der herrliche Vorwurf..........................3 Das Thema......................................4 „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt. . 8 Wie ich zur Jugendarbeit kam..................14 Die verkrachte Osterfeier.....................18 Der Kampf eines Gottlosen.....................20 Das Kreuz in der Pfütze.......................22 Eingeholt.....................................25 Der Ruf.......................................28 Die zersprungene Glocke.......................31 Krach im Vorder- und Hinterhaus .... 34 „Ich kann nicht mehr!“........................37 Die starke Hand...............................39 „Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten . . .“ 41 Die Verhaftung................................45 Geistlich arm.................................48 „Mit Golgatha kann ich nichts anfangen“ . 52 Die Hänge-Kanzel..............................54 „Ich kann nicht . . .!“.......................58 Der Sänger....................................61 Der Gesang im Chaos...........................63 Das Fanal der Liebe...........................67 Die Lichtbilder...............................69 Pastor Fritz..................................72 „O Theo!“.....................................73 Wer putzt Gott die Schuhe?....................76